Der Direktor des weltweit größten psychiatrischen Forschungszentrums NIMH, Thomas Insel bezeichnete unlängst psychiatrische Diagnosen als nicht valide. Dieses Statement hat er nicht nach Lust und Laune aus der Luft gegriffen. Es entspricht vielmehr dem Stand der Wissenschaft. Trotz jahrzehntelanger Forschung zur Validität psychiatrischer Diagnosen ist es bisher noch nicht gelungen, diese im Licht empirischer Studien zu erhärten.
Nun meinen manche arglose Zeitgenossen, dass dies nur ein akademisches Problem sei und für die Praxis keine Bedeutung habe. Sie wissen offenbar nicht, was Validität heißt. Ein diagnostisches Verfahren ist valide, wenn es tatsächlich diagnostiziert, was es zu diagnostizieren vorgibt.
So ist beispielsweise ein Verfahren zur Krebsdiagnose valide, wenn die positiv Diagnostizierten mit einer vertretbaren Fehlerquote tatsächlich an diesem Leiden erkrankt und wenn, ebenfalls mit einer annehmbaren Irrtumswahrscheinlichkeit, die als gesund Eingestuften auch tatsächlich nicht von dieser Krankheit betroffen sind. Demgegenüber ist eine invalide Diagnose eine willkürliche, eine beliebige Diagnose. Bei einer solchen Diagnose verteilen sich die Diagnostizierten mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip auf die vier möglichen Ergebnisfelder “wahr positiv”, “falsch positiv”, wahr negativ” und “falsch negativ”.
Man stelle sich vor, ein moderner Staat würde unter dem Druck fundamentalistischer Bewegungen zu mittelalterlichen Denkweisen zurückkehren. Die so genannten psychischen Krankheiten würden nicht mehr auf irgendwelche Störungen des Gehirns zurückgeführt, sondern auf dämonische Besessenheit. Entsprechend würden diagnostische Verfahren eingesetzt, mit denen man die Präsenz von Dämonen in der Seele oder dem Körper des mutmaßlich “Besessenen” feststellen zu können glaubt. Wie valide wäre ein solches Instrument, gesetzt den Fall, es gäbe gar keine Dämonen?
Insels Urteil über die Validität psychiatrischer Diagnosen beruht auf der Erkenntnis, dass bisher noch für keine der so genannten psychischen Krankheiten Hirnstörungen als ursächlich nachgewiesen werden konnten. Da die moderne Psychiatrie diese als Ursache psychischer Krankheiten aber annimmt, müssen die entsprechenden Diagnosen nach diesem Konzept solange als invalide gelten, wie der Nachweis physiologischer Ursachen nicht erbracht wurde.
Genauso, wie ein diagnostisches Instrument, das auf dem Dämonen-Konzept basiert, nur valide sein kann, wenn es Dämonen gibt und wenn Dämonen in der Tat “psychische Krankheiten” hervorrufen, so ist auch ein diagnostisches Instrument, dass auf den Lehren der modernen Psychiatrie fußt, nur dann als valide zu betrachten, wenn tatsächlich Hirnstörungen verantwortlich sind für das rätselhafte Verhalten und Erleben.
Die Alternativ-Hypothese lautet: Rätselhaftes Verhalten und Erleben, das von sozialen Normen abweicht und als “psychisch krank” eingestuft wird, beruht weder auf Teufelswerk und Dämonie, noch auf Hirnstörungen oder genetischen Defekten; vielmehr ist dieses Verhalten und Erleben die Reaktion eines intakten Gehirns auf suboptimale Umweltbedingungen (um es möglichst neutral auszudrücken, auf Deutsch: Die intakten und garantiert dämonenfreien Gehirne der Verrückten reagieren völlig normal auf ihren alltäglichen Wahnsinn.)
Da also laut Insel (und im Einklang mit der Forschung) psychiatrische Diagnosen nicht valide sind, folgt aus dieser Tatsache zwingend, dass die entsprechenden diagnostischen Verfahren den Diagnostizierten willkürlich und beliebig ein psychiatrisches Etikett anheften.
Dies ist die logische Konsequenz, die sich aus der Aussage des Direktors der größten psychiatrischen Forschungsinstitution der Welt, des National Institute of Mental Health (NIMH), einer Agentur des amerikanischen Gesundheitsministeriums, unweigerlich und zwingend ergibt.
Man mag sich an den Kopf greifen und sich fragen, ob hier vielleicht der eine oder andere nicht ganz bei Trost ist. Jahrein, jahraus werden Millionen Menschen psychiatrisch diagnostiziert, und da stellt sich der Direktor des NIMH, Thomas Insel hin und sagt trocken: April, April, um sich wieder seinen Obliegenheiten zuzuwenden.
Jeder Patient, der noch bei Trost ist, und eine solche Aussage zur Kenntnis nimmt, müsste seinem Psychiater eigentlich auf der Stelle die “Compliance” aufkündigen. Dadurch würde er jedenfalls seine “geistige Gesundheit” eindrucksvoll unter Beweis stellen.
Ja, durchaus, der eine oder andere Psychiater hat Thomas Insel widersprochen, aber im Großen und Ganzen hat man sich doch schnell wieder seinen Alltagsgeschäften zugewendet. Auch unter amerikanischen Patienten scheint Insels Verdikt keine besondere Aufregung verursacht zu haben.
Hat man sich etwa mit einem System der Lüge arrangiert, weiß man im Grunde, dass psychiatrische Diagnosen Quatsch sind und verfolgt man in diesem System schon immer ganz andere Interessen, die mit Krankheit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben?
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