Eine Frau, nennen wir sie Lisa, weint seit Monaten fast jeden Tag, und wenn nicht, dann ist sie sichtbar den Tränen nahe. Ihrem Ehemann, Paul fällt auf, dass sie sich auch sonst verändert hat: Ihre Aktivität ist vermindert; man beobachtet sie sogar kaum noch bei Tätigkeiten, die ihr früher Freude machten. Sie hat erheblich an Gewicht verloren. Nachts findet sie häufig nicht in den Schlaf. Vor die Wahl zwischen Alternativen gestellt, kann sie sich oft nicht (rechtzeitig) entscheiden.
Paul drängt sie schließlich dazu, einen Arzt aufzusuchen.
Erste Variante: Sie berichtet dem Mediziner, dass sie sich traurig und leer fühle, dass sie eine unerklärliche Unruhe in sich spüre, dass sie sich wertlos und schuldig vorkomme. Sie könne sich nicht konzentrieren und oftmals falle ihr jeder Gedanke schwer. Immer wieder müsse sie an den Tod denken und mitunter erwäge sie, sich von all dieser Qual zu erlösen. Sie habe eigentlich den Arzt gar nicht aufsuchen wollen, weil ja doch alles vergeblich sei. Aber ihr Mann habe sie dazu gedrängt. Sie erzählt dem Arzt, welche Veränderungen ihr Mann an ihr beobachtet habe, dass er sich deswegen Sorgen mache und die Gründe geklärt wissen wolle.
Hier sind offenbar zwei Gruppen von Phänomenen relevant. Die Elemente der einen Gruppe können beobachtet werden. Es handelt sich dabei um die Verhaltensweisen, die Paul wahrgenommen hat. Die Aspekte der anderen Gruppen aber können nicht beobachtet, sondern nur vom Betroffenen selbst erlebt werden. Es sind dies die mentalen Zustände, die Lisa gegenüber ihrem Arzt bekundete.
Zweite Variante: Lisa erzählt dem Mediziner, dass sie nur auf Drängen ihres Mannes bei ihm erschienen sei. Paul habe seltsame Veränderungen ihres Verhaltens bemerkt, die sie ja gar nicht bestreiten wolle, die sie sich aber auch nicht erklären könne. In ihrem Leben habe sich nichts Wesentliches verändert und sie fühle sich wie immer.
In der ersten Variante vermutet der Arzt, dass Lisas Verhalten und Erleben eindeutig für eine Depression sprächen. In der zweiten Variante unterstellt der Arzt, Lisa leide an einer Depression, dissimuliere jedoch die damit verbundenen Symptome im Bereich des Erlebens. Beweisbar ist die Diagnose jedoch in keinem Fall, denn erstens haben sich alles bisherigen bio-psycho-sozialen Erklärungsversuche der genannten depressiven Verhaltensweisen als unzulänglich erwiesen und zweitens hängt die Interpretation des mentalen Zustands von den Bekundungen Lisas ab, und diese können in beiden Varianten falsch sein.
Der Arzt hätte in der ersten Variante auch behaupten können, dass Lisas Verhalten und Erleben auf den Einwirkungen eines Dämons beruhe. In der zweiten Variante hätte er unterstellen können, dass der Dämon zusätzlich ihren Geist verwirrt habe. Da wir aber nicht mehr im Mittelalter leben, fabuliert der Arzt, Lisa leide unter einer Depression, die durch einen Serotonin-Mangel hervorgerufen werde. Er verschreibt ihr ein Medikament, dass angeblich den Mangel ausgleicht. Wenn er einen Exorzismus angeordnet hätte, so wäre dies auch nicht weniger wissenschaftlich fundiert gewesen.
Es gibt keine empirisch erhärtete Ursachentheorie für “psychische Krankheiten”. Das angeblich durch derartige “Krankheiten” verursachte Verhalten kann auch anderes gedeutet werden und das bekundete Erleben muss nicht mit den tatsächlichen mentalen Zuständen übereinstimmen. Doch selbst wenn ein Patient so ehrlich wie möglich über seine innere Befindlichkeit Auskunft gibt, so gilt doch, dass uns das Erleben eines mentalen Zustands nicht verrät, was ihn hervorbringt.
Man könnte, angesichts des Sachstandes, nun Folgendes fordern: Klammern wir alles aus, was sich nicht beobachten lässt. Ursachentheorien sind unerheblich und Spekulationen über mentale Zustände überflüssig. Konzentrieren wir uns auf das Verhalten. Verhalten mag nicht alles sein, aber alles, was sich beobachtbar verändern lässt, ist Verhalten.
Dass sei Dressur, könnte man einwenden, Behavorismus, Verhaltenstherapie, unmenschlich, Zwang. An diesem Einwand ist sicher etwas dran. Andererseits: Wenn jemand aus freien Stücken eine Änderung seines Verhaltens wünscht und es gelingt uns, seinen Wunsch beobachtbar und nachweislich zu erfüllen, was sollte daran verwerflich sein, auch wenn es sich um eine Dressur handelt? Wird man nicht auch dressiert, wenn man lernt, Klavier zu spielen oder Auto zu fahren?
Ein Psychiater mag einwenden, durch solche Methoden würden allenfalls die “Symptome” überlagert, aber die eigentliche “Krankheit” nicht beeinflusst. Dies könnte zutreffen, wenn eine solche “Krankheit” tatsächlich existierte und wenn die Phänomene tatsächlich deren “Symptome” wären. Doch es gibt keinen vernünftigen, auf Tatsachen fußenden Grund, die Existenz derartiger “Krankheiten” zu unterstellen.
Es spräche also viel, wenn nicht alles für die Verhaltenstherapie, wenn sie nicht einen kleinen Schönheitsfehler hätte. Aus der empirischen Psychotherapieforschung wissen wir, dass sie nicht effektiver ist als jeder andere Therapieform, die jemals mit ihr, in methodisch (halbwegs) einwandfreien Studien, verglichen wurde. Es zeigte sich, dass Therapiemethoden gar nicht so wichtig sind. Als in erster Linie entscheidend für den Erfolg, stellte sich heraus, dass Patienten und Therapeuten, in engem Arbeitsbündnis, fest davon überzeugt sind, dass die Methode wirkt. Kurz: Wer sich in eine Psychotherapie begibt, betritt das wundersame Reich der Placebo-Wirkung.
Aber was ist mit den Medikamenten, gegen diese könne man ja sagen, was man wolle, aber dass sie wirkten, könne niemand bestreiten. Freilich, sie wirken: In vielen Fällen wirken sie wie ein Placebo, z. B. die Antidepressiva. Manchmal wirken sie auch dadurch, dass sie eine mutmaßliche, also die “psychische Erkrankung”, durch eine reale, nämlich eine schwere neurologische Störung ersetzen, wie z. B. die Neuroleptika. Wenn beispielsweise jemand ein leidenschaftlicher Anhänger von Borussia Dortmund ist, so wird man dies durch eine angemessene Gabe von Neuroleptika durchaus “heilen” können. Wie, das sei keine Krankheit? Man kann aber alles als Krankheit definieren, solange man sich um die Validität der Diagnosen nicht kümmert.
Psychiatriekritikern wird häufig vorgeworfen, sie wüssten ja auch nicht, wie man es besser machen könne als die Psychiatrie. Dazu ein Beispiel aus der Geschichte der Medizin. Als Hahnemann die Homöopathie erfand, da traktierte die so genannte Schulmedizin ihre Patienten häufig mit Mitteln, die bestenfalls wirkungslos waren, ihnen aber nicht selten mehr schadeten als nutzten. Die Homöopathie war ein großer Erfolg, und dies nicht etwa, weil die entsprechenden Mittel wirksamer waren als ein Placebo, sondern weil sie die Patienten vor Schlimmerem bewahrte, was ihnen die Schulmediziner hätten antun können. Als Hahnemann die Homöopathie begründete, da wusste die Medizin so gut wie nichts, und entsprechend waren ihre Methoden.
In einer vergleichbaren Situation befinden wir uns noch heute in Sachen Psychiatrie. Sie weiß so gut wie nichts und ihre Methoden richten oftmals mehr Schaden an, als sie Nutzen stiften. Daher darf man es als medizinischen Erfolg der Psychiatriekritik werten, wenn sie potenzielle Patienten gegenüber der Psychiatrie skeptisch macht. Selbsthilfe (auch durch allerlei harmlosen Hokuspokus) ist oftmals besser als eine psychiatrische Behandlung. Schließlich gilt: Primum nihil nocere. Dieses Prinzip führt sich zwar selbst ad absurdum, wenn man es allzu streng auslegt, denn beinahe jeder Eingriff hat unerwünschte Nebenwirkungen, sofern er Wirkungen hat. Doch je primitiver der Erkenntnisstand einer Disziplin ist, desto strenger muss dieses Prinzip befolgt werden.
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