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Grenzen der empirischen Psychiatriekritik

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Die empirische Psychiatriekritik fußt auf Fakten. Ihre Argumentation stützt sich auf Studien. Über deren Ergebnisse muss man im Prinzip nicht streiten. Man muss nur abwarten, bis sie von verschiedenen Forscherteams in unterschiedlichen Weltgegenden repliziert wurden. Eine gute Studie enthält alle Angaben, die zu ihrer Replikation erforderlich sind. Fehlen diese oder sind sie unvollständig, kann man sie getrost als irrelevant aussondern.

Soweit die Theorie. Wäre die Wissenschaft nur sich selbst überlassen, würde sie nur vom Forscherdrang und Neugier vorangetrieben, so würde auf diese Weise ein unverfälschtes und umfassendes Bild einer Disziplin entstehen. Nur dies ist leider nicht der Fall. Kräfte von außerhalb versuchen Einfluss darauf zu gewinnen, welche Themen wissenschaftlich untersucht  und welche Befunde schlussendlich in den Fachzeitschriften veröffentlicht werden. Zu diesen Kräften zählt natürlich in erster Linie die Pharmaindustrie. Aber auch Lobby-Gruppen unterschiedlicher Couleur und nicht zuletzt staatliche Stellen spielen eine wesentliche Rolle in diesem Spiel.

Aus diesem Grunde kann sich Psychiatriekritik nicht allein auf empirische Studien zur Diagnostik, Therapie und zu den Ursachen von problematischem Verhalten und Erleben konzentrieren. Sie muss auch Untersuchungen zu den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergründen psychiatrischer Forschung und Praxis berücksichtigen. Selbstverständlich aber unterliegen auch die sozial-, kultur- und wirtschaftswissenschaftlichen Studien den bereits erwähnten Verzerrungen und Einflüssen.

Doch beim Versuch, diese Fragen zu klären, ist die Psychiatriekritik nicht gezwungen, den empirischen Rahmen zu überschreiten. Letztlich kann man nur anhand von Tatsachen entscheiden, ob Einflüsse von außerhalb die wissenschaftliche Forschung beeinflusst haben. Die relevanten Fakten sind unter Umständen nicht leicht zu ermitteln, doch es ist prinzipiell nicht ausgeschlossen, die Prozesse der Beeinflussung mit empirischen Methoden zu erforschen. In diesem Bereich stößt die empirische Psychiatriekritik also nur an relative Grenzen.

Es gibt allerdings auch Grenzen, absolute Grenzen, die sie mit den eigenen Methoden nicht zu überwinden vermag. In einen Tagebucheintrag vom 17. September 2014 habe ich eine Studie vorgestellt, die genetische Muster als Grundlage von Syndromen aus dem schizophrenen Formenkreis identifiziert haben will. Diese Studie wurde noch nicht repliziert und daher sind ihre Befunde bisher nur als Hypothesen zu betrachten, die weiterer Erforschung bedürfen.

Es wäre durchaus möglich, dass Replikationsversuche dieser Studie gelingen und dass sich die genetische Grundlage einzelner “schizophrener Syndrome” empirisch erhärten ließe. Wäre damit dann bewiesen, dass “Schizophrenie” das Kürzel für eine Reihe unterschiedlicher Erbkrankheiten wäre? Nehmen wir beispielsweise an, es gäbe ein genetisches Muster, dass mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu akustischen “Halluzinationen” führt. Der Betroffene hört also Stimmen, die sonst niemand hört und die nicht aus einer mit physikalischen Methoden identifizierbaren Quelle stammen.

Kann man auf empirischer Grundlage entscheiden, ob dieses Phänomen eine Krankheit ist? Natürlich hätte es voraussetzungsgemäß eine körperliche Grundlage, die genetische Abweichung. Eventuell würden Betroffene unter diesem Phänomen auch leiden. Wir hätten also beide Bestandteile beisammen, die im medizinischen Verständnis eine Krankheit ausmachen; körperliche Veränderung plus Leiden. Allein; wer sagt uns denn, dass es sich bei diesem Phänomen nicht um ein Talent handelt und bei dem Leiden darunter um ein Existenzial, das zum Leben gehört?

Hier handelt es sich eindeutig um eine philosophische Frage, die mit empirischen Mitteln, die auf der Grundlage von Tatsachen nicht geklärt werden kann. Es mag zwar sein, dass ein Betroffener Stimmen hört, die nicht aus einer physikalischen Quelle stammen und es mag auch sein, dass dieses Phänomen nur bei Leuten mit einer genetischen Anomalie auftritt, aber dies macht es ebenso wenig zu einer Krankheit wie beispielsweise eine hohe oder niedrige Intelligenz, falls sich deren erbliche Grundlage nachweisen ließe (was bisher noch nicht der Fall ist).

Empirisch fundiert ist die Kritik am psychiatrischen Krankheitsbegriff nur solange, wie sich keine körperlichen Ursachen der Phänomene finden lassen, die von der Psychiatrie als Symptome psychischer Krankheiten gedeutet werden. Dies ist zwar die momentane Situation der psychiatrischen Ursachenforschung, aber so muss es ja nicht zwangsläufig immer bleiben. Und selbst wenn es der Psychiatrie niemals gelingen sollte, ihre Krankheitskonstrukte empirisch zu erhärten, wäre damit das grundsätzliche Problem nicht aus der Welt geschafft. Die Frage lautet: Wie, wenn nicht als Krankheit, sollen die einschlägigen Phänomene bewertet werden?

Empirie ist die Voraussetzung jeder fundierten Psychiatriekritik; sich aber auf sie zu beschränken, ist nicht vernünftig. Denn Vernunft bedeutet, die Grenzen der Rationalität zu erkennen.

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