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Die blaue Glaswand

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Am 1. September 2014 wurde in Berlin ein Mahnmal für die Opfer der systematischen Ermordung von Menschen durch Ärzte während der nationalsozialistischen Diktatur eingeweiht: eine blaue Glaswand. Ermordet wurden Menschen mit “psychischen Krankheiten”, geistigen Behinderungen, körperlichen Einschränkungen, Menschen, die als “asozial” betrachtet wurden oder die sich einfach nur nicht anpassen wollten.

Die Aufklärung über diese Verbrechen, so heißt es in den Medien, sei schwierig gewesen, weil viele der beteiligten Ärzte nach dem Krieg ihre Karriere fortsetzen. Ein Beispiel von vielen: Friedrich Panse. Panse war einer der Gutachter, die entschieden, wer ermordet werden sollte und wer weiterleben durfte. Er entwickelte überdies eine Methode, mit der kriegstraumatisierte Soldaten behandelt wurden. Um sie wieder fit für die Front oder zumindest doch für die Rüstungsindustrie zu machen, wurden sie mit starken elektrischen Strömen an besonders schmerzempfindlichen Stellen grausam gequält.

Nach dem Krieg wurde Panse Direktor mehrerer Kliniken und Mitglied im Ärztlichen Sachverständigenrat für Fragen der Kriegsopferversorgung des Bundesarbeitsministeriums. Die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) wurde ihm erst 2011 posthum aberkannt. Er verstarb hoch geehrt 1973.

Panse war kein Einzelfall, derartige Kontinuität wurde von Ernst Klee sorgfältig dokumentiert. Karrieren trotz Verbrechen während der Nazizeit in der Bundesrepublik waren allerdings nicht nur medizinischen Zunftgenossen möglich. Adenauers Verdikt, dass man schließlich Fachleute brauche, steht für eine Geisteshaltung, die nur vordergründig pragmatisch war. Man könnte sie achselzuckend hinnehmen: Wer einem verbrecherischen System gedient hat, muss nicht zwangsläufig auch in einem Rechtsstaat Verbrechen begehen.

Mag also eine personale Kontinuität auch empörend sein, sie muss nicht zwangsläufig eine Fortsetzung von Freveltaten bedeuten. Schwerer wiegt eine systemische Kontinuität. Noch bis 1949 ließ man in deutschen psychiatrischen Anstalten Menschen, deren Leben als unwert galt, verhungern (Faulstich 1998). Es stellt sich die Frage, ob es einen radikalen Einschnitt in der Psychiatrie nach 1945 gab. Konnte eine grundlegende systemische Umwälzung die Auswirkungen der personalen Kontinuität entschärfen oder neutralisieren? Oder gab es nur kleinere Veränderungen, und wenn ja, welchen Schutz bieten sie den “Patienten” vor ärztlicher Willkür?

Zu den Menschen, die in der Nazizeit der “Euthanasie” anheimfielen, gehörten beispielsweise die so genannten Schizophrenen. Die Diagnose einer “Schizophrenie” bedeutete in vielen Fällen also ein Todesurteil. Wie beispielsweise Mary Boyle zeigte, war diese Diagnose immer schon willkürlich, nicht valide und daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert (Boyle 2002). Heute werden Schizophrene, zumindest in Deutschland, nicht mehr absichtlich umgebracht. Sie werden mit Neuroleptika behandelt.

Der Nutzen von Neuroleptika ist fragwürdig (Gresch 2014). Es gibt Hinweise, dass die langfristige Einnahme dieser Substanzen die Lebenserwartung verkürzt (Weinmann et al. 2009). Es ist sicher, dass diese Medikamente schwere Gesundheitsschäden verursachen können (Moncrieff 2013). Ebenso sicher ist es, dass sie und viele andere Psychopharmaka ein gigantisches Geschäft sind (Whitaker 2010:313 ff.).

Die blaue Glaswand ist ein Mahnmal für Verbrechen der Vergangenheit. Es ist müßig, sich an die Vergangenheit zu erinnern, wenn man damit nicht die Verpflichtung verbindet, die Gefahr einer Wiederholung des Entsetzlichen in Zukunft zu bannen. Die so genannten Geisteskranken kamen infolge einer aberwitzigen Diagnose zu Schaden. Soll uns das Mahnmal nur mahnen, erneute ärztliche Naziverbrechen an medizinisch Ausgegrenzten zu verhindern? Oder geht es um mehr, um eine tiefer greifende, um eine weiter gehende Verpflichtung? Ist dies die Botschaft: Psychiatrisch Diagnostizierte dürfen nie wieder durch ärztliche Willkür zu Schaden kommen?

Literatur

Boyle, M. (2002). Schizophrenia. A Scientific Delusion? 2nd Edition. London & New York: Routledge

Faulstich, H. (1998). Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie. Freiburg im Breisgau: Lambertus-Verlag

Gresch, H. U. (2014). Die Behandlung der Schizophrenie mit Neuroleptika. Pflasterritzenflora

Moncrieff, J. (2013). The Bitterest Pills. The Troubling Story of Antipsychotic Drugs. Houndmills, Basingstoke, Hampshire: Palgrave Macmillan

Weinmann, S. Read, J. Aderhold, V. (2009). Influence of antipsychotics on mortality in schizophrenia: Systematic review. Schizophrenia Research, Volume 113, Issue 1, 1–11, August

Whitaker, R. (2010). Anatomy of an Epidemic. New York: Broadway Paperback

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