Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all articles
Browse latest Browse all 323

Die psychiatrische Dressur des Denkens

$
0
0

Die psychiatrische Dressur des Denkens führt dazu, dass auch kluge Leute vielfach nicht zwischen einschlägigen Sachverhalten unterscheiden können, obwohl die Unterschiede ins Auge springen.

Ein Leser schreibt: “Sie behaupten, dass Geisteskrankheiten nicht existieren. Aber in Ihren Artikeln über multiple Persönlichkeiten lese ich, dass diese nach Ihrer Ansicht real seien. Ist dies nicht kurios? Nur die umstrittenste aller Diagnosen soll es wirklich geben?”

Wenn man etwas genauer liest, wird man wohl feststellen, früher oder später, was ich tatsächlich sage: Die Verhaltensweisen und die Muster des Erlebens, auf die sich psychiatrische Diagnosen beziehen, existieren tatsächlich. Dies ist trivial. Es gibt nun einmal Menschen, die Dinge sehen, die andere nicht sehen, die Stimmen hören, die andere nicht hören, die Ideen verfolgen, die andere für verrückt halten, die Dinge tun, obwohl sie darunter leiden, die traurig sind, obwohl sie nach Meinung anderer keinen Grund dafür haben, die sich vor Dingen fürchten, die nach Meinung anderer gar nicht bedrohlich sind, etc.

All diese Phänomene gibt es – und die meisten von uns zeigen solche “Symptome” mehrmals pro Tag, nämlich wenn sie träumen. Es handelt sich dabei aber nicht um “Geisteskrankheiten”, “psychische Krankheiten”, “psychische Störungen mit Krankheitswert” und was der Verunglimpfungen mehr sind. Vielmehr handelt es sich um Varianten des Spektrums menschlichen Verhaltens und Erlebens, um, mitunter riskante, Lebensstile usw.

Aus diesem Grunde sage ich: Es gibt keine psychischen Krankheiten. Es gibt jedoch sehr wohl Muster des Verhaltens und Erlebens, die als “psychische Krankheiten” missdeutet werden. Es gibt auch Muster des Verhaltens und Erlebens, die, sogar gemessen an den Wünschen und Zielen des Betroffenen, eindeutig dysfunktional sind und die man wohl als verrückt bezeichnen darf. Nur selbst in diesen Fällen handelt es sich nicht um Krankheiten. Hier gilt aus meiner Sicht die Devise: Garbage in – garbage out (GIGO). Diese Devise kennen wir ja auch aus dem Computerwesen. Wenn man den Computer mit Mülldaten füttert, dann darf man sich nicht wundern, wenn auch der Output Müll ist: GIGO. Aus dem hervorgebrachten Müll sollte man nicht schließen, dass der Computer kaputt sei oder die Software nichts tauge.

So reagiert beispielsweise die überwiegende Mehrheit der Frontsoldaten im Stahlgewitter mit Mustern des Verhaltens und Erlebens, die als “Krankheitssymptome” gedeutet werden können, weil sie in den psychiatrischen Manualen als Indikatoren psychischer Krankheiten beschrieben werden. Da greift man sich an den Kopf! Da die überwiegende Mehrheit so reagiert, da auch Soldaten so reagieren, die nie zuvor einschlägig auffällig geworden sind,  so kann es sich doch nur um eine normale Reaktion normaler Menschen auf eine verrückte Situation, nämlich auf den Wahnsinn des Krieges handeln. Alles GIGO oder was?

Wenn fast alle Kinder in einer Schule beständig Faxen machen und nichts lernen wollen, und wenn sich diese Schule in einem verrotteten Zustand befindet, wenn die Lehrer überfordert und demotiviert sind, wenn die Kinder aus einem nicht nur bildungs-, sondern erziehungsfernen Milieu stammen, dann brauchen diese Kinder kein Ritalin, nach meiner Meinung, sondern dann ist deren dysfunktionale Reaktion das erkennbare Ergebnis des Prinzips: Garbage in – garbage out!

Natürlich gibt es Störungen des Nervensystems oder anderer Organe des Körpers, die sich dysfunktional auf das Verhalten und Erleben auswirken. Aber der Witz ist doch, dass solche Störungen bei den so genannten psychischen Krankheiten bisher nicht entdeckt werden konnten. Und würden sie entdeckt, dann müsste man diese mutmaßlichen psychischen Krankheiten angesichts der eindeutigen Befunde als neurologische oder sonstige körperliche Krankheiten auffassen. Im 19. Jahrhundert hielt man beispielsweise die Epilepsie für eine psychische Krankheit und entwickelte skurrile psychiatrische Ideen zu ihren Ursachen. Als man schließlich die pathophysiologischen Prozesse, die dieser Krankheit zugrunde liegen, besser verstand, löste man sich von der, wie üblich falschen, psychiatrischen Diagnose.

Und nun zur multiplen Persönlichkeit: Natürlich gibt es Menschen, die sich so verhalten, als ob mehrere Persönlichkeiten unter ihrer Schädeldecke hausten. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Menschen geisteskrank, psychisch krank oder psychisch gestört mit Krankheitswert seien. Auch hier gilt: Garbage in – garbage out. Von einer echten multiplen Persönlichkeit spreche ich, wenn Menschen von Kindesbeinen an mit den Mitteln der Gehirnwäsche abgerichtet wurden, sich wie eine multiple Persönlichkeit zu verhalten. Dies geschieht in der Regel aufgrund militärischer, geheimdienstlicher oder, seltener, krimineller Ziele. Von einer unechten multiplen Persönlichkeit spreche ich, wenn Menschen von Psychotherapeutinnen oder anderen wohlmeinenden Helfern dazu angestiftet wurden, ihre innere Zerrissenheit in Form einer psychiatrischen Diagnose, der so genannten Multiplen Persönlichkeitsstörung zu inszenieren. GIGO, was sonst?

Es gehört zu den Prinzipien des Marketings, ein Produkt – sei es ein materielles Gut oder eine Dienstleistung – mit einer Problemlösung zu assoziieren. Dies ist ein mechanischer Vorgang. Die Verbindung zwischen Produkt und Lösung wird dem Konsumenten durch Werbung regelrecht eingehämmert. Er wird konditioniert. Hinter dem sterilen Wort der Konditionierung verbirgt sich im Klartext die Dressur. Und so dressiert das Psychiatrie-Marketing ebenfalls ihre Konsumenten, indem sie ihnen folgende Assoziation einhämmert:

Rätselhaftes, normabweichendes Verhalten und Erleben => psychische Krankheit => medizinische Behandlung durch Pillen und Psychotherapie als Problemlösung.

Die Dressur war offenbar bei den meisten Mitbürgern sehr erfolgreich. Auch der Leser, an dessen Frage ich oben anknüpfte, hätte sie nicht stellen müssen, wenn er bei der Lektüre meiner Artikel nicht dieses Schema im Kopf gehabt hätte. Das klassische Muster für die Einpflanzung eines solchen Schemas ist die Werbung mit dem HB-Männchen, an das sich die älteren Leser noch erinnern werden. Dieser Zeichentrickfigur widerfuhr in einer Serie von Werbespots allerlei Unbill, oft selbstverschuldet, es regte sich mächtig auf, und dann empfahl ihm eine Stimme aus dem Off, lieber eine HB zu rauchen, denn dann gehe alles wie von selbst. Und so war es dann auch.

Man mag einwenden, dieses Beispiel sei schlecht gewählt, denn Rauchen schade bekanntlich der Gesundheit, wohingegen die psychiatrische Behandlung diese wiederherstellen wolle. So wirkt das Schema. Wenn die so genannten psychisch Kranken ein intaktes Gehirn haben, warum gibt man ihnen dann Medikamente, die auf das Gehirn einwirken und die teilweise mit erheblichen Schadwirkungen verbunden sind? Wenn das Schema weiterwirkt, so kommt nunmehr der Einwand:   Dass man bisher noch keine Hirnstörungen bei den psychisch Kranken zu entdecken vermochte, bedeutet doch nicht, dass es keine geben kann. Freilich. Allein, bisher sind diese Hirnstörungen hypothetisch, wohingegen die Schadwirkungen der Medikamente auf das Nervensystem nach wie vor sehr real sind.

Die Konditionierung durch das Psychiatrie-Marketing ist sicher nicht der einzige Grund dafür, dass dieses Schema bei vielen Menschen aktiv ist. Wie andere Werbebotschaften auch, knüpft es an bereits vorhandene Bedürfnisse der Konsumenten an. Selbstverständlich finden viele Zeitgenossen es ganz in Ordnung, wie die Psychiatrie mit armen, leidenden Menschen (lies: Störern) umgeht. Das beständige Einhämmern des Schemas sorgt nur dafür, dass diese Assoziation im Gehirn des Verbrauchers nicht irgendwann einmal verblasst.

Die psychiatrische Dressur des Denkens ist also “business as usual”. GIGO. Wer die Marktwirtschaft toll findet, kann dagegen recht eigentlich nichts einwenden. Sollte da aber einer der Meinung sein, dass die Marktwirtschaft im Großen und Ganzen schon, aber im Detail mitunter, hier und da müsse nachgebessert – wer so denkt, der sollte dann aber auch konsequent sein und eine dauerhafte Lösung anstreben: Erstens hat die Psychiatrie im Gesundheitswesen nichts zu suchen, denn sie behandelt keine Krankheiten, sondern sie korrigiert allenfalls Normabweichungen. Zweitens aber gehört das Gesundheitswesen nicht auf den Markt, denn mit der Gesundheit macht man keine Geschäfte. Medizinische Leistungen sind ein Grundbedürfnis, das nicht verhandelbar ist. Aber das ist ein anderes Thema, zurück zur psychiatrischen Dressur des Denkens.

Die psychiatrische Dressur des Denkens bezieht sich nicht nur auf das oben bereits beschriebene Schema. Eine weitere dieser Marketing-Assoziationen ist die Verkoppelung von Leiden und Krankheit, die ich in meinem Tagebucheintrag vom  23. April 2013 bereits ausführlich auseinandergenommen habe. Wenn man bei der Lektüre eines psychiatriekritischen Textes sich stets kaum des Verdachts erwehren kann, der Autor könne Scientologe sein, dann möge man sich fragen, woran das wohl liegt und wer davon profitiert. Der Leser möge sich präventiv das Schema einprägen: Gresch => vehementer Gegner von Scientology im Besonderen und Sekten bzw. Psycho-Kulten im Allgemeinen, ganz zu schweigen von den Amtskirchen.

Da ich Psychologe bin, fühle ich mich gedrängt, dem Schema, das dem Begriff des Psychologen innewohnt, zu entsprechen und ungefragt die Frage zu beantworten, wie man sich vor der psychiatrischen Dressur des Denkens schützen und bereits eingetretene Schäden heilen bzw. zumindest lindern könne. Hmmm. Äh. Ach wissen Sie was, lieber Leser, wenn Sie so blöd sind, auf all diese primitiven und längst durchschauten Propagandamethoden hereinzufallen, dann kann man Ihnen mit psychologischen Mitteln auch nicht mehr helfen. Wer partout nicht erkennen will, dass der Kaiser nackt ist, bei dem wäre ja auch der Augenarzt schnell am Ende seines kleinen Mediziner-Latinums. Bingo?

Im Übrigen sind ja auch die Folgen der psychiatrischen Dressur des Denkens meist gutartig. Ebenso wie nicht jeder Raucher Lungenkrebs bekommt, zieht sich nicht jeder Psychopharmaka-Konsument eine Spätdyskinesie zu, beispielsweise. Was wäre denn auch das Leben ohne Risiko? Jetzt gibt es sogar einen Hollywoodfilm zu diesem Risiko, den ich noch nicht gesehen habe; aber die Rezensionen in den Zeitungen klingen viel versprechend. Da spritzt das Blut nur so und die Psycho-Pillen sind schuld. Seien Sie aber beruhigt, lieber Leser, das ist Hollywood, ist Kintopp, die Wirklichkeit, die ist ganz, ganz anders, nämlich GIGO.

Noch 52 Wörter muss ich schreiben, dann habe ich 1500 beisammen und kann mich draußen auf die Bank in die Sonne setzen, um ein Buch Korrektur zu lesen. Für heute habe ich mir 1500 Wörter vorgenommen, der Zähler zeigt aber nur 1478. Die psychiatrische Dressur des Denkens, muss, so sagt mir mein Gewissen, für die Suchmaschinen zum Abschluss noch…

Verwandte Artikel

Die Multiple Persönlichkeitsstörung – meist eine iatrogene Erkrankung

Kriegszitterer

The post Die psychiatrische Dressur des Denkens appeared first on Pflasterritzenflora.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 323