Das Klinikum Dr. Heines wird in diesem Jahr 250 Jahre alt. Es gilt als das älteste psychiatrische Krankenhaus Deutschlands in privater Trägerschaft. Dies berichtet der Weser-Kurier unter dem Titel: “Psychiatrie im Wandel“. Gegründet wurde die Klinik laut Bericht der Zeitung vom Bauernsohn Friedrich Engelken aus Rockwinkel (heute Oberneuland), der 1758 bei der Vereinigten Ostindischen Companie anheuerte.
“Engelken lernte auf seinen Reisen die heilende Wirkung des Opiums kennen und brachte dieses Wissen mit in die Heimat. Hier begann er eine Ausbildung zum Wundarzt und fing an, psychisch kranke Patienten in der Bauernstelle seines verstorbenen Vaters aufzunehmen. Was 1764 mit der Behandlung einzelner psychisch kranker Menschen begann, hat sich zu einer Klinik entwickelt, die die Geschichte der Psychiatrie mitgestaltet hat…”
Engelken und seine Nachfolger setzten Opium bzw. das damals üblich Laudanum ein, um ihre Patienten zu kurieren. Die Klinik, schreibt der Weser-Kurier, sei damals, verglichen mit dem harten Regiment in öffentlichen Einrichtungen, ein Paradies gewesen, in dem man stets um eine milde Behandlung der Patienten bemüht war.
Laudanum. Paracelsus nannte diese Medizin den Stein der Unsterblichkeit. Dabei handelte es sich um eine Mischung aus Alkohol und Opium. Bis zum Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war diese Substanz aus der Apotheke der Natur das Allheilmittel schlechthin. Vor dem Siegeszug der modernen Psychopharmaka war es, neben dem reinen Opium und anderen natürlichen Medikamenten, das Medikament der Wahl bei den so genannten psychischen Erkrankungen. Es labte die Seele der Betrübten, es beruhigte die Erregten, es vertrieb die Dämonen, es ließ die Schlaflosen sorglos träumen (Small 2006).
Allerdings hatten Opium bzw. Laudanum auch Nebenwirkungen, deren wichtigste Schwindel und Verstopfung waren (de Young 2010). Überdies kann Opium bekanntlich auch eine Abhängigkeit auslösen und, natürlich, wirkt es auch nicht bei jedem zufriedenstellend. Heute werden die “Depressiven” mit Antidepressiva, die “Schizophrenen” mit Neuroleptika, die Schlaflosen und Angstgestörten mit Benzodiazepinen und die Hyperaktiven mit Stimulanzien behandelt.
Die Zeitung schreibt:
“Mit der Klinikübernahme von Karl-Dieter Heines 1954 kam die von den Nazis verdrängte Psychotherapie zurück in die Einrichtung. Das Opium verschwand weitgehend aus dem therapeutischen Angebot, und neu entwickelte Psychopharmaka fanden Einzug.”
Ob dies ein Fortschritt war? Verglichen mit den modernen Psychopharmaka waren die Nebenwirkungen des Opiums mild. Zu den Schadwirkungen der Neuroleptika gehören beispielsweise oftmals Sitzunruhe, Zungen-, Schlund- und Blickkrämpfe, ein erhöhtes Diabetes-Risiko; bei den Antidepressiva darf man sich auf schwere sexuelle Störungen gefasst machen, das Suchtpotenzial der Benzodiazepine ist nicht geringer als das des Opiums und die Stimulanzien haben eine dem Kokain vergleichbare Wirkung. Das Spektrum der unerwünschten Begleiterscheinungen der modernen Psychopharmaka ist breit; die Effekte sind oftmals schwerwiegend und unumkehrbar. Ebenso wenig, wie das Opium immer hilft, sind die modernen Psychopharmaka bei allen Patienten effektiv.
Allerdings hat das Opium einen gewaltigen Nachteil. Man kann es nicht patentieren. Es ist ein uraltes Naturprodukt. Wäre es nicht illegal, könnte man damit also auch nicht viel verdienen.
Der Weser-Kurier spart in seiner kurzen Klinikgeschichte auch die Zeit des Nationalsozialismus nicht aus. Auch in Rockwinkel seien während dieser Zeit mindestens 120 Männer und Frauen von Zwangssterilisationen betroffen gewesen. Schweigend übergeht das Blatt aber einem Vorfall aus neuerer Zeit: Vera Stein. Sie war gegen ihren Willen und ohne richterliche Anweisung im Klinikum Dr. Heines untergebracht. Die Bundesrepublik Deutschland wurde deshalb 2005 vom Europäischen Gerichtshof zu € 75.000 Schadenersatz verurteilt.
Ich bin kein großer Freund der medikamentösen Behandlung von Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert wurden und ich verabscheue jeden Zwang gegen sie aus tiefsten Herzen. Dies betrifft auch Opium bzw. Opiate. Menschen werden häufig als “psychisch krank” diagnostiziert, weil sie aus rätselhaften Gründen leiden. Es ist aus meiner Sicht klüger zu lernen, das Rätsel auszuhalten und Leiden zu erdulden, als Medikamente dagegen zu nehmen, die doch nicht helfen, nicht wirklich. Aber nicht alle denken so. Es wäre ein Segen für betroffene Menschen, die sich dieser Herausforderung nicht ohne Medikamente stellen wollen, wenn man ihnen den legalen Konsum von Opium gestatten würde.
Die Geschichte der Hilfe für Menschen, die unter rätselhaften Phänomenen leiden, ist keine Geschichte des linearen Fortschritts. Es gab helle und düstere Phasen. Die heute dominierende Form der Behandlung mit den modernen Psychopharmaka knüpft an die dunkelsten Kapitel der Psychiatriegeschichte an. Dies gilt auch für die dramatische Zunahme der Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen.
Der Weser-Kurier zitiert Uwe Gonther, den ärztlichen Direktor des Klinikums, mit folgenden Worten.
„Früher waren Patienten nur Objekte. Bis heute hat sich vieles verbessert, und ich wünsche mir, dass Betroffene in den nächsten 250 Jahren noch stärker zu Diskussionspartnern und Mitwirkenden in Gesundheitsprozessen gemacht werden.“
Dem möchte ich widersprechen. Bis heute hat sich manches gebessert und vieles verschlechtert. Und ich wünsche mir, dass Betroffene schon bald nicht mehr als Kranke, sondern als Menschen verstanden werden, die unter rätselhaften Phänomenen leiden, hinter denen sich ein rätselhaftes Sein verbirgt, vor dem wir nicht ausweichen können – auch nicht mit Medikamenten, Psychotherapie, Elektroschocks und sonstigen Errungenschaften moderner Technik. Wir müssen lernen, das Rätsel auszuhalten und das Leiden zu erdulden.
Literatur
Small, M. F. (2006). The Culture of Our Discontent: Beyond the Medical Model of Mental Illness. Washington, DC: The Joseph Henry Press, Seite 15
de Young, M. (2010). Madness: An American History of Mental Illness and Its Treatment. Jefferson, NC: McFarland
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