Dramatischer Anstieg?
Immer wieder einmal, wenn es sonst nicht viel zu berichten gibt oder wenn die Krankenkassen eine entsprechende Studie herausgegeben haben, schlagen die Medien Alarm: Immer mehr psychisch Kranke!, heißt es, oder: Psychische Krankheiten Hauptgrund für Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Jeder zweite Deutsche, so erfahren wir, leide mindestens einmal in seinem Leben an einer psychischen Krankheit.
Nach kurzem Überlegen habe ich mich dagegen entschieden, hier irgendwelche Statistiken zu präsentieren. Solche Zahlen sind ohnehin ein Schwindel in sich. Denn wie Schönheit liegt “psychische Krankheit” im Auge des Betrachters. Wenn die Zahl psychiatrischer Diagnosen steigt, bedeutet dies zunächst einmal nichts anderes, als dass die Zahl psychiatrischer Diagnosen steigt. Schließlich beruhen diese Diagnosen ausschließlich auf dem subjektiven Urteil von Psychiatern; die Psychiatrie ist nicht in der Lage, “psychische Krankheiten” mit objektiven Verfahren festzustellen; trotz mehrerer Jahrzehnte intensiver Forschung konnte sie keine Hirnstörungen nachweisen, die den so genannten psychischen Krankheiten zugrunde liegen.
Die Medien liefern die Erklärung für die Zunahme angeblicher psychischer Störungen in aller Regel gleich mit. Der zunehmende Stress am Arbeitsplatz sei verantwortlich. Und falls es sich um ein Qualitätsmedium handelt – das sich traut, den Rezipienten eventuell intellektuell zu überfordern – so wird auch noch hinzugefügt, dass Arbeitslosigkeit ebenfalls ein Stressfaktor sei.
Da psychiatrische Diagnosen Willkür sind und jeder Patient gutes Geld bringt, vermuten manche nüchtern denkende Leute, die Zunahme der “psychischen Krankheiten” beruhe auf einem Marktmechanismus. Für diese Sichtweise spricht beispielsweise eine Beobachtung des Psychiaters und Medizinhistorikers David Healy in Sachen “Depression”. Vor der Entdeckung der Antidepressiva war die Depression eine seltene “Erkrankung”, die als vorübergehend eingeschätzt wurde. In der ersten Ausgabe des DSM, der diagnostischen “Bibel” der amerikanischen Psychiatrie, die 1952 erschien, wurde dieser “Krankheit” noch nicht einmal eine eigenständige Kategorie eingeräumt, sie galt als Begleiterscheinung anderer Störungen (1).
Heute konsumiert einer von zehn Amerikanern ein Antidepressivum (2), und anderswo in der modernen, industrialisierten Welt sieht es auch nicht viel anders aus. Man könnte angesichts solcher Zahlen also durchaus den Verdacht in sich nähren, dass der Anstieg “psychischer Krankheiten” auf das unermüdliche Bemühen des Pharma-Marketings zurückzuführen sei. Dass sich dieses Phänomen nicht nur auf die Antidepressiva beschränkt, sondern alle Psychopharmaka zu betreffen scheint, dokumentiert Robert Whitaker in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” (3).
Es ist sicher nicht völlig von der Hand zu weisen, dass immer mehr Menschen, durch Werbung und PR verführt, zur Pille greifen und sich zu diesem Zweck als “psychisch krank” diagnostizieren lassen und dass dies, und nicht gestiegener Stress oder andere sozio-ökonomische Faktoren, der Hauptgrund für die ständig steigende Zahl der einschlägig “Erkrankten” sein könnte.
Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass sich immer mehr Menschen, auch ohne den Einfluss des psychiatrisch-pharmaökonomischen Marketings, als “psychisch krank” empfinden und dies auf Stress zurückführen würden, dass also die Psychiater und die Presse nicht ganz unrecht haben mit ihren Meinungen und Erklärungen. Der Zusammenhang klingt ja auch plausibel: Wir leben in einer mitleidslosen Gesellschaft und wer nicht Schritt halten kann, wird schikaniert und schließlich ausgegrenzt. Unter diesem Druck verhalten sich manche, betragen sich immer mehr Schikanierte und Ausgegrenzte zunehmend bizarrer und dann sind sie ein Fall für den Psychiater, der sie mit Pillen oder guten Worten wieder auf Kurs zu bringen versucht.
Da unsere Gesellschaft immer mitleidloser wird, da der Prozess der Entsolidarisierung immer schneller und brutaler voranschreitet, ist es also, unter diesem Gesichtspunkt der Plausibilität, nicht schwer zu erklären, warum wir uns auf dem Weg zu einer Gesellschaft der angeblich psychisch Kranken befinden. Verdecktes und offenes Marketing mag diesen Prozess beschleunigen, aber er würde sich vermutlich auch ohne diese Maßnahmen vollziehen, wenngleich langsamer.
Dies bedeutet allerdings nicht zwingend, dass der Stress direkt die Phänomene verursacht, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Es ist gut denkbar, dass die Betroffenen den Stress nur als Rechtfertigung dafür benutzen, dass sie diese “Symptome” zeigen. Dies ist sogar sehr wahrscheinlich, denn Stress ist die Folge einer subjektiven Bewertung von Stressoren und kein Agens, das mechanisch zu irgendwelchen Wirkungen führt. So ist beispielsweise nachweislich selbsterzeugter Lärm erheblich weniger stressend als fremderzeugter. Steigt die Zahl und Intensität objektiver Stressoren überprüfbar, dann ist “Stress” natürlich ein besonders schlagkräftiges Argument.
Verhaltensmuster und Interpretation
Folgt man den Ideen des kritischen Psychiaters Thomas Szasz, so muss man strikt unterscheiden zwischen Verhaltensmustern und deren Interpretation. Selbst wenn man also einräumt, dass Menschen sich zunehmend seltsam verhalten, sich ausgebrannt und depressiv oder verfolgt fühlen, unter Ängsten leiden, vom allergrößten Unfug fest und unkorrigierbar überzeugt sind, sich zu viel Bier und Korn in den Kopf klopfen, Rauschgifte in die Venen jagen, so folgt daraus nicht zwangsläufig, dass es sich dabei um “psychisch Kranke” handelt, die ein medizinisches Problem haben, das mit ärztlichen Maßnahmen, also mit Pillen und guten Worten, behandelt werden muss.
Die implizite Voraussetzung dieser Interpretation lautet nämlich: Wer dem zunehmenden Stress, der über uns kommt wie eine Naturgewalt, nicht gewachsen ist, der ist einfach nicht stark genug, und wer nicht stark genug ist, der zeigt Schwäche, und wer Schwäche zeigt, der ist krank, und wer krank ist, der muss zum Arzt, und wenn auch der Arzt nicht mehr helfen kann, dann muss er ins Heim, und wenn er sich nicht helfen lassen will, dann gehört er weggesperrt und zwangsbehandelt.
Dies ist eine mögliche Reaktion auf die Zunahme bizarren Verhaltens in unserer Gesellschaft, dies ist sogar die übliche Denkweise, aber ich glaube nicht, dass sie die einzig mögliche oder gar, dass sie eine sinnvolle ist.
Hier stellen sich natürlich zunächst einmal einige grundsätzliche Fragen:
- Wenn die seltsamen Formen des Verhaltens und Erlebens keine Krankheit sind, was sind sie dann? Da die psychiatrische Forschung keine Hirnstörung nachweisen kann, muss man wohl bis zum Beweis des Gegenteils annehmen, dass es sich hier um die Reaktionen eines normalen Gehirns handelt, dass, wie ein Computer, nach dem Motto agiert: Garbage in – garbage out. Auf eine überfordernde Lebenssituation reagiert der Mensch nun einmal überfordert. Er ist so verrückt wie die Situation, in der er lebt.
- Ist der Stress für die Zunahme “psychischer Krankheiten” verantwortlich? Stress ist die subjektive Reaktion auf Stressoren, also auf Faktoren in der Umwelt, die Stress machen. Menschen unterscheiden sich in vieler Hinsicht, auch in ihrer Fähigkeit, Stress zu verkraften. Viel wichtiger aber ist, dass die Folgen von Stress in erheblichem Maß von der jeweiligen Situation abhängen. In Kriegszeiten beispielsweise gibt es stets weitaus weniger “psychisch Kranke” in der Heimat oder in der Etappe als in friedlichen Zeiten, weil die Leute etwas anderes zu tun haben als Bauchnabelschau, obgleich der Krieg mit einer Fülle von Stressoren verbunden ist. Die Ausnahme ist die Front: Im Stahlgewitter drehen fast alle früher oder später durch, weil dies die einzige Möglichkeit zu sein scheint, diesem Wahnsinn zu entkommen, und für diese Möglichkeit entscheiden sich die meisten Frontsoldaten, bewusst oder unbewusst.
- Wenn weder ein defektes Gehirn, noch der Stress für die Zunahme bizarren Verhaltens und Erlebens – zumindest beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis und zumindest nicht allein – verantwortlich gemacht werden können, was ist denn dann der mutmaßliche ausschlaggebende Grund? Der Hauptverdächtige ist natürlich die neoliberale Ideologie. Wenn den Menschen eingehämmert wird, dass jeder seines Glückes Schmied sei und dass die Starken, Smarten und Leistungswilligen auch Erfolg hätten, dann wollen die Erfolglosen den Vorwurf, sie seien schwach, blöd und faul, nicht auf sich sitzen lassen. Sie suchen – bewusst oder unbewusst – nach Rechtfertigungen und Entschuldigungen. Eine “psychische Krankheit”, besser noch, eine “psychosomatische Störung” eignen sich dazu zwar nicht perfekt, weil sie natürlich stigmatisieren, aber als letzte Zuflucht sind sie jedenfalls besser als das Gefühl, schwach, blöd und faul zu sein. Daher handelt es sich bei den so genannten “psychischen Krankheiten” häufig um Self-Handicapping zum Zwecke der Schadensbegrenzung beim Selbstwertgefühl.
- Zum Self-Handicapping wird man allerdings nicht gezwungen: weder durch Gehirndefekte, noch durch Stress und auch nicht durch die neoliberale Ideologie. Wer die Rolle des “psychisch Kranken” übernimmt, hat sich selbst dazu entschieden und kann dafür auch niemanden und nichts verantwortlich machen. Gern räume ich ein, dass viele, die diese Rolle spielen, es schwer hatten und haben im Leben; allein: sie hatten dennoch eine Wahl. Man muss nicht depressiv werden, wenn der Chef bosst, man kann ihm auch in die Akten scheißen, beispielsweise. Es gibt immer eine ganze Reihe mehr oder weniger guter Alternativen zur “psychischen Krankheit”.
Selbstverständlich ist diese Liste der grundsätzlichen Fragen, die sich uns auf dem Weg zu einer Gesellschaft der “psychisch Kranken” stellen, nicht vollständig und auch die Antworten sind nur Skizzen viel komplexerer Sachverhalte und Zusammenhänge. Es zeigt sich aber bereits hier, dass die Psychiatrie nicht ein Teil der Lösung, sondern des Problems ist.
Was tun?
Zunächst einmal gilt es zu unterscheiden zwischen Faktoren, die sich ändern lassen und solchen, die sich nicht ändern lassen. Theoretisch betrachtet, lassen sich alle Einflüsse ändern oder beseitigen, die durch Menschen hervorgebracht wurden. Dies sollte auch ohne weitere Erklärungen einleuchten.
Praktisch gesehen, können aber nur jene von Menschen geschaffene Umstände beseitigt werden, für deren Beseitigung sich auch eine hinlängliche große Machtbasis findet. Den Kapitalismus wollen weder jene abschaffen, die von ihm profitieren, noch jene, die unter ihm leiden (Ausnahmen bestätigen die Regel). Dies dürfte sich auch auf absehbare Zeit nicht ändern. Also werden die Stressoren, die das bizarre Verhalten begünstigen, bestehen bleiben und allenfalls in ihrer Stärke variieren.
Bei nüchterner Betrachtung bleiben demgemäß nur jene Faktoren als praktisch veränderbar übrig, von denen die individuelle Reaktion auf diese Stressoren abhängt. Die Freunde der Psychotherapie sollten hier nicht vorschnell frohlocken, denn es ist doch wirklich aberwitzig zu glauben, dass sich Reaktionsmuster, die u. U. über Jahrzehnte entstanden sind, durch ein paar Stunden psychotherapeutischem Hokuspokus überwinden ließen. Das ist doch bloß Kosmetik. Aber ich will auch nicht den Pillen-Fans das Wort reden. Man löst keine Probleme, indem man Leuten chemische Scheuklappen aufsetzt. Das ist Vogel-Straus-Politik. Pillen machen in der Regel, zumindest langfristig, alles nur noch schlimmer.
Sobald sich eine Persönlichkeit unter kapitalistischen Lebensbedingungen erst einmal verformt hat, ist nicht mehr allzu viel zu retten. Da muss man realistisch sein. Es gibt also nur noch Hoffnung für die Kinder. Natürlich: Recht einfach wäre es, sich von einer “psychischen Krankheit” zu befreien. Man müsste ihr nur abschwören. Zwar verschwänden dadurch nicht die Phänomene, die eventuell zu einer derartigen Diagnose geführt haben, aber sie würden nicht mehr als “Symptome” verstanden. Andere würden den Betroffenen womöglich immer noch als “psychisch krank” einstufen, aber er selbst hätte den Kopf wieder frei. Doch leider greifen nur wenige zu dieser einfachen Nothilfe. Sie hängen viel zu sehr an ihrer “psychischen Krankheit”. Manche werden sogar richtig böse, wenn man bestreitet, dass sie darunter litten. Putzig.
Da es sich bei den so genannten psychischen Krankheiten in aller Regel um Self-Handicapping handelt und da dies betrieben wird, um die Selbstachtung so weit wie möglich zu erhalten, kommt es darauf an, Kinder so zu erziehen, dass deren Selbstwertgefühl durch widrige Umstände so wenig wie möglich beeinträchtigt wird. Wer seine Kinder dazu abrichtet, sich auf Teufel komm aus an gesellschaftliche Bedingungen anzupassen, wie widrig sie auch immer sein mögen, der eröffnet ihnen vielleicht glänzende Karriereaussichten, wahrscheinlicher aber verdammt er sie zu einem Leben in permanentem Unbehagen. Die Versuchung, dieses Unbehagen als Ausdruck einer “psychischen Krankheit” zu deuten, ist solange groß, wie man sich die Dynamik nicht klarmacht, die ihm zugrunde liegt.
Eltern, die ihre Kinder lieben, erziehen sie zu Anarchisten. Manche, die Kinder zu kennen glauben, werden hier einwenden, dies hieße, Erziehung einzustellen, denn Anarchisten seien Kinder ja von Natur aus. Das ist aber so nicht richtig. Es stimmt zwar, dass Kinder Chaos lieben (wie jeder anständige Anarchist, auch wenn er es nicht zugibt), aber noch mehr lieben sie ihre Eltern. Das liegt in ihrer Natur. Die Eltern sind für Kinder, bis zu einem gewissen Alter, gottgleich. Dadurch unterscheiden sich Kinder von Anarchisten, die keine Götter anerkennen.
Was heißt es nun, seine Kinder zu Anarchisten zu erziehen?
- Ein Anarchist achtet andere, weil er sich selbst achtet. Daher blickt er zu nichts und niemandem ehrfürchtig auf.
- Ein Anarchist liebt das Chaos, denn ohne dies erstarrt alles Leben in einem kalten Hauch.
- Ein Anarchist hält, in sinnvollen Grenzen, Ordnung, weil er sich selbst diszipliniert.
- Er respektiert Lehrer, aber er imitiert sie nicht kritiklos.
- Ein Anarchist will Freiheit, aber nicht nur für sich allein oder für einen kleinen Kreis Privilegierter.
- Ein Anarchist ist eigensinnig, weil Sinn nur in der Innenwelt gefunden werden kann und weil es in der Innenwelt nur einen Herrscher geben kann und geben darf, nämlich das Individuum.
- Ein Anarchist schätzt sich um seiner selbst willen wert, weil es keinen Grund für ihn gibt, dies nicht zu tun.
- Ein Anarchist glaubt an sich, weil sonst jeder andere Glaube sinnlos wäre.
Wer seine Kinder zu Anarchisten erzieht, gibt ihnen also das beste Rüstzeug mit auf den Weg, um der Versuchung zu widerstehen, “psychisch krank” zu werden. Liebende Eltern haben stets den Wunsch, ihre Kinder so auf das Leben vorzubereiten. Es mag zwar sein, dass Kinder, die zu Anarchisten erzogen wurden, nie im Leben Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens werden. Aber Kinder, ganz gleich, ob Anarchisten oder nicht, werden in aller Regel ohnehin nur dann Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens, wenn sie aus der Oberschicht oder der gehobenen Mittelschicht stammen. Eltern, die nicht zu diesen Kreisen zählen (also ca. 98 Prozent), müssen sich deswegen also keine unnötigen Sorgen machen.
Wie aber erzieht man seine Kinder zu Anarchisten? Das ist einfach. Kinder werden Anarchisten im obigen Sinne, wenn sie spüren, dass ihre Eltern sie für jede Entwicklung in diese Richtung lieben. Sie werden sich ganz spontan in diese Richtung entwickeln, wenn sie diese Liebe spüren, eine Liebe, in der die Liebe zum Kind und die Liebe zum Menschengeschlecht zusammenfließen.
Und sonst?
Der Fall Gustl Mollath wird neu aufgerollt. Der Sturm der Entrüstung, der, bis zu seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug, im Blätterwald tobte, rüttelte an den getönten Fenstern der Paläste bayerischer Macht; ob er auch die Gewissen berührte, bleibt dahingestellt. Dass die Menschen, die ihn hinter Gitter brachten und die Menschen, für die er hinter Gittern saß, jemals bestraft werden, ist unwahrscheinlich. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass die Menschen, die sich heute noch über die Willkür, der Gustl Mollath unterlag, empören, aus diesem Fall wirklich etwas lernen werden.
Dabei gäbe es sehr viel zu lernen. Zunächst einmal sollte sich jeder Bürger klarmachen, dass er der nächste sein kann, der mit einer psychiatrischen Diagnose am Hals, ohne eine Straftat begangen zu haben, eingekerkert wird und dann weniger Rechte hat als der ärgste Schwerverbrecher im Knast. Psychiatrische Diagnosen sind nämlich keineswegs wissenschaftlich fundiert, sondern subjektiv. Sie sind nichts weiter als die private Meinung eines Psychiaters. Dies habe ich in vielen Einträgen dieses Tagebuchs begründet und belegt, beispielsweise in dem Beitrag: Die psychiatrische Diagnostik.
Die “psychische Krankheit” hängt wie ein Damoklesschwert am seidenen Faden über unseren Köpfen. Und dies nicht etwa, weil wir alle durchgeknallt wären. Wie wir alle wissen, gibt es jede Menge Durchgeknallte in den höchsten Rängen der Gesellschaft, die keineswegs Gefahr laufen, wie Gustl Mollath hinter den Gittern der Psychiatrie zu landen. Auch wenn mir die entsprechenden Statistiken nicht vorliegen, bin ich absolut sicher, dass die Wahrscheinlichkeit, psychiatrisiert zu werden, bei Steuerhinterziehern und Schwarzgeldschiebern wesentlich geringer ist, als bei Whistleblowers, die auf Steuerhinterziehung und Schwarzgeldgeschäfte hinweisen. Da muss man schon die Kirche im Dorf lassen.
Das Damoklesschwert der “psychischen Krankheit” hängt vielmehr über uns allen, sofern wir nicht zu den oberen Zehntausend zählen, weil jeder einmal, auch wenn er sich nichts zuschulden hat kommen lassen, irgendwem, der ein bisschen zu viel Macht hat, in die Quere kommen kann. Gustl Mollath ist ja kein Einzelfall. Wer im Internet nach vergleichbaren Fällen recherchiert, findet mehr Beispiele, als die meisten von uns zur Kenntnis zu nehmen Zeit haben.
Damokles war ein Höfling des Tyrannen Dionysos. Durch Schmeicheleien versucht er, dessen Gunst zu gewinnen. Allein, der Herrscher durchschaute seinen Untertanen. Er wusste, dass er ihn um seine Macht und seinen Reichtum beneidete. Daher beschloss er, Damokles eine Lehre zu erteilen. Er lud ihn zu einem Festmahl ein. Die Tische bogen sich vor Köstlichkeiten. Er hieß ihn Platz zu nehmen, und zwar unter einem Schwert, dass nur an einem Rosshaar hängend über seinem Haupte schwebte. Damit wollte er ihm die Vergänglichkeit aller Macht und allen Reichtums vor Augen führen. Damokles war unter diesen Bedingungen nicht in der Lage, den Luxus zu genießen, der im offeriert wurde.
Wie ein Damoklesschwert hängt die “psychische Krankheit” über uns allen. Unter einem Damoklesschwert sitzend, genießen wir den Luxus von Freiheit und Selbstverantwortung in einer demokratischen Gesellschaft. Damit wir nicht übermütig werden und uns der Vergänglichkeit dieses Luxus’ immer bewusst sind, hat der Herrscher das Damoklesschwert über unseren Köpfen aufgehängt.
Otto Gross
Wenn nun ein Leser meint, er wäre besser beraten gewesen, an Stelle des eigenen den Beruf des Psychiaters zu ergreifen, weil dieser vor Schäden am Kopf durch einschlägige Schwerter bewahre, der sollte sich nicht allzu sicher sein. Falls noch ein wenig Zeit erübrigt werden kann, so möge man mich auf eine Exkursion in die Geschichte begleiten.
Am 17. 3. 1877 wurde Otto Gross geboren. Sein Vater war Professor der Kriminalistik. Gross verbrachte eine behütete Kindheit im Elternhaus, wurde von Privatlehrern unterrichtet; man brachte ihm bei, wie er sich in der besseren Gesellschaft zu benehmen habe. Es gab also keinen vernünftigen Grund, irre zu werden. Gross studiert erfolgreich Medizin, wird zunächst Schiffsarzt und dann Assistenzarzt bei Johann Ritter von Gudden, einem Psychiater, der heute längst vergessen wäre, wenn er nicht Ludwig II. als wahnsinnig verleumdet und durch diese Diagnose zu dessen frühen Tod beigetragen hätte.
Otto Gross tut sich in der Psychiatrie hervor; wird schließlich sogar zum Privatdozenten ernannt; er macht die Bekanntschaft von Freud und Jung; begeistert sich für die Psychoanalyse. Gleichzeitig aber ist er für revolutionäre Ideen entflammt; 1907 hat er beste Kontakte zur Münchener Anarchistenszene; er liest Kropotkin und Max Stirner. Seine seit Beginn des Jahrhunderts bestehende Kokainabhängigkeit lässt er 1908 von C. G. Jung behandeln, und zwar in der psychiatrischen Anstalt Burghölzli in Zürich.
Der Therapie entzieht er sich allerdings vor deren offiziellem Ende durch Flucht aus der Anstalt; dies zeigt, dass an seiner geistigen Klarheit zu diesem Zeitpunkt kein Zweifel möglich ist. Jung allerdings diagnostizierte daraufhin eine Dementia praecox; so nannte man damals die Schizophrenie. Bereits zuvor hatte Gross sich mit Freud überworfen, weil er aus dessen Lehre gesellschaftspolitische Konsequenzen ziehen wollte, was den Begründer der Psychoanalyse dazu veranlasste, den anarchistischen Rebellen mit rüden Methoden aus der psychoanalytischen Vereinigung zu drängen. Freud war in Hochform; er war so niederträchtig gegenüber einem Kollegen wie nie zuvor und nie wieder, Wilhelm Reich ausgenommen.
Allerlei Umtriebe machen Gross bei den Behörden unbeliebt, und auch sein Vater beginnt, sich ernstlich Sorgen zu machen. Diese Sorgen tragen schließlich Früchte. 1914 wird Gross, auf Betreiben des Vaters, entmündigt. Zum Kurator wird der Vater bestellt. Otto Gross kämpft gegen die Entmündigung; am 8. Juli 1914 wird er als geheilt aus der Anstalt Troppau entlassen. Die “Wahnsinnskuratel” bleibt dennoch weiter bestehen. Wem dies zu hoch ist, der versteht die Sonderform der Logik nicht, die schon damals im psychiatrisch-juristischen Komplex als hohe Kunstform zelebriert wurde. Erst im September 1917 wird schließlich die Wahnsinnskuratel in eine beschränkte Kuratel wegen “gewohnheitsmäßigen Gebrauches von Nervengiften” umgewandelt (rechtskräftig im Dezember).
Otto Gross stirbt 1920 an einer Lungenentzündung. Mit seinem Leben und Werk beschäftigt sich Emanuel Hurwitz in einer kleinen Schrift, die 1988 im Suhrkamp-Verlag als Taschenbuch erschienen ist (4). Sehr empfehlenswert. Wir erfahren hier, dass der Beruf des Psychiaters auch nur bedingt davor schützt, vom Damoklesschwert der “psychischen Krankheit” am Kopf verletzt zu werden. Wer sich, wie Gross, mit den eigenen Kollegen anlegt, der kann ja auch nicht normal sein; dies nicht zu bedenken, ist ein untrügliches Zeichen der Verrücktheit. Überdies ist es generell ein Risikofaktor für eine psychische Erkrankung, wenn einem die Verwandtschaft nicht wohlgesonnen ist.
Es kommt allerdings selten vor, dass Psychiater psychiatrisiert werden. Wenn Psychiater Menschen wie du und ich sind, und wenn psychische Krankheiten tatsächlich auf ererbten, biologischen Krankheiten beruhten, dann müssten eigentlich viel mehr Psychiater als “psychisch krank” diagnostiziert oder gar zwangseingewiesen werden, als dies tatsächlich der Fall ist. Mir ist nicht bekannt, dass Psychiater weniger häufig körperlich krank wären als andere Leute. Wenn die “psychischen Krankheiten” tatsächlich Krankheiten wie Diabetes oder Rheuma wären, dann sollte man schon erwarten, dass Psychiater ebenso häufig an “psychischen Krankheiten” leiden wie demographische Bezugsgruppen jenseits des Psycho-Gewerbes. Meines Wissens ist dies aber nicht der Fall. Seltsam, sehr seltsam.
Im Wartestand
Auch Sie sind ein psychisch Kranker im Wartestand! Ja, Sie, nein, Sie müssen jetzt nicht zur Seite schauen, Sie, genau Sie dort vor dem Bildschirm, Sie meine ich. Wen sonst? Klar, Sie leben nicht in Scheidung, wie der Mollath, als ihm sein Missgeschick passierte. Aber was nicht ist, kann ja noch kommen. Ja, sicher, Sie sitzen nicht auf einem Arbeitsplatz, den ein höherrangiger Mitarbeiter Ihres Unternehmens gern mit dem Sohn eines Freundes besetzen möchte. Und wenn doch? Wie lange halten Sie dem Mobbing stand, bis Sie durchdrehen? Sie sind doch jetzt schon reif für den Psychiater! Das sehe ich Ihnen doch an, seien Sie ehrlich!
Wenn Sie erst einmal in der psychiatrischen Tretmühle stecken, dann haben Sie kaum noch eine Chance, dort wieder herauszukommen, weil unsere Gesetzgebung dies nicht vorsieht. Darum log die ehemalige bayerische Justizministerin Beate Merk ja auch nicht, als sie seinerzeit im Fernsehen sagte, im Fall “Gustl Mollath” sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Das stimmte ja auch. Und genau darum muss geltendes Recht auf den Prüfstand. Zwangsunterbringungen und Zwangsbehandlungen müssen abgeschafft werden. Jährlich verschwinden 200.000 Menschen gegen ihren Willen in psychiatrischen Anstalten. Auch Sie könnten dazugehören.
Wenn Sie nun jedoch ein tadelloser, fleißiger, strebsamer, gesetzestreuer und hilfsbereiter Bürger sein sollten, wenn Sie sich als Stütze des Kirchenchores hervortun, wenn Sie sich in der Friedensbewegung engagieren, wenn Sie für hungernde Kinder in Afrika spenden, wenn Sie staatstragende Parteien wählen, wenn Sie mit Ihrem Nachbarn, der Psychiater ist, gut auskommen, wenn Sie, ja, wenn Sie all dies und noch vieles mehr für sich ins Feld führen können, dann natürlich, dann nützt Ihnen das auch nichts, denn psychiatrische Diagnosen sind willkürlich und sie entbehren jeder wissenschaftlichen Grundlage. Es ist ein Zeichen geistiger Gesundheit, sich dies immer vor Augen zu halten.
Vorsicht, Psychofalle!
Hinter jeder Psychofalle steckt ein Psychofallensteller. Ihm geht es um Beute. Damit will er Geld verdienen, seine Machtgelüste ausleben oder niederträchtige Bedürfnisse befriedigen. Die Beute sind Sie, wenn Sie ihm auf dem Seelenleim gehen. Meist ist die Falle getarnt hinter einem Deckmäntelchen, das aus vorgetäuschter echter Sorge und selbstloser Hilfe gewirkt ist. Die Beute, also Sie, lieber Leser, wird mit unwiderstehlichen Verheißungen in die Falle gelockt, die im Kern auf eine simple Botschaft hinauslaufen: Mehr Lust, weniger Schmerz.
Das ist schön, nicht wahr?, wer möchte das nicht? Doch Vorsicht! Wenn Sie erst einmal in der Psychofalle sitzen, ist es vielleicht schon zu spät, dann kommen Sie aus der Falle nie wieder als intaktes menschliches Wesen heraus, sondern bestenfalls als seelisch gerupftes Huhn. Wer also die süßen Klänge der Psychoverlockung vernimmt, wer die Sehnsucht zum Versinken in die Psychowatte in sich spürt, der sollte für einen Augenblick, so viel Zeit muss sein, innehalten, in sich gehen und standfest bleiben.
Führen Sie sich vor Augen, welche Konsequenzen die Psychologisierung Ihres Daseins für Sie haben wird.
- Selbstentwertung. Wer einräumt, ein psychisches Problem zu haben oder gar psychisch krank zu sein, entwertet sich damit automatisch selbst. Denn dieses Eingeständnis bedeutet, dass man sich als nicht in Ordnung empfindet und die Notwendigkeit verspürt, sich zu ändern. Und da es sich um ein “psychisches” Problem handelt, ist die Ursache des Problems die angebliche seelische Unordnung.
Wer bereits mit einem Fuß in der Psychofalle steckt, wird nun vielleicht einwenden, dass diese Entwertung gerechtfertigt sein könnte – weil ja die Psyche tatsächlich nicht in Ordnung sein könnte und gerichtet werden müsste. Da es aber kein objektives Maß für den Ordnungsgrad der Seele gibt, da es sich hier also um ein subjektives Urteil handelt, ist es auch nur gemessen an Ihrem eigenen Maß für psychische Ordnungszustände gerechtfertigt. Mit “Tatsachen” hat all dies nichts zu tun.
Wenn Sie etwas netter zu sich wären (wozu ich, wenn ich darf, dringend rate), als Sie es offenbar sind, dann könnten Sie ja auch einen Maßstab wählen, bei dem Sie selbst etwas besser wegkämen.
Es bleibt also dabei, dass psychische Probleme einzuräumen eine Selbstentwertung darstellt.
Leute in vergleichbaren Situationen, aber mit klügeren Maßstäben, haben niemals psychische Probleme und sind erst recht nicht “psychisch krank”.
Menschen verwenden selbstentwertende Maßstäbe in aller Regel, weil man ihnen das in der Kindheit so eingetrichtert hat. Leute mit Minderwertigkeitsgefühlen kann man halt leichter beherrschen. Wem so etwas eingetrichtert wurde, der ist besonders gefährdet, in die Psychofalle zu tappen. Versierte Psychofallensteller erkennen ihre Pappenheimer mit sicherem Instinkt.
Die Psychiatrie hat das Phänomen des Selbst-Stigmas zwar erkannt (5), führt es aber auf die Übernahme von negativen Stereotypen, die im Volk im Schwang sind, zurück und begreift natürlich nicht, dass die psychiatrische Diagnose an sich stigmatisierend ist und dass die geforderte ”Krankheitseinsicht” einer Selbststigmatisierung gleichkommt. - Verengung der Perspektive. Die Psyche kann man nicht sehen, nicht hören, nicht riechen, nicht schmecken, nicht anfassen oder sonstwie sinnlich wahrnehmen. Daher ist sie das Reich der Vermutungen.
Diese Einschätzung wird unterstrichen durch den Gedanken, dass viele seelische Prozesse unbewusst sind.
Menschen, die zumindest mit einem Bein schon in der Psychofalle stecken, könnten nun vortragen, dass psychische Aspekte notwendigerweise zu einer ganzheitlichen Problembetrachtung gehörten.
Dabei wird allerdings vergessen, dass unsere Fähigkeit, gleichzeitig unterschiedliche Aspekte einer Sache bewusst zu erfassen und zu bearbeiten, begrenzter ist, als viele glauben wollen.
Wenn wir nun also diese so genannten psychischen Aspekte aus dem Reich der Vermutungen in unsere Problemanalyse einbeziehen, dann gehen kompensatorisch Tatsachen den Bach herunter. Dies ist beinahe unausweichlich, wenn nur das Lebensproblem einigermaßen komplex ist.
Die Bewohner von Psychofallen rufen mir nun zu, ich frönte einem typisch männlichen Tatsachenkult (das will ich hoffen!) und sei deswegen nicht in der Lage, dem tiefen Sinn des Psychischen achtsam nachzuspüren. Das ist eine sicher interessante – Vermutung. - Falsche Ursachenzuschreibung. Selbst in den egalitären, nicht-repressiven Stammesgesellschaften der Frühzeit konnten die Individuen nicht uneingeschränkt tun, was sie wollten. Ihr Verhalten unterlag der Kontrolle durch natürliche und soziale Bedingungen. Heute haben zwar die Superreichen einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Umwelt in ihrem Sinn; aber auch ihre Macht stößt an Grenzen.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen aber, nämlich rund 98 Prozent aller Bürger, hat nur sehr, sehr eingeschränkte Möglichkeiten, auf die Umwelt einzuwirken. Die Kontrolle des Verhaltens der mehr oder weniger Ohnmächtigen war noch nie so brachial wie in unserer Zeit, trotz Demokratie und individualistischer Ideologie.
Daraus folgt zwingend, dass selbst dann, wenn Vermutungen über psychische Ursachen von Lebensproblemen zuträfen, sie nur einen sehr geringen Stellenwert im Ursachenbündel dieser Probleme haben könnten.
Angesichts dieses Stellenwerts ist es nicht gerechtfertigt, von psychischen Problemen zu sprechen. Spricht man aber davon, dann schreibt man mutmaßlich psychischen Faktoren eine Bedeutung zu, die sie in einer Welt, die gemäß kapitalistischer Interessen reglementiert ist, gar nicht haben können. Dies impliziert zwangsläufig eine falsche Ursachenzuschreibung.
Diese falsche Ursachenzuschreibung begünstigt die Entscheidung, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Durch diese Entscheidung werden allerdings die objektiven Faktoren im Ursachenbündel der Lebensprobleme nicht anulliert. Man hat einfach nur eine medizinische, pathologisierende Interpretation für seine Reaktion auf missliche Lebensumstände gefunden; an diesen aber ändert sich dadurch nichts. - Selbstentmutigung. Sitzt ein Mensch erst einmal in der Psychofalle, so wird sein Handlungsspielraum eingeengt, jedoch nicht der objektive, wohl aber der subjektive. Mag unser tatsächlicher Handlungsspielraum auch klein sein, so ist er doch vorhanden. Wer unter den Schikanen im Büro leidet, kann zumindest versuchen, eine neue Stelle zu finden. Wer sich stattdessen “psychisch krank” fühlt und Antidepressiva schluckt, wird diese Möglichkeit vermutlich kaum noch wahrnehmen, geschweige denn erwägen oder gar verwirklichen.
Selbstentmutigung ist keine vermeidbare Folge einer Psychologisierung des eigenen Lebens, sondern sie ist der Preis, den man dafür zahlen muss. Sie ist eine logische Konsequenz der bisher genannten Punkte.
Man kann sich persönlich nur weiterentwickeln, wenn man eine Chance wittert. Dazu muss man aber achtsam seine Umwelt ins Auge fassen. Wer stattdessen lieber in seinen seelischen Eingeweiden wühlt, raubt sich den Mut zur Ausnutzung von Chancen, die sich selbst dem allerärmsten Schwein gelegentlich bieten. - Verantwortungsprojektion. Wenn man eine “psychische Krankheit” für Lebensprobleme verantwortlich macht, dann liegt es nahe, zur Heilung oder Linderung dieser Krankheit einen Arzt aufzusuchen. Dieser soll es richten. Die Verantwortung dafür liegt bei ihm. Schließlich ist er der Experte und wird dafür bezahlt.
Solange man sich nicht vor Augen hält, dass angesichts der bereits geschilderten Sachverhalte ärztliche Hilfe das Problem nicht löst, ist man moralisch aus dem Schneider. Man muss nur ein guter Patient sein und geduldig darauf warten, dass die ärztlichen Maßnahmen anschlagen.
Falls der Arzt nicht nur Pillen verschreibt und die geschundene Seele mit Worten einsalbt, sondern Aktivität verlangt, eine Umgestaltung des eigenen Lebens nämlich, so muss man natürlich auch diesen ärztlichen Anweisungen vertrauensvoll folgen; denn schließlich hat er die Verantwortung für uns übernommen und wir dürfen ihn nicht enttäuschen.
Die natürliche Konsequenz der Verantwortungsprojektion ist die Entmutigung. Scheitert der Arzt, was, zumindest langfristig, wahrscheinlich ist, dann lautet die Botschaft: “Dir kann niemand mehr helfen!” Zeigen sich mehr als nur eingebildete Erfolge, dann lautet die Botschaft: “Aus eigener Kraft hättest du das nicht geschafft.”
Selbstverständlich ist jeder allein dafür verantwortlich, aus einer misslichen Lage das Bestmögliche zu machen; und wenn dies gelingt, und sei es auch mit fremder Hilfe, dann doch nur, weil man selbst die treibende Kraft war und ggf. Hilfe aktiv in Anspruch genommen hat. Doch auf Basis einer Verantwortungsprojektion ist man natürlich nicht mehr in der Lage, dies auch zu erkennen, die Lehren daraus zu ziehen und Mut für die Zukunft zu fassen. - Verlust der Definitionsmacht. Wer einräumt, ein psychisches Problem zu haben oder gar “psychisch krank” zu sein, der liefert sich der Definitionsmacht angemaßter Experten aus. Dies beginnt mit der so genannten Diagnose, erstreckt sich über die so genannte Krankheitstheorie bis hin zur so genannten Behandlungsmethode und zur Bewertung der so genannten Resultate.
Wenn Sie ein gelehriger Patient sind, dann lernen Sie fortschreitend, jeden Gedanken, jedes Gefühl, jede Stimmung, jede psychische Regung im Sinne der Theorien Ihres Psychofallenstellers zu interpretieren. Er wird Sie dafür loben und Sie werden sehr, sehr glücklich sein.
Es wird Ihnen dann gar nicht mehr auffallen, dass Ihr “Experte” einem Ethnologen gleicht, der, kaum angekommen, den Eingeborenen ihr Land und ihre Sitten erklärt, ohne jemals zuvor dort gewesen zu sein. Doch dieser Vergleich hinkt: Im Gegensatz zum Ethnologen ist Ihr Seelenfallensteller nur ein Zaungast, der niemals einen Fuß auf Ihr Terrain, nämlich in Ihre Innenwelt setzen wird.
Er kann diese also auch nicht beurteilen, weil er sie vermessen hat, sondern er ist vermessen, wenn er sich ein Urteil anmaßt. - Mystifikation der Innenwelt. Bekanntlich lassen sich “Psycho-Experten” von unterschiedlichen, teilweise einander krass entgegengesetzten Theorien leiten. Dieser Zustand besteht, solange die moderne Psychiatrie existiert. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass sich dies ändern wird.
Wenn man den Maßstab der Wissenschaft an diese Disziplin anlegt, so mag dieser Umstand erstaunen und verwirren. Doch wenn man sich klarmacht, dass die Erkenntnisse der “Psycho-Experten” im luftigen Reich der Vermutungen wurzeln, dann ist diese Uneinigkeit nicht verwunderlich; vielmehr: Erstaunlich wäre das Gegenteil.
Psychofallensteller hüllen sich daher gern in die Aura des tiefblickenden Kenners der Seele. Da ihr Streit auf der empirischen Ebene der Tatsachen nicht entschieden werden kann, versucht einer den anderen dadurch auszustechen, dass er sich als der erfahrenere Heiler mit dem besseren Draht zum Reich okkulter Weisheiten ausgibt.
Wenn Sie sich Derartiges gläubig zumuten, dann wird Ihre Innenwelt zum Schauplatz einer mythischen Schlacht zwischen den Kräften der Wahrheit und des Lichts und den Heerscharen der Lüge und der Finsternis. Wenn sich beispielsweise gläubige Anhänger der Psychoanalyse mit leidenschaftlichen Verfechtern der Verhaltenstherapie streiten, dann wähnt man den Widerschein des Schlachtgetümmels in den Innenwelten an den leuchtenden Augen der Kontrahenten zu erkennen. - Gefühlsduselei und Wehleidigkeit. Wer eine mitfühlende Seele ist, in die Leidensmienen der “psychisch Kranken” blickt und ihre verzweifelten Klagen hört, dessen Herz muss einfach bluten. Zur Blutstillung könnte die Einsicht dienen, dass die “Kranken” hier vor allem ihrer Rolle entsprechen.
Eine Rolle ist ein System von Erwartungen, die andere an einen Rollenträger richten.
Genauer: Es sind recht eigentlich nicht in erster Linie andere, leibhafte Individuen, sondern der Rollenträger folgt vor allem den mutmaßlichen Erwartungen eines generalisierten Anderen.
Die “psychisch Kranken” heulen, klagen und knirschen mit den Zähnen, weil sie glauben, dies würde von ihnen erwartet, kurz: weil sie meinen, dies gehöre sich so.
Dass diese Menschen häufig reale Lebensprobleme haben, will ich nicht bestreiten, im Gegenteil: Wer Gelegenheit hat, sich mit der Lebenssituation von “psychisch Kranken” auseinanderzusetzen, dem springen solche Probleme und deren offensichtlichen sozialen bzw. ökonomischen Ursachen förmlich ins Auge.
Doch solche Lebensprobleme führen nicht automatisch zu Leidensmienen und Gejammer. “Psychische Krankheit” ist eine Rolle und als solche ein Kulturprodukt. Gefühlsduselei und Wehleidigkeit angesichts individuell schwer lösbarer Lebensprobleme werden erwartet.
Davon profitieren genau jene, die immer schon profitieren.
Gefühlsduselei und Wehleidigkeit verdrängen nämlich die rationale Analyse der Tatsachen des Lebens und verhindern somit die Entwicklung eines brauchbaren Plans zur Überwindung von Lebensproblemen, an dessen Verwirklichung die Profiteure oftmals kein Interesse haben. - Hyperreflexion. Wenn sich einer erst einmal aller Möglichkeiten, reale Chancen zu nutzen, durch die Psychologisierung seines Daseins beraubt hat, dann kommt er natürlich auch nicht mehr von der Stelle, selbst dann, wenn sich plötzlich alle bisher verschlossenen Türen öffnen würden. Wer in der Psychofalle sitzt, lernt Hilflosigkeit. Da er die Lösung am falschen Ort sucht, und sie dort natürlich nicht findet, und da es ihm nicht mehr in den Sinn kommt, sie woanders zu suchen, und da er überdies von der Notwendigkeit und Möglichkeit einer Lösung durchdrungen ist, konzentriert sich sein Denken nur noch zwanghaft auf den Widerhall, den das jeweils im Vordergrund stehende Lebensproblem in seiner mystifizieren Innenwelt auslöst.
Es ist zweifellos keine schlechte Idee, hin und wieder nachzudenken. Manche Leute können damit beträchtliche Erfolge vorweisen und die weniger Glücklichen dürfen sich damit trösten, dass sie es immerhin versucht und sich in dieser Kunst geübt haben.
Allein, im Übermaß führt Nachdenken zum berühmten Tausendfüßler-Phänomen. Sobald das Tier darüber reflektiert, wie es ihm nur gelingen kann, all die Beinchen koordiniert zu bewegen, wird es stolpern, weil die bewusste Aufmerksamkeit die Automatik durcheinanderbringt.
Der Psychofallensteller freut sich natürlich darüber, wenn er das Tausendfüßler-Phänomen bei seiner Beute feststellt. Die Gefahr, dass sie seiner Falle entkommt, besteht dann nämlich nicht mehr. Sie fällt ja immer wieder selbstverschuldet auf die Schnauze. - Selbstversklavung. Wer die bisher genannten charakteristischen Merkmale eines Daseins in der Psychofalle voll ausgeprägt hat, der hat gleichzeitig auch jedes Selbstvertrauen und jede Eigeninitiative eingebüßt. Er kann ohne Psychofallensteller und außerhalb der Psychofalle nicht mehr leben. Mindestens ein-, zweimal pro Jahr braucht er dieses Milieu und seine Bewohner, die er liebevoll Psychiater, Psychologen oder Psychotherapeuten nennt.
Wenn man ihn daran zu hindern versucht, es aufzusuchen, dann wird er Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sich wieder unter die Knute seiner “Psycho-Experten” flüchten zu können. Eine Angstlust treibt ihn dazu.
Leute, die sich als Pragmatiker verstehen, meinen mitunter, dass es für manch gestörte Seele auch das Beste sei, sich in dieser Weise selbst zu versklaven, weil sie letztendlich doch lebensuntauglich sei und beständiger Hilfe bedürfe. Doch selbst wenn man dies einräumt (was mir fernliegt), so wird man doch gleichermaßen zugeben müssen, dass es sich dabei nur um eine Teilmenge derjenigen Menschen handeln kann, die schwer lösbaren Lebensproblemen ausgesetzt sind. Demgegenüber ist jedoch festzustellen, dass unser gegenwärtiges psychiatrisches System eindeutig auf Kundenbindung ausgelegt ist. Daran gibt es nichts zu rütteln. Es wäre ja auch widersinnig für Anbieter von Waren oder Dienstleistungen, nicht nach Kundenbindung zu streben oder diese gar zu untergraben.
Dies gilt natürlich für den medizinischen Bereich insgesamt, aber insbesondere für den psychiatrischen Bereich, weil in diesem Bereich objektive Kriterien für Krankheit und Gesundheit fehlen.
Auch du?
Wer ist eigentlich noch nicht “psychisch krank”? Wenn die Krankenkassen im Verein mit der Politik nicht die Notbremse ziehen, dann werden schon bald nicht mehr viele “psychisch Gesunde” übrigbleiben. Tagtäglich lesen wir in den Medien von “psychisch Kranken” und wer ehrlich ist, wird hin und wieder feststellen, dass er das eine oder andere “Symptom” auch schon an sich selbst beobachtet hat. Liegt es da nicht nahe, in der nächstbesten Belastungssituation nach diesem Erklärungsmuster für Fehlverhalten und Versagen zu greifen?
Und je mehr “psychisch Kranke” es gibt, desto schwächer wird auch die Stigmatisierung, bis sie schließlich, wenn erst einmal die Mehrheit “psychisch krank” ist, durch eine positive Bewertung ersetzt wird. Als “psychisch Kranker” gehört man dann dazu und schwimmt im Strom. Man versichert sich gegenseitig, wie sehr man doch der Schonung bedürfe, wie schrecklich das Leben sei und wie grausam man von Kindesbeinen an traumatisiert worden sei.
Dann endlich, wenn fast alle Gutwilligen “psychisch krank” sind, kann man damit beginnen, Jagd auf jene zu machen, die sich entsprechender Diagnosen verweigern. Diese winzige Minderheit, die sich so ostentativ als “psychisch gesund” gibt, so wird es heißen, fühle sich wohl als etwas Besseres. In Wirklichkeit seien die doch die wahren Verrückten, die Normopathen, vor denen sich jeder rechtschaffene “psychisch Kranke” in acht nehmen müsse. Weg, hinter Gitter damit.
Doch Scherz beiseite: Wenn tatsächlich während eines Jahres in Deutschland 31 Prozent der Erwachsenen an einer “psychischen Störung” erkranken, dann sind mit der Behandlung, Betreuung, den Fehlzeiten und der Frühberentung der Erkrankten natürlich auch gigantische Kosten verbunden. Es ist zwar sicher moralisch verwerflich, Krankheiten nur unter Kostengesichtspunkten zu betrachten, allerdings ist es ebenso wenig moralisch vertretbar, diese Kosten zu ignorieren. Denn immerhin fehlt das für “psychisch Kranke” vorausgabte Geld an anderer Stelle, wo es unter Umständen zumindest nicht weniger gebraucht wird.
Wir wissen, dass psychiatrische Diagnose-Verfahren nicht valide sind. Dies hat unlängst erst der Direktor des weltgrößten psychiatrischen Forschungszentrums, des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel eingeräumt. Dies bedeutet, dass diese Verfahren zwangsläufig viele Menschen falsch einstufen. Das wäre auch dann der Fall, wenn es “psychische Erkrankungen” tatsächlich geben sollte. Ein nicht valides Verfahren bringt zwangsläufig sehr viele falsch positive und falsch negative Diagnosen hervor. Damit verbunden ist demgemäß und unausweichlich eine gewaltige Mittelverschwendung.
Aber niemand, niemand in der Politik und niemand, niemand bei den Kassen scheint dies zu beunruhigen. Das verstehe ich nicht oder, recht eigentlich bedacht, verstehe ich es nur zu gut. Es ist das übliche Spiel. Es gibt wieder einmal allzu viele Nutznießer. Also wird der Bürger die Sache selbst in die Hand nehmen müssen. Wenn du dich weigerst, die Rolle des psychisch Kranken zu spielen, dann könnte, zumindest theoretisch, das gesparte Geld einer sozial schwachen Familie zugute kommen. Und da du dich geweigert hast, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen, hättest du auch die Kraft, dich politisch dafür einzusetzen, dass dies tatsächlich geschieht.
Anmerkungen
(1) Healy D. (1997). The Antidepressant Era. Cambridge, Mass.: Harvard University Press
(2) Rabin, R. C. (2013). A Glut of Antidepressants. New York Times, 12. August
(3) Whitaker, R. (2010). )Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. New York: Broadway Paperbacks
(4) Hrwitz, E. (1988). “Otto Gross. Paradiessucher zwischen Freud und Jung”. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
(5) Corrigan, P. W. et al.(2009).Self-stigma and the “why try” effect: impact on life goals and evidence-based practices. World Psychiatry. 2009 June; 8(2): 75–81
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