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In der heutigen Justiz lastet eine gewaltige Verantwortung auf den Schultern der Gerichtspsychiater. Sie sollen die Schuldfähigkeit beurteilen; bei vorzeitigen Entlassungen oder der Frage des Verbleibs in der Sicherungsverwahrung sollen sie einschätzen, wie gefährlich ein Täter noch ist; bei familienrechtlichen Fragen werden sie gehört, usw.
Werden sie dieser Verantwortung gerecht? Können sie dies überhaupt, selbst wenn sie sich ernsthaft darum bemühen? Einige Aspekte der wissenschaftlichen Voraussetzungen dieser Tätigkeit werde ich beispielhaft beleuchten. Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann ich nicht erheben. Die Fragestellungen sind komplex, auch wenn die Antwort einfach ist.
Die Sicherungsverwahrung soll die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen; also der Vorbeugung von Gewalttaten und sonstigen schweren Verbrechen dienen. Aufgrund von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts musste das entsprechende Gesetz vom Deutschen Bundestag überarbeitet werden. Es ging vor allem um die so genannte nachträgliche Sicherungsverwahrung. Sie wurde verhängt, ohne dass der Straftäter eine weitere Straftat begangen hatte. Die Neuregelung trat am 1. Juni 2013 in Kraft. Nunmehr ist eine intensive Betreuung des Sicherheitsverwahrten vorgesehen, um seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit so weit wie möglich zu mindern.
Durch Therapie soll der Sicherungsverwahrung offenbar der Charakter einer Strafe genommen werden, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig erkannt wurde. Ich möchte mich hier nicht in den rechtlichen Details verlieren, denn ich bin kein Jurist; mir geht es hier um die grundsätzlichen psychologischen Fragen, die sich mit der Sicherungsverwahrung im Besonderen und der psychiatrischen Diagnostik und Prognostik im Allgemeinen verbinden. Psychologische Aspekte kommen ins Spiel, weil es hier ja offensichtlich um die Prognose von Verhalten und um dessen Modifikation geht. Beides muss mit vetretbarer Genauigkeit bzw. Wirksamkeit möglich sein, sonst ergibt die Sicherungsverwahrung im Licht des überarbeiteten Gesetzes keinen Sinn. Doch werfen wir zunächst einen Blick zurück in die Vorgeschichte.
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Am 27. 06. 2012 fand eine Anhörung zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag statt. Die Sicherungsverwahrung soll – so lautet, wie bereits erwähnt, die offizielle Doktrin – die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen, nachdem diese ihre Haft verbüßt haben.
In einer Pressemeldung des Deutschen Bundestags hierzu hieß es:
“Im Mai 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht einer Beschwerde von vier Sicherungsverwahrten stattgegeben und alle geltenden Vorschriften für verfassungswidrig erklärt. Bis Juni 2013 muss der Gesetzgeber nun eine neue Regelung suchen…”
Laut Pressemeldung waren sich die Experten nicht einig. Das Spektrum reichte von bedingungsloser Befürwortung selbst nachträglich angeordneter Sicherungsverwahrung (die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte moniert wurde) bis hin zur Einschätzung, dass Sicherungsverwahrung „Haft für noch nicht begangene Straftaten“sei.
Einen Tag zuvor hatte sich die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zu Wort gemeldet. In einer von ihrem damaligen Präsidenten, Peter Falkai unterzeichneten Pressemeldung wird u. a. beklagt:
“Die Liste der Sachverständigen besteht aus Kriminologen und Richtern, jedoch ist kein Psychiater bzw. forensischer Psychiater berücksichtigt. Wir können nicht nachvollziehen, dass der Gesetzgeber bei diesem die Bevölkerung bewegenden Thema jenen medizinischen Sachverstand, der bei der späteren Umsetzung des Gesetzes gebraucht wird, im Verfahren ausschließt…“.
Nun weiß ich nicht, warum der Rechtsausschuss auf den “medizinischen Sachverstand” der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde verzichtete. Darüber kann ich nur spekulieren. Am 10. 08. 2010 schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel “Wenn Gutachter irren”.
“Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ein ‘rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel’: Dies ist das Ergebnis einer soeben unter diesem Titel erschienenen wissenschaftlichen Studie des Juristen Michael Alex. Die Analyse des 60-jährigen Strafvollzugsexperten, der unter anderem eine sozialtherapeutische Anstalt geleitet hat, wurde von der Universität Bochum als Doktorarbeit angenommen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Prognosen über die Gefährlichkeit von Tätern nicht stimmt. Diese Prognosen sind aber die Grundlage dafür, Straftäter nach Ablauf der Strafhaft in Haft zu behalten.”
Und weiter:
“Die Studie von Alex kommt zu dem Ergebnis, dass die Identifizierung gefährlicher Wiederholungstäter nur “auf Kosten einer großen Zahl von ungefährlichen Menschen gelingt”. Kurz gesagt: Einer sitzt zu Recht, 20 sitzen zu Unrecht wegen falscher Gutachten.”
Nehmen wir einfach einmal zugunsten derjenigen, die für die Einladung der Experten zur Anhörung im Bundestag verantwortlich waren, augenzwinkernd an, dass sie nicht nur ein Zeitungsarchiv besitzen, sondern gelegentlich auch einmal in ihm recherchieren. Vielleicht kann man sich ja so erklären, warum Psychiater nicht eingeladen wurden.
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Michael Alex und Thomas Feltes (Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik, Polizeiwissenschaft an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum) haben psychiatrische Gutachten zur Kriminalprognose analysiert. Sie referierten darüber am 18. bis 19. Juli 2011 in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Sie fanden in den von Ihnen untersuchten Gutachten, deren Autoren den Probanden eine “krankhafte Persönlichkeit” unterstellt hatten, u. a. folgende charakteristische Fehler:
- Überbewertung von Befunden
- Fehler bei der Interpretation von „Tatsachen“
- Falsche Schlüsse aus richtigen Tatsachen
- Interpretationen werden zu festgeschriebenen Etikettierungen
- Mangelhafte wissenschaftliche Qualität
- Mangelhafte gedankliche Aufarbeitung der Tat als (unzulässiges) Negativkriterium
- Methodisch und statistisch unzulässige Rückschlüsse
- Fehler durch „Fachblindheit“ von Psychiatern
- Nichtberücksichtigung von protektiven Faktoren und Resilienzbedingungen
- Prognose wird als statisch und nicht als etwas Dynamisches gesehen
- Beständige Fehlinterpretation der sog. „Basisrate“
- Offensichtliche Fehlinterpretationen von Testergebnissen
Selbstverständlich gibt es auch psychiatrische Gutachten zur Kriminalprognose, in denen diese Fehler vermieden werden. Aber werden sie deswegen auch treffsicherer?
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Manche meinen, mit modernen statistischen Methoden und empirischen Studien könne man das Problem der Kriminalprognose schon in den Griff bekommen. Dies mag sein, wenn man, ohne Rücksicht auf den Einzelfall, nur daran interessiert ist, die Rückfallquote von Kriminellen im Durchschnitt zu senken.
Wenn ich beispielsweise in einer repräsentativen Stichprobe feststelle, dass 95 Prozent der Straftäter mit dem Merkmalsmuster X nach Haftentlassung rückfällig werden, dann heißt das nicht für Herrn Meyer, der dieses Merkmalsmuster hat, dass er mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit nach Haftentlassung rückfällig wird.
Es heißt nur, dass ich bei einer weiteren Ziehung einer Stichprobe aus derselben Grundgesamtheit wieder für Menschen mit dem Merkmalsmuster X eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit des Rückfalls erwarten kann (Erwartungswert).
Und dann und nur dann, wenn ich in erster Linie meine Entscheidungen für Aggregate optimieren, wenn ich im Schnitt die größtmögliche Zahl von Rückfällen vermeiden möchte, darf ich derartige Statistiken zur Grundlage meiner Entscheidung machen.
Einem Ungläubigen versuchte ich unlängst diesen Sachverhalt in etwa mit folgenden Worten zu erklären:
Das Individuum zeigt ein Verhalten nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Es zeigt es (p=1). Oder es zeigt es nicht (p=0). Du kannst nur sagen, dass es zu einem Kollektiv gehört, in dem z. B. 95 Prozent das Zielverhalten Z an den Tag legen. Das ist aber eine Aussage über das Kollektiv, nicht über das Individuum.
Du weißt definitiv nicht, ob das Individuum zu den 95 Prozent zählt oder nicht. Nehmen wir an, du bekommst einen Euro für eine richtige Einschätzung. Du hast einen Menschen aus dem 95-Prozent-Kollektiv vor dir, von dem du sonst nichts Objektives weißt.
Klar, sagst du, ich bin doch nicht blöd, ich tippe, dass er das Zielverhalten Z zeigt. Schließlich zeigen dies ja 95 Prozent seines Kollektivs. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du gewinnst oder du verlierst. Entweder du kriegst einen Euro oder keinen. Du bekommst nicht, so oder so, 95 Cents.
Du müsstest schon zehn-, zwanzig-, dreißigmal Z vorhersagen, um unter den gegebenen Bedingungen deinen Gewinn zu maximieren. Je häufiger du prognostizieren darfst, desto wahrscheinlicher wird es, durchschnittlich pro Vorhersage 95 Cents zu kassieren.
So ist das auch mit den Straftätern. Du sollst bei einem Straftäter, der vor der Entlassung steht, vorhersagen, ob er innerhalb von drei Jahren rückfällig wird oder nicht. Da hast du einen, der zu einem Kollektiv zählt, von dem 95 Prozent innerhalb von drei Jahren wieder rückfällig werden. Du sollst nun ein Gutachten abgeben. Du sagst einen Rückfall innerhalb von drei Jahren voraus. Wenn dein Gutachten falsch ist und der eine, den du vor dir hast, innerhalb von drei Jahren nicht, wie von dir vorhergesagt, wieder rückfällig wird, weil er zu den entsprechenden 5 Prozent der nicht Rückfälligen des Kollektivs zählt, dann… sagen wir einmal, wirst du erschossen. Hinterher bist du entweder tot oder du lebst noch. Du bist nicht zu 5 % tot.
Hätten nun aber zusätzlich 99 Klone von dir dieselbe Aufgabe, dann wäre der Erwartungswert, sofern die Klone alle einen Rückfall vorhersagen: 95 Überlebende. Was will ich damit sagen: Diese stochastischen Entscheidungsregeln sind nur auf Kollektive anwendbar. Nun fragst du mich zu recht: Wie würdest du dich entscheiden? Na klar, im gegebenen Fall nach der 95-Prozent-Regel. Dann stürbe ich ggf. zumindest in der Gewissheit, mein Leben für den statistischen Glauben gelassen zu haben.
Du merkst schon: Hinter all dem steckt ein philosophisches Problem. Was ist eigentlich real?
Immer nach unsicher? Nehmen wir einmal an, das Merkmal X, das mit 95-prozentiger Rückfallwahrscheinlichkeit verbunden ist, sei ein bestimmtes gestörtes Areal im Gehirn. Nun werden aber 5 Prozent derjenigen, die dieses Merkmal besitzen, nicht rückfällig. Es muss also auch protektive Faktoren geben. Nehmen wir weiterhin an, dass X immer zum Rückfall führt, wenn es nicht durch ein weiteres Merkmal, nämlich Y, außer Kraft gesetzt wird. Ein Rückfall wird also nur und immer durch X ausgelöst, es sei denn, ein Mensch habe Y, das und nur das den Rückfall zuverlässig verhindert. Herr Meyer hat X, aber auch Y. Dann gehört er zwar zu einem Kollektiv, aus dem 95 Prozent rückfällig werden, weil er X hat, da er aber ebenso Y hat, ist seine Rückfallwahrscheinlichkeit gleich null.
Wenn nun Y eine unbekannte Größe ist, können wir ihr Vorhandensein auch nicht feststellen; selbst wenn wir also X zuverlässig diagnostizieren könnten, hülfe uns dies bei Herrn Meier nicht weiter. Uns müsste eine Fehlprognose unterlaufen, wenn wir unsere Vorhersage von X abhängig machten. Merke: Auch wenn ein Straftäter zu einem Kollektiv mit 95-prozentiger Rückfallwahrscheinlichkeit zählt, kann seine individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit gleich null sein. Welche bekannten Risikofaktoren X wir im Einzelfall auch immer berücksichtigen, stets könnte uns ein unbekannter Schutzfaktor Y einen Strich durch die Rechnung machen.
Wie wollen wir uns in Sachen “Sicherungsverwahrung” also entscheiden? Im Zweifel für das Kollektiv, die Gesellschaft, das Volk. Oder im Zweifel für Herrn Meyer, das Individuum, das aufgrund von Y gar nicht rückfällig werden kann?
Wir wissen einfach nicht, wie X und Y (beziehungsweise die Unzahl möglicherweise relevanter Faktoren) im Einzelfall zusammenspielen und was schlussendlich dabei herauskommt. Der Rechtsausschuss des Bundestags war gut beraten, keine Psychiater als Experten einzuladen. Es geht hier nämlich ersichtlich nicht um psychiatrische Probleme. Hier geht ist vielmehr um Fragen der politischen Philosophie. Um Grundsatzfragen. Um Verantwortung. Gerechtigkeit. Diese können und dürfen Politiker nicht auf Psychiater abwälzen. Auch Richter dürfen das nicht. Das darf niemand.
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Am 23. November 2012 hat der Bundesrat ein Gesetz zur Sicherungsverwahrung gebilligt, das zuvor von Bundestag beschlossen worden war. Dieses Gesetz berücksichtigt angeblich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es trat am 1. Juni 2013 in Kraft. Nach wie vor ist das leidige Psychiater-Problem ungelöst. Niemand kann im Einzelfall Gefährlichkeit prognostizieren, auch ein Psychiater nicht.
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Aber selbst auf der kollektiven Ebene ist die prognostische Validität psychiatrischer Gutachten grottenschlecht. Wenn diese Gutachten in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle zuträfen, dann könnte man das Versagen im Einzelfall ja als bedauerlich, aber im Interesse und zum Schutze der Bevölkerung für unausweichlich halten und sich entsprechend zugunsten der Allgemeinheit entscheiden. Doch obiges Beispiel (95-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit) ist, zum Zwecke besserer Veranschaulichung des Grundsachverhalts, natürlich aus der Luft gegriffen.
Wenden wir uns vom Spezialfall der Sicherungsverwahrung ab und den grundsätzlichen Fragen zu. Im gequetschten Licht der einschlägigen sozialwissenschaftlichen und psychologischen empirischen Forschung hat sich die Validität psychiatrischer bzw. psychologischer Gefährlichkeitsprognosen als überaus fragwürdig erwiesen. Die mageren Befunde gaben seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Anlass zu einer Vielzahl von Studien, die zur Verbesserung der Prognosegüte beitragen sollten. Mit soziologischen, psychologischen, psychodiagnostischen und statistischen Methoden wurden mutmaßliche Risikofaktoren identifiziert. Nach wie vor gibt es jedoch keine einheitlichen Modelle, die das ganze Spektrum der potenziell relevanten Einflussgrößen berücksichtigen und die empirisch getestet werden könnten (1).
Kurz: Die Gefährlichkeitsprognostik fußt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Die Vielzahl verstreuter, oft widersprüchlicher Befunde erlaubt keine fundierte Ableitung solider Prinzipien für ein evidenz-basiertes Procedere in der gerichtlichen Praxis.
Man könnte natürlich einwenden, dass die forensische Prognostik eine Kunst sei und dass die offensichtlichen Fehlprognosen überwiegend von jungen, unerfahrenen Fachleuten produziert würden. Damit könnte man die Hoffnung verbinden, dass erfahrene Prognostiker zu besseren Leistungen in der Lage seien.
Doch dies ist keineswegs der Fall. Die Qualität des klinischen Urteils korreliert definitiv nicht mit der Berufserfahrung. Dies ist das eindeutige Resultat der Untersuchungen von Robyn M. Dawes, eines Pioniers der psychologischen Entscheidungsforschung.
Seine Erklärung für dieses Phänomen erscheint plausibel. Bei der Prognose geht es ja um das Kategorisieren von Menschen – beispielsweise: gefährlich, nicht gefährlich. Die Effektivität von Lernprozessen im Bereich der Kategorisierung hängt nun aber von zwei Faktoren ab:
- Kenntnis von Regeln zur Zuordnung von Exemplaren zu einer Kategorie
- systematisches Feedback über richtige und insbesondere falsche Kategorisierung.
Beide Voraussetzungen sind aber im Bereich der Gefährlichkeitsprognostik nicht erfüllt. Erstens ist es heute noch weitgehend unbekannt, anhand welcher Merkmale man zukünftige Gefährlichkeit abschätzen kann. Und zweitens darf auch von einer systematischen Rückmeldung nicht gesprochen werden (2).
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Der “Texas Defender Service” vertritt die Insassen von Todeszellen in diesem Bundesstaat in Rechtsfragen. Der Service ließ eine Studie zur Validität von Gefährlichkeitsprognosen anfertigen. Grundlage bildeten die Gutachten von Experten, die im Auftrag der Staatsanwaltschaften die zukünftige Gefährlichkeit von angeklagten Straftätern, denen die Todesstrafe drohte, vor der Gerichtsverhandlung vorhergesagt hatten.
Die Experten irrten sich in 95 Prozent aller Fälle. Dies wurde anhand der Gefangenenakten festgestellt, in denen eventuelle Gewaltakte verzeichnet waren. Der Beobachtungszeitraum belief sich bei den zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits Exekutierten auf zwölf Jahre. Die noch in der Death Row Einsitzenden waren dort durchschnittlich acht Jahre und die Gefangenen mit reduziertem Strafmaß hatten eine Haftzeit von durchschnittlich 22 Jahren verbüßt. Der Forschungsbericht wurde 2004 unter dem Titel
“Deadly Speculations. Misleading Texas Capital Juries with False Predictions of Future Dangerousness“
veröffentlicht.
Die Gutachten der forensischen Psychiatrie sind natürlich nicht immer tödliche Spekulationen, sofern damit der physische Tod des Angeklagten gemeint ist; aber der soziale Tod kann auch in Ländern ohne Todesstrafe die Folge sein, wenn Menschen für viele Jahre in Psychiatrien eingekerkert werden.
Obwohl die überaus dürftige wissenschaftliche Basis solcher Gutachten auch dem interessierten Laien nicht verborgen geblieben sein kann, regt sich, angesichts der Konsequenzen, nur verhältnismäßig wenig Widerstand gegen eine Gerichtspraxis, in der Richter in aller Regel im Sinne solcher windigen Gutachten urteilen.
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Wer eine Straftat begangen hat, für schuldfähig befunden und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, kann sich ausrechnen, wann er wieder herauskommt. Dies ist bei den so genannten psychisch kranken und gefährlichen Straftätern aber nicht der Fall. Sie schmachten in aller Regel wesentlich länger im psychiatrischen Kerker, als sie für die gleiche Tat als Schuldfähige im Gefängnis brummen müssten. Sie sind ihren Kerkermeistern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Doch der intelligente Zeitgenosse, dem dies bekannt sein müsste, verschließt davor seine Augen – selbstverständlich mit schlechtem Gewissen, wie es sich gehört; und um dieses schlechte Gewissen zu beschwichtigen, verklärt er das Urteilsvermögen des forensischen Gutachters und glaubt fest und unverbrüchlich daran, dass der für gefährlich Erklärte auch tatsächlich gefährlicher sei als andere Zeitgenossen (die ja oft auch nicht gerade harmlos sind).
Vielleicht erklärt diese psychische Konstellation auch die Neigung der Medien, Kriminalpsychiater oder forensische Psychologen zu Stars emporzustilisieren und ihnen eine beinahe kultische Verehrung angedeihen zu lassen. So schreibt beispielsweise Sabine Rückert in einem Zeit-Artikel über Hans-Ludwig Kröber, den Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin:
“Manche Männer überqueren im Segelboot den Stillen Ozean, um jene Grenzen zu überschreiten, die dem Menschen gesetzt sind, andere durchmessen zu Fuß den brasilianischen Dschungel, wieder andere verabreichen sich halluzinogene Pilze oder erklimmen Himalaya-Gipfel ohne Sauerstoffgerät. Hans-Ludwig Kröber überschreitet Grenzen, indem er sich an einen Tisch setzt, seinen Block herausholt und zuhört.”
Doch damit nicht genug:
“Wenn er einen Täter exploriert, verströmt er – unbeeindruckt von den Abgründen, die sich vor ihm auftun – freundliche Ungezwungenheit. Nichts Klinisches umgibt den Nervenarzt bei der Arbeit. Nichts Steriles. Nichts Lauerndes. Nichts, wovor einer sich fürchtet. Die Begutachteten (und manchmal auch deren Angehörige) unterhalten sich mit einem netten Herrn Mitte fünfzig, der sich aufrichtig für ihr Schicksal und die Untat interessiert.”
Kröber gehörte zu den Gutachtern, die Gustl Mollath Gefährlichkeit bescheinigten. Die damalige bayerische Justizministerin Beate Merk zählt ihn zur Crème de la Crème der deutschen Gerichtspsychiatrie. Er sprach nicht selbst mit Mollath, sondern erstellte sein Gutachten nach Aktenlage. Der Expertise eines anderen Gutachters widersprach er heftig. Dieser hatte sich mit Mollath ausführlich unterhalten und keinen Grund für eine Unterbringung zu erkennen vermocht. Manche Männer überqueren im Segelboot den Himalaya, durchmessen unter dem Einfluss halluzinogener Pilze schwimmend den Stillen Ozean, andere wieder, nette Herren Mitte fünfzig, vielleicht, begutachten einen Menschen nach Aktenlage.
Ein anderer Star der Gutachterzunft, eine meiner akademischen Lehrerinnen, die unlängst verstorbene Elisabeth Müller-Luckmann, sagte vor vielen, vielen Jahren einmal in einer ihrer Vorlesungen (es waren tatsächlich solche, sie las aus Büchern vor und kommentierte sie dann zwischendurch) – diese Psychologieprofessorin also las aus einem Buch über die Gestalttherapie vor, in dem einige Kapriolen des Begründers Fritz Perls geschildert wurden und bemerkte hierzu, dass ein guter Psychotherapeut immer auch ein Scharlatan sei und sein müsse. Als junger Student traute ich mich nicht, sie zu fragen, ob dies auch für psychologische und psychiatrische Gutachter gelte.
Als Leitender Oberarzt des Fachkrankenhauses für Psychiatrie in Zschadraß verfasste Gert Postel auch psychiatrische Gutachten, die niemals beanstandet wurden, obwohl ihn zu dieser Tätigkeit keine formale Qualifikation befähigte. Er war Autodidakt; er hatte sich das Hochstapeln selbst beigebracht (3). Hier stellt sich die Frage, ob man, um zum Scharlatan zu avancieren, Psychiater oder Psychologe sein muss oder ob es reicht, wenn man im Grundberuf Hochstapler ist.
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Manche meinen, ein guter Gerichtspsychiater müsse in der Lage sein, gequetschtes Licht auf Basis nichtentarteter Vier-Wellen-Mischung zu erzeugen. Aus meiner Sicht ist diese Anforderung aber eindeutig zu hoch gegriffen. Viele Gerichtspsychiater wären damit eindeutig überfordert, wie beispielsweise ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung zeigt. Auszug:
(Der Psychiater Pantelis Adorf hatte in seinem Gutachten aus wissenschaftlicher Literatur zitiert. Er wird während der Gerichtsverhandlung nach der Bedeutung der Zitate für den vorliegenden Fall befragt.)
Adorf: “Keine Ahnung. Das hab ich einfach so übernommen.”
Rechtsanwalt Ahmed: “Warum übernehmen Sie etwas, das keine Relevanz hat?”
Adorf: “Das ist meine Entscheidung. Das wollte ich einfach so.”
Ahmed: “Aber das muss doch einen Grund haben?”
Adorf: “Nicht unbedingt. Das sind so Gedanken von einem Kollegen, da kann man drüber nachdenken.”
Ahmed: “Ihr Auftrag lautete, Sie sollten sich äußern zu der Frage, ob bei Herrn W. eine psychische Störung im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) vorliegt. Was sind denn nach Ihrer Ansicht die Kriterien für eine psychische Störung im Sinne des ThUG?”
Adorf: “Das kann ich im Augenblick nicht beantworten.”
Um sich zu der Frage zu äußern, ob eine psychische Störung im Sinne des ThUG vorliegt, muss man nun wirklich nicht die Kunst beherrschen, gequetschtes Licht auf Basis nichtentarteter Vier-Wellen-Mischung zu erzeugen. Die völlig irrelevanten Fragen dieses Anwalts kann ich im Übrigen auch nicht nachvollziehen. Lebt der Mann hinterm Mond?
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Im Licht der empirischen Forschung betrachtet (4, 5), ist die psychiatrische Gefährlichkeitsprognostik kaum treffsicherer als die Glaskugelschau. Und wenn die Glaskugel von einer erfahrenen, lebensklugen Esoterikerin gehandhabt wird, dann ist es durchaus nicht auszuschließen, dass sie u. U. bessere Ergebnisse erzielt als die berühmtesten Kriminalpsychiater.
Psychiatrische Gutachter neigen notorisch dazu, die Gefährlichkeit von Straftätern zu überschätzen (6). Dies ist allerdings nicht auf persönliche Schwächen der einschlägig tätigen Experten zurückzuführen, sondern liegt in der Natur der Sache.
- Denn Gewalttaten sind seltene Ereignisse und aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Gründen sind die Vorhersagen seltener Ereignisse zwangsläufig und unvermeidlich mit hohen Fehlerquoten verbunden.
- Außerdem unterliegt gewalttätiges Verhalten einem starken Kontexteinfluss, kann also nur teilweise durch persönliche Merkmale erklärt werden. Ob ein Mensch in Zukunft einem Kontext ausgesetzt sein wird, der Gewalt stimuliert, und wie er dann auf diese Herausforderung reagiert, ist selbst mit einer blank geputzten und mit Tachyonen aufgeladenen Glaskugel nur sehr bedingt prognostizierbar.
- Gefährlichkeitsprognostiker – und dies macht die obigen Punkte heikel – sehen sich einem erheblichen sozialen Druck ausgesetzt, da ihnen die Verantwortung für Fehldiagnosen angelastet wird. Sozialer Druck bei hochgradiger Entscheidungsunsicherheit führt zu konservativen Urteilen (die sich zu Lasten des Beurteilten auswirken).
Die meisten Gewalt-Prädiktoren (Sachverhalte zur Vorhersage von Gewalt) taugen nichts. Der Glaube daran entpuppt sich als Aberglaube, sobald man die angeblichen Korrelationen zwischen diesen Faktoren mit angeblicher Vorhersagekraft und dem tatsächlichen Verhalten einer seriösen empirischen Überprüfung unterzieht. So mögen zwar paranoide Vorstellungen im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen durch eine leichte Erhöhung der Gewaltbereitschaft gekennzeichnet sein; aber dieser Sachverhalt ist nur von akademischem Interesse und praktisch ohne jede Bedeutung. Denn Suchtmittelabhängige ohne paranoide Vorstellungen zeichnen sich, verglichen mit der soeben genannten Personengruppe, durch eine allenfalls unwesentlich verminderte Gewaltneigung aus.
Der einzige Prädiktor, der sich als ziemlich stabil und aussagekräftig erwiesen hat, ist die Kriminalakte. Je häufiger ein Mensch zuvor bereits gewalttätig geworden ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er auch in Zukunft gewalttätig wird. Diese Korrelation bestätigt eine etablierte Erkenntnis der Sozialpsychologie allgemein: Zukünftiges Verhalten sagt man am besten auf der Grundlage früheren Verhaltens voraus.
Dies gilt im Übrigen auch für die Vorhersage selbstschädigenden Verhaltens (Selbstverletzung, Suizid). Die Einschätzungen der Wahrscheinlichkeit eigenen selbstschädigenden Verhaltens in der Zukunft beispielsweise korrelieren zwar mit dem späteren Handeln der befragten Personen. Aber sie sind schlechter als Prognosen, die ausschließlich auf der beobachteten Häufigkeit selbstschädigenden Verhaltens in der Vergangenheit beruhen (7).
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Angesichts der extremen Fehleranfälligkeit psychiatrischer Gefährlichkeitsprognosen und des hohen sozialen Drucks, der auf den Prognostikern lastet, fragt der Soziologe Günther Albrecht im Fazit seiner gründlichen Auseinandersetzung mit dem Stand der einschlägigen Forschung, wer uns eigentlich vor den Gefährlichkeitsprognostikern schütze. Diese berechtigte Frage möchte ich umformulieren: Wer schützt uns vor den einflussreichen Leuten, die Gefährlichkeitsprognostikern Glauben schenken?
Richter, die das Gewaltpotenzial eines Menschen berücksichtigen müssen, können sich dabei also mit guten Gründen nur auf die Vorgeschichte des Angeklagten stützen. Die Gutachten psychiatrischer Experten werden die Qualität des richterlichen Urteils jedenfalls nicht erhöhen. Zumindest gibt es beim Stand der empirischen Forschung keinen vernünftigen Grund, darauf zu vertrauen. Warum lassen sich Richter dennoch sehr häufig durch derartige Gutachten beeinflussen?
Wenn sich ein Richter einmal ein Wochenende freinähme, um einen Blick in die einschlägige Fachliteratur zu werfen und wenn er dann auch noch die Schönfärberei überlesen und sich ausschließlich auf die empirischen Befunde konzentrieren würde, dann hätte er schon lange vor dem Sonntagsnachmittagskaffee&Kuchen erkannt, dass er psychiatrische Gutachten allesamt und grundsätzlich in der Pfeife rauchen kann.
Sie mögen brillant formuliert sein und plausibel klingen, es mag viel guter Wille und aufrichtige Überzeugung in ihnen stecken; sie sind dennoch nichts anderes als die persönliche Meinung von Menschen, die für diese Aufgabe nicht besser geeignet sind als irgendwer sonst. Der Richter könnte an ihrer Stelle auch den Gerichtsdiener fragen.
Ich unterstelle, dass die meisten Richter dies im Grunde ihres Herzens bereits ohne Literaturstudium wissen. Wie alle vernünftigen Menschen mit ein wenig Lebenserfahrung haben sie erkannt, dass menschliches Verhalten von einer Vielzahl komplexer Sachverhalte abhängt, die zudem gar nicht oder nur teilweise der Kontrolle durch das Individuum unterliegen, dessen Verhalten vorhergesagt werden soll. Leider vergraben viele Richter diese Einsicht in den Tiefen ihrer Seele.
Weder die psychiatrische Ausbildung, noch die einschlägige Berufserfahrung befähigen den Gutachter dazu, diese Unwägbarkeiten besser in den Griff zu bekommen als ein so genannter Laie. Die eingangs erwähnte Power-Esoterikerin, deren Glaskugel kurz zuvor frisch mit Tachyonen aufgeladen wurde, mag diese Aufgabe besser meistern als der gewöhnliche Sterbliche, sofern ihr überdies noch die Gabe des Auralesens zu Gebote steht – den Rest der Menschheit aber eint die Ratlosigkeit. Da helfen weder Räucherstäbchen, noch psychologische Tests oder die klinische Erfahrung des Psychiaters.
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Nein, und nochmals nein: Wissenschaftlich fundierte, hinlänglich treffsichere Gefährlichkeitsprognosen gibt es nicht und kann es wohl auch nicht geben. Der empirisch psychologischen Forschung ist es bisher jedenfalls noch nicht gelungen, mehr als nur einen kleinen Teil der Varianz menschlichen Verhaltens in komplexen Umwelten vorherzusagen. Leute, die meinen, sie könnten es besser, sollten Zahlen, Daten und Fakten präsentieren, die dies belegen. Bisher jedenfalls: Fehlanzeige.
Warum glauben dann sogar viele Leute, die Psychiatern und der Psychiatrie im Grunde kritisch gegenüberstehen, den psychiatrischen Prognostikern, wenn diese im Brustton der Überzeugung von oben herab behaupten: “Der Angeklagte ist gefährlich und gehört weggesperrt in die Psychiatrie?”
Niemand fragt sich dann noch: “Woher will der das wissen?”, sondern man sagt sich: “Der Mann ist Facharzt. Der hat das schließlich gelernt!”
Es gibt fraglos überaus gefährliche Leute, auch solche, die sich durch keinerlei Strafandrohung von den abscheulichsten Verbrechen abhalten lassen. Zeitungen und Fernsehsender berichten fast täglich von solchen Taten. Nur wer sich ohne Medienkontakt in die Einöde zurückzieht, kann sich dieser Erfahrung entziehen. Sie erzeugt zwangsläufig ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Sicherheitsbedürfnis und Gefahrenbewusstsein schaukeln sich gegenseitig auf.
Dadurch entsteht chronischer Stress; der auch dann wirksam ist, wenn er verdrängt oder verleugnet wird. Stress aber begünstigt die Tendenz zur Regression. Unter “Regression” wird die Neigung verstanden, als Erwachsener auf frühkindliche Problemlösungsmuster zurückzugreifen. Ein kleines Kind, das sich bedroht fühlt, sehnt sich nach dem Schutz des Vaters, der als übermächtig erlebt wird. Dies ist aus meiner Sicht zumindest ein wesentlicher Aspekt, der dazu beiträgt, warum ärztliche Gefährlichkeitsgutachten nicht jenes Ausmaß an Kritik ernten, das ihnen bei nüchterner Betrachtung sicher wäre.
Vor allem durch die zunehmend aggressiver geführte öffentliche Debatte über außermedizinische, vor allem wirtschaftliche Interessen von Medizinern ist die ärztliche Autorität in den letzten Jahrzehnten zwar ins Wanken geraten. Sie ist längst nicht mehr so unumstößlich wie bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Aber sie verstärkt sich in Situationen individueller oder kollektiver Bedrohung trotzdem auch heute noch und löst nach wie vor den beschriebenen regressiven Reflex aus.
Wenn es um “gefährliche Irre” geht, wird der Prognostiker in der Regel auch nicht mehr als Psychiater, sondern als Facharzt angesprochen, gleichsam also geadelt, damit das schlechte Image der Seelenklemptnerzunft nicht die Vertrauensbasis untergräbt.
So wie das Kleinkind dem Vater ohne Begründung oder Belege glaubt, dass der eine Mensch gut, der andere böse sei; so nimmt es der unter Stress geratene Bürger ungeprüft hin, dass nach Meinung des zuständigen Facharztes der eine Mensch gefährlich sei, der andere aber nicht.
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Die Psychiatrie maßt sich in der Praxis Fähigkeiten an, die ihr, sogar gemessen an den Befunden der eigenen empirischen Forschung, wissenschaftlich betrachtet nicht zu Gebote stehen. Deswegen wird in psychiatrischen Fachzeitschriften seit Jahren die Krise der Psychiatrie beklagt. Der kritische Psychiater Thomas Szasz bezeichnete die Psychiatrie als eine Wissenschaft der Lügen. Braucht unsere Gesellschaft eine solche Wissenschaft, und wenn ja, warum? Weil sonst die gefährlichen Irren frei herumliefen?
Natürlich gibt es gefährliche, brutale, grausame Menschen. Wer würde sich nicht wünschen, dass sie an ihren Taten gehindert werden, wenn es sein muss, auch durch Mauern, Gitter und Stacheldraht. Doch leider gibt es keine Möglichkeit, sie mit der moralisch gebotenen Treffsicherheit zu identifizieren. Die Gefahr, dass man die Falschen ergreift und einkerkert, die Richtigen aber laufen und ggf. sogar Karriere machen lässt, ist viel zu groß. Mit unserem System des Maßregelvollzugs, der Unterbringung, der Sicherungsverwahrung wiegen wir uns in falscher Sicherheit und nehmen dafür unverhältnismäßig hohe moralische, aber auch ökonomische Kosten in Kauf.
Man sollte Menschen an ihren Taten messen. Mutmaßungen über ihre Geistesverfassung sollten vor Gericht keine Rolle spielen, es sei denn, nachweisbare, und ich betone: nachweisbare Störungen des Nervensystems hätten einen Einfluss auf ihren mentalen Zustand und stünden in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zu ihren Taten und ihrem zukünftigen Verhalten.
Fazit: Die Psychiatrie hat vor Gericht nichts zu suchen.
Anmerkungen
(1) Franklin, R. D. (ed.) (2003). Prediction in Forensic and Neuropsychology. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum
(2) Dawes, R. M. (1989). Experience and validity of clinical judgment: The illusory correlation. Behavioral Sciences & the Law, Volume 7, Issue 4, pages 457–467, Autumn (Fall)
(3) Postel, G. (2001). Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. med. Gert von Berg. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag
(4) Hart, S. D., Michie, C., & Cooke, D. J. (2007) Precision of actuarial risk assessment instruments: Evaluating the ‘margins of error’ of group versus individual predictions of violence. British Journal of Psychiatry, Supplement, 49, Vol 190 60-65.
(5) Lidz, C., Mulvey, E., & Gardner, W. (1993). The accuracy of predictions of violence to others. Journal of the American Medical Association, 269, 1007-1011.
(6) Sue, D. et al. (2012). Understanding Abnormal Behavior. New York, N.Y.: Wadsworth Inc Fulfillment, Seite 527
(7) Janis, I. B. & Nock, M. K. (2008). Behavioral Forecasts Do Not Improve the Prediction of Future Behavior: A Prospective Study of Self-Injury. JOURNAL OF CLINICAL PSYCHOLOGY, Vol. 64(10), 1–11
(8) Postel, G. (2001), siehe Fußnote 3
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