- Schenkt man den Verlautbarungen einschlägiger Verbände und Forschungsinstitute Glauben, so versteht sich die Psychiatrie als naturwissenschaftlich untermauerte, evidenzbasierte Medizin. Zwar ist dies zur Zeit noch nicht einmal ansatzweise der Fall, aber immerhin träumen die Vordenker dieser Disziplin davon, eines Tages die biologischen Grundlagen der so genannten psychischen Erkrankungen und der Wirkungen sowie Nebenwirkungen einschlägiger “Heilmittel” zu enthüllen.
- Sollte sich dieser Traum jemals erfüllen, dann wäre dies gleichbedeutend mit dem Ende der Psychiatrie. Sie würde sich zwar nicht in Nichts, wohl aber in Neurologie auflösen. Dann nämlich würden sich die so genannten psychischen Erkrankungen in neurologische verwandeln und dementsprechend in den Zuständigkeitsbereich der Neurologie fallen. Der diese Krankheiten behandelnde Arzt hätte dann ebenso viel oder wenig mit der “Psyche” zu tun wie jeder andere Körperarzt auch. Sofern die Psychotherapie bestehen bliebe, so würde sie sich in eine Maßnahme zur gezielten Beeinflussung von Hirnprozessen verwandeln und einem Training zur neurologischen Rehabilitation oder Prävention gleichen.
- Es sieht zur Zeit allerdings nicht so aus, also ob dieser Traum wahr werden könnte. Ganz gleich, in welchen Bereich der Psychiatrie man schaut: Das ganze System ist in der Praxis de facto nicht darauf eingestellt, gestörte Hirnprozesse zu identifizieren und mit gezielten Maßnahmen zu korrigieren. Es geht vielmehr darum, das als abweichend diagnostizierte Verhalten und Erleben der Patienten wieder an soziale Normen und / oder die Erwartungen signifikanter Mitmenschen anzupassen. Die dazu verwendeten “Heilmittel” und Methoden wirken zwar auf Hirnprozesse ein (sonst könnten sie den Patienten ja auch nicht beeinflussen), aber ihr Wert bemisst sich ausschließlich an Maßstäben, die sich nicht auf Hirnprozesse, sondern in erster Linie, direkt oder indirekt, auf das Sozialverhalten beziehen.
- Die gegenwärtige Situation der Psychiatrie ist also durch die drei folgenden Momente gekennzeichnet, nämlich durch: (a) den Anspruch, moderne Medizin zu sein (b) die bisher erfolglose Suche nach den mutmaßlichen biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten und nach den entsprechenden kausalen Heilmethoden (c) die Realität einer Agentur zur sozialen Kontrolle.
- Die heutige Psychiatrie ist, im Licht unabhängiger, methodisch sauberer empirischer Forschung, grandios gescheitert: Keine brauchbare Diagnostik, keine effektiven Behandlungsmethoden, keine akzeptablen Medikamente. Misst man sie jedoch nicht an ihren offiziellen Zielen aus dem thematischen Feld der Heilung und Linderung von Krankheiten, sondern an ihren heimlichen, die im Bereich sozialer Kontrolle zu suchen sind, dann hat sie sich durchaus bewährt, allerdings nur gemessen an den Maßstäben von Leuten mit einem fragwürdigen Verständnis von Demokratie und Menschenrechten.
- In und außerhalb der Psychiatrie werden Stimmen laut und lauter, die eine einschneidende Kurskorrektur fordern – und dies sowohl aus moralischen, wie auch aus ökonomischen und politischen Gründen. Der psychiatrisch-phamaindustrielle Komplex gerät zunehmend unter Druck, vor allem in den angelsächsischen Ländern, wenngleich dieser Druck zur Zeit immer noch sehr schwach ist. Die Missstände in der gegenwärtigen Psychiatrie, ihre wirtschaftliche und fachliche Ineffizienz sind so offensichtlich, dass recht eigentlich niemand, der hier Verantwortung trägt, aus vollem Herzen mit den herrschenden Verhältnissen zufrieden sein kann. Die Mehrheit der Unzufriedenen erhofft sich nach wie vor eine Verbesserung der Zustände durch Fortschritte der biologisch orientierten Forschung, wohingegen eine Minderheit stattdessen oder in erster Linie den sozialen Kontext des Menschen in den Mittelpunkt psychiatrischen Interesses rücken möchte.
- Viele führende Pharma-Unternehmen haben angekündigt, sich aus der Psychopharmakaforschung zurückzuziehen oder diesen Schritt bereits vollzogen. Es wird immer schwieriger, Medikamente mit einem neuen Wirkmechanismus zu entdecken; der Placeboeffekt verstärkt sich und deswegen wird die Hürde zur Zulassung eines neuen Medikaments immer höher; in anderen Bereichen der Pharma-Wirtschaft sind die Gewinnaussichten auch daher deutlich besser. Manche Vertreter der Pharma-Industrie sehen einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung darin, dass die Psychiatrie wissenschaftlich nicht mit den Fortschritten der Neuro-Wissenschaften Schritt zu halten vermochte bzw. diese Entwicklung schlicht verschlafen habe. Wenn diese Forschungsabstinenz der Industrie dazu führt, dass wieder mehr Studien aus staatlichen Quellen finanziert werden, dann würde damit vermutlich auch die Wahrscheinlichkeit einer Kurskorrektur zunehmen. Es ist allerdings fraglich, ob dies ausreicht.
- Da die Zahl von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen beständig wächst, steigen natürlich auch die Behandlungskosten. Zumindest bei uns in Deutschland wird aber auf Seiten der Krankenkassen kein ernstliches Bemühen erkennbar, diese durch eine effizienzsteigernde Kurskorrektur zu senken. Über die Gründe für diese Zurückhaltung mag man rätseln. Generell gilt ja, dass Leute, deren Macht, Ansehen und ggf. Einkommen in dem Maße zunimmt, in dem die von ihnen verausgabten Mittel anwachsen, tendenziell wenig Interesse daran haben, auf die hier relevante Variable zu ihren Ungunsten einzuwirken. Ich rechne nicht damit, dass von dieser Seite ein Reformdruck in die richtige Richtung ausgeübt wird. Seit vielen Jahren ist beispielsweise bekannt, dass man in der medizinischen Rehabilitation der so genannten Abhängigkeitskranken, ohne fachliche Effizienzeinbuße, sehr viel Geld sparen könnte, wenn man dort (a) die Zahl der Psychiater und psychologischen Psychotherapeuten erheblich reduzieren würde, und zwar (b) zugunsten der Zahl der Sozialarbeiter und der semi-professionellen Helfer, und wenn man (c) flankierend Selbsthilfeansätze stärker fördern würde. Ich überlasse die Beantwortung der Frage, warum dort dennoch nichts geschieht, der Fantasie des Lesers.
- Abgesehen von vereinzelten liberalen Stimmen, ist der politische Druck auf die Psychiatrie gering. Daran wird sich vermutlich auch solange nichts ändern, wie die Medien weiterhin das Hohelied der Psychiatrie singen und allenfalls dann Missstände thematisieren, wenn sie sich partout nicht mehr vertuschen lassen. Über die Gründe der Abneigung der Medien, in diesem Bereich kritischem oder gar investigativem Journalismus Raum zu bieten, mag man spekulieren, wenn einem das Offensichtliche zu profan ist. Man sieht allerdings auch, dass die Politik durchaus unter Druck geraten kann, wenn einzelne Medien, wie im Fall Gustl Mollath, beispielsweise den psychiatrisch-juristischen Komplex aufs Korn nehmen. Dass solche Einzelfälle allerdings auf Dauer eine grundlegenden Kurskorrektur begünstigen könnten, halte ich für fraglich.
- Aus meiner Sicht ist eine Wendung zum Besseren nur möglich, wenn die Hilfe für Menschen mit psychischen Problemen nicht mehr, wie bisher, im Rahmen eines medizinischen Krankheitsmodells konzipiert wird, sondern auf Grundlage empirisch psychologischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Weil menschliches Verhalten und Erleben maßgeblich durch Umwelteinflüsse beeinflusst wird, die zeitlebens auf die Individuen einwirken, darum muss man seelische und soziale Probleme auch im gesellschaftlichen Kontext verstehen und Maßnahmen zur Überwindung dieser Probleme auf die konkreten Lebensbedingungen des Individuums zuschneiden. Es ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass die Psychiatrie diese Kurskorrektur vollzieht, weil die Kräfte, die sie in diese Richtung drängen, nicht stark genug sind und auf absehbare Zeit auch schwach bleiben werden – und dies, obwohl die fachlichen und wirtschaftlichen Vorteile auf der Hand liegen. Die Psychiatrie wehrt sich mit Klauen und Zähnen gegen eine vernünftige Lösung; lieber würde sie sich in pure Neurologie auflösen, als auch nur einen Meter des ärztlichen Reviers preiszugeben. Wenn alle Stricke reißen, muss das Volk sich wehren, allein, auch darauf sollte man nicht hoffen. Das Volk ist mehrheitlich durch Blödzeitung und Trash-TV mental deformiert und weder in der Lage, noch willens, sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen oder gar die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
PS: Manche werden sich vielleicht fragen, warum ich bei meinen Thesen die Vergangenheit ausgeklammert habe. Dabei stellt sich allerdings die Anschlussfrage, ob es eine psychiatrische Vergangenheit gibt, die sich qualitativ so sehr von der Gegenwart unterscheidet, dass aus einer differenzierten Betrachtung Entwicklungslinien in die Zukunft extrapoliert werden könnten.
Da bin ich mir zur Zeit noch nicht sicher. Im Moment habe ich eher das Gefühl (es ist aber tatsächlich nur ein Gefühl), dass es, im qualitativen Sinn, weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft der Psychiatrie gibt, sondern dass sie, seit ihrer Geburt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, im Zustand ewiger Gegenwart verharrt, sich im Kreise drehend, im Zentrum der Macht um sich selbst kreiselnd.
The post Zehn Thesen zur Lage der Psychiatrie appeared first on Pflasterritzenflora.