Einen Jux will er sich machen
Es macht Spaß, einschlägig erregbare Zeitgenossen mit der Behauptung zu provozieren, dass es keine psychischen Krankheiten gebe. Denn gäbe es sie, dann müssten ihnen nachweisbare Schäden des Nervensystems zugrunde liegen. Lägen ihnen aber solche nachweisbaren Schäden zugrunde, dann handelte es sich offensichtlich nicht um psychische, sondern um neurologische Erkrankungen – die gibt es natürlich, keine Frage.
Man könnte zwar durchaus Phänomene des Verhaltens und Erlebens als krank bezeichnen, dies aber nur im uneigentlichen, im übertragenen, in bildhaftem Sinn; es handele sich dann um ein moralisches Urteil, nicht aber um eine medizinische Diagnose. Diese Einschätzung habe ebenso wenig mit Medizin zu tun wie die Behauptung, ein Auto gebe kranke Geräusche von sich. Man würde in diesem Fall eventuell den Mechaniker bemühen, und nicht den Arzt. Daran zeige sich der uneigentliche Charakter derartiger Bezeichnungen.
Man könne, heißt es dann, und manche, die das folgende Standardargument vortragen, haben nun bereits einen hochroten Kopf und schauen, mit ihrem wutverzerrten Gesicht, niedlich aus, man könne, so heißt es dann mit gepresster Stimme, doch leicht erkennen, wie dumm und ungebildet ich sei, weil schließlich die Kranken selbst sich als krank empfänden, wenn nicht sofort, so doch, sobald die Medikamente anschlügen. Außerdem litten sie, und zum Teil grauenvoll.
Schauen wir uns beispielsweise die so genannten Schizophrenen etwas genauer an, antworte ich und nehme in Erwartung körperlicher Angriffe ein wenig Abstand von meinem Gegenüber: Bei den so genannten Schizophrenen liegen keine körperlichen Störungen vor. Darum verzichten Psychiater bei der Diagnose dieser angeblichen Krankheit ja auch auf objektive Methoden wie Hirn-Scans oder Bluttests und verlassen sich ausschließlich auf ihr subjektives Urteil. Objektive medizinische Diagnosemethoden werden allenfalls zur Differenzialdiagnose eingesetzt, nämlich um zu prüfen, ob es sich nicht doch um eine Erkrankung des Nervensystems oder um eine andere körperliche Krankheit handelt, die ähnliche „Symptome“ hervorbringt. Eine neurologische Erkrankung wäre nämlich eine Ausschlussdiagnose. Läge sie vor, dann dürfte keine “Schizophrenie” diagnostiziert werden. Daher ist es auch kein Wunder, dass viele angeblich “Schizophrene” nicht krankheitseinsichtig sind.
Jeder halbwegs vernünftige Mensch kann bei diesem Sachstand schließlich nicht einräumen, eventuell krank zu sein, wenn die psychiatrischen Manuale einschlägige neurologische Störungen als Ausschlusskriterien für diese Diagnose benennen. Er wird nicht krankheitseinsichtig sein, wenn er weiß oder ahnt, dass diese Diagnose nur davon abhängt, ob dem diagnostizierenden Psychiater die Nase des Diagnostizierten gefällt oder nicht.
Eine dienstliche Miene
Wenn ich Derartiges behaupte, nehmen viele, die soeben noch kurz davor standen zu explodieren, Haltung an und setzen eine dienstliche Miene auf. „Die Krankheitseinsicht der meisten Schizophrenen widerlegt sie!“, sagen sie dann, oft im Tonfall eines Nachrichtensprechers. Sofern zuvor ein Anflug des Selbstzweifels in ihrem Gesicht vorhanden gewesen sein sollte, so ist dieser nun verflogen. Da ich zunächst nicht antworte, herrscht Stille wie in einem verlassenen Kirchenschiff. Nun wäre es schön, wenn eine Orgel aufbrausen oder wenn sich der Himmel öffnen würde mit Trompetenklang. Leider geschieht zumeist nichts Vergleichbares, allein, wenn der Vorgang sich im Freien abspielt, zwitschert vielleicht ein Vogel, zirpt eine Grille, plärrt ein Kind.
Nun lächele ich milde, lasse unhörbar in meinem Inneren ein Jagdhorn schmettern, ziehe betont langsam meinen ersten Pfeil aus dem Köcher, ziele und schieße: „Grundsätzlich ist es so, dass Neuroleptika apathisch machen. Daher mag es einigen Schizophrenen nach einiger Zeit gleichgültig sein, ob man sie als krank bezeichnet, so dass sie, um des lieben Friedens willen, ‚Krankheitseinsicht‘ zeigen. Ein schöner Erfolg, fürwahr!“
Das sei früher einmal so gewesen, in einigen Fällen, heißt es dann. Seitdem es aber die modernen, die atypischen Neuroleptika gebe, würden die Behandelten nicht mehr apathisch. Ich übergehe den Hinweis auf die modernen Medikamente zunächst mit arger List. Mein Gegenüber soll glauben, dass ich darauf nicht zu sprechen komme, weil ich dieses Argument nicht zu kontern weiß. Er soll sich in Sicherheit wiegen, damit ich ihn später auf kaltem Fuß erwischen kann. Ohne Vorwarnung. Das Gesicht will ich sehen.
„Wenn Neuroleptika keine Apathie auslösen, dann haben sie auch keine ‚antipsychotische‘ Wirkung“, sage ich und bemühe mich, wie die Fleisch gewordene Lethargie zu wirken.
„So ein Quatsch!“
Ein überlegenes Lächeln huscht nun über das Gesicht meiner Kontrahenten – so wie bei einem Nachrichtensprecher, der über absonderliche Einstellungen und Machenschaften designierter Verschwörungstheoretiker berichtet.
„Kein Quatsch, das ist der Wirkmechanismus.“
„Höchstens bei den alten, den typischen Neuroleptika! Seitdem es die neuen, die atypischen…“
„Da die Neuroleptika nicht kausal wirken, also die Ursache des als ‚psychotisch‘ etikettierten Verhaltens und Erlebens nicht beeinflussen, kann ihre Wirkung nur darin bestehen, das Nervensystem zu dämpfen. Es zeigen sich regelhaft folgende Wirkungen:
- Die Reizbarkeit auf innere und äußere Stimuli wird vermindert,
- ebenso die Vitalität.
- Charakteristisch ist ein Mangel an emotionalem Ausdruck.
- Oft wird das Gesicht wächsern, leichenhaft, erinnert an eine Maske.
- Der Eigenwille ist nahezu außer Kraft gesetzt.“
Was mein Gegenüber nicht weiß und nicht wissen soll: Ich trage hier Gedanken aus einem Buch des kritischen Psychiaters Peter Breggin vor (i), das zu einer Zeit erschien, als die so genannten „atypischen Neuroleptika“ noch keine besondere Rolle spielten und das erste atypische Neuroleptikum zur Behandlung der Schizophrenie gerade erst auf den Markt gekommen war.
Encephalitis lethargica
Der Pfeil bleibt hängen. Mein Gegenüber versucht, ihn abzuschütteln. Bei den alten Neuroleptika habe es häufiger solche Reaktionen gegeben, sagt er, aber das sei nun wirklich Schnee von gestern. Ich lasse mich durch dieses meteorologische Argument, obwohl es plausibel klingt, natürlich nicht beirren, denn ich habe ja nicht die geringste Absicht, in dieser Phase der Entwicklung auf Argumente meines Kontrahenten einzugehen, sondern fahre fort:
„Am Rande sei erwähnt, dass dies auch die Symptome der Encephalitis lethargica sind. Mit anderen Worten: Neuroleptika rufen die Symptome einer schweren neurologischen Erkrankung hervor. Sie heilen nicht, sondern sie unterdrücken ein Spektrum normabweichenden Verhaltens dadurch, dass sie eine artifizielle Encephalitis lethargica produzieren. Sie sind auch noch mit weiteren neurologischen und sonstigen körperlichen Schädigungen verbunden. Auch die neueren, so genannten atypischen Neuroleptika sind hinsichtlich der Nebenwirkungen nicht positiver zu sehen als die typischen. Patienten, die atypische Neuroleptika erhalten, haben gegenüber Patienten, die mit typischen Neuroleptika behandelt werden, beispielsweise ein deutlich erhöhtes Diabetes-Risiko. Es ist also keine ‚krankheitsbedingte‘ Uneinsichtigkeit, die Menschen dazu veranlasst, diese Medikamente abzulehnen. Vielmehr handelt es sich um die ‚gesunde‘ Einsicht, dass diese Substanzen mehr schaden als nutzen. Sie heilen keine Krankheit; sie rufen Krankheiten hervor.“
„Die meisten Patienten sind heute mit der medikamentösen Behandlung zufrieden“, sagt mein Gegenüber. „An Ihnen scheint die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre vorübergegangen zu sein. Heute werden die Menschen durch Neuroleptika nicht mehr apathisch. Im Gegenteil. Sie werden durch sie wieder leistungsfähig, können arbeiten, ihr Leben genießen. Manche werden wieder richtig spritzig, da kenne ich einige.“
Nun hole ich einen zweiten Pfeil aus dem Köcher, halte ihn gegen das Licht, drehe ihn zwischen den Fingern und präsentiere die hübschen Federn an seinem Ende. Dann lege ich an. Zisch:
„So, so. Es mag ja sein, dass Betroffene ihrem Psychiater Dergleichen erzählen. Anderswo klingt das aber anders. Es gibt zumindest eine Studie, die sich mit den Befindlichkeitsbeschreibungen von Neuroleptika-Konsumenten im Internet auseinandersetzt. Sie stammt von Moncrieff und Cohen.ii Sie erschien vor ein paar Jahren und sie bezieht die neuen, die modernen Neuroleptika mit ein. Die Wissenschaftler untersuchten die mit dem Neuroleptikakonsum verbundenen subjektiven Effekte. In dieser Studie wurden die modernen Präparate Olanzapin und Risperidon sowie drei ältere Medikamente berücksichtigt. Die Forscher werteten Kommentare aus, die Betroffene in Internetforen hinterlassen hatten. 223 bezogen sich auf Risperidon, 170 auf Olanzapin und 46 auf die drei älteren Mittel. Die vorherrschenden subjektiven Effekte waren bei allen Medikamenten Sedierung, kognitive Beeinträchtigungen und eine emotionale Verflachung. Bei den älteren Mitteln waren diese Symptome mit Phänomenen verbunden, die den Symptomen einer Parkinson-Erkrankung (Schüttellähmung) glichen, wohingegen die neueren Medikamente mit sexuellen Störungen (Risperidon) bzw. Stoffwechselstörungen (Olanzapin) korrelierten. Das Phänomen der Sitzunruhe ging oft mit Selbstmordgedanken einher. Sitzunruhe steht nicht in Widerspruch zur Apathie, denn ein quälender Bewegungsdrang ist keine sinnvolle und befriedigende Aktivität. Die Schlussfolgerung der Autoren lautete, dass die Generalisierbarkeit von Internetdaten zwar fraglich sei, die Befunde aber dennoch nahelegten, dass unangenehme subjektive Effekte eine zentrale Rolle in der Erfahrung von Neuroleptika-Konsumenten spielten – auch wenn einige Patienten davon sprachen, dass ihnen die Medikamente geholfen hätten, ihre Probleme zu bewältigen.
So positiv, wie Sie behaupten, klingt dies nun wirklich nicht. Sehr häufig werden genannt (theatralisch zähle ich die Punkte an meinen Fingern ab):
- Sedierung, kognitive Beeinträchtigung, emotionale Verflachung und Indifferenz
- Parkinsonismus bei den typischen Neuroleptika – sexuelle Störungen bei Risperidon
- metabolische Störungen bei Olanzapin
- Akathisie verbunden mit Selbstmordgedanken
- negative subjektive Effekte spielen eine zentrale Rolle.
Diese Untersuchung bestätigt, was ich bei eigenen Internet-Recherchen zu diesem Thema erfahren habe. Bei Foren, in denen alle mit Neuroleptika zufrieden sind, sollte man sein Augenmerk auf das Impressum richten. Es bleibt dabei: Neuroleptika erzeugen Apathie. Sie wären ja auch gar nicht in der Lage, ‚psychotische Symptome‘ zu unterdrücken, wenn sie nicht apathisch machen würden. Und dies gilt gleichermaßen für die neuen, wie für die alten Präparate.“
Andere Erfahrungen
Wie aus der Pistole geschossen, kommt das Gegenargument meines Gegenübers. Er habe ganz andere Erfahrungen gemacht. Er nennt mir einige Internet-Foren, in denen die Poster keineswegs über Apathie klagten, sondern allenfalls über Gewichtszunahme. Ich tue so, als ob ich seinen Einwand nicht gehört hätte. Stattdessen streiche ich mir scheinbar gedankenverloren durchs Haar, in Wirklichkeit aber mit dem Ziel, meinem Kontrahenten meine Hörgeräte zu präsentieren, die ansonsten unter meinem Schopf passabel verborgen sind. Er soll glauben, dass ich ihn akustisch nicht verstanden habe.
„Meine Erfahrungen können die Studie jedenfalls nicht bestätigen“, sagt mein Gegenüber, nun deutlich lauter, und ich kann mir nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen, weil er nun mit mir wie mit dem Insassen eines Altersheims spricht, nicht nur laut und überdeutlich, sondern auch so, als sei ich dement.
„Warum sollte man denn den Leuten, die sich an den von Ihnen empfohlenen Orten im Internet sammeln, mehr glauben als den Betroffenen, die in die von mir zitierte Studie einbezogen wurden? Glauben Sie etwa, die Aussagen der Leute in den von Ihnen genannten Foren seien eher generalisierbar? In den Foren des Internets tummeln sich zahllose Leute, die Neuroleptika nehmen oder genommen haben, und die bekunden höchst unterschiedliche Erfahrungen. In den Stichproben, die ich selbst gezogen habe, waren die meisten eher unzufrieden. Davon kann sich ja jeder selbst überzeugen, der sich ein bisschen Zeit zum Surfen nimmt. Egal, welche Art von Neuroleptikum konsumiert wird: die Apathie steht an erster Stelle der Beschwerden.“
Dies stimmt natürlich nicht oder nur teilweise, aus Gründen, die noch zu erläutern sein werden. Aber, um der guten Sache zum Sieg zu verhelfen, darf man ruhig ein bisschen schwindeln.
„Im Übrigen wird die Apathie auch in einschlägigen wissenschaftlichen Werken und Fachzeitschriften als gravierende ‚Nebenwirkung‘ genannt – und dies sogar von Autoren, die Neuroleptika befürworten.“
Diese Aussage ist durchaus zutreffend. Geschickt tarne ich damit meine Lüge zuvor.
„Und ich bleibe dabei. Apathie ist heute die Ausnahme.“
“Bei wem? Bei den Leuten, die in den Foren posten, die Sie empfehlen? Ich will Ihnen ja keine bösen Absichten unterstellen, vielmehr fürchte ich, dass Sie bisher nur nicht bemerkt haben, dass die von Ihnen frequentierten Foren nicht repräsentativ sind.“
„Meine Erfahrungen beziehen sich nicht nur auf Foren. Der Herr möge zur Kenntnis nehmen, dass ich Psychiater bin, seit 35 Jahren im Beruf, nunmehr schon lange in leitender Stellung.“
Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem ich meinen Gegner durch allerlei Windungen und Wendungen verwirren kann, denn wer sich auf seine Autorität beruft, ist reif für Kommunikationsstrategien, die Konfusion hervorrufen. (Um die Damen und Herren bei der NSA nicht zu beunruhigen, verzichte ich darauf, diese Strategien näher zu erläutern.)
„Klar, wenn man Leute so niedrig dosiert, dass eigentlich nur noch der Placebo-Effekt zum Tragen kommt, dann stellt sich womöglich keine Apathie ein. Sobald hoch genug dosiert wird – so dass sich überhaupt eine echte medikamentöse Wirkung entfalten kann -, werden die Leute größtenteils mehr oder weniger apathisch. Manche nennen das dann auch lethargisch, emotional taub, gleichgültig, „Leck‘-mich-am-Arsch-Stimmung. Die ‚Symptome‘ haben sie unter dem Einfluss ihrer Medikamente zwar immer noch, aber sie regen sich nicht mehr darüber auf. Dazu fehlt ihnen die Kraft. Bei vielen reicht der Schwung noch nicht einmal dazu, sich über ihre Medis im Internet zu beschweren. Dies muss man natürlich bedenken, wenn man sich die Nebenwirkungsprofile der einschlägigen Neuroleptika bei ‚Druginformer‘iii genauer anschaut. Obwohl diese in dieser Datenbank höchstwahrscheinlich unterschätzt werden, ist die Sache immer noch gruselig genug.“
Keine Ahnung
„Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie sprechen!“
„Ich habe im Laufe meines schon etwas längeren Lebens eine ganze Reihe von Leuten unter Einfluss von Neuroleptika beobachtet, teilweise täglich, und ich weiß, wovon ich rede. Wer das Zeug freiwillig und wissend, was er tut, nehmen will, dem werde ich nicht davon abraten. Aber ich empfehle dringend, sich nicht nur auf die Werbesprüche der Pharmaindustrie zu verlassen und etwas genauer hinzuschauen. Druginformer könnte ein erster Einstieg sein. Neuroleptika sind keine Bonbons und auch keine Homöopathie, sondern Hämmer. Wer das Zeug über längere Zeit nimmt, muss mit Schäden rechnen, die nicht wieder weggehen. Und das sind teilweise Schäden, die ich meinem ärgsten Feind nicht an den Hals wünschen würde.“
Mein Ablenkungsmanöver ist gelungen. Mein Gegenüber fragt nicht danach, wo und in welchem Zusammenhang ich meine Erfahrungen mit “Schizophrenen” gesammelt habe, sondern er hängt an den irreversiblen Nebenwirkungen fest.
„Die gibt es, das bestreitet niemand. Nicht nur wir Psychiater müssen oftmals den Teufel mit Beelzebub austreiben. Auch anderen Ärzten bleibt vielfach nichts anderes übrig. Das ist nun einmal so und lässt sich nicht ändern.“
„Mitunter schon“, antworte ich. „Es sieht schon wieder nach Regen aus. Dieser Sommer geht mir auf den Geist!“
Wenn ich seine Geste richtig deute, will er nun nach seinem Rezeptblock in der Jackentasche greifen, hält aber kurz zuvor inne, als habe er sich eines Besseren besonnen. Diese kurze Verunsicherung nutze ich und fahre fort:
„Natürlich gibt es auch Ausnahmen von der Regel. Neulich traf ich einen Menschen, der voll des Lobes für Haldol war.“
„Sehen Sie“, antwortet mein Kontrahent. „Man soll sich nicht von Vorurteilen leiten lassen.“
Er kramt nunmehr technisches Gerät aus seinem Arztkoffer hervor. Es schimmert und glänzt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt es sich als ein sündhaft teures Smartphone – ein Modell mit vielen zusätzlichen Schikanen, das häufig als Werbegeschenk auf Veranstaltungen der Pharma-Industrie verteilt wird. Es prunkt nur so vor Brillanten in Goldfassung.
„Wie war noch einmal die Adresse von diesem ‚Druginformer‘?“
Ich nenne ihm den URL.
„Schauen wir doch einmal, was sich für ‚Haldol‘ ergibt.“
Wir lesen gemeinsam, was auf dem Display erscheint:
„Schläfrigkeit (Somnolence) 3,3 %; Schlafstörung (Sleep Disorder) 3 %; Erschöpfung (2,3 %); Schlafstörung (Insomnia) 1,8 %; Alpträume 1,5 %; Sedierung 1,3 %; Lethargie (0,8 %).“ (Diese Werte können sich im Lauf der Zeit natürlich ändern, HUG.)
„Das ist zwar unschön, aber von dominierenden negativen subjektiven Effekten kann ja nun wirklich nicht gesprochen werden“, sagt er.
„Hier ist natürlich zu bedenken“, antworte ich, während ich ganz leicht und unmerklich ins Schwitzen komme, „dass diese Prozentzahlen sich auf Berichte in Foren und sozialen Netzwerken beziehen. Man muss also damit rechnen, dass in dieser Datenbank die tatsächliche Häufigkeit von Apathie, Lethargie, Müdigkeit etc. unterschätzt wird, weil die am schlimmsten Betroffenen nicht die Kraft und das Interesse haben, im Internet zu posten. Selbstverständlich: Man kann Neuroleptika so niedrig dosieren, dass diese Phänomene nicht oder nicht sehr ausgeprägt auftreten. Dann haben diese Drogen aber auch keine pharmakologische Wirkung. Was sich in diesen Fällen zeigt, ist überwiegend Placebo-Effekt und ‚Spontanheilung‘. Man wartet darauf, dass die ‚Symptome‘ von allein wieder verschwinden. Dies dann der Substanz zuzuschreiben, ist mit Sicherheit nicht gerechtfertigt. Im Übrigen handelt es sich um einen Nocebo-Effekt, wenn das Verschwinden der ‚Symptome‘ fälschlicherweise einem Medikament zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung schadet den Betroffenen, weil sie dann nicht erfahren, dass sie in der Lage sind, ihre Probleme aus eigener Kraft (ohne Pillen und Doktoren) überwinden zu können.“
„Sie finden auch immer eine Ausrede!“, sagt mein Kontrahent. „Fakt ist: Wir verordnen unseren schizophrenen Patienten keine Homöopathika, sondern hochpotente Mittel in angemessener Dosierung.“
Ich erwäge kurz, schon jetzt einen weiteren Pfeil aus meinem Köcher zu ziehen, entscheide dann aber, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist und plänkele stattdessen ein wenig auf die plumpe Art.
„Ich wiederhole: Apathie (Lethargie, Schläfrigkeit, Mattigkeit, Sedierung etc., emotionale Verflachung, das Gefühl, eingemauert zu sein, massive Demotivierung) ist keine Nebenwirkung der Neuroleptika, sondern die eigentliche Hauptwirkung. Sie, diese Hauptwirkung, sorgt für das Unterdrücken des unerwünschten Verhaltens und Erlebens. Wenn keine Apathie eintritt, haben diese Substanzen – meist, weil sie zu niedrig dosiert sind oder weil die Betroffenen auf die jeweiligen Substanzen nicht reagieren – auch keine pharmakologische Wirkung, sondern allenfalls sind sie mit einem Placeboeffekt verbunden. Dies ergibt sich im Übrigen allein schon aus der Tatsache, dass Neuroleptika keine kausalen, sondern symptomatisch wirkende Mittel sind. Dies wird ja sogar von Befürwortern dieser Mittel eingeräumt. Ebenso wenig, wie Schmerzmittel die Ursache des Schmerzes bekämpfen, ebenso wenig beseitigen die Neuroleptika die Ursachen des unerwünschten Verhaltens und Erlebens. Schmerzmittel wirken, weil sie den Schmerz lindern – und Neuroleptika wirken, weil sie apathisch machen und sedieren. Dies sollte, mit einigem guten Willen, einleuchten.“
„Das mag auf die alten Mittel zutreffen, auf die neuen aber nicht. Diese haben eine genuine antipsychotische Potenz, die unabhängig von der Sedierung zu sehen ist.“
Placebo-Effekt
Ich springe auf den Marketing-Begriff “antipsychotische Potenz” natürlich nicht an, sondern spiele den Oberlehrer.
„Sagt Ihnen der Begriff Placebo-Effekt etwas?“
„Sie werden staunen, ja, und nicht nur das. Deswegen machen wir ja Placebo-Studien und in diesen zeigt sich regelmäßig, dass unsere Medikamente eine eigenständige, also eine pharmakologische Wirkung besitzen.“
„Die Bedeutung des Placebo-Effekts bei den Neuroleptika ist hoch und nimmt beständig zu, wie eine neuere Studie der FDA ergab.“iv
„Das mag sein, widerspricht aber meiner Aussage nicht.“
„Was meinen Sie denn: Wie viel Prozent der Schizophrenen sprechen angemessen auf ein Neuroletikum an, im Durchschnitt?“
„Grob geschätzt: 70 Prozent!“
“Und wie viel Prozent der Schizophrenen würden gleichermaßen auf ein Placebo reagieren?”
„Ich will nicht lügen, sagen wir einmal: 40 Prozent.“
„Also gut. Machen wir ein kleines Rechenexempel. Nehmen wir dazu Ihre Zahlen, die im Übrigen bis vor, sagen wir, zehn, fünfzehn Jahren durchaus realistisch waren. Setzen wir also voraus, ein Neuroleptikum wirke bei 70 % der Teilnehmer der Experimentalgruppe eines Versuchs und 40 % der Teilnehmer der Placebogruppe reagierten ebenfalls positiv.
Dies bedeutet, dass 40 Prozent der Teilnehmer der Placebo-Gruppe auch positiv reagiert hätten, wenn man sie der Experimentalgruppe zugeteilt hätte. Daraus folgt (im Einklang mit Adam Riese): Direkter chemischer Effekt der Droge = 0,70 mal (1 – 0,40) = 0,42. Dies bedeutet, dass der direkte pharmakologische in diesem Beispiel nicht nennenswert größer ist als der Placeboeffekt. Nun dosieren wir niedrig, um das Apathie-Phänomen zu minimieren. Entsprechend reagieren nur noch – sagen wir – 60 Prozent der Experimentalgruppe positiv. Dann folgt: 0,60 mal (1 – 0,40) = 0,36. Dies heißt, dass in diesem Fall die ‚reale‘ Wirkung des Neuroleptikums in dieser schwächeren Dosierung bereits geringer ist als der Placeboeffekt. Es dürfte sich eigentlich von selbst verstehen, dass diese Überlegungen nicht nur medizinisch, sondern auch volkswirtschaftlich bedeutsam sind, denn Neuroleptika sind bekanntlich erheblich teurer als Zuckerpillen. Bei den Zuckerpillen ist schließlich schon lange der Patentschutz abgelaufen.“
„Trotzdem helfen die Neuroleptika besser als Zuckerpillen, selbst wenn ein beachtlicher Anteil an der Gesamtwirkung auf den Placebo-Effekt zurückgeht.“
Nun ist es Zeit, wieder einmal einen Pfeil abzuschießen.
„Es geht den Menschen aber langfristig besser, wenn man die Neuroleptika weglässt.“
„Unsinn, Unsinn und noch einmal Quatsch!“
„Darf ich Sie bitten, noch einmal ihr Gerät hervorzuholen.“
Pflasterritzenflora
Ich gebe ihm den URL meines Blogs „Pflasterritzenflora“. Dort zeige ich ihm folgenden Eintrag:
„1992 wurde die erste internationale WHO-Studie zum Verlauf von Schizophrenien veröffentlicht. Die Betroffenen wurden dreimal untersucht: zu Beginn der Studie, nach 2 und nach 5 Jahren. Den Patienten in den Entwicklungsstaaten ging es bei den Folgeuntersuchungen wesentlich besser als den Patienten in den entwickelten Staaten, und zwar sowohl hinsichtlich klinischer, als auch sozialer Kriterien.v
Ebenfalls 1992 wurde eine zweite Studie der WHO publiziert, die uneingeschränkt die Ergebnisse der ersten WHO-Untersuchung bestätigte. Die Forscher schlussfolgerten aus ihren Daten, dass in einem Entwicklungsland zu leben ein starker Prädiktor für eine vollständige Remission (Nachlassen von Krankheitssymptomen) sei.vi
Und nun kommt der Hammer. 2011 erschien eine Studie, die zeigte, dass die Entwicklungsverläufe bei den Schizophrenen in Entwicklungsländern nunmehr genauso schlecht waren wie die der Schizophrenen in den entwickelten Staaten.vii
Wie das? Das Rätsels Lösung: In den beiden ersten Studien wurden nur 15.9% der Patienten in den Entwicklungsländern kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt, verglichen mit 61% der Patienten in den USA und anderen entwickelten Staaten. In der dritten Studie jedoch wurden alle Patienten mit Neuroleptika behandelt. Man kann sich nun den Kopf darüber zerbrechen, ob es nicht andere Gründe außer dem Neuroleptika-Einsatz geben könnte, die diese Befunde erklären. Mir will so recht keiner einfallen. Haben Sie eine Idee?“
„In diesem Zeitraum könnten sich auch andere Einflussfaktoren verändert haben, nicht nur der Neuroleptika-Einsatz.“
Ich lenke ab.
„Ich wollte in diesem Monat noch eine Radtour machen, aber bei dem Wetter…“
„Lenken Sie nicht ab. Was sagen Sie zu meinem Argument?” Na, los!“
„Man kann sich viel ausdenken: Schauen Sie sich folgenden Eintrag in meinem Blog an.“
Ich nenne ihm den URL der entsprechenden Seite. Dort heißt es:
„Man kann sich viel ausdenken. Davon halte ich nichts. Ich orientiere mich an Fakten. Hier haben wir beispielsweise eine 20-Jahre-Follow-up-Studie aus einem Land, das man nicht als Entwicklungsland bezeichnen kann, nämlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika, von Harrow und Kollegen.viii Es zeigt sich, dass es den Patienten, die kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden, deutlich schlechter geht als anderen, die man nicht kontinuierlich mit Neuroleptika therapierte.
‚SZ-(SZ = Schizophrenie)-Patienten, die nicht für längere Zeiträume mit Antipsychotika behandelt wurden, waren weniger wahrscheinlich psychotisch und erfuhren mehr Perioden der Gesundung; sie hatten überdies günstigere Risiko- und Schutzfaktoren. SZ-Patienten ohne Antipsychotika wurden auch nicht häufiger rückfällig.‘ix
Damit bestätigt die obige Studie meine Erklärung, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von ‚Schizophrenen‘ in den Entwicklungsländern auf vermehrten Einsatz von Neuroleptika zurückzuführen ist.“
Ein weißes Kaninchen
„Sie sollten nicht so studiengläubig sein. Als Praktiker sage ich Ihnen, dass die seltener neuroleptisch Behandelten einfach fitter waren, von Anfang an.“
„Dies wurde untersucht und stellte sich als zutreffend heraus. Damit ist aber nicht zwingend bewiesen, dass ihr besseres Abschneiden direkt darauf zurückzuführen wäre. Aus meiner Sicht waren die Fitteren nur besser darin, sich der Behandlung mit Neuroleptika zu entziehen und deswegen kam der Befund aus der Studie von Harrow zustande.“
Der Psychiater öffnet seinen Arztkoffer und ich sehe, wie ein weißes Kaninchen aus ihm emporsteigt. Seine langen Ohren verwandeln sich in Flügel und es flattert schwirrend wie ein Kolibri davon. Nunmehr schließt der Arzt seinen Koffer wieder und der Spuk ist vorbei. Da habe ich noch einmal Glück gehabt. Ich bitte ihn, in meinem Blog noch ein wenig weiterzublättern:
„Eine neuere Studie ergab, dass Wiederaufnahmen in Krankenhäuser bei Patienten, die mit atypischen Neuroleptika behandelt wurden, nicht seltener waren als Wiederaufnahmen bei Patienten, die mit typischen Neuroleptika behandelt wurden (x). Diese Studie bezieht sich auf Patienten, die zwischen 1991 to 2005 aufgenommen wurden. Dieser Befund spricht gegen die häufig vorgebrachte These, dass die Zunahme der Wiederaufnahmen von Schizophrenen in den Entwicklungsländern, die sich aus meiner Sicht durch vermehrten Einsatz von Neuroleptika ergeben hat, darauf zurückzuführen sei, dass man sich in Entwicklungsländern die ‚guten‘ atypischen Neuroleptika nicht leisten könne.“
„Es gibt immer tausend andere Erklärungen. Was wollen Sie mit solchen Studien eigentlich beweisen?“
„Nichts. Ich zähle Tatsachen auf. Bei den so genannten Erklärungen handelt es sich meist um Vermutungen. Man sollte Tatsachen und Interpretationen schon auseinanderhalten. Die Fakten sprechen für meine Position, die Vermutungen mitunter dagegen. Die Vermutung, dass eben die dauerhaft nicht neuroleptisch Behandelten bessere Ergebnisse hatten als die dauerhaft damit Therapierten, weil sie eben fitter waren, kontere ich mit einer Gegenvermutung: Hätten die dauerhaft mit Neuroleptika Behandelten sich dieser Behandlung häufiger entzogen, dann hätten sie all jene Tugenden (resiliency, less vulnerability, skills u. ä.) wiedergewonnen, die den Fitteren in entsprechenden Studien zugeschrieben wurden.
Um Vermutungen handelt es sich, weil es keine Methoden gibt, diese Tugenden objektiv zu messen. Darum sieht das Ganze so aus, als habe man auf Teufel kommt raus versucht, eine Erklärung für diese Befunde zu finden, die nicht darauf hinausläuft, die Neuroleptika für das schlechtere Abschneiden der dauerhaft mit diesen Medikamenten behandelten Gruppe verantwortlich zu machen. Dies ist aus meiner Sicht jedoch die einzige Erklärung, die, unabhängig von meiner ebenso unbewiesenen Gegenvermutung, auf den bekannten Fakten fußt.
Überdies deutet eine neuere Studie darauf hin, dass es auf die Fitness gar nicht ankommt. In dieser Studie nämlich wurden die Versuchsteilnehmer (Menschen mit einer ersten psychotischen Episode) zu Beginn der Untersuchung zufällig auf zwei Gruppen verteilt. Die eine Gruppe erhielt kontinuierlich Neuroleptika (MT), bei der anderen wurde die Dosis reduziert und das Medikament schließlich ausgeschlichen (DR). Der Versuch lief über 18 Monate, danach oblag die weitere Behandlung dem jeweiligen Ärzten. Nach sieben Jahren hatten die Teilnehmer der DR-Gruppe in etwa die doppelte Gesundungsrate, verglichen mit den Patienten der MT-Gruppe (40,4 % zu 17,6 %).xi Dies ist die erste Studie dieser Art; und sie muss daher mit der methodisch gebotenen Vorsicht betrachtet werden. Zweifelsfrei bestätigt diese randomisierte Untersuchung aber den Trend, der sich in den bereits erwähnten naturalistischen Forschungen abzeichnete.
Man möge sich hierzu auch folgende Fakten durch den Kopf gehen lassen: 1955 befanden sich in den USA 355000 Erwachsene in staatlichen psychiatrischen Anstalten. Während der folgenden drei Jahrzehnte, also in der Blütezeit der typischen Neuroleptika, stieg diese Zahl auf 1,25 Millionen.“
„Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt“, antwortet mein Gegenüber. „Die Präparate werden aber immer besser.“
„Blättern Sie bitte weiter!“, sage ich und führe ihn zu folgendem Eintrag in der Pflasterritzenflora:
„In einer Übersichtsstudie, die unlängst in ‘Mens sana’ erschien, schlussfolgern die indischen Autoren, dass die Zukunft der pharmakologischen Behandlung von Schizophrenien düster ausssehe. Man behandele nicht die Ursache, sondern Erscheinungsformen, und es sei nicht zu erkennen, dass sich dies durch neuere Medikamente ändern könntexii.
„Das kann man so oder so sehen. In welchem Bereich der Medizin gibt es denn kausal wirkende Heilmittel? Diese Inder wollen wohl alle mit Ayurveda behandeln, oder wie, oder was?“
„Vielleicht sollte man, ganz gleich, welche Mittel eingesetzt werden, einmal darüber nachdenken, was der Medikamenteneinsatz an sich bewirkt. Stress, vor allem extremer Stress, spielt bei all diesen Phänomenen der so genannten Schizophrenie eine erhebliche Rolle. Umso wichtiger ist es für den Betroffenen, über die Ursachen nachzudenken und sich klarzumachen, durch welche Aspekte der eigenen Innenwelt und der eigenen Lebensgeschichte man so besonders empfindlich gegenüber Stress geworden ist. Und das bringt mich auf einen weiteren, fatalen Aspekt der so genannten Psychopharmaka. Die werden ja mit dem Argument verkauft, die Phänomene seien durch irgendwelche Störungen im Gehirn verursacht. Auf die Idee, dass es stressige Erfahrungen sein könnten, die den Anlass zu diesen Phänomenen und eventuell auch zu gestörten Abläufen im Gehirn gegeben haben, kommt man erst gar nicht. Wer an die ‚biologische‘ Erklärung der Schizophrenie glaubt, denkt erst gar nicht über sein Innenleben und über Probleme in der Außenwelt nach, weil das dann ja überflüssig wäre. Falls aber die Stress-These zutrifft, dann ist dies genau der Weg in die Chronifizierung: Symptombekämpfung statt Auseinandersetzung mit den Ursachen. Dadurch wird der ‚Patient‘ immer hilfloser und immer abhängiger von den Pillen. Dies könnte auch die Zunahme ‚schwerer Verläufe der Schizophrenie‘ in den Entwicklungsländern erklären oder zumindest einen Teil der Erklärung darstellen. Schlucken statt reden: Das ist der falsche Weg, meine ich.“
Ein krampflösendes Mittel
„Ich bin kein Gegner der Psychotherapie“, sagt mein Kontrahent. „Ich bin ausgebildeter Psychoanalytiker und habe außerdem Zusatzausbildungen in Verhaltenstherapie, Hypnotherapie, Gestalttherapie, wissenschaftlicher Gesprächspsychotherapie, Psychodrama, systemischer Familientherapie und und und.“
Er schaut mich mit einem Blick an, als erwarte er, dass ich in Ehrfurcht erstarre.
„Sie haben nicht zufällig ein krampflösendes Mittel in Ihrem Arztkoffer?“, frage ich.
Meine Gesichtsmuskulatur zuckt. Mein Gegenüber scheint meine Frage nicht verstanden zu haben. Er blättert gedankenverloren in meinem Tagebuch, hält plötzlich inne und liest vor (es klingt wie ein Selbstgespräch):
„Es lässt sich nicht belegen, dass die atypischen Neuroleptika besser sind als die typischen.“xiii
Er schließt sein Smartphone, steckt es ein, reibt sich die Augen, blickt lange ins Leere und sagt schließlich: „Man kann ja gegen Psychopharmaka sagen, was man will: Sie haben Nebenwirkungen, ja, teilweise erhebliche, sogar irreversible. Sie sind nicht das Gelbe vom Ei, ja, sicher ist es besser, wenn ein Mensch ohne sie zurechtkommt, jedoch, was auch immer man vorbringen will und berechtigterweise auch kann, sie helfen, sie helfen auch Menschen in größter seelischer Not, bei denen alle anderen Maßnahmen versagt haben – und diese Patienten sind dankbar für ihre Medikamenten und wollten sie nicht missen. So what?“
“Jeder erwachsene Bürger soll nehmen, was er will, auch Neuroleptika, aber dazu zwingen darf man ihn nicht!”, rufe ich ihm hinterher, aber er scheint mich nicht mehr zu hören. Schließlich verschwindet er in einem Aktenschrank, der sich plötzlich, wie aus dem Nichts, vor ihm aufbaut.
Was bleibt nachzutragen?
Ich bat die Kellnerin, mir die Rechnung zu bringen. Sie hatte hübsche, bunte Bänder im Haar. Ich schrieb, dass ich in meinem Bericht einmal geschwindelt hätte, die Sache aber noch aufklären wolle. Nun habe ich vergessen, um was es eigentlich ging. Wenn Sie die Sache interessiert, lieber Leser, dann schauen sie doch einfach zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in der Pflasterritzenflora vorbei. Im Augenblick habe ich leider keine Zeit, mich um die Angelegenheit zu kümmern, weil ich unbedingt noch drei Teile von der linken auf die rechte Seite verlagern muss, und das kann dauern. Wenn mich doch nur der kleine Affe, der im Bonsai auf dem Fenstersims herumturnt, nicht immerzu mit Bananenschalen bewerfen würde, käme ich sicher schneller voran, aber leider fehlt mir das Werkzeug, der magische Tand, um wirksam eingreifen zu können.
Anmerkungen
i Breggin, P. (1991). Toxic Psychiatry. New York: St. Martin’s Press
ii Moncrieff, J. et al. (2009). The subjective experience of taking antipsychotic medication: a content analysis of Internet data. Acta Psychiatr Scand 2009: 1–10
iii http://druginformer.com/search/ – druginfomer.com ist eine Datenbank, die Nebenwirkungen von Medikamenten auflistet
iv Khin, N. A. et al. (2012). Exploratory Analyses of Efficacy Data From Schizophrenia Trials in Support of New Drug Applications Submitted to the US Food and Drug Administration J Clin Psychiatry 2012;73(6):856–864
v Leff, J. (1992). The International Pilot Study of Schizophrenia. Psychological Medicine 22: 131-145
vi Jablensky, A. (1992). Schizophrenia: Manifestations, Incidence and Course in Different Cultures. Psychological Medicine, supplement 20 (1992): 1-95
Jablensky 1992
vii Haro, J. (2011). Cross-national Clinical and Functional Remission Rates. Brit J of Psychiatry 199: 194-201
viii Harrow, M. Et al. (2012). Do all schizophrenia patients need antipsychotic treatment continuously throughout their lifetime? A 20-year longitudinal study. Psychol Med. Feb 17:1-11
ix
„SZ (SZ = Schizophrenie) patients not on antipsychotics for prolonged periods were significantly less likely to be psychotic and experienced more periods of recovery; they also had more favorable risk and protective factors. SZ patients off antipsychotics for prolonged periods did not relapse more frequently.“
x Valevski, A. et al. (2012). Antipsychotic monotherapy and adjuvant psychotropic therapies in schizophrenia patients: effect on time to readmission. International Clinical Psychopharmacology: May – Volume 27 – Issue 3 – p 159–164
Valevski 2012
xi Wunderink, L. et al. (2013). Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.19. Published online July 3
xii Andrade, C. et al. (2012). Psychopharmacology of schizophrenia: The future looks bleak. Mens Sana, (10) 1, 4-12 - „We argue that the treatment of schizophrenia addresses the phenotype and not the cause; that the causes may not be treatable even if identifiable; that secondary prevention approaches involving treating the phenotype before full-fledged illness develops have, so far, not yielded promising results; and that shifting the focus of treatment from dopamine to other neurotransmitter systems is merely a tertiary prevention approach which will not reverse the extensive structural and functional pathology of schizophrenia.“
xiii Geddes, J. et al. (2000). Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis. BMJ 321:1371 - Conclusions: There is no clear evidence that atypical antipsychotics are more effective or are better tolerated than conventional antipsychotics.“
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