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Künstliche “Krankheiten”

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In Zeiten, als die Gremien, die über die Ethik der Forschung wachen, noch nicht so streng waren wie heute, wurde experimentell nachgewiesen, dass man “psychische Krankheiten” durch Hypnose hervorrufen kann. Beispiele dafür werden u. a. in Schriften Lurias und Ericksons beschrieben (1,2).

Das Verfahren ist relativ einfach, obwohl man es natürlich nach Belieben ausgestalten und verfeinern kann. Das Grundprinzip lässt sich wie folgt skizzieren: Man suche sich eine gut hypnotisierbare Versuchsperson, bei der man Halluzinationen und Wahnideen hervorrufen kann. Nennen wir sie Otto. Man suggeriere Otto in einem solchen somnambulen Zustand ein psychiatrisches Symptom. Beispiel: Sobald er aus der Hypnose erwache, werde er eine bestimmte Person für einen Marsmenschen in Menschengestalt mit übernatürlichen Fähigkeiten halten und gleichzeitig den Tatbestand der Hypnose vergessen haben.

In der Gegenwart des “Marsmenschen” wird sich Otto nunmehr überaus skurril und merkwürdig verhalten. Er wird uns, sobald er Vertrauen zu uns gefasst hat, in Abwesenheit des “Marsmenschen” vielleicht verraten, dass er sich vor dem Außerirdischen fürchte, weil dieser mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet sei. Erst wenn wir den entsprechenden posthypnotischen Befehl wieder aufheben, wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen und er wird erkennen, dass er von einem Hypnotisieur im wahrsten Sinne des Wortes zum Narren gehalten wurde.

Handelt es sich bei diesem Vorgang um die Erzeugung einer experimentellen psychischen Krankheit. Dafür spricht einiges:

  • Otto leidet durchaus an einem Wahn im psychiatrischen Sinn. Der “Marsmensch” ist in Wirklichkeit unser Gewährsmann und wir wissen definitiv, dass er nicht vom Mars stammt.
  • Der Wahn beruht auf einem Mechanismus
  • Man darf annehmen, dass dessen Exekution und damit das Wahnphänomen von gestörten Hirnprozessen abhängt.

Andererseits aber hat sich Otto entschieden, sich von uns hypnotisieren zu lassen und er hat sich entschieden, unseren Befehlen zu folgen, einschließlich dem, die Hypnose zu vergessen. Auch wenn er sich nicht daran erinnern kann, wie all dies zustande kam, so handelt er doch aus freien Stücken. Sein Wahn beruht auf einer eigenen Entscheidung. Der Hypnotisierung haftet nichts Geheimnisvolles an; sie funktioniert, weil sich der Hypnotisand entscheidet, den Befehlen des Hypnotiseurs zu folgen. Wenn ihm dann sein eigenes Verhalten rätselhaft erscheint oder wenn er ihm eine falsche Erklärung gibt, so genau darum und nur darum, weil er sich entschieden hat, auch in dieser Hinsicht den Anweisungen des Hypnotiseurs zu gehorchen.

Dabei müssen die Anweisungen nicht immer direkt und offen ausgesprochen werden. Sie können auch implizit sein, sich aus der Logik der Sache ergeben. Der posthypnotische Befehl legt einen Rahmen fest, den der Hypnotisand frei ausgestalten kann. Wenn wir Otto fragen, warum er denn glaube, dass unser Mitarbeiter ein “Marsmensch” sei, dann kann er alle möglichen Gründe dafür nennen, nur den einen, den wahren wird er nicht angeben, denn dies würde dem posthypnotischen Befehl widersprechen. Vielleicht wird Otto sogar einräumen, dass er eventuell “psychisch krank” sein könnte, sofern es uns mit entsprechenden psychiatrischen Maßnahmen gelingt, seine “Krankheitseinsicht” zu fördern.

Die Hypnotisierung ist eine Kommunikationsform, die nicht an bestimmte Methoden, an ein bestimmtes Procedere gebunden ist. Es ist auch nicht erforderlich, dass einer der Beteiligten den Begriff “Hypnose” verwendet, geschweige denn, dass irgendwem bewusst wird, an einer Hypnotisierung teilzunehmen. Gut hypnotisierbare Menschen – in etwa zehn Prozent der Bevölkerung – können in Hypnose fallen, wenn ihr Bewusstsein eingeengt und ihre Kritikfähigkeit ausgeschaltet wird, mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen auch immer.

Ich überlasse es dem Leser, sich die Details dieses Grundsachverhalts auszumalen und auf beliebige Beispiele aus seinem eigenen Leben zu übertragen. Heute herrscht trübes, regnerisches Wetter, aber wir können unsere Fantasie ausschweifen lassen; und schon liegen wir am Strand und genießen die wärmenden Strahlen der Sonne auf unserer Haut. Befinden wir uns nicht alle häufig in einer Situation, in der wir angeblich X aus dem Grund G tun, obwohl wir uns zugleich darüber klar sind, dass wir X tun, weil uns “unbewusst” der Grund K dazu getrieben hat? Im Grunde wissen wir, dass K relevant ist, obwohl wir keinen Zweifel daran haben, dass G der Grund ist. Im Grunde gibt es immer viele Gründe, aber wer hat schon die Zeit, die Lust und den Mut, immer allen Dingen auf den Grund zu gehen.

Oft muss es einfach genügen, uns mit einem plausiblen Grund für unser Verhalten und Erleben darüber hinwegzutrösten, dass die Welt im Grunde doch ein großes Rätsel und zugleich alles offenbar und einleuchtend ist. Warum sollte beispielsweise ein Mensch, der alle psychiatrischen Kriterien einer psychischen Krankheit erfüllt, sich nicht als “psychisch krank” empfinden, wenn ihm dies ein Psychiater von oben herab mit sonorer Stimme nahelegt, selbst wenn all dies fragwürdig wäre, gar willkürlich erschiene?

Manche meinen ja, wenn ein Krankheitsbegriff nur eindeutig definiert sei, dann sei er auch valide. In gewissem Sinne gilt des ja auch: Das Thomas-Theorem lautet: Wenn Menschen ihre Situationen als real definieren, dann sind sie auch in ihren Konsequenzen real. In diesem Sinne schafft die psychiatrische Diagnose durchaus die Tatsachen, die sie abzubilden vorgibt. Dies ist die Realität, mit der man sich abfinden kann.

Aber natürlich nicht muss. Die Frage ist, ob wir anderen gestatten wollen, unsere Realität zu definieren, ob wir uns diese Definitionen zu eigen machen wollen. Eine Frau geht zu einem Psychiater, weil sie, so sagt sie ihm, unter Erinnerungen an grausame Rituale leide, die sie angeblich als Kind in einer Familie, die zu einer satanischen Sekte gehörte, zu erdulden hatte. Der Psychiater sagt ihr, diese Erinnerungen seien falsch und die Symptome einer Krankheit, die man Schizophrenie nenne. Der satanische Missbrauch habe gar nicht stattgefunden. Die Frau muss sich nun entscheiden, welche Definition sie sich zu eigen machen will.

Definition steht gegen Definition. Die Frau führt ihre Symptome auf den satanisch rituellen Missbrauch, der Psychiater auf eine Stoffwechselstörung im Gehirn zurück. Welche dieser beiden Diagnosen ist valide? Die besser definierte – oder jene, die mit den Tatsachen übereinstimmt? Können wir die Tatsachenprüfung durch Suggestion ersetzen? Schneller geht es natürlich, wenn die suggestive Kraft des Psychiaters ausreicht, um die Frau von ihren Ideen abzubringen. Dann kann der Rezeptblock gezückt werden und ab geht’s in die Apotheke. Die Sache ist sauber definiert und in trockenen Tüchern. Wollen wir dies so handhaben?

Man kann natürlich behaupten, dass man durch Hypnose durchaus Symptome einer “psychischen Krankheit” hervorrufen könne, nicht aber diese selbst. Ja, aber wo steckt sie denn, diese Krankheit? Im Gehirn? Trotz eifriger Suche ist es der Psychiatrie bisher nicht gelungen, sie dort ausfindig zu machen. Wenn nicht dort, wo sonst? Manche meinen, irgendwann einmal werde die Psychiatrie schon die gestörten Hirnprozesse identifizieren, die diesen Krankheiten zugrunde lägen. Das ist eine Suggestion, kein Fakt. Manche meinen, auch wenn es im Gehirn nichts zu entdecken gäbe, so litten diese Menschen doch und seien deswegen krank. Auch dies ist eine Suggestion, kein Fakt.

Wo, lieber Leser, sind die Fakten den Suggestionen stets untergeordnet? Mir fällt dazu spontan das Marketing ein.

Anmerkungen

(1) Luria, A. R. (1932). The Nature of Human Conflict. New York: Grove Press
(2) Erickson, M. H. (1935). A study of an experimental neurosis hypnotically induced in a case of ejaculatio praecox. British Journal of Medical Psychology, 15, 34-50

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