Gustl Mollath – eine magische Geschichte
Wenn es die Aufgabe eines Autors ist, mit ein paar dürren Worten Geschichten in den Köpfen seiner Leser in Gang zu setzen, dann hätte er mit “Mollath, Gustl Mollath” heutzutage sein Soll schon übererfüllt.
Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass ein “Psychiatriepatient” in Deutschland jemals so populär war wie dieser Mann. Es dürfte nicht allzu viele Menschen geben, denen zu diesem Namen nicht eine Menge einfällt: Schwarzgeld, Banken, Justiz, Bayern und die Schattenwelt jenseits psychiatrischer Fassaden.
Es ist durchaus gut so, dass Mollath populär ist. Öffentliches Interesse, gar Empörung, macht Druck, Druck in die richtige Richtung: Freiheit für Gustl Mollath, allein: Was dann? Dann wird sich die Menge der Wutbürger in alle Winde zerstreuen, um sich zu anderen, vergleichbaren Anlässen mit neuen Transparenten wieder zusammenzufinden. Symbolisch gesprochen, sitzt Gustl Mollath heute in einer Art Big-Brother-Container der Psychiatrie und es wird ihm vermutlich, was das öffentliche Interesse betrifft, so ergehen wie manchem Helden aus dem Trash-TV, sobald er aus diesem Behältnis entlassen wird (was hoffentlich bald geschehen möge).
Seitdem ich zum ersten Mal etwas vom Fall Gustl Mollaths erfuhr, bin ich mir nicht mehr sicher, ob meine gegenwärtige Gemütsverfassung, erst einmal öffentlich gemacht, im Freistaat Bayern nicht ein ausreichender Grund sein könnte, mich wegen Paranoia in eine geschlossene psychiatrische Anstalt einzuweisen. Ist es denn nicht wahnhaft zu glauben, dass man hierzulande u. U. als verrückt und gemeingefährlich gilt, wenn man Kenntnis von Tatsachen hat, an deren Verbreitung den Reichen und Mächtigen nicht gelegen ist? Muss man damit rechnen, dass sich immer Gutachter und Richter finden, die einen Menschen für verrückt erklären, wenn er nicht die Klappe hält?
Wer tatsächlich noch nichts von Gustl Mollath gehört haben sollte, kann sich auf der Website “Gustl for help” ausführlich informieren. Im Blog der Staaatsanwältin a. D. und Krimiautorin Gabriele Wolff findet sich eine mehrteilige, luzide und umfassende Analyse dieses Falls.
Selbstverständlich betone ich nachdrücklich, dass ich mich von den Inhalten dieser Websites entschieden distanziere und dass ich selbstverständlich eine Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich ausdrücklich jede psychiatrische Diagnose oder Behandlung untersage.
Es mag ratsam sein, lieber Leser, vor dem Anklicken der Links zu den genannten Websites – sofern noch nicht geschehen – eine Patientenverfügung mit vorsorglichen Festlegungen bezüglich psychiatrischer Diagnosen und Behandlungen auszufertigen. Unterschrift nicht vergessen! Nach der Lektüre mag man diesen Impuls sehr stark verspüren, aber dann kann es schon zu spät sein. Wer kann denn so genau wissen, ob Psychiater nicht inzwischen mit ihren Computertomographen herausgefunden haben, dass kritisches Denken im Übermaß zur Paranoia führt und zuvor harmlose Zeitgenossen gefährlich macht?
Ich empfehle Ihnen nicht, die Website “Gustl for help” und das Blog Gabriele Wolffs aufzusuchen und gründlich zu studieren, weil ich Ihnen, sofern Sie diese in sich verspüren, die gute Laune verderben möchte – sondern weil diese Netzorte Ihnen einen herrlichen Ausblick auf den blauen Himmel, das Alpenpanorama, die Königsschlösser unseres wunderbaren Bayernlandes gewähren.
Wo die Obrigkeit noch gütig ist – Impressionen aus dem Lande Gustl Mollaths
Schließen Sie Ihre Augen und schauen Sie, wie ein Gebirgsbach in der Sonne glitzert und hören Sie mit ihrem inneren Ohr, wie er plätschend zu Tale stürzt. Wenn Sie aber stattdessen nur eine mit NATO-Draht gesicherte Anstalt sehen und das Klappern von Blechnäpfen hören, dann sollten Sie von einem Urlaub in Bayern absehen. Wem nicht zu helfen ist, dem ist eben nicht zu helfen.
Wenn Ihnen jedoch nicht der Sinn nach Alpenromantik oder Schickimicki in München steht, sondern vielmehr nach einer zünftigen Geisterbahnfahrt, dann sollten Sie zur Einstimmung folgenden Brief der Menschenrechtsbeauftragten der Bayerischen Landesärztekammer, Maria Fick lesen. Danach kann die wilde Fahrt mit vollem Schwung und juchhe beginnen. Wundern Sie sich nicht, wenn die Bahn durch unerwartete Örtlichkeiten rauscht, wie beispielsweise durch einen Teppichladen. Diese Geisterbahn bietet mehr Überraschungseffekte, als sie sich alpträumen lassen.
Manche werden nun vielleicht meinen, mit psychiatrischen Diagnosen und Gutachten verhalte es sich nun einmal so wie mit allen Dingen in unserer fehlbaren Welt, es gäbe solche und solche, gute und schlechte. Dies mag sein. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass alle psychiatrischen Gutachten durch die Bank und ausnahmslos subjektiv sind. Sie spiegeln die Meinung des Gutachters wieder. Die Psychiatrie verfügt nicht über objektive Methoden, um eine “psychische Krankheit” oder die Gefährlichkeit eines Menschen festzustellen.
Und so mag es auch nicht erstaunen, dass im Falle Gustl Mollaths Psychiater zu einander völlig entgegengesetzten Auffassungen gelangt sind. Nun ja, man muss halt nicht immer einer Meinung sein. Schauen Sie sich beispielsweise dieses Objekt an. Würden Sie mir ernsthaft widersprechen, wenn ich behaupten würde, dass es sich bei diesem Objekt um einen Saustall handelt. Na, sehen Sie. Jetzt sind Sie sich auch nicht mehr so sicher.
Die gefährlichen Gefährlichkeitsprognostiker
Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme der empirischen Forschung zur Prognose der Gewaltneigung bei psychisch Kranken kommt der Soziologe Günter Albrecht, ein emeritierter Professor der Universität Bielefeld, zu einem überaus bemerkenswerten Schluss:
“Angesichts der oben dargelegten, ganz erheblichen Fehleranfälligkeit von Prognosen müsste der Prognostiker eigentlich alle entsprechenden Probanden für gefährlich erklären, wenn er nicht in einem Sinne irren will, den ihm die Öffentlichkeit oder die Justiz vorwerfen könnte. Wenn der Gesetzgeber dem Prognostiker bei seiner statistischen Prognose nicht bestimmte, nicht zu gering zu veranschlagende Irrtumswahrscheinlichkeiten einräumt, kann dieser nur durch eine äußerst restriktive/repressive Prognosepraxis reagieren. Dann aber stellt sich die Frage, wer uns vor der Gefährlichkeit der Gefährlichkeitsprognostiker schützt, denn die Prognostiker stehen selbst durch diese Gesetzgebung und die Hysterie in der Öffentlichkeit unter schwerstem Druck (…), teilweise mit fatalen Folgen (…).” (1)
Wer schützt uns eigentlich vor der Gefährlichkeit der Gefährlichkeitsprognostiker? Nehmen wir einmal an, Gustl Mollath habe tatsächlich seine Frau in einer krisenhaften, emotional aufgeheizten Situation geschlagen und gewürgt (was ich hiermit keineswegs unterstellen will, beileibe nicht, im Gegenteil), woher wollen denn diese Gefährlichkeitsprognostiker, die für seinen Verbleib in der geschlossenen Psychiatrie plädieren, eigentlich wissen, dass er nach wie vor gefährlich sei?
Der Fall Mollath ist nur ein Beispiel für viele ähnlich gelagerte Fälle. Die psychiatrische Prognostik und Diagnostik gehört auf den Prüfstand, grundsätzlich. Seit rund vierzig Jahren lese ich wissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit diesem Themenkomplex beschäftigen, und bei mir jedenfalls hat sich um Lauf der Jahre der zunächst vage Eindruck verdichtet, dass es sich hier um ausgesprochenen Hokuspokus handelt, der auch nicht durch Abrakadabra aus der Welt geschafft werden kann.
In einem Interview sagte unlängst die bayerische Justizministerin Beate Merk klipp und klar, die Unterbringung Gustl Mollaths beruhe darauf, dass er gefährlich sei. Es fragt sich nur, aus meiner Sicht: Für wen? Und warum eigentlich? Sogar die Bank, für die Mollaths Ehefrau tätig war, hat doch inzwischen eingeräumt, dass seine Vorwürfe nicht von der Hand zu weisen seien. Und auch von der Psychiatrie weiß die Wissenschaft bekanntlich schon längst, dass deren Gefährlichkeitsprognosen nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Für wen also könnte ein nicht mehr in der Psychiatrie einsitzender Gustl Mollath gefährlich werden? Wodurch? Womit?
Stellen Sie sich vor, lieber Leser, sie hätten ein paranoides Denksystem über Schwarzgeldschiebereien entwickelt und würden sich deswegen fürchterlich aufregen. Das muss nicht sein! Schwuppdiwupp, ab zum Arzt und eine passende Pille geschluckt, und alles ist wieder normal. Dann müssen Sie deswegen auch nicht in die Klinik und wenn doch, dann nur ganz kurz. Ist das nicht schön? Gut, dass es nicht nur Wahrheits-, sondern auch Unwahrheitsdrogen gibt. Das erspart eine Menge Ärger.
“‘Wahrheit’ ist ein substantivisches Titelwort, das zum Bedeutungswort ‘wahr’ gehört und seine Gebräuche überschreibt.”
Dieser Satz stammt nicht aus einem psychiatrischen Lehrbuch, sondern aus Sandkühlers Enzyklopädie der Philosophie (2). Diese Aussage würde aber auch sehr gut in ein psychiatrisches Lehrbuch passen, denn wie uns ja gerade der Fall Mollath so eindrucksvoll vor Augen führt, kommt es stets darauf an, beim Aussprechen einer Wahrheit nicht die Gebräuche außer Acht zu lassen.
Gustl Mollath – im Mahlwerk der Gebräuche
Wir in Bayern legen besonderen wert auf die Gebräuche. Wenn da einer kommt und meint, ihn gingen die Gebräuche nichts an, aber hallo! Da macht der Bayer selbst vor einem König nicht halt. Am 8. Juni 1886 früh morgens beendete der hochmögende Direktor der Kreisirrenanstalt von Oberbayern, Kreismedizinalrat Dr. Bernhard von Gudden, seines Zeichens auch Professor der Psychiatrie, sein Gutachten über Hochwohlgeboren, Ludwig II., König der Bayern. Der König, so befand der Gelehrte, leide an Paranoia und sei unheilbar krank. Durch die Krankheit sei die freie Willensbestimmung Ihro Majestät ausgeschlossen. Er müsse zwangseingewiesen werden. (3)
Dass der König einem Mächtigen im Wege stand, nämlich dem bayerischen Ministerpräsidenten und seinem Kabinett, spielte bei dieser wissenschaftlichen Diagnose selbstverständlich keine Rolle. Und da wir in Bayern auf Tradition achten, ist uns diese Unabhängigkeit der Psychiatrie von der Staatsgewalt bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.
Dem König wäre wohl ein anderes, ein besseres Schicksal beschieden gewesen, wenn er, bevor er seine Wahrheiten aussprach oder zu Papier brachte, bayerische Gebräuche bedacht und beachtet hätte. Und was für einen großen König gilt, das trifft selbstredend auch auf einen kleinen Autoschrauber zu. Psychotisch ist, wer die Realität verkennt, und zur Realität gehören nun einmal auch die Gebräuche, und dies ganz besonders in Bayern.
Oft werden die Bayern wegen ihrer Treue zum Brauchtum belächelt. Lasst sie lachen. Mir san mir. Denkt euch: Nun will Europa gar den Schnupftabak verbieten! Gut, dass wir die FDP haben. „Solche rigiden Verbote sind mit dem bayerischen Lebensgefühl nicht vereinbar“, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der bayerischen FDP, Dr. Otto Bertermann, „wir müssen jetzt schnell handeln, um unser bayerisches Brauchtum vor Bevormundung und Gleichmacherei aus Brüssel zu schützen.”
Unsere Bundesjustizminsterin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist ja auch in der FDP und stammt aus Bayern. So habe ich das bisher noch nicht gesehen, aber mir drängt sich zunehmend der Verdacht auf, dass Brauchtumsschutz zum Rundum-Sorglos-Paket der Liberalen gehört. An bayerisch-liberalem Wesen soll Deutschland genesen. Anders jedenfalls kann ich mir ihre Haltung zur Zwangsbehandlung angeblich psychisch kranker und mutmaßlich für sich selbst oder andere gefährlicher Menschen nicht erklären.
Ein Richter erkundigt sich
In einer Eidesstattlichen Versicherung schreibt der Richter i. R. Rudolf Heindl:
“Ich habe Erkundigungen eingeholt und folgende Hinweise bekommen:
Die Einzelfälle, aus denen sich die von Gustl Mollath angezeigte Bankentätigkeit zusammensetzt, betreffen Persönlichkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens der Stadt Nürnberg und der Region, die der CSU nahe stehen oder in ihr Mitglied sind. Die Aufdeckung der illegalen Strukturen würde die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Nürnbergs und Bayerns schwer erschüttern.
Aus diesem Grund ist die Anzeige von der Staatsanwaltschaft Nürnberg – Fürth aufgrund einer Anordnung, die ihr aus der Politik zugegangen ist, unterdrückt worden.”
Die Eidesstattliche Versicherung, aus der dieses Zitat stammt, ist mit dem 04. März 2010 datiert. Den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen kann ich selbstverständlich nicht beurteilen und enthalte mich einer Stellungnahme dazu – auch im Vertrauen darauf, dass sich der Leser, in Würdigung der bekannt gewordenen Fakten, auch ohne meine Schützenhilfe ein eigenes Urteil zu bilden vermag (und dieses ggf. für sich behält).
Wenn mir da nichts Wesentliches entgangen sein sollte, so ist das einzige, was die Gegenseite zur Erklärung Heindls vorzubringen wusste, der Hinweis darauf, dass der Richter kurzzeitig einmal Mitglied bei den Republikanern war.
Die Eidesstaatliche Versicherung Heindls steht inzwischen leider nicht mehr auf der Website Gustl-for-help zum Download zur Verfügung, wo ich sie vor einigen Monaten entdeckte. Auch eine Erklärung zu seiner kurzfristigen Mitgliedschaft bei den Republikanern ist dort nicht mehr zu finden. Auf der Website abgeordnetenwatch.de nimmt der ehemalige bayerische Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein auf diese Eidesstattliche Erklärung Bezug und schreibt u. a.: “… die Behauptungen von Ri a.D. Heindl , die mich betreffen, sind pure Lüge.”
Man sollte diese Dinge wohl besser auf sich beruhen lassen, bis Gustl Mollath endlich frei ist; jetzt unnötig Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, wäre vermutlich nicht zielführend. Mit ist bewusst, dass nun mancher Leser nach “+Heindl +Unterstützerkreis” googlen wird, aber ich vertraue darauf, dass sich auch diese Neugierigen klarmachen, was auf dem Spiel steht. Aufgeschoben ist, so sagt der Volksmund, nicht aufgehoben.
Gutachten – Schlechtachten
Die Umstände des Falles “Gustl Mollath” sind so dubios, dass sich inzwischen auch einige Psychiater und Psychologen kritisch zu Wort melden. Sie unterstellen den psychiatrischen Gutachten in Sachen Mollath Formfehler, bezeichnen sie als “Schlechtachten”.
Das ist natürlich, mit Verlaub, haarsträubender Unfug. Die Gutachten, die Gustl Mollath für verrückt und gefährlich erklären, sind genauso gut oder schlecht wie die ebenfalls vorhandenen Gutachten, die zum gegenteiligen Schluss kommen. Die so genannte Wissenschaft der Psychiatrie besitzt nämlich im Wirklichkeit keinerlei solide wissenschaftliche Grundlage, um das eine oder das andere behaupten zu können. Die entsprechenden Gutachten sind subjektiv, bloße, nicht begründbare Meinung, also pure Willkür. Dass diese psychiatrischen Fantasien Tatsachen schaffen, wenn Richter sie ernst nehmen, steht auf einem anderen Blatt.
Das Urbild aller Systeme psychiatrischer Diagnostik ist der “Hexenhammer”. Dieses 1486 veröffentliche Kompendium sollte die Hexenverfolgung auf eine seriöse theologische Grundlage stellen. Es enthält detaillierte Beschreibungen, woran Hexen zu erkennen, wie sie (hochnotpeinlich) zu befragen, abzuurteilen und hinzurichten seien. Die grundlegende Gemeinsamkeit des Hexenhammers mit den heutigen psychiatrischen Handbüchern und Leitfäden besteht darin, dass letztere ebenso auf einem Mythos beruhen wie das Werk der Mönche Kramer und Sprenger.
Ebenso wenig wie es Hexerei und Hexen gibt, existieren psychische Krankheiten und psychisch Kranke außerhalb des Reiches der Fantasie. Damals wie heute gab es starke gesellschaftliche und individuelle Interessen, Menschen auszugrenzen, zu diffamieren, zu vernichten. Damals wurde dies dämonologisch gerechtfertigt, heute psychiatrisch. Damals wie heute wurden Menschen nicht völlig willkürlich als Hexen bzw. psychisch Kranke gebrandmarkt. Vielfach eckten die Menschen, die es traf, durch ihr Verhalten an oder sie bezeichneten sich selbst als “Hexen” oder “psychisch Kranke”.
Aber auch wenn Hexen unter Folter oder psychisch Kranke unter den Schlägen chemischer Keulen eingeräumt haben, dass es ihnen recht geschehe, so gibt es dennoch keinen vernünftigen wissenschaftlichen Grund, die Existenz von Hexerei oder psychischer Krankheit anzuerkennen.
Und so ist es, wissenschaftlich betrachtet, auch falsch zu behaupten, Gustl Mollath sitze als einzig gesunder unter lauter psychisch Kranken ein. Seine Mitpatienten sind alle gesund, soweit sich dieser Begriff auf ihren Geisteszustand beziehen sollte. Sie schmachten dort hinter den Gittern der Psychiatrie, weil sie gegen geschriebene oder ungeschrieben Gesetze verstoßen haben und weil ihr Verhalten Rätsel aufgab.
Gustl Mollath war in seinen besten Zeiten, wie in der Presse nachzulesen ist, ein Mitglied der “höheren Gesellschaft” Nürnbergs. Wenn es tatsächlich dieses Wespennest geben sollte, das Richter Heindl beschrieben hat, dann wäre es durchaus rätselhaft, warum ein Mensch wie Gustl Mollath gegen ein ungeschriebenes bayerisches Gesetz verstößt und in ein solches Wespennest sticht. Da darf man sich dann nicht wundern, wenn man sich in der geschlossenen Psychiatrie wiederfindet.
Es gibt immer zwei Formen der Apologetik unhaltbarer Zustände, die direkte und die indirekte. Die direkte Apologetik der Psychiatrie leugnet die Missstände und verklärt die Resultate ihrer Tätigkeit zu Wohltaten. Die indirekte leugnet die Missstände nicht, bezeichnet sie jedoch als unvermeidlich. Man müsse sie in Kauf nehmen, weil sonst alles noch viel schlimmer würde. So werden Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung bis hin zum absichtlichen Zufügen von Schmerz zur Verhaltenskorrektur “verkauft”.
Die Meister der Apologetik verwenden beide Formen, meist mit verteilten Rollen. Der Grund dafür besteht darin, dass Idealisten besser auf die direkte, Realisten aber besser auf die indirekte Form der Apologetik ansprechen. Doch diese Strategie hat auch Grenzen. Der Fall “Gustl Mollath” macht diese deutlicher als jeder andere zuvor. Die direkte Apologetik ist lächerlich, denn dass hier etwas faul ist, kann niemand mit Aussicht auf Erfolg bestreiten. Und auch die indirekte Apologetik, die Behauptung also, dass Unterbringungen, wie beklagenswert sie im Einzelfall auch sein möchten, in höherem Interesse von Volk und Staat zu geschehen hätten, verfängt allenfalls bei jenen, die gar nicht überzeugt werden müssen.
Obwohl ich ihm sein Schicksal nicht gönne und ihm alsbaldige Freilassung wünsche, hat Gustl Mollath, teilweise unfreiwillig als Opfer einer Maschinerie, aber auch dank seines unermüdlichen Kampfes, der Psychiatriekritik einen wesentlichen Dienst erwiesen, der ihn beinahe gleichrangig an die Seite des berühmten Psychiaters Gert Postel stellt. So wie Gert Postel, nicht als Individuum, aber durch die Rolle, die er in psychiatrischen Zusammenhängen freiwillig spielte, das Wesen des Psychiaters verkörperte, so bringt Gustl Mollath, nicht als Individuum, sondern durch die Rolle, die er in psychiatrischen Zusammenhängen zu spielen gezwungen ist, das Wesen des Psychiatriepatienten zum Ausdruck.
Der Stellvertretender Gutachter für Erklärungen
Nachdem ich eine Weile, mit den Beinen auf dem Schreibtisch, in einem Roman von William S. Burroughs geschmökert habe, nun aber wieder, in gewohnt straffer, militärischer Haltung, vor dem Bildschirm sitze, überlege ich mir, ob mir der Leser wohl die Behauptung abkaufen wird, dass ich ganz zufällig auf folgende Textstelle stieß, die sich in dem wohl berühmtesten Roman des Autors (“Naked Lunch”) findet:
“Verhaftung bedeutete ‘Vorbeugehaft’; d. h. der Häftling kam erst dann wieder frei, wenn er eine ordnungsgemäß unterschriebene und abgestempelte ‘Erklärung’ beibringen konnte, die vom ‘Stellvertretenden Gutachter für Erklärungen’ ausgestellt sein musste. Da dieser Beamte aber so gut wie nie in seinem Büro anzutreffen war und ihm die ‘Erklärung’ persönlich zur Unterschrift vorgelegt werden musste, verbrachten die Antragsteller oft Wochen und Monate in ungeheizten Wartezimmern, die weder über Stühle, noch eine Toilette verfügten.”
Er hat lange auf sich warten lassen. Wird der stellvertretende Gutachter für Erklärungen nun endlich in sein Büro zurückkehren und die seit Jahren überfällige Unterschrift leisten? Der Gestank ist unerträglich.
Vielleicht wird demnächst ein deutsches Gericht einräumen müssen, dass Gustl Mollath weder psychisch krank, noch für seine Mitmenschen oder sich selbst gefährlich ist und dass er auch die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht begangen hat. Die Medien werden dann von einem Versagen der Justiz sprechen, dass nun endlich korrigiert wurde. Sie werden von aberwitzigen forensischen Gutachten sprechen und von psychiatrischen Fehlleistungen.
- Was wir aber nicht lesen werden, ist – die Wahrheit. Nämlich: Dass sich psychiatrische Diagnostik und Prognostik generell auf dem Niveau der Glaskugelschau bewegt und dass wir uns an einem neuralgischen Punkt unseres Rechtssystems grundsätzlich schiere Esoterik leisten, sogar mit Gurus.
- Was wir aber nicht lesen werden, ist – die Wahrheit: Dass die Menschenrechte hinter den Gittern der Psychiatrie in Richtung Tierschutz tendieren. Dass man in unserem Land nirgendwo brutaler der Willkür und dem Wohlwollen anderer Menschen ausgeliefert ist als dort.
Wer erinnert sich heute noch an Vera Stein, an Eberhart Herrmann - um nur zwei Beispiele zu nennen. Und vor allem: Wer denkt an Herrn X und Frau Y, die hier und heute hinter psychiatrischen Gittern schmachten, in psychopharmakologischen Ketten liegen? Herr X und Frau Y sind nicht prominent und ihre Zahl ist Legion. Ihre Namen sind unbekannt und sie setzen keine Geschichten in den Köpfen der Leser in Gang. Sie haben meist keine Freunde, kaum jemand interessiert sich für sie.
Gustl Mollath freilich hat heute viele, viele Freunde, die Anteil an seinem Geschick nehmen. Ob es sich dabei um wahre Freunde handelt, muss sich erst noch erweisen, man darf da Zweifel haben. Sogar Psychiater und Psychotherapeuten zählen dazu. Sie kritisieren Verantwortliche, auch, man staune, Leute aus ihrer eigenen Zunft. Als es um Herrn X und Frau Y ging, sind sie mit einem vergleichbaren Engagement allerdings nicht aufgefallen.
Polemisches Manipulieren für den Rechtsstaat
Manche werfen mir vor, polemisch zu sein; meine Sprache sei manipulativ, ich sei gar ein Demagoge. Selbstverständlich wähle ich meine Worte mit Bedacht: Polemik und krasse Manipulation sorgen für Aufregung in den Gemütern, sie verursachen Stress – und dass – so hoffe ich – macht die mentalen Filter durchlässiger für Mitteilungen über die Schicksale von Herrn X und Frau Y.
- Herr X beispielsweise ist ein so genannter chronischer Alkoholiker; er sitzt wider Willen in einem Heim, in dem er Gänse hüten darf (diese Form der Zwangsarbeit nennt man Arbeitstherapie). Mit den Gänsen werden hochgestellte Persönlichkeiten beglückt, um sie gewogen zu stimmen. Er liebt seine Gänse, sonst hat er ja nichts. Es bricht ihm jedes Mal das Herz, wenn sie geschlachtet werden. So geht das Jahr um Jahr.
- Frau Y ist “schizophren”. Sie lebt allein, die Kinder haben sie vergessen. Manchmal sitzt sie mitten in der Nacht im Treppenhaus und unterhält sich sanft mit Engeln oder streitet lautstark wider die Dämonen. Das macht sie natürlich gefährlich und hin und wieder greift die Psychiatrie zu, wenn gerade noch Plätze frei sind. In der Anstalt kümmert man sich dann um sie, in Form von Spritzen oder durch das fürsorgliche Anlegen von Gurten.
Gern räume ich ein, dass die Geschichten, die ich über Herrn X und Frau Y zu erzählen weiß, nicht besonders spannend sind. Von Schwarzgeld kann keine Rede sein, nur von krasser Armut. Hochgestellte Persönlichkeiten sind nicht als Steuerhinterzieher, sondern allenfalls via “Gänse-Bestechung” involviert. Mit Herrn X oder Frau Y verbinden sich keine guten Stories, sie stehen für das Namenlose, das nicht Greifbare, sie haben keine Identität, sogar ihr hier vorgetragenes Geschick ist zum Zwecke der Illustration frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Institutionen wären rein zufällig.
Real aber sind Zwangsdiagnose, Zwangseinweisung, Zwangsbehandlung. Dank Gustl Mollath hat psychiatrische Willkür ein Gesicht bekommen, zumindest vorübergehend. Ob Herr X und Frau Y davon profitieren werden, ist fraglich. Vielleicht sind sie sogar glücklich mit ihrem Schicksal, wer weiß? Schließlich, so könnte man argumentieren, leistet nur eine kleine, verlorene Schar Widerstand. Und das mag man sogar als beruhigend empfinden, als Hinweis darauf, dass für Herrn X und Frau Y halbwegs zufriedenstellend gesorgt sei, mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin.
So also, lieber Leser, stellen Sie sich einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat mit sozialstaatlicher Verpflichtung vor? Klar, die Geschichte mit Mollath, so etwas natürlich hätte der Staat nicht machen dürfen, aber ansonsten ist doch alles in Ordnung? Weiter so?
Freiheit für Gustl Mollath, Herrn X und Frau Y!
Anmerkungen
(1) Albrecht, G. (2003). Probleme der Prognose von Gewalt durch psychisch Kranke. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (Journal of Conflict and Violence Research), Vol. 5, 1, 97-126
(2) Sandkühler, H. J. (Hrsg.) (1999). Enzyklopädie Philosophie, Band 2, Seite 1712
(3) Szasz, T. (1980). Recht, Freiheit und Psychiatrie. Auf dem Weg zum therapeutischen Staat? Fischer: Frankfurt am Main, Seite 71 ff.
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