Allen Francis wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch seine harsche Kritik an der neuesten Version der amerikanischen Psychiater-Bibel, dem DSM-5 bekannt. Er sprach davon, dass deren Genehmigung durch das zuständige Gremium der American Psychiatric Association (APA) der traurigste Tag in seiner Karriere gewesen sei. Nunmehr, so bekennt er in der Huffington Post, sieht für ihn alles noch viel düsterer aus.
Unter dem Titel “Die Insassen haben scheinbar das Irrenhaus übernommen” beklagt er
- den biologischen Reduktionismus des National Institute of Mental Health (NIMH)
- und den psychosozialen Reduktionismus der British Psychological Society (BPS) sowie
- die Inflation psychischer Störungen durch das DSM-5.
Zur Erinnerung:
- Der Direktor des NIMH, Thomas Insel bezeichnete unlängst alle psychiatrischen Diagnosen als nicht valide. Er fordert die Entwicklung eines Klassifikationssystems, das ausschließlich auf neuro- bzw. kognitionswissenschaftlichen und genetischen Daten beruht.
- Vor ein paar Tagen veröffentlichte die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Society” ein Statement, in dem sie sich für die Überwindung des medizinischen Modells der psychiatrischen Diagnostik einsetzt und dafür plädiert, seelisches Leiden auf Basis psychosozialer Faktoren zu interpretieren.
Beide Positionen schätzt Frances als “extremistisch” ein und fordert, ein Modell zu entwickeln, dass sowohl auf biologischen, als auch auf psychologischen und sozialen Gesichtspunkten beruht. Er schreibt:
“DSM-5, the NIMH, and the BPS have all gone far wrong and all for the very same reason — each has prematurely promised a grandiose paradigm shift when none is remotely possible. Paradigm shifts emerge from new scientific findings — not from bloviating statements, however well intended.”
Frances unterliegt unterliegt hier einigen Irrtümern, die diese, zunächst plausibel klingende, Einlassung als bloße Rhetorik entlarven.
- Thomas Insel fordert keineswegs einen Paradigmenwechsel, im Gegenteil: Er nimmt das vorherrschende Paradigma beim Wort. Denn der psychiatrische Mainstream bekennt sich heute zur biologischen Psychiatrie. Daher müssen die Validitätskriterien psychiatrischer Diagnosen physiologische sein. Und weil die gängigen Klassifikationssysteme DSM und ICD nicht mit irgendwelchen Hirnparametern korrelieren, müssen sie ersetzt werden. Diese Forderung folgt zwingend aus dem bestehenden Paradigma.
- Die “Division of Clinical Psychology” fordert in der Tat einen Paradigmenwechsel. Das alte, das biomedizinische Paradigma soll überwunden werden. Denn trotz jahrzehntelanger Bemühungen gibt es bisher keine empirischen Erkenntnisse, die es stützen. Und Frances hat recht: Es sind auch keine in Sicht. Nicht recht hat Frances allerdings mit seiner Behauptung, dass dies auch für den sozialwissenschaftlichen Bereich gilt. Sobald man sich von der Fiktion löst, dass es sich bei seelischem Leid und bei Abweichungen von sozialen Normen um Krankheiten handelt, wird man feststellen, dass eine Fülle psychologischer und sozialwissenschaftlicher Theorien zur Erklärung dieser wie aller anderen menschlichen Verhaltensmuster und Erlebnisformen bereits existiert und beständig weiterentwickelt wird.
- In seinem Artikel wirft Frances den Briten vor, sie würden die Rolle der Biologie bei “psychischen Krankheiten” ignorieren. Dass dies nicht der Fall ist, geht aus dem Positionspapier der “Division” eindeutig hervor. Natürlich sind Gehirn und der Körper allgemein mit im Spiel; doch dies gilt sowohl für das als krank diagnostizierte, wie auch für das als gesund verstandene Verhalten und Erleben.
In seiner Schrift “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” vertritt Thomas Kuhn – verkürzt – die These, dass sich ein neues Paradigma durchsetzt, wenn das alte zunehmend Phänomene nicht zu erklären vermag, wenn ein neues dies offenbar besser kann und wenn die Vertreter des alten endlich ihren Widerstand gegen Veränderungen aufgeben (oft, weil sie in den Ruhestand treten).
In einer solchen Situation befindet sich nunmehr die biologische Psychiatrie. Wir erinnern uns, dass Freud bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das psychiatrische Denken maßgeblich beeinflusste. Die Psychoanalyse verstand sich jedoch als eine biologisch fundierte naturwissenschaftliche Theorie. Dies hat Freud in seinen Werken, von seinen ersten bis zu seinen letzten Schriften, stets nachdrücklich betont. Diese Theorie darf als gescheitert betrachtet werden. Freuds Positionen spielen in der heutigen Psychiatrie keine nennenswerte Rolle mehr. Mit der neurowissenschaftlich begründeten, auf die Befunde bildgebender Verfahren und genetischer Forschungen gestützten Psychiatrie verbinden sich nach wie vor große Hoffnungen. Doch selbst ihr prominentester und einer der vehementesten Befürworter, Thomas Insel, muss einräumen, dass sie die erforderlichen Daten bisher noch nicht einmal in Ansätzen bereitzustellen vermag.
Kurz: Die Erklärungen der biologischen Psychiatrie haben sich als Scheinerklärungen ohne empirische Substanz herausgestellt. Besonders in den Vereinigten Staaten und Großbritannien äußern sich auch Psychiater zunehmend skeptisch zur momentanen Verfassung ihres Faches. Der Neurowissenschaftler und führende Pharma-Manager H. Christian Fibiger macht die Unzulänglichkeit der psychiatrischen Forschung dafür verantwortlich, dass sich die Pharma-Wirtschaft weitgehend aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen hat. Die Positionen des unlängst verstorbenen Psychiatriekritikers Thomas Szasz, der jahrzehntelang von der Zunft wie ein Aussätziger behandelt wurde, scheinen plötzlich hoffähig zu werden.
Allen Frances schließt seinen Artikel in der Huff Post mit folgenden anrührenden Worten:
“So my plea to the American Psychiatric Association, to the National Institute of Mental Health, and to the British Psychological Society — spare us your empty promises of premature paradigm shifts and instead help us take better care of our patients.”
Der Paradigmenwechsel ist längst überfällig, hin zu sozialwissenschaftlichen Ansätzen und einer massiven Förderung des Selbsthilfe-Ansatzes – und wer eine bessere Versorgung der Betroffenen will, der sollte endlich, endlich mit dem Unfug aufhören, sie wie Kranke, wie Patienten zu behandeln.
PS: Angesichts der Tumulte, die Insels Statement hervorrief, haben sich das NIMH und die APA inzwischen dazu durchgerungen, ihre gemeinsamen Interessen zu bekunden.
“By continuing to work together, our two organizations are committed to improving outcomes for people with some of the most disabling disorders in all of medicine”,
heißt es in einer Pressemeldung des National Institute of Health (NIH, 13.05.2013), die von Thomas Insel und dem zukünftigen APA-Chef Jeffrey A. Lieberman unterzeichnet wurde. Vom ersten bis zum letzten Wort ist diese Meldung der Versuch, entstandenen Schaden zu begrenzen. Der öffentliche Schulterschluss kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gräben in der Zunft real sind.
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