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30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich

Wohlmeinende Menschen, meist Ökonomie-Professoren, aber auch ein paar Gewerkschaftsfunktionäre, Politiker und andere Gesinnungsverstreute, haben sich zu Beginn dieses Jahres zusammengeschlossen und in einem offenen Brief an diesen und jenen Unerhörtes gefordert: die Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Absurd, hieß es postwendend es aus Kreisen der Verursacher von Massenarbeitslosigkeit in unserem Land, sei dieser Vorschlag. Er ist es nicht, im Gegenteil: Wer das Ziel der Vollbeschäftigung ernst nimmt, muss sich hinter diese Forderung stellen. Denn nichts anderes würde funktionieren. Doch dies sei nur am Rande erwähnt, weil es nicht das Thema meines heutigen Tagebucheintrags ist.

Ein wesentliches Argument, das die wohlmeinenden Menschen zur Untermauerung ihres Appells ins Spiel bringen, ist die rapide Zunahme psychischer und psychosomatischer Störungen sowohl bei denen, die Arbeit haben, als auch bei denen, die arbeitslos sind. In den Unternehmen steigt der Leistungsdruck, Menschen sorgen sich zunehmend um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes; und die Arbeitslosen verfallen, mit jedem Tag ohne Beschäftigung in steigendem Maß, der Verzweiflung und schließlich düsterer Apathie. Diese Phänomene, so heißt es in dem offenen Brief, begünstigten ein unterwürfiges Verhalten bei Arbeitsplatzbesitzern und Stellensuchenden gleichermaßen.

Der psychiatrisch-pharmakologische Komplex hat also alle Hände voll zu tun. Die Nachfrage nach leistungssteigernden Mitteln einerseits und nach beruhigenden und stimmungsaufhellenden Medikamenten andererseits steigt beständig. Wer sich mit Pillen nicht begnügen will, begibt sich in eine Psychotherapie, um sich für den kapitalistischen Alltag wieder fit zu machen oder zu stählen.

Mit anderen Worten: Menschen, denen eine Daumenschraube angelegt wurde, verlangen nach Mitteln, die ihre Pein lindern, ihren Durchhaltewillen stärken oder nach tröstenden Worten, die sie moralisch aufrüsten sollen. Hier von “Krankheit” und “ärztlicher Behandlung” zu sprechen, ist aus meiner Sicht infam oder gedankenlos oder infam gedankenlos bzw. gedankenlos infam. Der Wirt um die Ecke erfüllt dieselbe Funktion wie dieses Psycho-System, nur nicht auf Krankenschein.

Die neoliberale Verschärfung des Kapitalismus, die zunehmende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen unter diesem Wirtschaftssystem einerseits und die Pathologisierung der natürlichen Reaktionen auf diese inhumanen Tendenzen andererseits sind zwei Seiten einer Medaille. Eins greift ins andere.

Menschen werden durch die entsprechende Propaganda der Mainstream-Medien nachgerade dazu dressiert, sich als “psychisch krank” zu empfinden, wenn sie dem Druck nicht mehr standhalten – und die Psychiatrie kanalisiert den Strom der Leidenden, der unter diesem Druck Leidenden auf ihre Mühlen; sie schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: der Widerstand gegen dieses Wirtschaftssystem wird durch Pillen und gute Worte minimiert und zugleich verdient man auch recht ordentlich an dieser wachsenden Zahl von Kunden.

Auch die neoliberale Ideologie, dass es dem Tüchtigen an nichts fehle und nur den Faulen die gerechte Strafe für seinen mangelnden Einsatzwillen ereile, trägt ihr Schärflein zur Formung des Massenverhaltens im Sinne der Nutznießer neoliberaler Wirtschaftspolitik bei.

Wer sich diese Ideologie eintrichtern lässt, der sieht die Schuld für jede Misere zunächst bei sich, in der eigenen Seele. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Marketingstrategen des psychiatrisch-pharmakologischen Komplexes und seiner “Spin-Doctors” in der Politik.

Die Zusammenhänge sind im Grunde leicht zu durchschauen; man muss kein Soziologe, kein Ökonom, man muss noch nicht einmal besonders scharfsinnig sein, um zu erkennen, wohin der Hase läuft. Doch Menschen, die unter erheblichem Stress stehen, erleiden massive Einbußen an Kritikfähigkeit, besonders dann, wenn wunde Punkte berührt werden: Die mit dem Arbeitsplatz verbundene Selbstwertproblematik ist ein solcher wunder Punkt.

Bei einer zunehmenden Zahl von Menschen entspricht die “psychische Krankheit” dem Selbstbild besser als der solidarische Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Viele begreifen noch nicht einmal, dass alles auf diese Alternative hinausläuft.

Darum werden sich manche, die unter Druck stehen, vielleicht noch für die Idee wohlmeinender Menschen, die Arbeitszeit auf 30 Stunden zu verkürzen, erwärmen können; dass dies aber keine wirklich effektive Lösung ist, wird ihnen nicht einsichtig sein.

Neben der reduzierten Kritikfähigkeit ist noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, wenn man diese Begriffsstutzigkeit verstehen will. In einem Aufsatz mit dem Titel “Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle” schreibt der Psychoanalytiker Erich Fromm bereits 1970:

“Tatsache ist jedoch, dass die meisten Menschen psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen des Mangels befangen sind, während die industrialisierte Welt im Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen ‘Phasenverschiebung’ sind viele Menschen nicht einmal imstande, neue Ideen wie die eines garantierten Einkommens zu begreifen, denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich von Gefühlen bestimmt, die ihren Ursprung in früheren Gesellschaftsformen haben.”

Sie erinnern sich vielleicht, dass ich mich zu Beginn dieses Tagebucheintrags mit folgender Äußerung zum hier diskutierten Vorschlag wohlmeinender Menschen äußerte:  ”Wer das Ziel der Vollbeschäftigung ernst nimmt, muss sich hinter diese Forderung stellen. Denn nichts anderes würde funktionieren.”

Dabei bleibe ich auch; stelle allerdings Frage, ob dieses Ziel tatsächlich erstrebenswert ist. Selbstverständlich wäre Vollbeschäftigung besser als der gegenwärtige Zustand, der Arbeitslose und Beschäftigte (von wenigen Ausnahmen abgesehen) gleichermaßen demütigt. Aber hieße dieses Ziel zu verfolgen nicht, der Wirtschaft und den Menschen Fesseln anzulegen, die angesichts der Produktivität in fortgeschrittenen Industriegesellschaften unnötig sind?

Es steht für mich völlig außer Frage, dass ein garantiertes Einkommen die Zahl psychisch und psychosomatisch “Erkrankter” dramatisch senken würde, im Gegensatz zur Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Denn die letztgenannte Lösung würde viele Unternehmer dazu inspirieren, sich für die damit verbundene (schon mittelfristig aber nur eingebildete) finanzielle Einbuße dadurch schadlos zu halten, dass man den allerletzten Tropfen aus der Zitrone herauszupressen versucht. Kurz: Die Daumenschraube würde noch schärfer angezogen, wo immer dies verwirklicht werden kann.

Unter den Bedingungen eines garantierten Einkommens aber wäre niemand gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen in einem Job auszuharren, um sich den demütigenden Gang zum Arbeitsamt oder gar das Hartzen zu ersparen. Führte dies zu einer Verknappung des Arbeitskräfteangebots, so wäre dies nicht etwa schlecht, sondern gut. Denn dann würden die Löhne steigen und damit auch die dringend benötigte Binnennachfrage nach Konsumgütern.

Es ist ein Irrglaube, dass Vollbeschäftigung angesichts des technischen Fortschritts immer noch ein notwendiges volkswirtschaftliches Ziel wäre. Wenn heute vielleicht noch Vollbeschäftigung durch Arbeitszeitverkürzung auf dreißig Stunden möglich ist, so wären es morgen u. U. 25, übermorgen 20. Das ist keine sinnvolle Perspektive.

Wir brauchen flexible Arbeitszeiten, so oder so. Ein garantiertes Einkommen wäre auch ein Garant für diese Flexibilität. Jeder könnte, bei entsprechender Nachfrage, nach Lust und Laune arbeiten, und fiele nicht in ein finanzielles Loch, wenn kein Interesse an seiner Arbeit bestünde oder wenn er gerade etwas anderes im Sinn hätte, als zu arbeiten.

Die kostspielige, ineffiziente und für den “Kunden” entwürdigende “Arbeitsverwaltung” (Arbeitsagentur, Jobcenter) könnte in ihrer jetzigen Form verschwinden. Das Abrücken vom antiquierten Ziel der “Arbeit für alle” würde auch die Psychiatrie entlasten, weil nämlich wesentliche Anreize für stressbedingtes Self-Handicapping entfielen.

Im Kern verbergen sich hinter den so genannten psychischen Krankheiten oft irrationale Ideen, die in kritikwürdigen gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. in den sie rechtfertigenden Ideologien wurzeln. Niemand muss “psychisch krank” werden; er wird es allenfalls, wenn er das System nicht durchschaut, dass ihn in eine miserable und schwierig zu bewältigende Lage gebracht hat.

Wer beispielsweise eine Depression nur simuliert, anstatt sich diese Rolle innerlich anzuverwandeln, wird dennoch krankgeschrieben. Dies sollte jeder bedenken, der eine Auszeit bei einem beschissenen Job unbedingt braucht. Allerdings gilt es auch, sich die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Diagnose vor Augen zu führen. Sie sind gravierend; man ist damit u. U. fürs Leben gezeichnet. Daher halte ich es im Regelfall nicht für ratsam, sich in diese Richtung treiben zu lassen.

Aus Sicht der Profiteure neoliberaler Politik mögen die Forderungen nach der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich oder gar nach einem garantierten Einkommen absurd sein; sie sind dies aus dieser Sicht aber nur, weil die Großaktionäre nicht für die Folgeschäden neoliberaler Politik im Besonderen und des Kapitalismus im Allgemeinen aufkommen müssen. Die Zeche zahlen immer diejenigen, die sich nicht dagegen wehren können oder wollen.

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