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Zwangsbehandlung

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  1. Die erzwungene Unterbringung und Zwangsbehandlung von Menschen, die angeblich psychisch krank und für sich oder andere gefährlich sind, widersprechen meinem Sinn für Gerechtigkeit und Fairness fundamental. Außerdem sind sie in meinen Augen ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte, auch wenn sie in vielen Staaten dieser Erde legal sind. Es handelt sich dabei um Willkürmaßnahmen, die zudem die Ziele, die sie angeblich bzw. offiziell anstreben, nicht zu erreichen vermögen.
  2. Psychische Krankheiten sind keine wissenschaftlichen Konstrukte, die sich in nachvollziehbarer Weise auf Sachverhalte in der Realität beziehen. Sie stellen vielmehr Mythen dar, die einerseits die tatsächlichen Gründe für schwerwiegende Lebensprobleme verschleiern und andererseits Maßnahmen gegen eigensinnige Menschen den Schein der Legitimität verleihen sollen (10).
  3. Die Reliabilität ist ein Maß für die Genauigkeit eines diagnostischen Verfahrens. Je größer im Durchschnitt also die Abweichung der Diagnosen mehrerer Psychiater hinsichtlich jeweils derselben Person ist, als desto weniger reliabel muss das verwendete Diagnose-Verfahren gelten. Studien zeigen, dass die, auf den herkömmlichen Manualen ICD und DSM beruhenden, psychiatrischen Diagnosen hochgradig unreliabel sind. Dabei erweist sich die neueste Version des DSM, die fünfte Ausgabe als besonders unreliabel. Klartext: Die Psychiater gelangen bei derselben Person häufig zu unterschiedlichen Einschätzungen. Dies gilt natürlich auch für Diagnosen, die zu einer Unterbringung und Zwangsbehandlung so genannter psychisch Kranker führen.
  4. Die Validität ist ein Maß dafür, wie die Resultate eines diagnostischen Vorgehens mit dem übereinstimmen, was sie angeblich beurteilen. Man kann beispielsweise das Körpergewicht sehr reliabel messen, aber dennoch ist die Waage ein sehr schlechtes Instrument zur Bestimmung der physischen Beweglichkeit des Gewogenen. Für den letztgenannten Zweck wäre die Waage also ein sehr invalides Messinstrument. Gesucht wird ein Maß der Übereinstimmung zwischen der Diagnose und einem objektiven Kriterium, dass nicht logisch vom Diagnoseverfahren abhängt. Die Übereinstimmung zwischen dem Psychiaterurteil und den Berichten von Angehörigen eines Diagnostizierten wäre in diesem Sinne kein solches Kriterium, weil Angehörige und Psychiater sich in der Regel wechselseitig beeinflussen und weil beide Gruppen psychiatrische Sichtweisen verinnerlicht haben. Bei psychiatrischen Diagnosen kommen also nur physiologische Kriterien (beispielsweise objektiv messbare Parameter im Nervensystem), so genannte Biomarker als Validitätskriterien in Frage. Bisher ist es der psychiatrischen Forschung aber noch nicht gelungen, solche Biomarker zu identifizieren (1-4). Es gibt zweifellos auch andere Konzepte der Validität mit weniger strengen Anforderungen, doch dabei handelt es sich im Grunde nur um Maße der intersubjektiven Übereinstimmung, die anfällig für Verzerrungen durch Vorurteile, gemeinsame Interessen und professionelle Blindheiten sind. Aus diesem Grunde ist die Validität der Diagnosen, die Unterbringungen und Zwangsbehandlungen begründen sollen, höchst zweifelhaft und vor allem, mangels sauberer Kriterien, nicht bezifferbar.
  5. Der Zusammenhang zwischen Reliabilität und Validität wird durch folgendes Schaubild verdeutlicht. Hier lässt sich erkennen, dass psychiatrische Diagnostik mangels reliabler und valider Diagnoseverfahren mit einer extrem geringen Treffsicherheit verbunden ist (oben links). Im Übrigen ist auch die psychiatrische Gefährlichkeitsprognostik der Glaskugelschau nicht überlegen (5).
    560px-Reliability_and_validity.svg
    Image: © Nevit Dilmen found at Wikimedia commons
  6. Auch der Einwand, dass man die Wissenschaft mit ihren Zahlen, Daten und Fakten nicht überschätzen und stattdessen auf die Professionalität, Berufs- bzw. Lebenserfahrung des Diagnostikers bzw. Prognostikers vertrauen solle, sticht leider nicht. Die Qualität des klinischen Urteils korreliert definitiv nicht mit der Berufserfahrung. Dies ist das eindeutige Resultat der Untersuchungen von Robyn M. Dawes, eines Pioniers der psychologischen Entscheidungsforschung. Seine Erklärung für dieses Phänomen erscheint plausibel. Bei der Prognose geht es ja um das Kategorisieren von Menschen – beispielsweise: “gefährlich – nicht gefährlich” oder “psychotisch – nicht psychotisch”. Die Effektivität von Lernprozessen im Bereich der Kategorisierung hängt nun aber von zwei Faktoren ab: (a) Kenntnis von Regeln zur Zuordnung von Exemplaren zu einer Kategorie; (b) systematisches Feedback über richtige und insbesondere falsche Kategorisierung. Beide Voraussetzungen sind aber im Bereich der Gefährlichkeitsprognostik nicht erfüllt. Erstens ist es heute noch weitgehend unbekannt, anhand welcher Merkmale man zukünftige Gefährlichkeit abschätzen kann. Und zweitens kann auch von einer systematischen Rückmeldung nicht die Rede sein (6). Vergleichbares gilt für die Diagnose “psychischer Krankheiten”.
  7. Unterbringung und Zwangsbehandlung stellen einen sehr schweren Eingriff in die bürgerlichen Freiheiten eines Menschen dar. Wenn überhaupt, dann könnte dieser moralisch nur gerechtfertigt sein, sofern die Treffsicherheit der Diagnosen und Prognosen dem Bild rechts unten in der Grafik zu Punkt 5 zumindest erkennbar nahekäme. Dies ist jedoch nicht der Fall, nicht im Entferntesten der Fall, und es besteht auch keinerlei Aussicht auf Besserung.  Im Gegenteil: Es kann aus meiner Sicht kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die bisherige ideologische Grundlage der Psychiatrie, nämlich das medizinische Krankheitsmodell, in sich zusammengebrochen ist. Diese Auffassung wird im Übrigen von einer wachsenden Zahl von Psychiatern und anderen einschlägig tätigen Professionellen geteilt (7). Solange die Psychiatrie dieses Krankheitsmodell beibehält, sind keine wesentlichen Verbesserungen des Standes der Erkenntnis zu erwarten.
  8. Selbst von Befürwortern der Unterbringung und Zwangsbehandlung wird die Qualität der entsprechenden Gutachten als eher schlecht bezeichnet. Der Streit um die Gutachten im Fall “Gustl Mollath” zeigt erneut sehr deutlich, dass diese nicht selten, sogar gemessen an den Standards des “gesunden Menschenverstandes”, nur als haarsträubend bezeichnet werden können (8). Diese Gutachten entsprechen in vielen Fällen noch nicht einmal den gängigen formalen Kriterien und Vorschriften. Doch selbst wenn sie in dieser Hinsicht vorbildlich wären, so müssten sie dennoch wegen der grundsätzlichen Mängel im Bereich der Reliabilität und Validität verworfen werden.
  9. Das aus meiner Sicht gewichtigste Argument für die Beibehaltung des bisherigen Procederes besteht darin, dass Unterbringung und Zwangsbehandlung ein etabliertes Element unseres Rechtssystems darstellen und dass durch die ersatzlose Streichung dieses Elements ein Vakuum entstehen müsste, das chaotische Auswirkungen zeitigen könnte. Es trifft ja durchaus zu, dass die Marketing-Maschinen des juristisch-psychiatrischen Komplexes der Bevölkerung seit Jahrzehnten suggerieren, die entsprechenden Maßnahmen seien aus Gründen der Gefahrenabwehr und gleichermaßen zum Schutz der psychisch schwerst erkrankten Menschen unbedingt erforderlich. Würde man nun darauf verzichten, dann wäre damit zu rechnen, dass sich Aggressionen von “Normalen” gegen psychiatrisch Stigmatisierte häufen würden. Dieses Argument ist allerdings nur solange bedenkenswert, wie die von der Psychiatrie hervorgerufene Stigmatisierung von Menschen als “psychisch krank” fortbesteht. Denn: Würde die “Hate Speech“, die sich in Begriffen wie “psychisch Kranke”, “psychisch Gestörte”, “Geisteskranke”, “chemisches Ungleichgewicht” etc. manifestiert, nicht mehr durch psychiatrische und andere staatliche Ideologien legitimiert, dann würden auch die damit verbundenen Gewaltfantasien und irrationalen Schutzbedürfnisse in der Bevölkerung allmählich abgebaut. Psychiatrische Diagnostik hat in der Bevölkerung ein Aggressionspotenzial insbesondere gegen jene Menschen hochgeschaukelt, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch Zwangskunden der Psychiatrie werden, nämlich eigensinnige Leute, Außenseiter, Unangepasste, die keine wesentliche soziale Unterstützung haben, die meist aus der Unterschicht stammen und die sich nicht gut wehren können. Dieses Aggressionspotenzial verschwindet nicht von allein, einfach dadurch, dass man Zwangsbehandlungen verbietet. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Davor darf man seine Augen nicht verschließen und gerade deswegen muss psychiatrisch motivierte “Hate Speech” geächtet und abgebaut werden.
  10. Es ist grundsätzlich notwendig, das gesamte psychiatrische System, zunächst jedoch in erster Linie die psychiatrische Diagnostik, auf den Prüfstand zu stellen. Bei einer Passantenbefragung hielten beispielsweise zehn Prozent der Interviewten “Schizophrene” für gefährlich (9), obwohl dies im Licht empirischer Forschung keineswegs der Fall und leicht erhöhte Gefährlichkeit einzelner Teilgruppen fast vollständig auf Missbrauch von Drogen- und Alkohol zurückzuführen ist. Hier zeigt sich also, dass die zwangsläufig mit psychiatrischen Diagnosen verbundene Stigmatisierung ein ernst zu nehmendes Hindernis für die Abschaffung der Zwangseinweisung und -behandlung angeblich psychisch Kranker darstellt. Da man das Vorliegen einer “psychischen Erkrankung” nicht mit objektiven Methoden festzustellen und eine mutmaßliche Selbstgefährdung oder Gefährlichkeit für andere nicht treffsicher zu prognostizieren vermag, sind psychiatrische Diagnosen und Prognosen jedoch ohnehin entbehrlich, zumal man sie auch nicht braucht, um Menschen mit Lebensproblemen sinnvoll zu helfen. Die psychiatrische Diagnostik zu verbieten, wäre also ein erster, unbedingt notwendiger Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Maßnahmen, die aus meiner Sicht in eklatanter Weise gegen die Menschenrechte verstoßen, die ungerecht und unfair sind.

Anmerkungen

(1) Buchsbaum MS, Haier RJ. Psychopathology: Biological approaches. Annu Rev Psychol. 1983;34:401–30
(2) Hoes MJ. Biological markers in psychiatry. Acta Psychiatr Belg. 1986;86(3):220–41
(3) Jablensky A. Epidemiological and clinical research as a guide in the search for risk factors and biological markers. J Psychiatr Res. 1984;18(4):541–56
(4) Muscettola G, Di Lauro A, Giannini CP. Blood cells as biological trait markers in affective disorders. J Psychiatr Res. 1984;18(4):447–56
(5) Albrecht, G. (2003). Probleme der Prognose von Gewalt durch psychisch Kranke. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (Journal of Conflict and Violence Research), Vol. 5, 1, 97-126
(6) Dawes, R. M. (1989). Experience and validity of clinical judgment: The illusory correlation. Behavioral Sciences & the Law, Volume 7, Issue 4, pages 457–467, Autumn (Fall)
(7) Pflasterritzenflora: Postpsychiatrie?
(8) Sponsel, R.: Potentielle Fehler in forensisch psychopathologischen Gutachten, Beschlüssen und Urteilen der Maßregeljustiz. Eine methodenkritische Untersuchung, illustriert an einigen Fällen u. a. am Fall Gustl F. Mollath, mit einem Katalog der potentiellen forensischen Gutachtenfehler  sowie einiger RichterInnen-Fehler, Internet
(9) Birr, F. (2005). Qualitative Passantenbefragung zu Aspekten der Stigmatisierung Schizophrener im Rahmen einer Antistigmakampagne (Dissertation). Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Unversität München
(10) Szasz, T. (1961). The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York

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