Die Resultate der Forschung waren bisher enttäuschend. Wenn Gene gefunden wurden, die mit der so genannten Schizophrenie assoziiert waren, so war ihre Rolle im Ursachenbündel der jeweiligen Phänomene eher gering. Eine neuere Studie, die im Juli 2014 veröffentlicht wurde, zeigte, dass maximal 3,4 Prozent der Varianz dieser Störung durch eine Kombination von Genen erklärt werden konnte. Daraus lässt sich nur ein geringfügig gesteigertes Risiko für die Ausprägung einer Schizophrenie bei einer entsprechenden genetischen Veranlagung ableiten (Schizophrenia Working Group 2014).
Kein Wunder also, dass der Psychiater C. Robert Cloninger von einem Jahrzehnt der Frustration spricht, auf das die psychiatrischer Genforschung zurückblicke. Cloninger ist einer der führenden Vertreter der genetischen Forschung in der Psychiatrie. Allerdings, so wird er in einer Pressemeldung seiner Universität zitiert, sei nunmehr das Licht am Ende des Tunnels erreicht:
“Was wir hier getan haben, nach einem Jahrzehnt der Frustration im Feld der psychiatrischen Genetik, ist die Wege zu identifizieren, auf denen die Gene interagieren, wie das ‘Orchester’ entweder harmonisch ist und zur Gesundheit führt oder desorganisiert ist und zu verschiedenen Klassen der Schizophrenie führt.”
Cloninger bezieht sich hier auf eine Studie, die am 15. September 2014 im “American Journal of Psychiatry” erschien, die also noch druckfrisch ist (Arnedo et al. 2014). Cloninger gehörte als einer der “Senior Investigators” zu dem Forscherteam dieser Untersuchung, deren Ergebnisse wie eine Sensation ersten Ranges klingen.
Auch angesichts der mageren Ergebnisse der genetischen Forschung wurden in den letzten Jahren Stimmen laut, die bezweifelten, dass es sich bei der Schizophrenie um ein einheitliches “Krankheitsbild” handelt. So schrieb beispielsweise der Neurowissenschaftler und Pharmamanager H. Christian Fibiger:
“Heute würden nur wenige behaupten, dass Syndrome wie die Schizophrenie oder Depression einzelne, homogene Erkrankungen seien. In der klinischen Forschung, einschließlich klinischer Medikamentenstudien, werden sie jedoch fast immer als solche behandelt… trotz der Tatsache, dass es niemals eine robuste Genetik beider Zustände geben wird, da die Natur und Schwere spezifischer Symptome zu heterogen über Individuen hinweg sind, als dass sie irgendwelche konsistenten genetischen Korrelate haben könnten (Fibiger 2012).”
Die Arbeitsgruppe um Arnedo (2) untersuchte 4000 Schizophrene und 3800 normale Personen als Kontrollgruppe. Sie entdeckten distinkte Genmuster, die nicht mit der Diagnose insgesamt, aber mit acht unterschiedlichen Symptomgruppen assoziiert waren. Mit anderen Worten: Es konnten acht separate Syndrome aus der Erbmasse des DSM-Syndroms “Schizophrenie” gebildet werden, denen unterschiedliche genetische Varianten zugrunde liegen.
In der Pressemeldung heißt es weiter:
Obwohl individuelle Gene nur schwache und inkonsistente Assoziationen mit Schizophrenie besitzen, erzeugen Gruppen interagierender Gen-Muster ein extrem hohes und konsistentes Erkrankungsrisiko, in der Größe von 70 bis 100 Prozent. Dies macht es Leuten mit solchen genetischen Variationen beinahe unmöglich, diesen Zustand zu vermeiden.”
Dies bedeutet: Wenn jemand eine bestimmte Gen-Variante hat, dann wird er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit an der dieser Variante zugeordneten Klasse der Schizophrenie erkranken.
Das Neue an dieser Studie besteht darin, dass die “Schizophrenie” nicht als Einheit, als Syndrom betrachtet wurde, sondern dass Gruppen gebildet wurden: einerseits von Symptomen und andererseits von Gen-Mustern und dass dann versucht wurde, diese genetischen Muster und Symptome einander zuzuordnen.
Kurz: Schenkt man dieser Studie Glauben, so zeigt sich, dass es die Schizophrenie nicht gibt, sondern dass sich hinter diesem Kürzel acht unterschiedliche Erbkrankheiten verbergen.
Für diese Studie spricht, dass die Forscher ihre Befunde an zwei unabhängigen Stichproben erfolgreich replizieren konnten. In der Zusammenfassung des Artikels heißt es:
“Die Autoren identifizierten 42 SNP-Mengen (1), die mit einem 70-prozentigem oder größerem Risiko der Schizophrenie verbunden waren, und bestätigten davon 34 (81 Prozent) oder mehr mit einem ähnlich hohen Risiko der Schizophrenie in zwei unabhängigen Stichproben.”
Diese Studie steht in krassem Widerspruch zum bisherigen Stand der Forschung. Ein abschließendes Urteil wird daher erst möglich sein, wenn sie von unabhängigen Forscherteams an anderen Universitäten und in anderen Weltgegenden repliziert werden konnte. Dies ist kein übertriebenes Misstrauen, sondern guter Brauch in der Wissenschaft, angesichts der zahllosen Fehlerquellen, die sich in wissenschaftliche Forschung und statistische Auswertung einschleichen können.
Am 17. März 2014 schrieb ich in der Pflasterritzenflora über die neuen Kraftanstrengungen in der biologisch psychiatrischen Forschung, zu denen sich das NIMH und ihr Direktor Thomas Insel aufgeschwungen haben:
“Bei aller Skepsis begrüße ich also Insels Vorstoß als Schritt in die richtige Richtung. Falls sich eine körperliche Ursache des einen oder anderen Phänomens durch empirische Forschung erhärten und falls sich zeigen ließe, dass durch die gezielte Beeinflussung von neuronalen Pfaden oder einzelnen kognitiven Funktionen die psychische Lage der Betroffenen verbessert werden könnte, dann müssten selbst die verstummen, denen die ganze Richtung nicht passt.”
Dies gilt natürlich auch für die in diesem Tagebucheintrag referierte Studie. Wenn sie sich bewahrheiten sollte, so wäre dies gut und nicht schlecht. Dann könnte man die Diagnose der “Schizophrenie” nicht mehr nach Gutdünken vergeben, sondern wer eine solche Diagnose nach einen genetischen Test erhielte, der litte nach menschlichem Ermessen auch tatsächlich an einer der acht verschiedenen Klassen der Schizophrenie.
Bis man Genaueres sagen kann, wird allerdings noch einige Zeit vergehen. Zunächst gilt es abzuwarten, was Experten der genetischen Forschung zum Design der Studie und zur statistischen Auswertung sagen werden. Zwar ist, angesichts der eminenten Tragweite dieser Befunde, mit baldigen Replikationsversuchen zu rechnen, doch es kann Jahre dauern, bis tragfähige Ergebnisse vorliegen. Die weitere Entwicklung werde ich aufmerksam verfolgen, über sie berichten und gegebenenfalls auch meine bisherigen Auffassungen in der durch die Daten gebotenen Form korrigieren. Empirische Psychiatriekritik ist nun einmal nur den Daten untertan und es gilt abzuwarten, ob diese Daten hieb- und stichfest sind.
Literatur
Arnedo, J. et al. (2014). Uncovering the Hidden Risk Architecture of the Schizophrenias: Confirmation in Three Independent Genome-Wide Association Studies. Am J Psychiatry 2014, doi:10.1176/appi.ajp.2014.14040435
Fibiger, H. C. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650
Schizophrenia Working Group of the Psychiatric Genomics Consortium (2014). Biological insights from 108 schizophrenia-associated genetic loci.Nature511,421–427doi:10.1038/nature13595
Anmerkung
(1) SNP = Variationen einzelner Basenpaare in einem DNA-Strang
(2) Ich danke Andreas Hartmann für seinen Hinweis auf die hier referierte Studie.
Leseempfehlung
1 Boring Old Man: Short-list?
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