Im “BARMER GEK Arzneimittelreport 2012” (1) widmeten sich die Autoren insbesondere einem seit Jahren bekannten Trend. An erster Stelle in der Zusammenfassung der Befunde heißt es:
“Der größte Unterschied bei der Arzneimittelversorgung liegt nach wie vor im Bereich der psychotropen Arzneimittel – Frauen bekommen zwei- bis dreimal häufiger Antidepressiva, Tranquilizer oder Schlafmittel verordnet.”
Bedeutet dies, dass Frauen zwei- bis dreimal häufiger depressiv sind und unter Angst- bzw. Unruhezuständen leiden oder schlecht schlafen? Nehmen wir z. B. die Depressionen:
Auf einer Seite des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie lesen wir hierzu (3):
“Vergleicht man die Diagnosenhäufigkeit bei Frauen mit der von Männern, fällt auf, dass Frauen etwa doppelt so häufig an Depression zu erkranken scheinen. Allerdings kann es sich hierbei um ein Artefakt handeln, denn je schwerer die Depression ist, desto mehr gleichen sich Frauen und Männer in ihren Häufigkeitszahlen an. Die manisch-depressive Erkrankung tritt bei Frauen und Männern gleich häufig auf. Es kann also sein, dass die größere Häufigkeit der Diagnose Depression bei der Frau vor allem durch die leichteren Ausprägungsformen erklärt werden können. Hier muss an die Möglichkeit gedacht werden, dass Männer bei der Preisgabe depressiver Symptome und dem Weg zum Arzt, um sich wegen einer Depression behandeln zu lassen, zurückhaltender sind.
Eine Besonderheit, die Frauen gegenüber depressiven Verstimmungen bis hin zur schweren wahnhaften Depression anfälliger macht, existiert aber doch: Dies ist das erhöhte Risiko, zum Zeitpunkt der monatlichen Regelblutung zu erkranken, sowie bei anderen hormonellen Umstellungen wie der Geburt und der stark verminderten Produktion von Sexualhormonen bei Frauen Ende des vierten Lebensjahrzehnts.”
Hier zeigt sich also, dass
- die Verschreibungshäufigkeit nicht adäquat die Häufigkeit und Schwere depressiver Verstimmungen widerspiegelt und dass
- vermutlich Besonderheiten des Verhaltens von Frauen für die deutlich erhöhte Zahl der Verschreibung von Antidepressiva im Vergleich zu Männern mitverantwortlich sind.
Bei den anderen “Krankheitsbildern” ist die Situation ganz ähnlich. Der Einschätzung Gerd Glaeskes, eines der Autoren des Arzneimittelreports, ist also zuszustimmen: Für diese gravierenden Unterschiede der Verschreibungshäufigkeit sind nicht nur Faktoren relevant, die von den beteiligten Fachdisziplinen als “medizinische” eingeordnet werden könnten. Aus meiner Sicht handelt es sich um Einflussgrößen aus dem Bereich des Konsumentenverhaltens. Da die ärztliche Behandlung eine Dienstleistung und die Psychopharmaka Waren sind, ist dies ja auch nicht weiter erstaunlich.
Mir ist schon bewusst, dass selbstverständlich auch Geschlechtsrollenstereotype in den Köpfen der Ärzte für geschlechtsspezifisches Verschreibungsverhalten verantwortlich sein können:
- “Homöopathie ist etwas für Frauen, Männer wollen etwas Hartes, was Richtiges!” oder
- “Männer wollen etwas für den Körper, Frauen etwas für die Seele!”
Dennoch glaube ich, dass man den weiblichen Patienten als Akteur des Verschreibungsprozesses stärker beachten muss, als dies bisher in Studien zum Konsumentenverhalten bei medizinischen Gütern und Dienstleistungen geschieht. Ich versuche, die Unterschiede grob vereinfacht und sicher auch ungerecht an zwei Beispielen zu verdeutlichen:
- Wenn Frauen in ein Bekleidungsgeschäft gehen, um sich eine Hose zu kaufen, wenn sie dann eine gut sitzende finden und neben der Stange mit Hosen hängen T-Shirts, von denen keins farblich zur gewählten Hose passt, dann suchen Frauen im Laden nach anderen T-Shirts. Männer aber suchen nicht, sondern verlassen den Laden nur mit der Hose.
- Wenn Frauen mit mehr oder weniger unspezifischen Beschwerden in eine Arztpraxis gehen, wenn der Arzt ihnen dann ein Medikament verschreibt, das zur mutmaßlichen körperlichen Ursache passt, dann suchen Frauen aus ganzheitlicher Sicht auch noch nach korrespondierenden psychischen Gründen. Sie verlassen die Arztpraxis nicht ohne ein Rezept für die Seele. Männer nehmen das Körper-Rezept und trollen sich.
Diese Parallelisierung des Konsumentenverhaltens zwischen Shopping und Arztbesuch ist natürlich stark überzeichnet und, wie alles Wahre, nicht ganz ernst zu nehmen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass diese Beispiele in die richtige Richtung zum Verständnis des geschlechtsspezifischen Verschreibungsverhaltens weisen.
Ein Grund geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Verschreibungshäufigkeiten für Psychopharmaka könnte also darin bestehen, dass Frauen stärker als Männer nach einer passenden “seelischen Diagnose” für eine körperliche Störung suchen. Sie verlassen den Laden nicht nur mit der Hose wie die unpraktischen Männer, die sich leicht abspeisen lassen.
Frauen macht das Einkaufen bekanntlich viel mehr Spaß als Männern. Während der Mann möglichst schnell wieder zurück auf die Straße möchte, lässt sich die Frau Zeit, wägt ab, prüft auch Dinge, die sie gar nicht braucht und kaufen wird – vor allem aber lässt sie sich viel lieber beraten als der Mann. Sie spricht ausführlich über ihre Wünsche und darüber, was ihr steht, was ihr nicht steht usw.
Auch dies könnte erklären, warum Männern deutlich seltener Psychopharmaka verschrieben werden als Frauen. Wer keine Wünsche äußert, dem werden auch weniger Angebote gemacht. Und wer schon durch Miene und Blicke zu erkennen gibt, dass er nur eine Hose und sonst nichts will, außer schnell raus aus dem Laden, dem werden sicher auch seltener passende T-Shirts offeriert. Warum sollte das in einer Arztpraxis anders sein?
Für meine These scheint zu sprechen, dass sich Unterschiede bei den Verschreibungen nicht nur hinsichtlich der Psychopharmaka zeigen, sondern generell. In der Kurzfassung des Arzneimittelreports 2012 heißt es:
“Eine Übersicht der Arzneimittelverordnungen bei der größten Gesetzlichen Krankenkasse in Deutschland zeigt die Verteilungsmuster für die versicherten Frauen und Männer. Danach zeigt sich, dass 2011 im Durchschnitt pro 100 Versicherte 864 Arzneimittel verordnet wurden, pro 100 Männer waren es 763 Verordnungen, pro 100 Frauen dagegen deutlich mehr, nämlich 937 (+22,3%).”
Selbstverständlich sind die Gründe für unterschiedliche Verordnungshäufigkeiten nicht nur auf das “Shopping-Verhalten” zurückzuführen und müssen differenziert hinsichtlich möglicher weiterer Ursachen analysiert werden. Doch aus meiner Sicht wäre es ignorant, diesen Faktor außer acht zu lassen. Die Frau muss gerade im Bereich psychopharmazeutischer Produkte als bewusste, aktive Konsumentin begriffen werden, als Kundin, die weiß, was sie will und die sich demgemäß auch nicht mit weniger abspeisen lässt. Die Kehrseite: einige Psychopharmaka können süchtig machen. Daher ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass von einer Medikamentenabhängigkeit überwiegend Frauen betroffen sind.
Schlagzeilen wie diese: “Frauen werden in die Abhängigkeit therapiert” (Welt online, 26.06.12) zeichnen allerdings ein sehr einseitiges Bild. Damit wird der Eindruck erweckt, als ob allein der Arzt die Schuld an dieser Entwicklung trüge. Fakt aber ist, dass der Arzt als Kaufmann Kundenwünsche nicht ignorieren kann, vor allem dann nicht, wenn sie eindeutig und bestimmt vorgetragen werden. Man wird ja auch den Boutique-Besitzer nicht dafür verantwortlich machen, dass manche Frauen mehr Klamotten kaufen, als sie sich leisten können. Er ist ebenso wenig Verursacher einer Kaufsucht, wie der Arzt Verursacher einer Medikamentensucht ist. Das Geschäft läuft halt so.
Man greift zu kurz, jedenfalls, wenn man für die höhere Verschreibungshäufigkeit von Psychopharmaka bei Frauen gegenüber Männern die Vorurteile von Ärzten verantwortlich macht, denn auch Ärztinnen verschreiben Frauen mehr Psycho-Pillen als Männern. Es dürfte auch nicht zutreffen, dass Geschlechtsrollenstereotype bei Ärzten beiderlei Geschlechts allein für dieses Phänomen verantwortlich wären. Wir dürfen die Frau als aktive Konsumentin nicht aus dem Blick verlieren.
Es ist eine Legende, dass dass “Frauen – in der Regel widerspruchslos – das herunterschlucken, was ihnen der Arzt verordnet”, wie Ingrid Füller in dem Buch “Schlucken und ducken” behauptet (2). Nicht das Verschreibungsverhalten von Ärzten, sondern diese Sichtweise ist Ausdruck eines unreflektierten Geschlechtsrollenstereotyps. Frauen spielen eine aktive und zuweilen dominierende Rolle im Prozess der Psychopharmakaverschreibung; der niedergelassene Arzt steht schließlich im Konkurrenzkampf und muss sich flexibel zeigen, damit seine Kundschaft nicht zum Doktor um die Ecke abwandert.
Zweifellos hat das Pharma-Marketing einen wesentlichen Einfluss auf den Medikamentenkonsum; aber selbst die geschickteste Verkaufsstrategie kann keinen Bedarf erzeugen, für den partout kein Bedürfnis besteht. Psychopharmaka sind überdies nicht mit Pillen für körperliche Erkrankungen zu vergleichen, die man nehmen muss oder zu nehmen müssen glaubt, wenn man geheilt werden will. Vielmehr ähneln diese Substanzen den Straßendrogen; sie versprechen die schnelle Lösung von Befindlichkeitsproblemen, gleichsam auf Knopfdruck. Bei solchen Mitteln spielt der eigene Antrieb, die eigene Entscheidung eine wesentlich größere Rolle als in anderen Bereichen der medikamentösen Versorgung.
Die Ebene des selbstbestimmten Konsumverhaltens wird im Übrigen nicht nur bei der Interpretation unterschiedlicher Verschreibungshäufigkeiten zwischen Männern und Frauen sträflich missachtet, sondern generell. Die Auseinandersetzung zu diesem Thema wird von ideologischen Bildern bestimmt: hier der Arzt, der rein fachlich orientiert, notwendige Rezepte ausstellt; dort der Mediziner, der von Gier und den Interessen der Pharmaindustrie getrieben, Patienten überversorgt.
Der aktive Konsument gerät nur in den Blick, wenn sich der Patient nicht so verhält, wie er soll. Hier stehen zwei Fallgruppen im Vordergrund:
- Der Patient ist süchtig und versucht dem Arzt ein Medikament abzuluchsen.
- Der Patient ist nicht “krankheitseinsichtig” und weigert sich, seine Medikamente zu nehmen.
Doch das sind nur die Extrempole des normalen, des alltäglichen Konsumverhaltens von Psychopharmaka. Auch zwischen diesen Polen konsumieren Menschen selbstbestimmt, abwägend, sich entscheidend diese Mittel. Und wenn Frauen mehr Psycho-Pillen bekommen als Männer, so liegt das auch daran: Frauen halten Psychopharmaka häufiger als Männer für die beste aller ihnen gebotenen Alternativen. Beispiel: Während der Mann in schwierigen Lebenslagen vielleicht ein zusätzliches Fläschchen Bier in Erwägung zieht, neigen Frauen häufig eher zum Pillen-Döschen. Daher sind ja auch mehr Frauen medikamentenabhängig und weniger alkoholabhängig als Männer. Dass Psychopharmaka nicht “psychische Krankheiten” heilen oder lindern, sondern dass sie Instrumente der Lebensbewältigung sind, wird hier besonders deutlich.
Anmerkungen
(1) Im Arzneimittelreport 2013 steht die Off-Label-Verschreibung von Psychopharmaka an Kinder und Jugendliche im Vordergrund.
(2) Burmester, J. (Hrsg.) (1994). Schlucken und ducken. Medikamentenmissbrauch bei Frauen und Kindern. Geesthacht: Neuland
(3) Grammatikfehler unverändert übernommen.
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