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Hypnose: Das therapeutische Theater

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Charcot

Das „Hôpital de la  Salpêtrìere“ wurde im 17. Jahrhundert in Paris errichtet und war zunächst keine psychiatrische Anstalt in modernem Sinne, sondern vielmehr ein „Siechenhaus“, in dem vor allem Menschen untergebracht wurden, die störten: Bettler, Mittellose, auffällige Prostituierte, chronische Alkoholiker, Geisteskranke und Schwachsinnige – jeder, der die soziale Ordnung gefährdete oder anderen zur Last fiel, musste damit rechnen, in der  Salpêtrìere zu landen und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu enden.

Dieses „Siechenhaus“ war eine Stadt in der Stadt, die aus rund 45 Gebäuden, Straßen, Plätzen, Gärten, sogar einer kleinen Kirche bestand (Ellenberger, 1996, 149). Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser gigantische Komplex mit bis zu 8.000 Patienten in eine psychiatrische Klinik im heutigen Sinne umgeformt – durch Jean-Martin Charcot (1825 – 1893), den „Napoleon der Neurosen“. Dieser Spitzname, den ihm die Pariser schon früh in seiner Laufbahn verliehen hatten, kennzeichnet seinen Charakter. Er war dynamisch, beharrlich und selbstbewusst bis zur Arroganz. Nach jahrelangem, verbissenen Kampf gelang es ihm durchzusetzen, dass für ihn 1882 der erste französische Lehrstuhl für die Krankheiten des Nervensystems eingerichtet wurde.

Durch den Ehrgeiz, die Tatkraft, die Intelligenz und die Beharrlichkeit Jean-Martin Charcots wurde die Salpêtrìere zur Geburtsstätte der modernen Psychiatrie und Neurologie, die sich fortan weltweit als eigenständige medizinische Disziplinen mit wissenschaftlichem Anspruch etablierten. Psychiatrie und Neurologie folgten damit einem allgemeinen Trend im 19. Jahrhundert, denn zuvor war die Medizin nicht streng in Fachgebiete gegliedert.

Charcot war ein Schüler des französischen Mediziners Duchenne de Boulogne (1806 – 1875). Dieser Pionier der Neurophysiologie verhalf auch der Therapie mit elektrischen Strömen zum Durchbruch. Er gilt als Vater der Elektrotherapie, die im 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bei einer Vielzahl physischer Krankheiten und psychischer Störungen eingesetzt wurde und den Nimbus eines Allheilmittels hatte.

In seiner Antrittsvorlesung begründete Charcot, warum er sich unermüdlich dafür eingesetzt hatte, dieses „Siechenhaus“ zu einer

„planmäßig organisierten Hauptstätte der Lehre und Forschung für die Krankheiten des Nervensystems“

auszubauen:

„Wo anders, sagte ich damals, will man ein so reiches, für diese Art von Untersuchungen geeignetes Material finden (Charcot, 1886, 1)?“

Was er an „Material“ in der Salpêtrìere vorfand –: das waren die Armen, die Ausgestoßenen, die Entrechteten, kurz: Menschen, die sich nicht dagegen wehren konnten, zum Material der Forschung und Lehre gemacht zu werden.

1882, zum Zeitpunkt der Inauguralvorlesung Charcots, lebten mehr als 5000 meist chronisch kranke, als unheilbar geltende und auf Lebenszeit aufgenommene Patienten in der Salpêtrìere. Der Psychiater betrachtete diese Menschen als Inventar eines

„lebenden pathologischen Museums (Charcot, 1986, 3).“

Charcot behandelte aber auch eine große Zahl von vermögenden Privatpatienten, dies, und die Verheiratung mit einer wohlhabenden Witwe, machten ihn zu einem reichen Mann.

Hypnose und die mit Suggestionen verbundene, mitunter auch sehr schmerzhafte Stimulation von Körperstellen mit elektrischem Strom gehörten im 19. Jahrhundert zu den Standardmethoden psychiatrischer Behandlung – und Charcot machte von beiden Verfahren, allein und in Kombination, regelmäßigen Gebrauch.

Es ist umstritten, ob Charcot selbst hypnotisierte oder diese Aufgabe von seinen Assistenten erledigen ließ, die nach seinen Anweisungen arbeiteten. Kritiker behaupten, diese Assistenten hätten Charcots Patienten hypnotisch so dressiert, dass sie später bei dessen Demonstrationen im Hörsaal genau jene Symptome zeigten, die der Psychiater erwartete (Braude, 1995, 18 f.).

Zum Pläsier der feinen Pariser Gesellschaft

Das Publikum dieser Vorführungen war keineswegs nur auf Medizinstudenten, Ärzte oder Wissenschaftler beschränkt; auch Laien durften daran teilnehmen; nicht selten fanden sich Persönlichkeiten des Theaters oder des literarischen Lebens ein, um sich die Hysteriker zum Vorbild für ihre Werke oder entsprechende Bühnenrollen zu nehmen (Lehman, 2009, 38).

Auch Politiker und andere Interessierte aus der Pariser Gesellschaft fanden sich ein.

„Die Dienstagsvorlesungen von Professor Charcot“, schreibt Alain Corbin, „waren ein gesellschaftliches Ereignis in Paris; kaum jemand von Rang und Namen versäumte es, der einen oder anderen dieser Veranstaltungen beizuwohnen und dem berühmten Gelehrten zu lauschen, dessen (vermeintliche und wirkliche) Erfolge aus der Neurologie eine Modewissenschaft gemacht hatten (Corbin, 1999, 583).“

Mitunter genügten einfache Suggestionen und Charcots ärztliche Autorität, um Symptome hervorzurufen. Einem seiner Patienten, dessen hysterische Lähmung er zuvor kuriert hatte, sagte er „im Ton aufrichtiger Überzeugung“:

„Sie glauben geheilt zu sein, das ist ein Irrtum. Sie können den Arm nicht mehr aufheben und nicht beugen, auch die Finger nicht bewegen. Sehen Sie, Sie sind nicht im Stande, mir die Hand zu drücken.“

Nach „einigem Hin- und Herreden“ stellte sich die Lähmung wieder ein, wie sie am Tag zuvor gewesen war. Seinen Studenten, denen er in einer Vorlesung davon berichtete, sagte er, dass er sich „über den Ausgang dieser absichtlich reproduzierten Lähmung keine Sorge machte“. Er wisse aus Erfahrung, „dass man in Sachen Suggestion alles wieder aufheben kann, was man selbst erzeugt hat (Charcot, 1886, 240).“

Es handelte sich bei diesem Hysteriker im Übrigen um einen Patienten, der sich zuvor als „nicht hypnotisierbar“ herausgestellt hatte. In einer totalen Institution vom Typ der Salpêtrìere war offenbar ein Ritual, das dem üblichen Procedere der Hypnose-Induktion folgte, nicht zwingend erforderlich, um Patienten zur Übernahme einer bestimmten, den Vorstellungen Charcots entsprechenden Krankenrolle zu bewegen. Nachdem die Lähmung im Anschluss an einen hysterischen Anfall erneut verschwunden war, gelangt es Charcot allerdings nicht mehr, sie durch weitere Suggestionen wieder auszulösen.

Ungleich mächtiger, schreibt Charcot, seien natürlich jene Suggestionen, die nicht im wachen, sondern im hypnotischen Zustand eingegeben werden. Man könne bei einem Menschen in diesem Zustand eine Vorstellung oder eine zusammenhängende Vorstellungsreihe ins Leben rufen, die

  • „ sich wie ein Parasit im Geiste der betreffenden Person festsetzt,
  • der Beeinflussung durch alle anderen Vorstellungen unzugänglich bleibt,
  • und sich durch entsprechende motorische Akte nach außen kundgeben kann (Charcot, 1986, 274).“

Die durch hypnotische Suggestionen hervorgerufenen Bewegungen zeichneten sich, so Charcot, durch einen automatischen, rein mechanischen Charakter aus; in diesem Zustand sei der Hypnotisand tatsächlich eine menschlichen Maschine im Sinne De La Mettries („l’homme machine“).

Zum Beweis seiner These rief Charcot, während seiner Demonstrationen vor Medizinstudenten und anderen Interessierten, bei hypnotisierten, hysterischen Patienten nach Belieben Lähmungen verschiedener Gliedmaßen hervor und hob sie durch entsprechende Suggestionen wieder auf (Charcot, 1886, 278 ff.). So suggerierte er beispielsweise zwei hysterischen Frauen  erfolgreich eine Cox-Arthrose mit den entsprechenden Bewegungseinschränkungen und Schmerzempfindungen (Charcot (1886), 324).

Auch außerhalb des Auditoriums in der Salpêtrìere verfehlten die hypnotischen Dressuren Charcots und seiner Assistenten ihre Wirkung nicht: Als während eines Balles der Patienten in der Salpêtrìere einmal unerwartet ein Gong ertönte, verfielen viele hysterische Frauen in Katalepsie und behielten die plastischen Posen bei, in denen sie sich gerade befanden, als der Gong ertönte (Ellenberger, 1996, 151).

Der prägende Einfluss, den Charcot und dessen Theorien auf das Verhalten der Patienten ausübte, war so ausschlaggebend, dass kaum noch zu unterscheiden war, was auf die Eigendynamik ihrer Störung und was auf die hypnotische Dressur in der Salpêtrìere zurückzuführen war.

Der Arzt Hippolyte Bernheim berichtete beispielsweise, er habe Tausende von Patienten hypnotisiert und nur bei einer Frau die von Charcot beschriebenen drei Phasen der Hypnose gefunden. Dabei habe es sich um eine Patientin gehandelt, die zuvor drei Jahre in der Salpêtrìere zugebracht habe (Ellenberger, 1996, 154). Charcot, dessen Jähzorn ebenso gefürchtet war wie seine Arroganz, geriet jedes Mal in Rage, wenn Bernsteins Name auch nur erwähnt wurde (Munthe, 1929, 303).

Der schwedische Psychiater Axel Munthe (1857 – 1949) zählt zu den bissigsten Kritikern Charcots, bei dem er 1880 promoviert hatte. Er schildert seine Erfahrungen mit dem französischen Neurologen und Psychiater in seinem autobiographischen Buch: „Die Geschichte von San Michelle“ (Munthe (1929). Dieses Buch ist eine seltsame Mischung aus phantastischen und realen Elementen, und dies muss man natürlich berücksichtigen, wenn man seine Ausführungen zur Salpêtrìere unter Charcot bewertet. Dennoch findet sich hinsichtlich der Person Charcots und seines Verhaltens nichts in seinem Buch, was im Widerspruch zur historischen Forschung stünde.

Charcot hatte seinen Hörsaal in ein Theater verwandelt und die Darsteller, schreibt Munthe, waren überaus zweifelhafte Charaktere.

  • Manche seinen tatsächlich „Somnambulisten“ gewesen, die posthypnotische Befehle verwirklichten, weil sie einem inneren, unbewussten Zwang gehorchten.
  • Bei vielen aber habe es sich eindeutig um Schwindler gehandelt, die genau wussten, was von ihnen erwartet wurde, denen es Spaß machte, ihre diversen Tricks in der Öffentlichkeit vorzuführen und das Publikum bzw. die Ärzte mit der „aufregenden Gerissenheit der Hysteriker“ hinters Licht zu führen.

Sie waren bereit, auf Kommando einen klassischen hysterischen Anfall zu vorzutäuschen und die von Charcot postulierten drei Phasen der Hypnose (Lethargie, Katelepsie, Somnambulismus) zu simulieren. Zwei Mitarbeiter und Schüler Charcots, Alfred Binet und Charles Féré entwerten entsprechende Geständnisse ehemaliger Patienten allerdings mit dem Hinweis, dass es sich dabei wohl um die übliche Prahlerei von Hysterikerinnen gehandelt habe (Binet & Féré, 1888, 33).

Wie auch immer:  Den Schwindlern erging es vermutlich besser als den Patienten, die für hypnotische Suggestionen tatsächlich empfänglich waren. Bei den echten Hypnose-Patienten der Salpêtrìere handelte es sich, nach Einschätzung Munthes, meist um junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die unzählige Male hypnotisiert worden waren, in deren verwirrten Gehirnen die absurdesten Suggestionen herumgeisterten und die oftmals einem Ende in der Abteilung für die schwerstgestörten Irren entgegendämmerten (Munthe (1929), 302 f.).

Vom Alltag im Reich der Hypnose

Im Vorwort ihres Werks über den „Tierischen Magnetismus“ (Binet & Féré, 1888) betonen die Autoren Alfred Binet und Charles Féré, dass ihre Erkenntnisse nicht nur in in der Salpêtrìere gesammelt, sondern dass sie auch mit den von Charcot eingeführten Methoden gewonnen worden seien (Binet & Féré (1888), v). Die beiden Autoren waren Assistenten Charcots. Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, dieses Buch als eine zwar parteiliche, aber dennoch authentische Widerspiegelung der Hypnose-Experimente in Charcots Krankenhaus zu betrachten.

Die Effektivität der Hypnotisierung hängt, nach den Erfahrungen der Autoren, in erster Linie von der Gewöhnung ab. Der erste Versuch, einen Menschen zu hypnotisieren, misslinge in den meisten Fällen – aber nach mehreren Wiederholungen sei beinahe immer mit einem Erfolg zu rechnen. Zur Hypnose müsse man erzogen werden (Binet & Féré, 1888, 99).

Die hypnotische Erziehung, die man treffender als Dressur bezeichnen sollte, ist in der Tat ein wesentlicher Gesichtspunkt zur Einschätzung des vollen Spektrums der Möglichkeiten, die sich mit der Hypnose verbinden. Die beständige Wiederholung erleichtert nämlich nicht nur die Einleitung der Hypnose, sie verstärkt auch deren Effekte.

Wer die Hypnose nur auf Basis von Hypnose-Shows oder Hypnosetherapien beurteilt, wird deren Möglichkeiten unterschätzen, weil diese Formen der Hypnotisierung eher kurz- und allenfalls mittelfristig sind. In der Salpêtrìere zu Zeiten Charcots aber wurden die Patienten oft über Jahre immer und immer wieder hypnotisiert – und zwar in einer hoch suggestiblen Atmosphäre, in einem Milieu, in dem die Hypnose alltäglich und hypnotisches Verhalten normal  war.

Die Salpêtrìere war eine „totale Institution“ mit strengen Regeln, eine Stadt in der Stadt, eine abgeschlossene Welt mit einem „absoluten Monarchen“ an der Spitze, der keinen Widerspruch duldete: Jean-Martin Charcot, der berühmteste Arzt seiner Zeit.

Angesichts solcher Verhältnisse ist folgende Beobachtung der Autoren leicht nachzuvollziehen:

“Zunächst wird der hypnotische Zustand nur verzögert erzeugt, dann stellt er sich in wenigen Minuten ein, und schließlich beinahe unmittelbar. Danach ist das Individuum fast vollständig in der Gewalt des Hypnotiseurs (Binet & Féré, 1888, 99).”

Wenn für Hypnose empfängliche hysterische Patienten von demselben Hypnotiseur mehrere Tage lang hypnotisiert worden seien, dann versänken sie, schreiben Binet und Féré, häufig in einen Zustand eines permanenten Zwangs; sie seien sozusagen besessen – und dies gleichermaßen tagsüber, im Wachzustand, als auch nachts, in ihren Träumen. Dieser Geisteszustand sei stets von Halluzinationen der einen oder anderen Art begleitet. Immer sei der Hypnotiseur das Objekt dieser Halluzinationen. Der eine Patient halte ihn für den Teufel, der andere fühle sich gefoltert, ein Dritter umklammert (Binet & Féré, 1888, 221).

Pointiert, aber nicht wirklich übertrieben, kann man behaupten, dass die Patienten der Salpêtrìere, sofern sie hypnotisiert wurden, entweder talentierte Schwindler oder echte mentale Sklaven waren, die den Befehlen ihrer Sklavenhalter willenlos gehorchten. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Charcot irgendetwas dazwischen geduldet oder auch nur nicht bemerkt hätte.

Die Hypnose wurde in der Salpêtrìere im Übrigen nicht nur dazu genutzt, dass Verhalten einzelner Patienten zu kontrollieren, sondern auch, um deren Verhältnis untereinander zu gestalten. Wenn man beispielsweise eine nach Einschätzung der Ärzte zu enge Beziehung zwischen zwei hysterischen Patienten auflösen wollte, so wurden einem der beiden suggeriert, der andere habe ein grauenvoll deformiertes, abstoßendes Gesicht (Binet & Féré (1888), 212). Das Umgekehrte ist natürlich auch möglich: Wenn beispielsweise eine Person (A) mit einer anderen Person (B), die A nicht leiden kann, ohne Streit in einem Raum zusammensein soll, so suggeriert man A einfach, B sei die wertgeschätzte Person C.

Ob sich jemand einem Hypnoseversuch widersetzen könne, schreiben Binet & Féré, sei eine Frage der Willenskraft; die Willenskraft sei bekanntlich variabel und es gebe Menschen mit extrem schwach ausgeprägter Widerstandsfähigkeit (Binet & Féré, 1888, 103). Auch die Hypnosetiefe variiere von Person zu Person. Der „profunde“, also voll ausgeprägte hypnotische Zustand sei bisher nur bei Hysterikern beobachtet worden (Binet & Féré, 1888, 100). Die Autoren bezeichnen diesen „profunden hypnotischen“ Zustand auch als „hysterische Hypnose“ (Binet & Féré, 1888, 105).

Die heutige Hypnoseforschung bestreitet die Annahme Charcots und seiner Schüler, dass nur Hysteriker den voll entfalteten Zustand der Hypnose erreichen könnten, wohingegen bei allen anderen Menschen, wenn überhaupt, nur eine leichte Hypnose (tiefe, dem Schlummer ähnliche Entspannung) möglich sei. Aber auch sie räumt ein, dass sich Menschen hinsichtlich ihrer hypnotischen Begabung stark unterscheiden. Menschen, bei denen diese Begabung sehr stark ausgeprägt ist, werden als „hypnotische Virtuosen“ bezeichnet. Diese werden aber nicht grundsätzlich als Hysteriker oder als sonst wie psychisch gestört betrachtet.

Die Hypnotiseure der Salpêtrìere entdeckten „hysterogene Zonen“, durch deren Berührung sie bei ihren Patientinnen und Patienten hysterische Anfälle auslösen konnten; und damit nicht genug: Wenn sie bei Menschen in somnambulen Zuständen bestimmte „erogene Zonen“ berührten, konnten sie so intensive sexuelle Erregungen hervorrufen, dass diese nicht selten mit Orgasmen verbunden waren (Binet & Féré, 1888, 152).

Da derartige Phänomene außerhalb des Dunstkreises der Salpêtrìere, wenn überhaupt, eher selten beobachtet wurden, liegt der Verdacht nahe, dass diese Reaktionen im „hysterischen Klima“ dieses Krankenhauses mit hypnotischen Mitteln gezüchtet wurden.

Hier sei angemerkt, dass hypnotische Virtuosen nicht selten eine starke Sympathie für ihre Hypnotiseure entwickeln, die bis hin zur Verliebtheit, wenn nicht Hörigkeit gehen kann. Die Hypnose wird von ihnen häufig als überaus lustvoll erlebt.

Wie bereits erwähnt, wurden außerhalb der Salpêtrìere Zweifel daran laut, dass die in dieser Anstalt beobachteten Phänomene tatsächlich natürliche Merkmale des hypnotischen Prozesses seien. Binet und Féré begegnen dem Einwand, es sei nirgendwo als in der Salpêtrìere gelungen, diese Erscheinungen hervorgerufen, u. a. mit folgendem höchst verräterischen Einwand: Erstens müsse eine Versuchsperson  gewählt werden, die an “epileptischer Hysterie” leide und zweitens müsse dieselbe Hypnosemethode angewendet werden wie in der Salpêtrìere.

“Es muss eingeräumt werden”, schreiben die Autoren, “dass sogar bei Versuchspersonen, die an epileptischer Hysterie leiden, sich die Ergebnisse von denen, die Charcot erhielt, unterscheiden, weil die Patienten einem anderen Modus operandi unterworfen wurden; weil sie, mit anderen Worten, nicht dieselbe hypnotische Erziehung erhielten (Binet & Féré (1888), 160).”

Deutlicher könnte man es kaum artikulieren, dass Charcots Patienten einer hypnotischen Dressur unterworfen wurden, damit sie Verhaltensmuster zeigten, die einer vorgegebenen Theorie entsprachen.

Charcot wollte beweisen, dass bestimmte hypnotische Phänomene existieren. Und so suchte er Versuchspersonen aus, bei denen diese Phänomene in einer derart übertriebenen Weise in Erscheinung traten, dass kein Raum für Zweifel blieb (Binet & Féré, 1888, 162).

Binet und Féré waren, als treue Schüler ihres Meisters, natürlich davon überzeugt, dass es sich bei diesen Phänomenen um natürliche Merkmale des hypnotischen Zustandes handele. Würdigt man jedoch die Umstände insgesamt, dann ist die Hypothese wahrscheinlicher, dass Charcot und seine Getreuen ihre Patienten hypnotisch dressierten, sich infolge bestimmter Auslösereize bizarr zu verhalten.

Zum besseren Verständnis sei hinzugefügt, dass hypnotische Virtuosen hervorragend darauf verstehen, die Wünsche und Absichten ihrer Hypnotiseure zu erraten. Und so ist es nicht auszuschließen, dass Charcot und seine Mitarbeiter tatsächlich davon überzeugt waren, genuine Merkmale der Hypnose hervorzulocken, also Merkmale, die sich automatisch einstellen, sobald eine bestimmte Stufe der Hypnose erreicht ist. Sie kamen vermutlich gar nicht auf die Idee, dass sie  methodische Kunstprodukte produzierten.

Es sei sehr seltsam, schreiben Binet und Féré, dass die Hypnotiseure im Hospital von Nancy keine Kontrakturen bei Hypnotisierten beobachtet hätten, wenn Nerven, Sehnen oder Muskeln gereizt wurden. Wenn es wahr sei, dass keine Versuchsperson irgend eine der physischen Reaktionen auf Reizungen, die Charcot beschrieben habe, gezeigt hätte, dass bei ihnen vielmehr alles auf Suggestionen zurückzuführen gewesen sei, dann seien sie zu der Schlussfolgerung gezwungen, es gebe keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass auch nur eine der Versuchspersonen im Hospital von Nancy tatsächlich hypnotisiert war (Binet & Féré, 1888, 169).

Die Schule der Salpêtrìere versuchte zu beweisen, dass das voll entfaltete Bild der Hypnose ein Zustand des Nervensystems sei, der sich nur bei Menschen mit einer bestimmten seelischen Erkrankung, der Hysterie nämlich, einstelle und der bestimmte, gleichsam naturgegebene physische Merkmale aufweise.

Dieser Versuch ist gründlich gescheitert. Die Resultate beweisen eher das Gegenteil: Die Hypnose ist eine Inszenierung, die dem Theaterspielen ähnlicher ist als einem pathologischen Verhaltensmuster. Dies schließt nicht aus, dass Hypnotisierten und Hypnotisiere der wahre Charakter der Hypnose keineswegs bewusst ist. Echte Hypnose ist unbewusste Schauspielerei.

Mitunter weigerten sich die Hypnotisanden, Binets und Férés Befehle auszuführen; die Autoren führten dies auf zwei mögliche Gründe zurück:

  • Entweder war der Befehl nicht autoritär, nicht entschlossen genug,
  • oder aber der Widerstand war ein Zeichen des Überlebens der Persönlichkeit.

In letztgenanntem Fall wurde, so die Autoren, die Persönlichkeit durch den hypnotischen Schlaf nicht vollständig zerstört (Binet & Féré (1888), 288).

Falls der Hypnotisierte jedoch keinen Widerstand zeigt oder dieser überwunden werden konnte, so gleiche der suggerierte Handlungsimpuls den unbezwingbaren Antrieben von Wahnsinnigen in zwei Hinsichten:

  • erstens bezüglich der Seelenqual, die der Hypnotisierte erleide, wenn er an der Verwirklichung der suggerierten Handlung gehindert werde
  • und zweitens bezüglich der Erleichterung, die er empfinde, wenn er dem Befehl dann endlich gehorchen könne (Binet & Féré (1888), 292).

Ihm wird dann aber keineswegs bewusst sein, dass er unter Zwang agiert hat, vielmehr wird er glauben, aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben und an dieser Einschätzung auch unbeirrt festhalten, wenn man ihn mit der Absurdität eventueller Rationalisierungen seiner Motive konfrontiert.

Literatur

Binet, A. (1896). Alterations of Personality. New York: D. Appelton and Company

Binet, A. & Féré, C. (1888). Animal Magnetism. New York: D. Appelton and Company

Braude, S. E. (1995). First Person Plural. Multiple Personality and the Philosophy of Mind. Revised Edition. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield Publishers

Charcot, J. M. (1886). Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems insbesondere über Hysterie. Autorisierte Ausgabe von Dr. Sigmund Freud. Leipzig und Wien: Toeplitz und Deuticke

Corbin, A. (1999). Kulissen. In: Ariès, P. & Duby, G. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg. Himberg bei Wien: Wiener Verlag (Bechtermünz Verlag)

Ellenberger, H. F. (1996). Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Vom Autor durchgesehene zweite, verbesserte Taschenbuchauflage. Zürich: Diogenes

Gauld, A. (1975). A history of hypnotism. Cambridge: Cambridge University Press (Taschenbuchausgabe)

Huber, M. (1995). Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag

Lehman, A. (2009). Victorian Women and the Theatre of Trance: Mediums, Spiritualists, and Mesmerists in Performance. Jefferson, N. C.: McFarland & Company, Publishers

Munthe, A. (1929). The Story of San Michelle. New York: E. P. Dutton & Co., Inc.

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