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“Psychische Krankheiten”, Hausmittel und Tugenden

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Ein Volk von “psychisch Kranken”

Es gibt keine objektiven Verfahren, um eine psychiatrische Diagnose zu erhärten, keine Labortests, kein Blutbild, keine “Brain Scans”, nichts. Ob jemand psychisch krank ist oder nicht, entscheidet der Arzt, am besten im Einvernehmen mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Die Existenz “psychischer Krankheiten” kann man ebenso wenig beweisen wie die Existenz Gottes; also liegt es nahe, aus der Psychiatrie eine Religion auf theologischer Grundlage und mit entsprechender Priesterschaft zu machen.

Unter diesen Bedingungen nimmt es nicht wunder, dass der Erfolg psychiatrischer Behandlungen fast ausschließlich von Faktoren abhängt, die nichts mit den eingesetzten Methoden und Mitteln zu tun haben. Denn wenn man die Ursachen nicht kennt, dann kann man auch nicht gezielt behandeln und ist gezwungen, die Verfahren willkürlich, “auf gut Glück” auszuwählen. Wer nach Lourdes pilgert und, siehe: es hilft, muss schließlich auch daran glauben, dass die Jungfrau Maria geheilt habe. Bei Licht betrachtet, gibt es nicht den Hauch eines Beweises dafür, dass die tatsächlich der Fall war.

Daher sind die entscheidenden Faktoren des “Behandlungserfolges” der Psychiatrie im Reich des Glaubens zu suchen; maßgeblich sind

  • die Überzeugung des Therapeuten von der Überlegenheit seines Behandlungsansatzes, seiner Medikamente, seiner psychotherapeutischen Methoden
  • die Überzeugung des Patienten, mit seinem Therapeuten, seinen Mitteln und Methoden eine Erfolg versprechende Wahl getroffen zu haben
  • die Fähigkeit und Bereitschaft des Therapeuten, seinen Glauben zu missionieren
  • die Fähigkeit und Bereitschaft des Patienten, sich in die gewünschte Richtung zu verändern.

Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass Laien genauso erfolgreich Psychotherapien verwirklichen können wie Profis und dass Heilpraktiker mit ihren Globoli wahre Wunder zu wirken vermögen. Da nämlich das Krankheits-, das Gesundheits- und das Gefühl einer Verbesserung bzw. Verschlimmerung des Leidens nur von einem Maßstab abhängen, nämlich dem subjektiven Empfinden des Patienten, kommt es auf die Ausbildung und Berufserfahrung des Helfers überhaupt nicht an.

Die seelische Befindlichkeit eines Menschen unterliegt bekanntlich Schwankungen, nicht nur bei den angeblich Manisch-Depressiven. Das Leben ist eine Achterbahnfahrt. Wenn sich Menschen in einem Stimmungstief befinden, dann wird es ihnen mit der Zeit meist von allein wieder besser gehen. Das ist der Lauf der Dinge. Unterziehen sie sich also in einer solchen miserablen Situation einer psychiatrischen Therapie, so könnte es sich bei einem Behandlungserfolg durchaus um einen Effekt gehandelt haben, der auch ohne ärztliche oder psychologische Maßnahmen eingetreten wäre, einfach nur so.

Es gibt natürlich Patienten, die auf ihre Psychotherapie oder ihre Medikamente schwören. Sie lassen sich in ihrem Glauben auch nicht durch wissenschaftliche Studien erschüttern, die eindeutig belegen, dass Psychopharmaka und Psychotherapien, wenn überhaupt, entweder nicht nennenswert effektiver sind als Placebos oder, wie Straßendrogen, Missstimmungen bzw. Fehlverhalten durch künstliche Euphorie oder Apathie nur unterdrücken.

Auf den ersten Blick scheint dies ein gutartiger Selbstbetrug zu sein; schließlich ist der Glaube des Patienten an die Heilkraft seiner Behandlung der entscheidende Erfolgsfaktor. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Selbstbetrug als ein zweischneidiges Schwert:

  • Der Patient erfährt nicht, dass er sich de facto aus eigener Kraft verändert hat (und beraubt sich dadurch einer wichtigen, mehr, der effektivsten Motivationsquelle zur Meisterung zukünftiger Probleme)
  • Der Patient läuft Gefahr, von Therapeuten, Therapien und Therapeutika abhängig zu werden.

Man könnte nun einwenden, dass die Dinge und die Menschen nun einmal so seien, wie sie seien und dass eine Heilung oder Linderung des Leidens ein Wert an sich sei, unabhängig davon, wie dieses Segnungen zustande kamen.

Auf den ersten Blick ist dies ein plausibles Argument. Schaut man aber genauer hin, so zeigt sich, dass dieser scheinbar segensreiche Wunderglaube auf einer gesellschaftlich verankerten Ideologie beruht, die auf folgenden Grundsätzen fußt:

  • Seelisches Leiden, das vom Normalen abweicht, ist die Folge eines individuellen Krankheitsprozesses in der Psyche und im Nervensystem des Betroffenen
  • Zur Behandlung solchen Leidens bedarf es des Arztes
  • Die vom Arzt eingesetzten Methoden und Mittel können eine Heilung oder Linderung des Leidens bewirken
  • Der Patient ist das passive Objekt ärztlicher Maßnahmen
  • Seine Verantwortung besteht allein darin, sich rechtzeitig der Hilfe des Arztes zu versichern und seinen Anweisungen zu folgen.

Mit anderen Worten: Auch wenn sich Patienten nach einer psychiatrischen Behandlung besser fühlen sollten, so bezahlen sie einen hohen Preis dafür. Sie verzichten, zumindest vorübergehend, oftmals aber lebenslang, darauf, als vollwertige, mündige Bürger betrachtet werden zu können.

Dass eine derartige Ideologie in einem demokratischen Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts tatsächlich noch Fußhalt findet, ist nicht schwer zu verstehen, wenn man bedenkt, wie wenig Menschen leider auch in diesem Jahrhundert den Anforderungen eines demokratischen Rechtsstaats entsprechen. Dass aber auch emanzipatorische, bürgerrechtlich gesinnte politische Kräfte, beispielsweise im linken Spektrum oder unter den radikal Freiheitlichen, dieses Thema nur selten kritisch aufgreifen, erschüttert, ja, empört mich.

  • Wie will man denn progressive gesellschaftliche Entwicklungen mit Menschen vorantreiben, die sich selbst für psychiatrische Fälle halten, wenn sie feststellen, dass sie von der Norm abweichen?
  • Wie will man denn progressive gesellschaftliche Entwicklungen mit Menschen vorantreiben, die auf Wunderheilungen vertrauen, wenn es ihnen seelisch schlecht geht, anstatt sich auf die eigene Kraft zu besinnen?

Vielleicht denkt man in diesen Kreisen ja, es handele sich nur um eine verschwindende Minderheit, um “psychisch Kranke”, die politisch nicht ins Gewicht fallen. Dabei wird dann aber vergessen, dass Experten die Zahl der “psychisch Kranken” in Europa auf jährlich 33 Prozent schätzen. Die meisten Menschen, denen eine derartige Diagnose zuteil wird, glauben auch an diese; viele von ihnen hängen der psychiatrischen Religion aktiv an; nur wenige fühlen sich durch psychiatrische Diagnosen verleumdet und protestieren dagegen. Die “psychischen Krankheiten” liegen eindeutig im Trend. “Psychisch Kranke” werden, wenn es so weitergeht, schon bald nur noch eine gefühlte Minderheit sein.

Zehn Hausmittel gegen die Psychiatrie

Allein, niemand ist gezwungen, sich seinem Schicksal zu ergeben, und darauf zu warten, dass ihn die psychiatrische Diagnose ereilt. Wer sich als psychisch gefährdet betrachtet, weil sein Verhalten und Erleben Merkmale aufweist, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden könnten, darf jedoch hoffen. Es gibt uralte Hausmittel gegen die Psychiatrie.

  1. Gedichte. “A poem a day keeps the psychiatrist away.” Diesen Spruch entdeckte ich vor rund 45 Jahren an einer Toilettenwand in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt mit Ausblick auf eine Gracht in Amsterdam. Er hat sich in mein Gehirn eingebrannt und mich sicher durch mein bisheriges Erwachsenenleben geleitet. Es ist allerdings ratsam, die Wirkung des täglichen Gedichts durch eine Patientenverfügung zu verstärken. Wer ein Gedicht schreibt, versucht, ob ihm dies bewusst ist oder nicht, ein Gefühl zu vergeistigen. Wer sich täglich in dieser Kunst übt, schützt sich vor “Depressionen”, indem er Traurigkeit und innere Leere in süße Melancholie verwandelt. Ein selbst geschriebenes Gedicht hilft auch bei Abirrungen unseres Verstandes, weil es den Geist wieder an sein Material, an die Stimmungen und Bilder im Seelengrund, bindet. Kurz: Es gibt kaum eine Gefährdung des psychischen Gleichgewichts, die nicht durch ein wenig Lyrik gemildert werden könnte. Zeigen Sie Gedichte, die als Heilmittel gedacht waren, niemandem; auch nicht der besten Freundin oder einem guten Freund. Dies würde die Wirkung zumindest abschwächen, wahrscheinlich aber zerstören, wenn nicht ins Gegenteil verkehren.
  2. Tagebuch. Ein Tagebuch gibt dem Leben Struktur, vorausgesetzt, dass es regelmäßig und möglichst täglich geführt wird. Allein durch die Aufgabe, die Ereignisse des Alltags auf den Begriff zu bringen, zwingen wir uns, unser Dasein geistig zu ordnen. Dies wirkt der Neigung entgegen, sich in Beliebigkeit zu verlieren. Es gibt zwei Varianten des Tagebuchs, nämlich das geheime und das öffentliche. Ins geheime Tagebuch gehören Gedanken, die das Selbstverständnis fördern sollen; das öffentliche wird mit Selbstverpflichtungen gefüllt. Die “Pflasterritzenflora” verpflichtet mich beispielsweise, bei jeder sich bietenden Gelegenheit meine Pritsche hervorzuholen und auf die Psychiatrie einzudreschen. Gäbe es dieses öffentliche Tagebuch nicht, ach, oft genug wäre ich zu faul, zu träge für diese mentalsportliche Übung.
  3. Cut-up. Cut-up ist eine literarische Technik, die durch den Schriftsteller William S. Burroughs, einer Gallionsfigur der “Beat Generation”, bekannt gemacht wurde. Sie besteht darin, Texte virtuell oder physisch zu zerschneiden und die Fragmente zufällig wieder zusammenzufügen. Mitunter entstehen dadurch neue Sätze, deren Sinn sich unmittelbar erschließt, meist aber handelt es sich um scheinbar sinnlose Wortkombinationen, die jedoch neue Gedanken anregen können. Man kann diese Methode benutzen, um eingefahrene Schemata des Denkens zu zertrümmern. Auf diese Weise befreit man sich von den oft schon in der Kindheit eingetrichterten Weltsichten und Selbstbildern. Als Ausgangsmaterial können beispielsweise Abschnitte aus dem geheimen Tagebuch dienen.
  4. Meditation. Versenken Sie sich in sich selbst. Es ist ganz gleich, welche Methode sie anwenden. Es gibt nämlich keine, die besser wäre als alle anderen. Ich bevorzuge das Meditieren im Stehen auf einem Bein. Aber das ist natürlich nicht jedermanns Sache. Wenn Sie einen Guru brauchen, der Sie in die Kunst der Meditation einführt, dann nehmen Sie den billigsten; die anderen sind ihr Geld nicht wert. Beim Meditieren kommt es darauf an, sich auf ein stark eingegrenztes thematisches Feld zu konzentrieren und alles andere an sich vorbeiströmen zu lassen. Hinterher wird sich eine besinnliche Leichtigkeit einstellen. Wenn Sie täglich üben, werden Sie mit der Zeit gelassener, lassen sich nicht mehr so leicht provozieren – und da Provokationen sehr häufig Kontakten mit Psychiatern unmittelbar vorausgehen, kann der Wert dieses uralten Heilmittels gar nicht überschätzt werden.
  5. Borussia Dortmund. Viele Menschen, die sich zum Psychiater getrieben fühlen, leiden unter der Sinnleere ihres Daseins. Das muss nicht sein. Philosophen meinen, die Welt habe an sich keinen Sinn, sie sei ein kaltes Universum, dass dem menschlichen Schicksal neutral gegenüberstünde. Der Mensch könne den Sinn seines Lebens nicht finden, er müsse ihn erfinden. Werden Sie Fan von Borussia Dortmund. Sie werden feststellen, wie sich, unmittelbar nach diesem Entschluss, die Wellen des Lebenssinns kraftvoll an den Ufern ihrer Seele brechen. Arme Tröpfe, die Bayern München oder anderen Operettenclubs anhängen, werden nun wahrscheinlich murren; aber was hülfe es denn, ihr hättet die deutsche Meisterschaft gewonnen, aber eure Seele verloren? Spaß beiseite: Heilsam ist ein Objekt unbedingter Verehrung (und diese darf durchaus augenzwinkernd sein).
  6. Zweifel. Glauben führt zum schlechten Gewissen und, ach, wie oft landen Menschen beim Psychiater, weil sie das schlechte Gewissen quält. Das muss nicht sein. Das seelische Korsett, dieses Werkstück aus den Fabriken der Erziehung und Ausbildung, löst sich augenblicks in seine Bestandteile auf, wenn man sich des Glaubens entschlägt und zu zweifeln beginnt. Sie dürfen, sie müssen an allem, an allem zweifeln – nur nicht an Borussia Dortmund, versteht sich. Wer regelmäßig in der Pflasterritzenflora blättert, weiß: Mit gesunder Skepsis und im Licht der empirischen Forschung betrachtet, erweist sich die “Wissenschaft” der Psychiatrie als ein gewaltiger, gemeingefährlicher Schwindel. Und so ist der Zweifel ein wichtiges Vorbeugungsmittel gegen geistige Verirrungen und Verwirrungen.
  7. Zorn. Sie sind immer nett, höflich und hilfsbereit. Sie kümmern sich um die Leidenden und helfen alten Mütterlein über die Straße. Kein Tadel. Fördernd ist das gute Benehmen. Allein: Das ist nicht genug. Hin und wieder müssen Sie zornig sein, und zwar öffentlich, deutlich, unmissverständlich. Schon der liebe Gott zürnte das eine ums andere Mal, aber gewaltig. Wie sonst hätte er sich gegen diese Menschenbrut denn auch durchsetzen sollen? Hüten Sie sich aber vor heiligem Zorn. Dem richtig Zornigen ist nichts heilig. Zürnen Sie vielmehr klug und mit Bedacht. Randalieren sie nicht, machen Sie andere randalieren. Dann sind die es, denen der Psychiater droht.
  8. Revolte. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass echte Anarchisten bis ins hohe Alter gesund und munter bleiben? Das ist kein Wunder. Wer zeitlebens die Gewalten der Unterdrückung und Ausbeutung nach Kräften ärgert, wirkt körperlichem und geistigem Verfall machtvoll entgegen. Manche werden dadurch sogar unsterblich. Haben Sie keine Angst davor, deswegen keine Karriere zu machen oder einen Knick derselben mutwillig herbeizuführen. Was nützt Ihnen denn die Karriere, wenn sie diese als moralischer Idiot durchlaufen?
  9. Wissen. Lernen Sie. Lernen Sie so viel wie möglich. Verwechseln Sie aber nicht das Lernen mit dem Verlernen, zu dem Sie die Ideologen verleiten wollen. Die einmalige Lektüre einer Mainstream-Zeitung kann Jahre des Fleißes zunichte machen. Wussten Sie das? Also Vorsicht. Lernen heißt nachprüfen. Wissen wird nicht von Autoritäten vermittelt. Es stammt vielmehr aus der empirischen Forschung. Tatsachen zählen. Eine Behauptung ohne Begründung ist nichts wert. Eine Behauptung, deren Begründung eine weitere Behauptung ist, auch nicht. Erst wenn eine Behauptung ihren Grund in Sachverhalten findet, die man direkt oder indirekt beobachten kann, darf man sie ernst nehmen. Wie viele Menschen beispielsweise werden “psychisch krank”, weil sie sich minderwertig fühlen und weil sie glauben, dass jeder seines Glückes Schmied sei – in dem Sinne, dass er alle gesetzten Ziele erreichen könne, wenn er nur fleißig und klug sei. Doch wer die Tatsachen unserer sozialen und ökonomischen Realität studiert, erkennt schnell, dass solche neoliberalen Weisheiten Bullshit sind. Im Grund ist Wissen das beste Heilmittel gegen die Psychiatrie.
  10. Solidarität. Es ist gut, Gedichte zu schreiben, Tagebuch zu führen, Cut-up zu praktizieren, zu meditieren, auf Borussia Dortmund nichts kommen zu lassen, außer am Verein an allem zu zweifeln, zornig zu sein, zu revoltieren, sich zu bilden, allein: Erst durch gegenseitige Hilfe kann die Heilkraft dieser alten Hausmittel dank wechselseitiger Wirkungsverstärkung voll ausgenutzt werden. “A poem a day keeps the psychiatrist away!” Das stimmt, aber nur in Kombination mit einem anderen Lokusspruch, den ich vor rund 45 Jahren an der Wand eines Schulklos entdeckte: “Allein machen sie dich ein!” Es geht schließlich darum, Missetäter in ihre Schranken zu verweisen und Schuldige ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Fast immer, wenn Menschen in den Strudel der Psychiatrie geraten, haben sie sich durch arge menschliche Niedertracht dort hineinstoßen lassen. Dies wird nie enden, solange die Opfer sich in duldsamen Schafen ihr Vorbild suchen.

Die zehn Tugenden der Freien

Wer sich durch diese Hausmittel gestärkt hat und sich nicht mehr in allzu großer Gefahr sieht, einer psychiatrischen Diagnose anheimzufallen, wird vermutlich lange verschüttete Tugenden in sich (wieder-)entdecken, die es zu fördern und zu pflegen gilt: Die Tugenden der Freien.

  1. Selbstbeherrschung. Diese zutiefst notwendige Tugend steht seit einigen Jahrzehnten nicht mehr besonders hoch im Kurs. Ich erinnere mich an den Boom der Selbsterfahrungsgruppen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. In diesen war Selbstbeherrschung verpönt, galt als Sünde wider das seelische Wachstum. Wer seinen Gefühlen nicht freien Lauf ließ oder, schlimmer noch, sein Denken und Verhalten strenger Zucht unterwarf, galt als charakterlich erstarrt und musste massiver Körpertherapie unterworfen werden. Doch ein Vers von Goethe sagt in der denkbar kürzesten Form, dass der Verzicht auf Selbstbeherrschung zur lebenslangen Knechtschaft führt. “Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht. Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht.” Die Selbstbeherrschung ist eine Tugend, die geübt werden will. Sie wird uns nicht in die Wiege gelebt. Menschen neigen von Natur aus dazu, ihren spontanen Impulse zu gehorchen; und Eltern neigen von Natur aus dazu, die spontanen Impulse ihrer Kinder zu unterdrücken. Dies ist, zumindest zu einem erheblichen Teil, auch unerlässlich, solange die Kinder noch nicht zur Vernunft gekommen sind. Sobald sich diese aber einstellt, müssen Menschen, die nicht Knecht bleiben wollen, lernen, sich selbst zu disziplinieren. Sonst droht die Psychiatrie. Die zentrale Botschaft, die das Psychiatrie-Marketing mithilfe der Medien in die Köpfe der Menschen einhämmert, lautet: Ihr könnt auch nicht selbst kontrollieren; bei seelischen Problemen bedürft ihr des Arztes, der euch, wie kleine Kinder, bei der Hand nimmt und euch, zu eurem Besten, den Weg weist. Mitunter fördern auch psychiatrische Maßnahmen die Selbstbeherrschung, aber nur scheinbar. Denn in diesen Fällen werden die “Patienten”, beispielsweise in einer Psychotherapie, geschult, sich gemäß psychiatrischer Vorgaben selbst zu beherrschen. Sie werden dadurch gleichsam zu Vasallen im eigenen Königreich, dem Reich ihrer Seele. Im Allgemeinen aber verstärkt die Psychiatrie Disziplinlosigkeit. Denn wer seine inneren Impulse mit Pillen unterdrückt, lernt niemals, sie aus eigener Kraft zu beherrschen. Im Gegenteil: Die ohnehin schwache Fähigkeit zur Selbstbeherrschung verkümmert sogar unter dem Einfluss dieser “Knopfdruck-Lösungen” für psychische Probleme.
  2. Rationalität. Ebenfalls seit Jahrzehnten beobachte ich eine Tendenz in den Medien, sachliche Themen auf einer personalisierenden und emotionalisierenden Ebene zu präsentieren. Es wird vermutet, dass dies eine Folge des zunehmenden Einflusses der feministischen Ideologie sei. Wenn dies der Fall sein sollte, dann würden sich die Frauen damit einen Bärendienst erweisen. Denn die wichtigste Hilfsquelle der Selbstbeherrschung ist zweifellos die Rationalität. Da aber auch eine Frau ohne Selbstbeherrschung immer eine Magd bleibt, darf sie sich nicht wundern, wenn ihr die Emanzipation trotz feministischer Einstellung nicht gelingen will. Die Oberfeministinnen, die es nach oben geschafft haben, zeichnen sich meist gerade dadurch aus, dass sie eiskalt und berechnend auf ihren Vorteil bedacht sind. Selbstverständlich plädiere ich nicht dafür, seine Gefühle zu unterdrücken, denn bekanntlich funktioniert das nicht. Sie tauchen, wie ein Korken, den man unter Wasser drückt, immer wieder auf. Daher muss man lernen, seine Gefühle zu meistern; sie in den Dienst der Vernunft zu stellen. Wer sich diese Tugend in einer Psychotherapie anverwandeln möchte, wird in aller Regel enttäuscht. Denn viele Therapeutinnen und sogar Therapeuten sind offensichtlich davon überzeugt, dass Heilung von reichlich Tränen und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen begleitet sein müsse. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wer seinen Gefühlen ausgeliefert ist, wer keinen Abstand von ihnen gewinnen kann, der wird ihnen auch nicht nahe kommen, der wird sich niemals im Glanz voll entfalteter Gefühle sonnen können.
  3. Beharrlichkeit. Die heutige Psychiatrie setzt zunehmend auf Pillen zur schnellen Überwindung von Befindlichkeitsstörungen aller Arten. Der Pharmaindustrie wird, und dies nicht unbedingt scherzhaft, nachgesagt, sie erfinde zu neuen Wirkstoffen die jeweils passenden psychischen Erkrankungen. Doch selbst wenn Psychotherapien angeboten werden, so sollte diese möglichst schnell zum Ziel gelangen und das störende Muster des Verhaltens und Erlebens ausschalten. Doch überall da, wo Menschen aus eigener Kraft erfolgreich waren, sei es in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Kunst oder im Sport, war das Geheimnis des Erfolges fast immer die Beharrlichkeit. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben, trotz anfänglicher Misserfolge und trotz kritischer Stimmen oder wohlmeinender Freunde, die zum Umsatteln raten. Man muss sich in eine Sache, die einem am Herzen liegt, die man besitzen, die man beherrschen will, mit aller Kraft verbeißen. Beharrlichkeit bringt Heil!, heißt es in den Weisheitsbüchern des alten China.
  4. Selbstvertrauen. Nichts ruiniert das Selbstvertrauen eines Menschen zuverlässiger, schneller und nachhaltiger als eine psychiatrische Diagnose. Denn ihre Botschaft lautet: Nicht du, sondern eine Krankheit deines Gehirns, ist für deine Probleme verantwortlich – und darum bist auch nicht du, sondern der Arzt, der diese Krankheit zu behandeln versteht, für deine Heilung oder die Linderung deines Leidens verantwortlich. Selbstvertrauen ist aber kein Gefühl, das sich von allein einstellt. Ebenso wie das Vertrauen in andere ist das Selbstvertrauen auf Signale angewiesen, die darauf hindeuten, das es gerechtfertigt sei. Im Falle des Selbstvertrauens kann nur das Selbst diese Signale setzen. Nur durch eigenes Handeln kann man sich selbst davon überzeugen, dass man sich selbst vertrauen kann. Handeln nach Vorschrift des Arztes ist keine selbstvertrauensbildende Maßnahme, sondern führt allenfalls dazu, dass wir dem Arzt zu vertrauen lernen. Die wichtigste Hilfsquelle der Beharrlichkeit ist jedoch das Selbstvertrauen. Wer nicht an sich selber glaubt, der wird den Frustrationen nicht gewachsen sein, die sich unweigerlich einstellen, wenn man auf schwierigem Weg beharrlich voranschreiten möchte. Warum sollte man sich anstrengen, wenn man es ja doch nicht schafft? An der nächsten Straßenecke kannst du dir in der Praxis eines Psychiaters ein Rezept für eine Pille abholen, und dann fühlst du dich gleich besser, auch wenn du deine selbst gesteckten Ziele nicht aus eigener Kraft erreichst; was soll’s?, dies wird dir schon bald ganz gleichgültig sein, wenn du nur regelmäßig deine Pille schluckst und deinem Arzt vertraust.
  5. Eigensinn. Eigensinn gilt als etwas Negatives, mitunter sogar Verwerfliches. Eigensinnig sind Leute, die nicht so wollen, wie sie sollen, die sich gegen anerkannte Autoritäten oder die Gemeinschaft insgesamt stellen, die sich für zu wichtig nehmen, die sich selbst überschätzen, die immer im Mittelpunkt stehen wollen und was der Abwertungen mehr sind. Eigensinn ist nur statthaft bei Leuten, die Macht haben; er wird als Privileg des Souveräns begriffen. Der Untertan darf nicht eigensinnig sein. Er soll darauf achten, was die Vorgesetzten für richtig halten, was die Mehrheit der Kollegen denkt, was am Stammtisch gesagt, was im Fernsehen gesendet und in der Press gedruckt wird. Diesem Mainstream soll er sein Denken unterordnen, damit er nicht aneckt und den Betrieb aufhält. Das Nachdenken möge er doch jenen überlassen, die eine entsprechende Lizenz dafür ihr eigen nennen, weil sie Machthaber oder Experten sind. Die wichtigste Hilfsquelle des Selbstvertrauens ist allerdings der Eigensinn. Denn das Selbstvertrauen hängt von der Bewertung des eigenen Handelns ab. Erfolg oder Misserfolg, das ist hier die Frage. Die Bewertung setzt Maßstäbe voraus. Wenn jemand beispielsweise berechtigterweise den Chef kritisiert und sich deswegen Aufstiegschancen verbaut, dann darf er sich, gemessen an den Maßstäben des Mainstreams, als Versager fühlen; aber, an die Elle des Eigensinns angelegt, kann diese Kritik durchaus ein Beweis dafür sein, dass man sich nicht mehr alles bieten lässt, sich wieder im Spiegel in die Augen schauen kann, kurz: Dieser Mut zur Kritik kann ein Signal für berechtigtes Selbstvertrauen sein.
  6. Widerspruchsgeist. Eigensinn geht zwangsläufig mit Eigenunsinn einher. Wenn ich erkenne, was für mich selbst gut und richtig ist, dann entwickelte ich auch ein Gespür dafür, was ich mir nicht aufzwingen lassen darf. Je klarer ich also meinen Eigensinn ins Auge zu fassen und als begründet zu erkennen vermag, desto heftiger wird auch mein Widerspruchsgeist entfacht. Und das ist auch gut so. Wer seinen Widerspruchsgeist stärken will, sollte nach Möglichkeit die Psychiatrie meiden, denn dort sitzen Spezialisten für das Brechen des Widerstands und das Vermitteln von “Krankheitseinsicht”, wobei ihnen brachiale Methoden zu diesen Zwecken nicht fremd sind. Widerspruchsgeist ist jedoch naturgemäß der entscheidende Gradmesser des Eigensinns, denn je mehr Fremdsinn man sich zumuten lässt, desto weniger Raum kann sich der Eigensinn aneignen.  Die meisten der so genannten psychischen Störungen entstehen durch passive Anpassung an unzumutbare Verhältnisse. Dabei kann das, was zumutbar ist, nur im Licht individueller Möglichkeiten und Grenzen beurteilt werden. Zumutbarkeit kann niemals eine soziale Norm sein; unzumutbar ist, was sträflich den Eigensinn missachtet.
  7. Kampfgeist. Wenn ein Ohnmächtiger Widerspruchsgeist zeigt, muss er damit rechnen, dass früher oder später das Imperium zurückschlägt. Die jeweils Mächtigeren in sozialen Gefügen lieben es ganz und gar nicht, wenn Untergeordnete wider den Stachel löcken. Um im Kampf nicht mutlos zu werden und vorschnell die Waffen zu strecken, muss man begeistert sein. Die höchste Form der Begeisterung entflammt im Kampf , wenn man nicht nur ein persönlich bedeutsames Ziel vor Augen sieht, sondern wenn man gewiss sein kann, dass man sich für ein übergeordnetes Ziel einsetzt, dass im wohlverstandenen Interesse der Gemeinschaft liegt. Rechter und dauerhafter Kampfgeist setzt also in aller Regel eine Gemeinschaft Gleichgesinnter voraus, mit der man gemeinsame Sache macht. Und wenn es sich bei dieser gemeinsamen Sache nicht um das spezielle Anliegen einer kleinen Gruppe mit Sonderinteressen handelt, sondern um eine Menschheitsaufgabe, dann hat man eine Mission: Möglichst viele Menschen sollen für den Kampf gegen das Böse und für das Gute begeistert werden.
  8. Sinnen auf Rache. Wo Böses getan wurde, muss die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Die Täter müssen die angemessene Strafe erhalten. Dieses Sinnen auf Rache, verbunden mit kräftigem, aber gezügeltem Hass, ist die wichtigste emotionale Hilfsquelle, um den Kampfgeist lebendig zu erhalten. In den Ohren von Menschen, die unter dem kulturellen Einfluss der christlichen Sklavenreligion stehen, mag es befremdlich klingen, wenn das Sinnen auf Rache und der Hass auf die Bösen zu den Tugenden gezählt wird. Wer so denkt, sollte sich klar machen, dass beispielsweise die Nationalsozialisten niemals besiegt worden wären ohne diese Tugenden. Gerade für Menschen mit psychischen Problemen ist das Sinnen auf Rache eine entscheidende Voraussetzung für deren Lösung. Man denke beispielsweise an eine Frau, die als Kind vom Vater sexuell missbraucht und emotional ausgebeutet wurde. Diese Frau muss rückhaltlos mit dem christlichen Gebot brechen, dass man seine Eltern lieben solle. Nur zu oft werden Patienten, denen von nahe stehenden Menschen Barbarisches angetan wurde, von ihren Therapeuten dazu angehalten, sich mit den Tätern zu versöhnen. Die geheime Botschaft lautet: Wenn du weiterhin unter den Folgen der Taten leidest, dann bist du selber schuld, weil du nicht verzeihen kannst, wie dies von einem guten Christenmenschen und Psychiatriepatienten verlangt werden muss.
  9. Heroischer Nihilismus. Wir leben in einem Universum, das an unseren Geschicken keinen Anteil nimmt. Ihm wohnt kein Sinn für Gerechtigkeit inne, auch keine Tendenz zu Happyend, im Gegenteil: Die ultimative Antwort auf all unser Sinnen und Trachten lautet: Tod. An dieser Beschaffenheit des Universums kann auch die beste Gesellschaftsordnung nichts ändern, ebenso wenig wie ein religiöser Glaube. Dem Dasein wohnt kein Sinn inne, vielmehr sind wir aufgerufen, es mit Sinn zu erfüllen, mit unserem Sinn, mit Eigensinn. Aber auch dem steht das Universum gleichgültig gegenüber. Weil dies so ist, sind wir von Natur aus zu nichts verpflichtet, zu keiner Moral, zu keinem Kampf, noch nicht einmal zum Leben. Wir haben die Wahl. Wenn wir uns, im vollen Bewusstsein der Unausweichlichkeit unserer Lage, dazu entscheiden, Humanisten zu sein und für eine menschengerechte Welt zu kämpfen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle, dann erst werden die Tugenden bedeutsam, von denen ich hier spreche und dann erst können sie als Hilfsquellen für ein gutes Leben verstanden werden. Dies muss, bei allem Hass, bei allem Rachedurst, stets bedacht werden: Wir könnten uns auch anders entscheiden und unseren Frieden machen mit dem, was uns dann vielleicht nicht mehr so unerträglich erschiene. Wir haben die Wahl, und wir müssen die Konsequenzen tragen, die sich daraus für uns und andere ergeben.
  10. Freiheitsliebe. Die Freiheitsliebe ist kein Gefühl, sondern eine Tugend, die unseren Gefühlen beim Entscheiden eine Richtung gibt. Kluge Entscheidungen beruhen auf Gefühlen, die durch rationale Erwägungen gemeistert wurden. Das Maß der Meisterschaft ist die Freiheit. Dies bedeutet, dass unsere Gefühle daran zu messen sind, ob sie Entscheidungen begünstigen, die insgesamt und auf lange Sicht unsere Freiheit erhöhen. Wenn uns die Furcht vor den Konsequenzen impulsiven Handelns zur Entwicklung unserer Selbstbeherrschung zwingt, so ist diese Furcht ein Ausdruck, eine Facette der Freiheitsliebe. Freiheit bekommt man nicht geschenkt, sie ist auch nicht einfach nur vorhanden oder abwesend, sondern man muss sie ergreifen oder man wird sie preisgeben. Wer keine Wahl zu haben glaubt, dem wird keine Tugend helfen.

Keine Sorge: Ich will Ihnen, lieber Leser, hier nicht die “Zehn-Tugenden-Therapie nach Dr. Gresch” auf Grundlage uralter Hausmittel gegen die Psychiatrie aufschwatzen. Wer wähnt, man müsse nur die alten, die ineffektiven Therapien gegen eine neue Wunderkur austauschen und dann werde alles gut, der irrt sich gewaltig.

Tugendhaft wird man nicht durch Psychotherapien oder Pillen, sondern durch die eigene Entscheidung, sich in den zehn Tugenden zu üben. Die entsprechenden Übungsfelder finden sich nicht in psychiatrischen Kliniken, auch nicht in den Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten, sondern vor allem in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die frei sein und nach eigenen Regeln leben wollen.

Literaturempfehlungen

Balt, S. The Placebo Effect: It Just Gets Better and Better

Bohart, A. (2000). The client is the most important common factor. Journal of Psychotherapy Integration, 10, 127-149

Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14

Frank, J. D. & Frank, J. B. (1991). Persuation and Healing: A Comporative Study of Psychotherapy. (3rd ed.). Baltimore: John Hopkins University Press

Kirsch, I. (2009). The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth. London: The Bodley Head

Steingard, S.: The Emperor’s Antipsychotic Drugs

Turner EH, Knoepflmacher D, Shapley L (2012) Publication Bias in Antipsychotic Trials: An Analysis of Efficacy Comparing the Published Literature to the US Food and Drug Administration Database. PLoS Med 9(3): e1001189. doi:10.1371/journal.pmed.1001189

Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J. & London, Lawrence Erlbaum Ass, Pub.

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