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Hubert Kah geschockt

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Bei Maischberger. Thema: Depressionen. Zu den Gästen zählten Pop-Sänger Hubert Kah und der Psychiater Martin Keck. Keck hat Kah mit der Elektrokrampftherapie (EKT) behandelt und damit angeblich geheilt. Der Leiter des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie behauptete:

“Man könnte sagen, das ist wie ein Reset-Knopf.”

Man könnte auch sagen, die Elektrokrampftherapie sei wie ein Lenkrad in einem Auto auf einem Kirmes-Karussell. Das Kind kann daran so viel drehen wie es will, die Fahrtrichtung ändert sich dadurch nicht.

In einer Metaanalyse untersuchten John Read und Richard Bentall die Effektivität der Elektrokrampftherapie (Read & Bentall 2009). Diese Studie bezieht sich nicht nur auf die Behandlung von Depressionen, ich konzentriere mich im folgenden Referat der Befunde aber ausschließlich auf dieses “Krankheitsbild”.

Die Autoren durchsuchten die maßgeblichen Datenbanken PsycINFO und Medline, frühere “Reviews” sowie Metaanalysen, um empirische Studien zu identifizieren, die Elektrokrampftherapie mit vorgetäuschter Elektrokrampftherapie (also einer Placebo-Therapie) verglichen. Bei den vorgetäuschten Elektrokrampftherapien (vEKT) werden die Patienten scheinbar wie üblich behandelt, also auch narkotisiert, aber es fließt kein Strom. Dennoch besteht natürlich die Gefahr einer Entblindung, weil bei einer vorgetäuschten EKT die charakteristischen Nebenwirkungen wie z. B. Kopfschmerzen entfallen. Dies muss selbstverständlich bei der Interpretation der entsprechenden Experimente berücksichtigt werden.

Die Autoren identifizierten zehn Studien, die EKT mit vEKT verglichen, um die Effektivität zu ermitteln.

Widmen wir uns zunächst den Effekten während der Behandlungsphase: Fünf dieser Untersuchungen fanden hier keinen Unterschied. Zwei Studien, die einen Unterschied zugunsten der EKT ermittelten, entwerteten sich selbst, indem sie den vEKT-Patienten eine bzw. drei Wochen nach der vEKT eine EKT gaben. In einer weiteren Studie zeigten sich positive Effekte nur bei einer Teilgruppe der Patienten und die Wirkungen waren vorübergehend. Außerdem wurden die Verbesserungen allein von den Psychiatern wahrgenommen; die Beurteilungen von Patienten und Pflegern erbrachten keine Differenz. Die beiden letzten der zehn Studien fanden signifikant bessere Ergebnisse bei den EKT-Patienten.

Keine der zehn Studien berichtete Differenzen zwischen EKT und vEKT nach Beendigung der Behandlung. Bei sechs der Untersuchungen war dies der Fall, weil sie keine Follow-up-Daten erhoben hatten. Bei den restlichen Untersuchungen erfolgten diese Messungen zwar, aber es ergaben sich keine signifikanten Unterschiede im Anschluss an das Therapieende.

Read und Bentall werteten auch die Metaanalysen anderer Autoren zu dieser Fragestellung aus. Sie identifizierten acht Arbeiten. Keine dieser Metaanalysen konnte Hinweise auf eine Effektivität der EKT über die Behandlungsphase hinaus ermitteln.

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte einige Jahre zuvor bereits Colin A. Ross in einer Analyse der Literatur zu vorgetäuschten Elektrokrampftherapien (Ross 2006). Er schreibt:

“Die Behauptungen in Lehrbüchern und Übersichtsarbeiten, dass EKT effektiv sei, stimmen nicht mit den veröffentlichten Daten überein. Ein große Studie mit angemessener Versuchsplanung zum Vergleich zwischen realer und vorgetäuschter EKT sollte durchgeführt werden. In Abwesenheit einer solchen Studie, sollten die Formulare zur informierten Einwilligung eine Stellungnahme enthalten, dass es keine kontrollierte Evidenz gibt, die irgendeinen Nutzen der EKT einen Monat nach Behandlungsende demonstriert. Die Formulare sollten konstatieren, dass EKT nur grenzwertig effektiver ist als eine Placebobehandlung.”

Die Welt berichtete am 14. August 2014 über die Behandlung Hubert Kahs. Und zwar unter der Überschrift: “Nur ein Krampfanfall half aus der Depression“. Die Zeitung versteigt sich zu folgender Sentenz:

“Der Krampfanfall wirkt wie ein Reset-Knopf für das entgleiste Stresshormonsystem. Er regt das Zellwachstum im Gehirn an, das bei einer Depression so stark unterdrückt ist, dass der Hippocampus, zuständig für die Stimmungsregulation, seine Funktion nicht mehr erfüllen kann. Durch das Zellwachstum werden Botenstoffe angeregt, außerdem wird unter Krampf der Neurotransmitter Oxytocin freigesetzt. Die Folge: Die Patienten spüren schon kurz nach dem Erwachen eine deutliche Erleichterung.”

Erstens findet sich in der publizierten Fachliteratur kein Hinweis darauf, dass der zitierte Absatz die Wirkung der EKT zutreffend beschreibt und zweitens ist dies auch keine angemessene Darstellung der Vorgänge im Gehirn bei einem Placebo-Effekt.

Man muss den Nutzen einer solchen Placebo-Behandlung natürlich vor dem Hintergrund der Schäden bewerten, die durch eine EKT ausgelöst werden können. EKT kann schwerwiegende neuropathologische Störungen hervorrufen, die sich insbesondere auf das Gedächtnis auswirken (Breggin 1998).

Wenn auch der Placeboeffekt der EKT nicht geleugnet werden kann, so sind Rückfälle nach EKT keine Seltenheit. In einer neueren Studie heißt es:

“Trotz Weiterbehandlung ist das Risiko eines Rückfalls innerhalb des ersten Jahres nach einer EKT substanziell, wobei die ersten sechs Monate das größte Risiko bergen (Jelovac et al. 2013).”

51,1 Prozent der Patienten, die nach EKT mit Psychopharmaka weiterbehandelt wurden, erlitten während des ersten Jahres einen Rückfall. Bei vielen Patienten ist der Placeboeffekt, der mit einer EKT verbunden ist, also nur kurzfristig wirksam.

Es handelt sich bei den “Depressiven” nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnis vermutlich nicht um Kranke, da trotz jahrzehntelanger Forschung keinerlei neurobiologische Grundlagen dieser Störung gefunden werden konnten, dennoch aber befinden sich zweifellos viele der Betroffenen in großen Nöten, warum auch immer. Unter allen gleichwertigen Möglichkeiten, ihnen zu helfen, sollte man jene wählen, die am wenigsten schaden. Die EKT gehört mit Sicherheit nicht zu jenen Mitteln, die sich zu diesem Zweck anbieten.

Literatur

Breggin, P. R. (1998). Electroshock: scientific, ethical, and political issues. International Journal of Risk & Safety in Medicine 11 (1998) 5–40

Jelovac, A. et al. (2013). Relapse Following Successful Electroconvulsive Therapy for Major Depression: A Meta-Analysis. Neuropsychopharmacology, 18 June

Read, J. & Bentall, R. (2010). The effectiveness of electroconvulsive therapy: A literature review. Epidemiologia e Psichiatria Sociale, 19, 4, 333-347

Ross C. A. (2006). The sham ECT literature: implications for consent to ECT. Ethical Hum Psychol Psychiatry. 2006 Spring;8(1):17-28.

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