The Mouth of the South
Martha Beall Mitchell war redselig und indiskret; sie liebte es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen; und sie neigte dem Alkohol zu. Da sie die Frau eines Kabinettsmitglieds war und da sie sich in den Medien zu inszenieren wusste, war ihr das öffentliche Interesse sicher. Als sie begann, Gerüchte über illegale Machenschaften im Weißen Haus zu verbreiten, versuchten interessierte Kreise, sie zu diskreditieren. Sie wurde als Alkoholikerin verunglimpft, als Spinnerin. Als sie sich ihrem Psychotherapeuten anvertraute, diagnostizierte dieser eine Wahnerkrankung.
Ihr Mann, der Justizminister (Attorny General) unter Nixon war, ließ sich scheiden. Dann kam der Watergate-Skandal ans Licht. Plötzlich erschien Martha Beall Mitchells Aussage, dass es nicht mit rechten Dingen zuginge im Weißen Haus, in einem veränderten Licht. Die Enthüllungen über den Watergate-Einbruch und seine Hintergründe rehabilitierten die Frau, die zu schrillen Tönen und pompösen Auftritten neigte. Aus der Verrückten, dem “Mouth of the South” (so genannt wegen ihrer Herkunft aus dem Süden der Vereinigten Staaten), wurde die “Cassandra vom Potomac”. Präsident Richard Nixon musste zurücktreten, Martha Mitchells Mann, John N. Mitchell, kam wegen seiner Verstrickungen in die Watergate-Affäre ins Gefängnis.
Martha Mitchell wurde daraufhin zur Namensgeberin eines psychologischen Effekts, des Martha-Mitchell-Effekts. Damit wird eine so genannte psychiatrische Fehldiagnose bezeichnet, die darin besteht, einen unglaubwürdigen bzw. schwer überprüfbaren Bericht über tatsächliche Vorgänge als wahnhaft aufzufassen.
Aus Sicht der konstruktivistischen Philosophie, der auch die modernen Neurowissenschaften zuneigen, nimmt der Mensch das Universum nicht so wahr, wie es an sich ist, sondern seine inneren Modelle der Außenwelt sind Konstruktionen seines Gehirns.
“Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluss des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ verlässliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Die Möglichkeiten, so eine Ordnung zu konstruieren”, schreibt der konstruktivistische Philosoph Ernst von Glasersfeld, “werden stets durch die vorhergehenden Schritte in der Konstruktion bestimmt. Das heißt, dass die ‘wirkliche’ Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten.” (7)
Selbst dann also, wenn wir mit unseren Konstruktionen auf den Bauch fallen und aus dieser Erfahrung Lehren ziehen, bleiben wir durch unser Begriffssystem an den Rest unserer “Wahrheiten” und “Irrtümer” gebunden. Die Welt dort draußen ist zwar unabhängig davon, was wir über sie denken – dies zeigt sie uns hin und wieder mit mehr oder weniger katastrophalen Folgen -, aber was wir, angesichts solcher Demonstrationen, auf neuer Grundlage über sie denken, ist nicht unabhängig von dem, was wir bisher über sie gedacht haben. Kurz: Wir können nicht über unseren Schatten springen.
Und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass manche auch nach dem Sturz Nixons meinten, Martha Mitchell habe zwar in Sachen Watergate weitgehend recht gehabt, meschugge sei sie aber dennoch. Schließlich hatte sie behauptet, sie sei entführt und unter Drogen gesetzt worden, um sie zum Schweigen zu bringen, was sich aber nicht beweisen ließ. Für die Freunde von Verschwörungstheorien sei hinzugefügt, dass die CIA in ihrem Gehirnwäscheprogramm MKULTRA den Einsatz von Drogen zu diesem Zweck zur Kunstform entwickelt hatte.
Go to a shrink
In den Vereinigten Staaten, dem Quellgrund der Moderne, ist man auch in Sachen “Whistleblower” schon viel weiter als bei uns. Was bei uns noch Aufmerksamkeit erregt, gar Empörung hervorruft, nämlich die Pathologisierung von Leuten, die das Maul nicht halten können, ist dort längst Routine. Hunderte von großen Unternehmen haben Psychiater als Berater auf der Gehaltsliste, deren einzige Aufgabe darin besteht, aufmüpfige Mitarbeiter für verrückt und gefährlich zu erklären (1).
“If you raise a stink, you go to a shrink!”, ist in den USA bereits ein geflügeltes Wort. Machst du Theater, musst du zum Psychiater. Eine beliebte Grundlage für diese Machenschaften sind Programme zur Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz. Wer zu viel weiß und die Klappe nicht halten kann, wird für potenziell gefährlich erklärt. Wenn er sich gegen eine psychiatrische Untersuchung wehrt, wird er entlassen. Wer zu viel weiß und die Klappe hält, wird unter Umständen ebenfalls zum Psychiater geschickt, damit man was gegen ihn in der Hand hat. Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.
Im Öffentlichen Dienst der Vereinigten Staaten kann dieser Trick aber nicht mehr so einfach angewendet werden wie in der Privatwirtschaft. Dies verdanken die amerikanischen Angestellten im Staatssektor u. a. Don Soeken. 1978 war Soeken Chef-Sozialarbeiter der U.S. Public Health Service Outpatient Clinic in Washington D.C. Dr. Soeken war dort für die zwangsweise psychiatrische Untersuchung von Angestellten zuständig, die am Arbeitsplatz auffällig geworden waren. Er stellte fest, dass die Leute keineswegs als “psychisch krank” bezeichnet werden konnten, sondern sehr häufig Whistleblower waren. Sie wussten zu viel und konnten die Klappe nicht halten oder standen in Verdacht, dies vielleicht in Zukunft nicht zu können.
Soeken spürte den Druck, der auf ihm lastete. Die Behörden, die ihm diese Leute schickten, erwarteten von ihm, dass er sie für “psychisch krank” erklärte, damit sie die Störenfriede loswerden konnten. Doch Soeken weigerte sich, dabei mitzuwirken. Vielmehr wurde er selbst zum Whistleblower. Er wandte sich an Mitglieder des Kongresses und teilte ihnen seine Beobachtungen mit. 1984 beschloss der amerikanische Gesetzgeber, dass Bundesangestellte (mit einigen Ausnahmen) nicht mehr zu psychiatrischen Untersuchungen gezwungen werden durften. In den 90er Jahren wurde zudem eine Gesetzeslücke geschlossen. Nunmehr durften auch Angestellte der Legislative nicht mehr zwangsweise psychiatrisch diagnostiziert werden. Ausgenommen waren nunmehr nur noch Angestellte im Sicherheitsbereich (FBI, CIA, NSA u. ä.) sowie Leute, die mit toxischen Stoffen umzugehen hatten (2).
Obwohl also die Pathologisierung von Whistleblowers in den Vereinigten Staaten Routine ist, zeigen Vorstoß und Erfolg Soekens doch, dass es in diesem Lande immerhin ein Problembewusstsein gibt. Dies war bisher bei uns in Deutschland nicht der Fall. Es mag sein, es ist zu hoffen, dass der Fall “Gustl Mollath” den Anstoß zum Umdenken gibt.
Hier bin ich allerdings skeptisch. Kaum war der Mann aus dem Maßregelvollzug entlassen, legte sich das öffentliche Interesse auch schon wieder. Es wird vermutlich erneut aufflammen, wenn das Wiederaufnahmeverfahren beginnt. Danach, so prophezeie ich, wird es, wie gehabt, abflauen. Dann wird vermutlich ein Buch Mollaths erscheinen, begleitet von einigem Medienrummel, und schließlich werden sich seine Spuren im Staub des Alltags verlieren. Es würde mich sehr wundern, käme es anders.
Man meditiere über diese Konstellation: Auf der einen Seite steht ein Mensch, der Missstände, der Verstöße gegen Gesetz und Moral anprangert und auf der anderen Seite stehen die Angeprangerten sowie Gutachter, die über keine objektiven Methoden der psychiatrischen Begutachtung verfügen, und Richter, die sich auf die Expertisen dieser angeblichen Fachleute verlassen. Wie kann man da sicher sein, dass unter diesen Bedingungen dem Whistleblower Gerechtigkeit widerfährt? In den USA haben die staatlich geförderten und geforderten Programme zur Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz Tausende von Psychologen und Psychiatern in Arbeit und Brot gebracht. Gerade diesen letzten Gesichtspunkt möge man in die Meditation vorrangig einbeziehen.
Die psychiatrische Daumenschraube
- Ein wenig wohlwollendes Entgegenkommen gegenüber den eigenen Brötchengebern wird man doch wohl erwarten dürfen? Wer wird denn in die Hände beißen, die einen nähren.
- Der rechtschaffene Bürger ist ohnehin gut beraten, besser die Klappe zu halten. Man versucht klugerweise nicht, über Dinge mitzureden, in deren Hintergründe man nicht eingeweiht ist.
- Wer nicht zurücksteckt, wenn man ihm die Instrumente, zum Beispiel die psychiatrische Daumenschraube, zeigt, ist selber schuld, oder etwa nicht?
- Wenn Korruption und Erpressung die wichtigsten Steuerungsinstrumente der demokratischen Gesellschaft sein sollten, wie spitze Zunge behaupten, dann würden uns Whistleblower mit ihrem Gepfeife ohnehin nur irritieren und von Kurs abbringen.
So oder ähnlich denken viele Leute, die kein Verständnis für “Querulanten” haben, die zu viel reden und sich wichtig machen. Es mag sein, dass diese Haltung vor unliebsamen Erfahrungen schützt, die so manchem drohen, der sich nicht nur insgeheim sagt: “Das darf doch nicht sein!”, sondern der die Schändlichkeiten auch ausplaudert, die er nicht länger verleugnen zu können glaubt.
Doch es gibt auch Leute, die sich dennoch trauen, wider den Stachel zu löcken, und siehe da, manche kommen durch. Dr. Don Soeken, einer von ihnen, ist heute ein anerkannter Spezialist für die Probleme von “Nestbeschmutzern”. Da er selbst in einschlägigen Arbeitsfeldern tätig war, weiß er, wovon er spricht. Über die psychiatrischen Untersuchungen sagt er:
“The doctor will go into all the areas that could discredit a person. He’ll ask early life questions, late life questions, sexual questions, whatever he wants to ask, and then write it up and give it to the boss or law firm. Any doctor worth his salt will find something wrong, or even make up something, and if you don’t answer one of his questions, then you are uncooperative and you can be fired for that, too. What they are trying to do is put a person out on a psychiatric disability. If they succeed, you would never work again in your lifetime (6).”
Was auch immer der Psychiater über den Examinierten zu Papier bringt: Es lässt sich in aller Regel nicht objektiv überprüfen. Man könnte nur ein Gegengutachten einholen, was aber ebenso subjektiv und willkürlich wäre. Was Richtern durch den Kopf geht, die dieses Spiel seit Jahren mitmachen und Urteile auf dieser Grundlage fällen, ist mir schlicht und ergreifend schleierhaft. Ich kann die Amtsauffassung, die dahinter steht, nicht nachvollziehen.
Zum Fall “Gustl Mollath” empfehle ich die Analyse von Gabriele Wolffs Blogbeitrag: Rosenkrieg und Versagen von Justiz und Psychiatrie sowie weiterer einschlägiger Artikel in ihrer Website. Man sollte sie sehr gründlich lesen. Aus meiner Sicht lässt sich hier klar erkennen, dass die Psychiatrie den Rechtsstaat auszuhebeln vermag und dass sie an die Kandare genommen werden muss. Das Problem ist nicht auf den Fall “Gustl Mollath” beschränkt und es handelt sich auch nicht um ein deutsches Phänomen.
Wir haben es hier mit einem weltweiten Webfehler aller politischer Systeme zu tun, die sich auf Volkssouveränität berufen. Durch die Psychiatrie wird ein absolutistischer Zug in das gesellschaftliche Leben hineingetragen. Ludwig XIV. sagte: “Die Staatshoheit ist die gegenüber den Bürgern und Untertanen höchste und von den Gesetzen gelöste Gewalt.” Dies trifft teilweise auch heute noch weitgehend zu, nämlich auf das Verhältnis zwischen einem zwangsweise und stets willkürlich in die Psychiatrie eingekerkerten Menschen und seinen Ärzten. Jährlich werden rund 200.000 Menschen in Deutschland gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht.
Der Fall “Gustl Mollath” zeigt eindrucksvoll, wie leicht man in die geschlossene Psychiatrie kommen kann. Wer einflussreiche Feinde hat, lebt gefährlich. Wer dazu neigt, gelegentlich aus der Reihe zu tanzen, aus der Rolle zu fallen, als berechtigt geltende Erwartungen nicht zu erfüllen, muss sich besonders vorsehen. Ein Ehepartner, der einen loswerden will, kann zum Verhängnis werden. Wer aber zu viel und zu offen über Missstände in seinem oder in einem ihm sonstwie bekannten Unternehmen spricht, steht schon mit einem Bein in der Psychiatrie.
Und zwar weltweit: Eine australische Studie beispielsweise ergab, dass 30 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer mit Whistleblower-Ambitionen von ihren Arbeitgebern zu einer psychiatrischen Untersuchung gezwungen wurden. Im Durchschnitt mussten sie drei verschiedene Psychiater aufsuchen, bis endlich das Gutachten zur Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber ausfiel. 30 Prozent der Betroffenen empfanden die Psychiaterbesuche als hilfreich und 70 Prozent als Besorgnis erregend (3).
Die Psychiatrisierung ist eine ausgezeichnete Methode, um so genannte Nestbeschmutzer zu diskreditieren und kaltzustellen. Wenn man ihnen fachliche Fehler unterstellt, so muss man dies, wenn’s hart auf hart kommt, nachweisen; dumm nur, dass Whistleblowers in aller Regel Angestellte sind, denen man nichts vorwerfen kann. Unterstellt man ihnen, sie hätten sich nicht kollegial verhalten oder den Betriebsfrieden gestört, so braucht man Zeugen, die bereit sind auszusagen. Dumm nur, dass man zwar leicht Leute dazu anstiften kann, missliebige Kollegen zu mobben, schwieriger wird es dann aber schon, jemanden dazu zu bewegen, mit einer Aussage Verantwortung zu übernehmen. Und so ist die Psychiatrie mit Sicherheit die eleganteste Lösung.
Und dies nicht nur, weil man sich dadurch der leidigen Beweisfrage entledigt – schließlich müssen psychiatrische Diagnosen nicht bewiesen werden, es reicht die subjektive Meinung des Diagnostikers – sondern auch, weil der einmal zum psychiatrischen Fall Erklärte kaum eine Möglichkeit hat, durch sein Verhalten das Gegenteil unter Beweis zu stellen. Wenn er all die Symptome, die angeblich für seine “psychische Krankheit” charakteristisch sind, nicht zeigt, so kann der diagnostizierende Psychiater immer noch behaupten, der Whistleblower dissimuliere diese Symptome nur und dies beweise, wie schwer erkrankt er sei. Mitunter gelingt es zwar, einen Richter mit einem Gegengutachten zu verunsichern; aber über einem Richter ist der blaue Himmel und dort oben thront der liebe Gott: Was die beiden miteinander zu besprechen haben und was dabei dann herauskommt: Wer kann es wissen?
Für die hohe Politik, die für die Wahrung von Ruhe und Ordnung zuständig ist, könnte kein anderes Procedere willkommener sein. Der psychiatrisch-juristische Komplex ist wie für sie erfunden und geschaffen. Falls der Whistleblower sehr viel Staub aufzuwirbeln drohte, treffen sich die Koryphäen aus Wirtschaft, Psychiatrie, Justiz und Politik nach getaner Tat im Wohltätigkeitsclub unter Freunden und lassen die Ereignisse Revue passieren. So läuft das Spiel. Wenn sich alle Beteiligten perfekt die Bälle zugespielt haben, sind die nicht involvierten Freunde voll des Lobes; und wenn nicht alles so glatt lief, wie es wünschenswert gewesen wäre, dann halten sie sich vornehm zurück und geben den Akteuren Gelegenheit zur Manöverkritik. Falls sich später Nachwirkungen in bisher noch nicht betroffenen Bereichen zeigen sollten, so ist dies in der Regel auch kein großes Problem, denn Clubfreunde fühlen sich zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet.
Schattenpolitik
Seitdem sich die moderne Psychiatrie als Herrschaftsinstrument in Form einer medizinischen Spezialdisziplin im 19. Jahrhundert konstituierte, ist sie eine tragende Säule der Schattenpolitik in demokratischen Gesellschaften. Es nimmt daher ja auch nicht wunder, dass ihre Beziehungen zu Geheimdiensten, militärischen Spezialeinheiten und organisierter Wirtschaftskriminalität sowie zu allerlei gesellschaftlichen Organisationen mit dunklen Hinterhöfen stets nichts zu wünschen ließen – aus Sicht der Spitzen dieser Gesellschaften. Ob es nun galt, in Stahlgewittern traumatisierte Soldaten mit schmerzhafter Elektrizität an die Front zurückzufoltern oder ob es galt, mit Gehirnwäschemethoden willenlose mentale Sklaven für den Kalten Krieg zu dressieren, ob es galt, Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten unschuldiger Menschen zu legitimieren, ob es galt, die Prosperität der Pharmaindustrie zu sichern – stets stand die Psychiatrie Gewehr bei Fuß, um den Leidenden zu helfen, und sei es auch durch Zwang.
Was also kann getan werden, um diesem gemeingefährlichen Unfug Einhalt zu gebieten? Eine Abschaffung der Psychiatrie, so vernünftig sie auch wäre (denn es gibt ja die “Krankheiten” gar nicht, die diese Disziplin “behandelt”), steht natürlich nicht auf der Tagesordnung, zumal ja viele Leute eine psychiatrische Behandlung wünschen und somit in einer freien Gesellschaft auch ein Recht darauf haben. Kurzfristig wäre allerdings zu fordern, psychiatrische Diagnosen zu verbieten. Sie haben nämlich keinen Nutzen, fügen den Patienten u. U. aber erheblichen Schaden zu.
Die Schatten der Diagnostik
Die britische Psychotherapeutin und Autorin Lucy Johnstone schreibt im Blog “Mad in America“:
“We have known for a long time that terms such as ‘schizophrenia’ are scientifically meaningless. They are not actually ‘diagnoses’ in a medical sense, since they are not based on patterns of bodily symptoms or signs. Instead, the criteria consist of a ragbag of social judgements about people’s thoughts, feelings and behaviour. The people who are so labelled may well have difficulties and be in urgent need of help, but this is not the way to help them.”
Es handelt sich bei diesen Diagnosen nicht um medizinische Konzepte, sondern um ein Sammelsurium sozialer Urteile über die Gedanken, Gefühle und das Verhalten von Leuten. Daher ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass diese Diagnosen nicht valide sind. Es gibt keine Möglichkeit, sie mit objektiven Verfahren zu überprüfen. Wenn man also einen Whistleblower für “psychisch krank” erklärt, so kann dieser weder das Gegenteil beweisen, noch kann er fordern, man möge diese Diagnose doch durch Labortests oder andere harte, naturwissenschaftliche Methoden erhärten.
Lucy Johnstone fährt fort:
“‘Diagnosing’ someone with a devastating label such as ‘schizophrenia’ or ‘personality disorder’ is one of the most damaging things one human being can do to another. Re-defining someone’s reality for them is the most insidious and the most devastating form of power we can use. It may be done with the best of intentions, but it is wrong – scientifically, professionally, and ethically.”
Eine psychiatrische Diagnose gehört zu den schlimmsten Dingen, die ein Mensch einem anderen antun kann, stellt die britische Psychologin fest. Und ich möchte im Hinblick auf die Causa Mollath noch hinzufügen, dass dies besonders auf Psychodiagnosen zutrifft, die mit einer Gefährlichkeitsprognose verbunden sind (deren Treffsicherheit bekanntlich auf dem Niveau der Glaskugelschau liegt). Wenn ein Whistleblower also durch einen Diagnostiker als “psychisch krank und gefährlich” eingestuft und wenn diese Diagnose von einem Gericht bestätigt wurde, so ist er fast immer definitiv erledigt; die Verursacher der Missstände, die er anprangerte, können aufatmen.
Was also tun?
“We already have a situation where the strongest defence of DSM (3) is: ‘We know it’s flawed, but it’s the best we have – what could we do instead?’ The simple answer is, ‘Stop diagnosing people.’ This would at a stroke render redundant all the well-meaning but (as research shows) ineffective campaigns to reduce the stigma of ‘mental illness’.”
Mit dem Diagnostizieren aufzuhören, könnte nicht nur den durchschlagenden Erfolg zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Problemen bringen, der allen gut gemeinten Kampagnen bisher versagt blieb. Dadurch würde es auch unmöglich gemacht, Whistleblower mit einem Stempel zu versehen, der ihre Glaubwürdigkeit untergräbt, ja, vernichtet.
Was an die Stelle der psychiatrischen Diagnose treten könnte, beschreibt Lucy Johnstone in einem weiteren Eintrag in das Blog “Mad in America“. Sie schlägt anstelle der Diagnose eine gründliche Beschreibung der Problemlage vor und gibt hierzu ein Beispiel:
“You had a happy childhood until your father died when you were aged 8. As a child, you felt very responsible for your mother’s happiness, and pushed your own grief away. Later your mother re-married and when your stepfather started to abuse you, you did not feel able to confide in anyone or risk the break-up of the marriage. You left home as soon as you could, and got a job in a shop. However, you found it increasingly hard to deal with your boss, whose bullying ways reminded you of your stepfather. You gave up the job, but long days at home in your flat made it hard to push your buried feelings aside any more. One day you started to hear a male voice telling you that you were dirty and evil. This seemed to express how the abuse made you feel, and it also reminded you of things that your stepfather said to you. You found day-to-day life increasingly difficult as past events caught up with you and many feelings came to the surface. Despite this you have many strengths, including intelligence, determination and self-awareness, and you recognise the need to re-visit some of the unprocessed feelings from the past.”
Weil diese hypothetische Patientin eine Stimme hört, die sonst niemand hört und weil diese Stimme sie entwertet, würde die konventionelle psychiatrische Diagnose in diesem Fall vermutlich “Schizophrenie” lauten. Nun stellen wir uns vor, der erwähnte Stiefvater lebe noch und erführe von den Anschuldigungen gegen ihn. Er müsste nun nur behaupten, diese seien das Ergebnis eines Wahns, entbehrten jeder Grundlage und außerdem habe seine Stieftochter ihn unlängst mit einem Messer bedroht. Dann stünde diese Patientin schon mit einem Bein in der geschlossenen Psychiatrie, es sei denn, sie hätte eine aggressive feministische Gruppe zur Seite, die für sie Stimmung macht. So läuft das Spiel heutzutage. Falls der Stiefvater in einem einschlägigen Wohltätigkeitsverein wäre, dann würde auch die Frauengruppe nicht mehr viel ausrichten können.
Die von Lucy Johnstone vorgeschlagene, kontextbezogene Beurteilung eines Menschen mit psychischen Problemen wäre sicherlich ein Fortschritt gegenüber Diagnosen nach DSM oder ICD (5). Aber allein durch den Verzicht auf bestimmte Begriffe wie “Schizophrenie” oder “posttraumatische Belastungsstörung” schafft man ja noch nicht die Vorurteile aus der Welt, die sich mit diesen Diagnosen verbinden – zum Beispiel jenes, das den “Schizophrenen” eine besondere Gefährlichkeit attestiert. Auch wenn das Wort selbst, der diagnostische Terminus politisch nicht mehr korrekt wäre und vermieden würde wie in anderen Bereichen “Neger”, so könnte doch jeder herauslesen, was zwischen den Zeilen steht.
Daher lehne ich auch diese entschärfte Variante der psychiatrischen Diagnose, die Lucy Johnstone propagiert, entschieden ab. Wer beispielsweise zu einem Fahrlehrer geht, weil er noch nicht Auto fahren kann, der braucht ja auch nicht die ausführliche Beschreibung der Geschichte und der momentanen Erscheinungsformen seiner Fahruntüchtigkeit, um Fahren lernen zu können. Und wer irgendein psychisches Problem überwinden will, der benötigt auch keine Diagnose seines momentanen Zustandes. Vielmehr gilt es, Ziele zu definieren und die Wege und Mittel auszuwählen, die zur Verwirklichung der Ziele beschritten bzw. angewendet werden sollen. Das reicht völlig. Will einer mehr, dann möge er zur Astrologin gehen.
Wer Ruhe und Ordnung bewahren will, wird mit dieser Lösung u. U. nicht zufrieden sein, denn zur Ausgrenzung von Störern eignen sich so bestimmte Ziele nicht, nicht wirklich; Horoskope erst recht nicht. Der Bürger muss sich fragen, ob er auf solcherart Ruhe und Ordnung, für deren Aufrechterhaltung man psychiatrische Diagnosen braucht, tatsächlich Wert legt.
Wer bei dieser Frage an wutschäumende, messerstechende, unbelehrbare Irre denkt, wird womöglich geneigt sein, sie spontan zu bejahen – er sollte sich dann aber auch klarmachen, dass Fälle wie Gustl Mollath immer und immer wieder auftreten werden, solange psychiatrische Diagnosen legal sind. Wer brav seine Steuern bezahlt und unter ihrer Last ächzt, wird es vielleicht nicht so gern sehen, wenn mutige Steuerfahnder (Beispiel: Rudolf Schmenger) psychiatrisiert werden.
Wer solche Fälle beklagt, sollte sich klarmachen, dass es nur eine konsequente Lösung für dieses Problem gibt: die Abschaffung der psychiatrischen Diagnostik. Es darf keinem Psychiater mehr erlaubt werden, Menschen als “psychisch krank” einzustufen. Solche Diagnosen sind subjektive Meinung, sonst nichts. Es ist kein Beweis, wenn sich andere Psychiater finden, die derartige Einschätzungen bestätigen. Auch wenn ein Richter sie als plausibel empfindet, so sind sie dennoch aus der Luft gegriffen. Man sollte die Übereinstimmung von Vorurteilen nicht mit Tatsachen verwechseln.
Anmerkungen
(1) Butts, D. (2003). How Corporations Hurt Us All. Victoria, B.C.: Trafford
(2) Whistleblower.org, Bridging the Gap, Summer 2009
(3) Lennane, J. (2012). What Happens to Whistleblowers, and Why. Social Medicine, Volume 6, Number 4, May 2012
(4) Diagnostic Statistical Manual of Mental Disorders
(5) Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Liste der psychischen und Verhaltensstörungen
(6) zitiert in: Murphy, M. P. (2004). The Government. Lincoln, NE: iUniverse
(7) von Glasersfeld, E. (1984). Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper
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