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Doppelt verschanzter Dogmatismus

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Am 22. August 2012 veröffentliche die österreichische Zeitung der Standard eine Interview mit dem Kriminalpsychiater Hans-Ludwig Kröber zum Fall “Breivik.” Ich zitiere einen Auszug:

“Kröber: … In diesem Fall geht es um eine Person, die ein großes Interesse daran hat, als normal zu gelten. Das kommt bei Psychosekranken nicht selten vor, dass sie ihre Krankheit bestreiten. Sie erleben alles in einem für sie normalen Zustand, ihrer Meinung nach agieren die anderen ein bisschen schräg.
Wenn die Person also ein taktisches Interesse hat, sich dementsprechend zu äußern, kann es sehr schwer werden, die Informationen aus ihm herauszubekommen, wie denn sein subjektives Erleben aussieht. Und Psychiatrie befasst sich nun einmal in großem Umfang mit subjektivem Erleben, wenn jemand beispielsweise Stimmen hört oder Wahngedanken hat. All das findet im Inneren statt, und wir erfahren davon nur, wenn sich der Betreffende äußert.”

Kröber sagt also, kurz gefasst, Folgendes:

  1. Vom Stimmenhören und Wahngedanken erfahren wir nur, wenn sich die Person entsprechend äußert.
  2. Psychosekranke neigen dazu, ihre Krankheit zu bestreiten.

Wenn Kröber nur von einem Patienten selbst erfahren kann, dass er eine Psychose hat, wie will er dann wissen, dass er sie dennoch hat, obwohl er sie bestreitet?

Nehmen wir einmal an, ein Verbrechen sei geschehen. Keine Zeugen, keine Indizien, nichts. Allerdings auch kein Alibi. Nur der Angeklagte kann wissen, ob er die Tat begangen hat, das Opfer ist tot. Der Angeklagte betont, er sei unschuldig. Nun sagt der Richter: “Angeklagte neigen dazu, ihre Tat zu bestreiten. Deswegen verurteile ich Sie wegen Mordes.”

Um Kröbers Aussage angemessen würdigen zu können, muss man sich vor Augen halten, dass es keine objektiven medizinischen Verfahren gibt, um eine Psychose zu diagnostizieren. Keine Biomarker deuten auf eine “Krankheit” namens Psychose hin.

Niemand, niemand, lieber Leser, hat ein Alibi. Wir alle können für psychotisch erklärt werden. Was, sagen Sie, Sie verhielten sich völlig normal? Na und? Vielleicht dissimulieren Sie Ihre Krankheit ja nur, verstellen sich. Das kommt bei Leuten wie Ihnen nicht selten vor, dass Sie Ihre Krankheit bestreiten.

Kröber ist Professor für Forensische Psychiatrie und war in seiner Jugend, sofern man einem Wikipedia-Artikel Glauben schenken will, Mitglied in einer Organisation, in der – zumindest auf dem Papier – das dialektische Denken hoch im Kurs stand.

Aus dialektischer Sicht mag dies ja anders erscheinen, aber nach meinem Urteil ist die psychiatrische Diagnostik aufgrund des Begriffs der Dissimulation (Krankheitsverleugnung) eine Selbstimmunisierungsstrategie, die man mit Karl Popper als “doppelt verschanzten Dogmatismus” bezeichnen könnte.

  • Sie ist erstens dogmatisch, weil sie nicht auf objektiv überprüfbaren Fakten beruht, sondern auf subjektiven Bewertungen. 
  • Sie ist zweitens dogmatisch, weil sie nicht anhand der angeblichen Kriterien des subjektiven Urteils widerlegt werden kann. Schließlich kann, wenn der Diagnostizierte die als Grundlage der subjektiven Bewertung dienenden, beobachtbaren Verhaltensmuster nicht zeigt, immer eine Dissimulation unterstellt werden. “Dass Sie so vernünftig reden, beweist doch, wie verrückt Sie sind, sonst hätten Sie es doch gar nicht nötig, so zu tun als ob.”

Dies zeigt, dass die psychiatrische Diagnostik, gemessen an gängigen wissenschaftstheoretischen Kriterien, nichts mit Wissenschaft oder gar mit Naturwissenschaft tun hat. Es handelt sich vielmehr um eine strategische Etikettierung, die politische und wirtschaftliche Ziele verfolgt.

Damit will ich nicht behaupten, dass dies jedem Psychiater auch bewusst ist. Es fällt mir zwar schwer, mir vorstellen, dass man so etwas nicht bemerken kann, aber es soll ja Leute geben, denen das einfach nicht gegeben ist.

Eine Diagnose, die sich gegen Kritik immunisiert, kann keine wissenschaftliche sein. Denn der Motor jeder Wissenschaft ist die Kritik. Damit aber eine Diagnose kritisierbar sein kann, muss sie in einer überprüfbaren Form vorgetragen werden. Es muss also Kriterien geben, die unabhängig von Diagnostiker festgestellt werden können. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Diagnose nicht falsifizierbar und demgemäß ein Dogma.

Ich erinnere mich noch gut an meine Studentenzeit. Damals war der Kommunistische Bund Westdeutschlands sehr aktiv. Von Spöttern wurde er auch “KB Wichtig” genannt. Mitunter stritt ich mich mit seinen Anhängern. So warf ich einmal ein, Karl Marx habe gemeint, dass in der Übergangsphase zwischen Kapitalismus und Kommunismus der Staat absterben werde. Stalin aber habe behauptet, der Aufbau des Sozialismus würde durch die Stärkung der sozialistischen Staatsmacht gefördert. Dies sei doch ein Widerspruch. Mitnichten, hieß es. Nur: um dies zu verstehen, müsse man dialektisch denken können. Dies sei mir nicht gegeben.

Nein, danke. Meine Großmutter sagte gern: “Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!” Diese Art des dialektischen Denkens habe ich nie gelernt, und darum kann ich natürlich heute nicht mit jenen mithalten, die sie offenbar immer noch anwenden.

Karl Popper plädierte für eine freie Gesellschaft und meinte, Vertreter totalitärer Positionen hätten einen Hang zur Dialektik, die darin bestünde, logisch Widersprüchliches in einen Wust unverständlicher Sätze zu verpacken und diese mit ein paar Allgemeinplätzen zu würzen, damit der Leser den Eindruck habe, in einem so hochgeistigen Text auch einige Gedanken zu finden, die er auch schon einmal gedacht habe.

Nebenbei: Ich verhehle nicht, dass in Poppers Kritik viel Wahrheit steckt, aber dennoch schießt er hier übers Ziel hinaus. Dialektisches Denken hat seine Berechtigung, wenn es diszipliniert erfolgt. Hierzu empfehle ich die Werke Gotthard Günthers, z. B. “Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik”.

Wo war ich stehengeblieben, ach ja, Kröbers “Breivik”.

Kröber: Als Psychiater kann ich mir überhaupt nicht erklären, wie jemand, der dem Prozess beigewohnt und ihn auch selbst erlebt hat, ihn nicht für krank erklären kann.
Ich habe Teile der Gerichtsverhandlung gesehen. Und das hat mir gereicht, um zu sagen, da muss jemand jetzt viele gute Argumente anführen, damit ich ihn nicht zum Psychotiker erkläre. Verrückt ist eigentlich ein veralteter Begriff, aber er trifft es hier sehr exakt.
Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler hat als die drei Kernsymptome der Schizophrenie genannt: Autismus, Affekt- und Assoziationsstörung. Die ersten beiden Symptome sind bei Breivik frappierend ausgeprägt. Er lebt in einer anderen Welt, er ist wirklich verrückt. Er steckt hinter einer Glaswand, wir können ihn sehen, aber nicht erreichen. Und er uns auch nicht”

Kröber hat Teile der Gerichtsverhandlung gesehen – vermutlich eine Videoaufzeichnung. Er hat Breivik beobachtet. Aus seinen Beobachtungen hat er Schlussfolgerungen gezogen. Und zwar hat er aus seinen Beobachtungen auf ein überdauerndes Merkmal, eine Psychose geschlossen. Auf die Idee, dass Breivik Verhalten – zumindest zum Teil – auf seine besondere Situation und die Bedingungen einer Gerichtsverhandlung zurückzuführen sein könnte, also auf eine momentane Beeinflussung, ist er nicht gekommen. Es hat Kröber auch so gereicht.

Aber immerhin: Der Psychiater Eugen Bleuler hat drei Kernsymptome der Schizophrenie genannt. Zwei davon waren bei Breivik “frappierend ausgeprägt”. 

Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist das weltweit größte Forschungszentrum für psychische Störungen. Auf einer Web-Seite des NIMH heißt es:

“However, in antedating contemporary neuroscience research, the current diagnostic system is not informed by recent breakthroughs in genetics; and molecular, cellular and systems neuroscience. Indeed, it would have been surprising if the clusters of complex behaviors identified clinically were to map on a one-to-one basis onto specific genes or neurobiological systems. As it turns out, most genetic findings and neural circuit maps appear either to link to many different currently recognized syndromes or to distinct subgroups within syndromes.”

Kurz: Die Erkenntnisse der neueren neurowissenschaftlichen Forschung stimmen nicht im Geringsten mit den psychiatrischen Klassifikationssystemen wie ICD oder DSM überein. Punkt. Eugen Bleuler starb 1939.

Mit anderen Worten: Was auch immer das Verhalten Breiviks, das von Kröber beobachtet wurde, hervorgebracht haben mag: Es ist schon reichlich kühn, die Ursache dafür in einer Schizophrenie im Sinne der Beschreibung von Bleuler zu sehen.

Da ich Kröber nicht kenne, will ich ihm auch nichts unterstellen, weder dialektisches Denken, noch sonst irgendeine Form des Denkens oder gar irgendwelche Absichten bzw. das Fehlen derselben. Ich kann hier nur zu Protokoll geben, was mir bei seinem Interview sachlich bzw. fachlich auffällt und logisch nicht stimmig zu sein scheint.

Leser meines Tagebuchs haben vielleicht entdeckt, dass ich mich selbst an eine “Diagnose” der Seelenverfassung Breiviks gewagt habe. Dort komme ich zu dem Schluss, dass es sich bei ihn um einen voll verantwortlichen identitätsgestörten Psychopathen handelt. Besonders eifrige Leser der Pflasterritzenflora wissen natürlich auch, dass aus meiner Sicht Psychopathen keine “psychisch Kranken” sind.

Vielleicht hat Kröber ja recht und ich irre mich. Wir werden nie erfahren, was stimmt. Denn es gibt nun einmal keine objektiven Methoden, dies zu entscheiden.

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Nachdenken über Gustl Mollath

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Gustl Mollath – eine magische Geschichte

Wenn es die Aufgabe eines Autors ist, mit ein paar dürren Worten Geschichten in den Köpfen seiner Leser in Gang zu setzen, dann hätte er mit “Mollath, Gustl Mollath” heutzutage sein Soll schon übererfüllt.

Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass ein “Psychiatriepatient” in Deutschland jemals so populär war wie dieser Mann. Es dürfte nicht allzu viele Menschen geben, denen zu diesem Namen nicht eine Menge einfällt: Schwarzgeld, Banken, Justiz, Bayern und die Schattenwelt jenseits  psychiatrischer Fassaden.

Es ist durchaus gut so, dass Mollath populär ist. Öffentliches Interesse, gar Empörung, macht Druck, Druck in die richtige Richtung: Freiheit für Gustl Mollath, allein: Was dann? Dann wird sich die Menge der Wutbürger in alle Winde zerstreuen, um sich zu anderen, vergleichbaren Anlässen mit neuen Transparenten wieder zusammenzufinden. Symbolisch gesprochen, sitzt Gustl Mollath heute in einer Art Big-Brother-Container der Psychiatrie und es wird ihm vermutlich, was das öffentliche Interesse betrifft, so ergehen wie manchem Helden aus dem Trash-TV, sobald er aus diesem Behältnis entlassen wird (was hoffentlich bald geschehen möge).

Seitdem ich zum ersten Mal etwas vom Fall Gustl Mollaths erfuhr, bin ich mir nicht mehr sicher, ob meine gegenwärtige Gemütsverfassung, erst einmal öffentlich gemacht, im Freistaat Bayern nicht ein ausreichender Grund sein könnte, mich wegen Paranoia in eine geschlossene psychiatrische Anstalt einzuweisen. Ist es denn nicht wahnhaft zu glauben, dass man hierzulande u. U. als verrückt und gemeingefährlich gilt, wenn man Kenntnis von Tatsachen hat, an deren Verbreitung den Reichen und Mächtigen nicht gelegen ist? Muss man damit rechnen, dass sich immer Gutachter und Richter finden, die einen Menschen für verrückt erklären, wenn er nicht die Klappe hält?

Wer tatsächlich noch nichts von Gustl Mollath gehört haben sollte, kann sich auf der Website “Gustl for help” ausführlich informieren. Im Blog der Staaatsanwältin a. D. und Krimiautorin Gabriele Wolff findet sich eine mehrteilige, luzide und umfassende Analyse dieses Falls.

Selbstverständlich betone ich nachdrücklich, dass ich mich von den Inhalten dieser Websites entschieden distanziere und dass ich selbstverständlich eine Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich ausdrücklich jede psychiatrische Diagnose oder Behandlung untersage.

Es mag ratsam sein, lieber Leser, vor dem Anklicken der Links zu den genannten Websites – sofern noch nicht geschehen – eine Patientenverfügung mit vorsorglichen Festlegungen bezüglich psychiatrischer Diagnosen und Behandlungen auszufertigen. Unterschrift nicht vergessen! Nach der Lektüre mag man diesen Impuls sehr stark verspüren, aber dann kann es schon zu spät sein. Wer kann denn so genau wissen, ob Psychiater nicht inzwischen mit ihren Computertomographen herausgefunden haben, dass kritisches Denken im Übermaß zur Paranoia führt und zuvor harmlose Zeitgenossen gefährlich macht?

Ich empfehle Ihnen nicht, die Website “Gustl for help” und das Blog Gabriele Wolffs aufzusuchen und gründlich zu studieren, weil ich Ihnen, sofern Sie diese in sich verspüren, die gute Laune verderben möchte – sondern weil diese Netzorte Ihnen einen herrlichen Ausblick auf den blauen Himmel, das Alpenpanorama, die Königsschlösser unseres wunderbaren Bayernlandes gewähren.

Wo die Obrigkeit noch gütig ist – Impressionen aus dem Lande Gustl Mollaths

Schließen Sie Ihre Augen und schauen Sie, wie ein Gebirgsbach in der Sonne glitzert und hören Sie mit ihrem inneren Ohr, wie er plätschend zu Tale stürzt. Wenn Sie aber stattdessen nur eine mit NATO-Draht gesicherte Anstalt sehen und das Klappern von Blechnäpfen hören, dann sollten Sie von einem Urlaub in Bayern absehen. Wem nicht zu helfen ist, dem ist eben nicht zu helfen.

Wenn Ihnen jedoch nicht der Sinn nach Alpenromantik oder Schickimicki in München steht, sondern vielmehr nach einer zünftigen Geisterbahnfahrt, dann sollten Sie zur Einstimmung folgenden Brief der Menschenrechtsbeauftragten der Bayerischen Landesärztekammer, Maria Fick lesen. Danach kann die wilde Fahrt mit vollem Schwung und juchhe beginnen. Wundern Sie sich nicht, wenn die Bahn durch unerwartete Örtlichkeiten rauscht, wie beispielsweise durch einen Teppichladen. Diese Geisterbahn bietet mehr Überraschungseffekte, als sie sich alpträumen lassen.

Manche werden nun vielleicht meinen, mit psychiatrischen Diagnosen und Gutachten verhalte es sich nun einmal so wie mit allen Dingen in unserer fehlbaren Welt, es gäbe solche und solche, gute und schlechte. Dies mag sein. Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass alle psychiatrischen Gutachten durch die Bank und ausnahmslos subjektiv sind. Sie spiegeln die Meinung des Gutachters wieder. Die Psychiatrie verfügt nicht über objektive Methoden, um eine “psychische Krankheit” oder die Gefährlichkeit eines Menschen festzustellen.

Und so mag es auch nicht erstaunen, dass im Falle Gustl Mollaths Psychiater zu einander völlig entgegengesetzten Auffassungen gelangt sind. Nun ja, man muss halt nicht immer einer Meinung sein. Schauen Sie sich beispielsweise dieses Objekt an. Würden Sie mir ernsthaft widersprechen, wenn ich behaupten würde, dass es sich bei diesem Objekt um einen Saustall handelt. Na, sehen Sie. Jetzt sind Sie sich auch nicht mehr so sicher.

Die gefährlichen Gefährlichkeitsprognostiker

Nach einer umfassenden Bestandsaufnahme der empirischen Forschung zur Prognose der Gewaltneigung bei psychisch Kranken kommt der Soziologe Günter Albrecht, ein emeritierter Professor der Universität Bielefeld, zu einem überaus bemerkenswerten Schluss:

“Angesichts der oben dargelegten, ganz erheblichen Fehleranfälligkeit von Prognosen müsste der Prognostiker eigentlich alle entsprechenden Probanden für gefährlich erklären, wenn er nicht in einem Sinne irren will, den ihm die Öffentlichkeit oder die Justiz vorwerfen könnte. Wenn der Gesetzgeber dem Prognostiker bei seiner statistischen Prognose nicht bestimmte, nicht zu gering zu veranschlagende Irrtumswahrscheinlichkeiten einräumt, kann dieser nur durch eine äußerst restriktive/repressive Prognosepraxis reagieren. Dann aber stellt sich die Frage, wer uns vor der Gefährlichkeit der Gefährlichkeitsprognostiker schützt, denn die Prognostiker stehen selbst durch diese Gesetzgebung und die Hysterie in der Öffentlichkeit unter schwerstem Druck (…), teilweise mit fatalen Folgen (…).” (1)

Wer schützt uns eigentlich vor der Gefährlichkeit der Gefährlichkeitsprognostiker? Nehmen wir einmal an, Gustl Mollath habe tatsächlich seine Frau in einer krisenhaften, emotional aufgeheizten Situation geschlagen und gewürgt (was ich hiermit keineswegs unterstellen will, beileibe nicht, im Gegenteil), woher wollen denn diese Gefährlichkeitsprognostiker, die für seinen Verbleib in der geschlossenen Psychiatrie plädieren, eigentlich wissen, dass er nach wie vor gefährlich sei?

Der Fall Mollath ist nur ein Beispiel für viele ähnlich gelagerte Fälle. Die psychiatrische Prognostik und Diagnostik gehört auf den Prüfstand, grundsätzlich. Seit rund vierzig Jahren lese ich wissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit diesem Themenkomplex beschäftigen, und bei mir jedenfalls hat sich um Lauf der Jahre der zunächst vage Eindruck verdichtet, dass es sich hier um ausgesprochenen Hokuspokus handelt, der auch nicht durch Abrakadabra aus der Welt geschafft werden kann.

In einem Interview sagte unlängst die bayerische Justizministerin Beate Merk klipp und klar, die Unterbringung Gustl Mollaths beruhe darauf, dass er gefährlich sei. Es fragt sich nur, aus meiner Sicht: Für wen? Und warum eigentlich? Sogar die Bank, für die Mollaths Ehefrau tätig war, hat doch inzwischen eingeräumt, dass seine Vorwürfe nicht von der Hand zu weisen seien. Und auch von der Psychiatrie weiß die Wissenschaft bekanntlich schon längst, dass deren Gefährlichkeitsprognosen nicht das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Für wen also könnte ein nicht mehr in der Psychiatrie einsitzender Gustl Mollath gefährlich werden? Wodurch? Womit?

Stellen Sie sich vor, lieber Leser, sie hätten ein paranoides Denksystem über Schwarzgeldschiebereien entwickelt und würden sich deswegen fürchterlich aufregen. Das muss nicht sein! Schwuppdiwupp, ab zum Arzt und eine passende Pille geschluckt, und alles ist wieder normal. Dann müssen Sie deswegen auch nicht in die Klinik und wenn doch, dann nur ganz kurz. Ist das nicht schön? Gut, dass es nicht nur Wahrheits-, sondern auch Unwahrheitsdrogen gibt. Das erspart eine Menge Ärger.

“‘Wahrheit’ ist ein substantivisches Titelwort, das zum Bedeutungswort ‘wahr’ gehört und seine Gebräuche überschreibt.”

Dieser Satz stammt nicht aus einem psychiatrischen Lehrbuch, sondern aus Sandkühlers Enzyklopädie der Philosophie (2). Diese Aussage würde aber auch sehr gut in ein psychiatrisches Lehrbuch passen, denn wie uns ja gerade der Fall Mollath so eindrucksvoll vor Augen führt, kommt es stets darauf an, beim Aussprechen einer Wahrheit nicht die Gebräuche außer Acht zu lassen.

Gustl Mollath – im Mahlwerk der Gebräuche

Wir in Bayern legen besonderen wert auf die Gebräuche. Wenn da einer kommt und meint, ihn gingen die Gebräuche nichts an, aber hallo! Da macht der Bayer selbst vor einem König nicht halt. Am 8. Juni 1886 früh morgens beendete der hochmögende Direktor der Kreisirrenanstalt von Oberbayern, Kreismedizinalrat Dr. Bernhard von Gudden, seines Zeichens auch Professor der Psychiatrie, sein Gutachten über Hochwohlgeboren, Ludwig II., König der Bayern. Der König, so befand der Gelehrte,  leide an Paranoia und sei unheilbar krank. Durch die Krankheit sei die freie Willensbestimmung Ihro Majestät ausgeschlossen. Er müsse zwangseingewiesen werden. (3)

Dass der König einem Mächtigen im Wege stand, nämlich dem bayerischen Ministerpräsidenten und seinem Kabinett, spielte bei dieser wissenschaftlichen Diagnose selbstverständlich keine Rolle. Und da wir in Bayern auf Tradition achten, ist uns diese Unabhängigkeit der Psychiatrie von der Staatsgewalt bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben.

Dem König wäre wohl ein anderes, ein besseres Schicksal beschieden gewesen, wenn er, bevor er seine Wahrheiten aussprach oder zu Papier brachte, bayerische Gebräuche bedacht und beachtet hätte. Und was für einen großen König gilt, das trifft selbstredend auch auf einen kleinen Autoschrauber zu. Psychotisch ist, wer die Realität verkennt, und zur Realität gehören nun einmal auch die Gebräuche, und dies ganz besonders in Bayern.

Oft werden die Bayern wegen ihrer Treue zum Brauchtum belächelt. Lasst sie lachen. Mir san mir. Denkt euch: Nun will Europa gar den Schnupftabak verbieten! Gut, dass wir die FDP haben. „Solche rigiden Verbote sind mit dem bayerischen Lebensgefühl nicht vereinbar“, sagt der gesundheitspolitische Sprecher der bayerischen FDP, Dr. Otto Bertermann, „wir müssen jetzt schnell handeln, um unser bayerisches Brauchtum vor Bevormundung und Gleichmacherei aus Brüssel zu schützen.”

Unsere Bundesjustizminsterin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist ja auch in der FDP und stammt aus Bayern. So habe ich das bisher noch nicht gesehen, aber mir drängt sich zunehmend der Verdacht auf, dass Brauchtumsschutz zum Rundum-Sorglos-Paket der Liberalen gehört. An bayerisch-liberalem Wesen soll Deutschland genesen. Anders jedenfalls kann ich mir ihre Haltung zur Zwangsbehandlung angeblich psychisch kranker und mutmaßlich für sich selbst oder andere gefährlicher Menschen nicht erklären.

Ein Richter erkundigt sich

In einer Eidesstattlichen Versicherung schreibt der Richter i. R. Rudolf Heindl:

“Ich habe Erkundigungen eingeholt und folgende Hinweise bekommen:

Die Einzelfälle, aus denen sich die von Gustl Mollath angezeigte Bankentätigkeit zusammensetzt, betreffen Persönlichkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens der Stadt Nürnberg und der Region, die der CSU nahe stehen oder in ihr Mitglied sind. Die Aufdeckung der illegalen Strukturen würde die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen Nürnbergs und Bayerns schwer erschüttern.

Aus diesem Grund ist die Anzeige von der Staatsanwaltschaft Nürnberg – Fürth aufgrund einer Anordnung, die ihr aus der Politik zugegangen ist, unterdrückt worden.”

Die Eidesstattliche Versicherung, aus der dieses Zitat stammt, ist mit dem 04. März 2010 datiert. Den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen kann ich selbstverständlich nicht beurteilen und enthalte mich einer Stellungnahme dazu – auch im Vertrauen darauf, dass sich der Leser, in Würdigung der bekannt gewordenen Fakten, auch ohne meine Schützenhilfe ein eigenes Urteil zu bilden vermag (und dieses ggf. für sich behält).

Wenn mir da nichts Wesentliches entgangen sein sollte, so ist das einzige, was die Gegenseite zur Erklärung Heindls vorzubringen wusste, der Hinweis darauf, dass der Richter kurzzeitig einmal Mitglied bei den Republikanern war.

Die Eidesstaatliche Versicherung Heindls steht inzwischen leider nicht mehr auf der Website Gustl-for-help zum Download zur Verfügung, wo ich sie vor einigen Monaten entdeckte. Auch eine Erklärung zu seiner kurzfristigen Mitgliedschaft bei den Republikanern ist dort nicht mehr zu finden. Auf der Website abgeordnetenwatch.de nimmt der ehemalige bayerische Ministerpräsident Dr. Günther Beckstein auf diese Eidesstattliche Erklärung Bezug und schreibt u. a.: “… die Behauptungen von Ri a.D. Heindl , die mich betreffen, sind pure Lüge.”

Man sollte diese Dinge wohl besser auf sich beruhen lassen, bis Gustl Mollath endlich frei ist; jetzt unnötig Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, wäre vermutlich nicht zielführend. Mit ist bewusst, dass nun mancher Leser nach “+Heindl +Unterstützerkreis” googlen wird, aber ich vertraue darauf, dass sich auch diese Neugierigen klarmachen, was auf dem Spiel steht. Aufgeschoben ist, so sagt der Volksmund, nicht aufgehoben.

Gutachten – Schlechtachten

Die Umstände des Falles “Gustl Mollath” sind so dubios, dass sich inzwischen auch einige Psychiater und Psychologen kritisch zu Wort melden. Sie unterstellen den psychiatrischen Gutachten in Sachen Mollath Formfehler, bezeichnen sie als “Schlechtachten”.

Das ist natürlich, mit Verlaub, haarsträubender Unfug. Die Gutachten, die Gustl Mollath für verrückt und gefährlich erklären, sind genauso gut oder schlecht wie die ebenfalls vorhandenen Gutachten, die zum gegenteiligen Schluss kommen. Die so genannte Wissenschaft der Psychiatrie besitzt nämlich im Wirklichkeit keinerlei solide wissenschaftliche Grundlage, um das eine oder das andere behaupten zu können. Die entsprechenden Gutachten sind subjektiv, bloße, nicht begründbare Meinung, also pure Willkür. Dass diese psychiatrischen Fantasien Tatsachen schaffen, wenn Richter sie ernst nehmen, steht auf einem anderen Blatt.

Das Urbild aller Systeme psychiatrischer Diagnostik ist der “Hexenhammer”. Dieses 1486 veröffentliche Kompendium sollte die Hexenverfolgung auf eine seriöse theologische Grundlage stellen. Es enthält detaillierte Beschreibungen, woran Hexen zu erkennen, wie sie (hochnotpeinlich) zu befragen, abzuurteilen und hinzurichten seien. Die grundlegende Gemeinsamkeit des Hexenhammers mit den heutigen psychiatrischen Handbüchern und Leitfäden besteht darin, dass letztere ebenso auf einem Mythos beruhen wie das Werk der Mönche Kramer und Sprenger.

Ebenso wenig wie es Hexerei und Hexen gibt, existieren psychische Krankheiten und psychisch Kranke außerhalb des Reiches der Fantasie. Damals wie heute gab es starke gesellschaftliche und individuelle Interessen, Menschen auszugrenzen, zu diffamieren, zu vernichten. Damals wurde dies dämonologisch gerechtfertigt, heute psychiatrisch. Damals wie heute wurden Menschen nicht völlig willkürlich als Hexen bzw. psychisch Kranke gebrandmarkt. Vielfach eckten die Menschen, die es traf, durch ihr Verhalten an oder sie bezeichneten sich selbst als “Hexen” oder “psychisch Kranke”.

Aber auch wenn Hexen unter Folter oder psychisch Kranke unter den Schlägen chemischer Keulen eingeräumt haben, dass es ihnen recht geschehe, so gibt es dennoch keinen vernünftigen wissenschaftlichen Grund, die Existenz von Hexerei oder psychischer Krankheit anzuerkennen.

Und so ist es, wissenschaftlich betrachtet, auch falsch zu behaupten, Gustl Mollath sitze als einzig gesunder unter lauter psychisch Kranken ein. Seine Mitpatienten sind alle gesund, soweit sich dieser Begriff auf ihren Geisteszustand beziehen sollte. Sie schmachten dort hinter den Gittern der Psychiatrie, weil sie gegen geschriebene oder ungeschrieben Gesetze verstoßen haben und weil ihr Verhalten Rätsel aufgab.

Gustl Mollath war in seinen besten Zeiten, wie in der Presse nachzulesen ist, ein Mitglied der “höheren Gesellschaft” Nürnbergs. Wenn es tatsächlich dieses Wespennest geben sollte, das Richter Heindl beschrieben hat, dann wäre es durchaus rätselhaft, warum ein Mensch wie Gustl Mollath gegen ein ungeschriebenes bayerisches Gesetz verstößt und in ein solches Wespennest sticht. Da darf man sich dann nicht wundern, wenn man sich in der geschlossenen Psychiatrie wiederfindet.

Es gibt immer zwei Formen der Apologetik unhaltbarer Zustände, die direkte und die indirekte. Die direkte Apologetik der Psychiatrie leugnet die Missstände und verklärt die Resultate ihrer Tätigkeit zu Wohltaten. Die indirekte leugnet die Missstände nicht, bezeichnet sie jedoch als unvermeidlich. Man müsse sie in Kauf nehmen, weil sonst alles noch viel schlimmer würde. So werden Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung bis hin zum absichtlichen Zufügen von Schmerz zur Verhaltenskorrektur “verkauft”.

Die Meister der Apologetik verwenden beide Formen, meist mit verteilten Rollen. Der Grund dafür besteht darin, dass Idealisten besser auf die direkte, Realisten aber besser auf die indirekte Form der Apologetik ansprechen. Doch diese Strategie hat auch Grenzen. Der Fall “Gustl Mollath” macht diese deutlicher als jeder andere zuvor. Die direkte Apologetik ist lächerlich, denn dass hier etwas faul ist, kann niemand mit Aussicht auf Erfolg bestreiten. Und auch die indirekte Apologetik, die Behauptung also, dass Unterbringungen, wie beklagenswert sie im Einzelfall auch sein möchten, in höherem Interesse von Volk und Staat zu geschehen hätten, verfängt allenfalls bei jenen, die gar nicht überzeugt werden müssen.

Obwohl ich ihm sein Schicksal nicht gönne und ihm alsbaldige Freilassung wünsche, hat Gustl Mollath, teilweise unfreiwillig als Opfer einer Maschinerie, aber auch dank seines unermüdlichen Kampfes, der Psychiatriekritik einen wesentlichen Dienst erwiesen, der ihn beinahe gleichrangig an die Seite des berühmten Psychiaters Gert Postel stellt. So wie Gert Postel, nicht als Individuum, aber durch die Rolle, die er in psychiatrischen Zusammenhängen freiwillig spielte, das Wesen des Psychiaters verkörperte, so bringt Gustl Mollath, nicht als Individuum, sondern durch die Rolle, die er in psychiatrischen Zusammenhängen zu spielen gezwungen ist, das Wesen des Psychiatriepatienten zum Ausdruck.

Der Stellvertretender Gutachter für Erklärungen

Nachdem ich eine Weile, mit den Beinen auf dem Schreibtisch, in einem Roman von William S. Burroughs geschmökert habe, nun aber wieder, in gewohnt straffer, militärischer Haltung, vor dem Bildschirm sitze, überlege ich mir, ob mir der Leser wohl die Behauptung abkaufen wird, dass ich ganz zufällig auf folgende Textstelle stieß, die sich in dem wohl berühmtesten Roman des Autors (“Naked Lunch”) findet:

“Verhaftung bedeutete ‘Vorbeugehaft’; d. h. der Häftling kam erst dann wieder frei, wenn er eine ordnungsgemäß unterschriebene und abgestempelte ‘Erklärung’ beibringen konnte, die vom ‘Stellvertretenden Gutachter für Erklärungen’ ausgestellt sein musste. Da dieser Beamte aber so gut wie nie in seinem Büro anzutreffen war und ihm die ‘Erklärung’ persönlich zur Unterschrift vorgelegt werden musste, verbrachten die Antragsteller oft Wochen und Monate in ungeheizten Wartezimmern, die weder über Stühle, noch eine Toilette verfügten.”

Er hat lange auf sich warten lassen. Wird der stellvertretende Gutachter für Erklärungen nun endlich in sein Büro zurückkehren und die seit Jahren überfällige Unterschrift leisten? Der Gestank ist unerträglich.

Vielleicht wird demnächst ein deutsches Gericht einräumen müssen, dass Gustl Mollath weder psychisch krank, noch für seine Mitmenschen oder sich selbst gefährlich ist und dass er auch die ihm zur Last gelegten Straftaten nicht begangen hat. Die Medien werden dann von einem Versagen der Justiz sprechen, dass nun endlich korrigiert wurde. Sie werden von aberwitzigen forensischen Gutachten sprechen und von psychiatrischen Fehlleistungen.

  • Was wir aber nicht lesen werden, ist – die Wahrheit. Nämlich: Dass sich psychiatrische Diagnostik und Prognostik generell auf dem Niveau der Glaskugelschau bewegt und dass wir uns an einem neuralgischen Punkt unseres Rechtssystems grundsätzlich schiere Esoterik leisten, sogar mit Gurus.
  • Was wir aber nicht lesen werden, ist – die Wahrheit: Dass die Menschenrechte hinter den Gittern der Psychiatrie in Richtung Tierschutz tendieren. Dass man in unserem Land nirgendwo brutaler der Willkür und dem Wohlwollen anderer Menschen ausgeliefert ist als dort.

Wer erinnert sich heute noch an Vera Stein, an Eberhart Herrmann - um nur zwei Beispiele zu nennen. Und vor allem: Wer denkt an Herrn X und Frau Y, die hier und heute hinter psychiatrischen Gittern schmachten, in psychopharmakologischen Ketten liegen? Herr X und Frau Y sind nicht prominent und ihre Zahl ist Legion. Ihre Namen sind unbekannt und sie setzen keine Geschichten in den Köpfen der Leser in Gang. Sie haben meist keine Freunde, kaum jemand interessiert sich für sie.

Gustl Mollath freilich hat heute viele, viele Freunde, die Anteil an seinem Geschick nehmen. Ob es sich dabei um wahre Freunde handelt, muss sich erst noch erweisen, man darf da Zweifel haben. Sogar Psychiater und Psychotherapeuten zählen dazu. Sie kritisieren Verantwortliche, auch, man staune, Leute aus ihrer eigenen Zunft. Als es um Herrn X und Frau Y ging, sind sie mit einem vergleichbaren Engagement allerdings nicht aufgefallen.

Polemisches Manipulieren für den Rechtsstaat

Manche werfen mir vor, polemisch zu sein; meine Sprache sei manipulativ, ich sei gar ein Demagoge. Selbstverständlich wähle ich meine Worte mit Bedacht: Polemik und krasse Manipulation sorgen für Aufregung in den Gemütern, sie verursachen Stress – und dass – so hoffe ich – macht die mentalen Filter durchlässiger für Mitteilungen über die Schicksale von Herrn X und Frau Y.

  • Herr X beispielsweise ist ein so genannter chronischer Alkoholiker; er sitzt wider Willen in einem Heim, in dem er Gänse hüten darf (diese Form der Zwangsarbeit nennt man Arbeitstherapie). Mit den Gänsen werden hochgestellte Persönlichkeiten beglückt, um sie gewogen zu stimmen. Er liebt seine Gänse, sonst hat er ja nichts. Es bricht ihm jedes Mal das Herz, wenn sie geschlachtet werden. So geht das Jahr um Jahr.
  • Frau Y ist “schizophren”. Sie lebt allein, die Kinder haben sie vergessen. Manchmal sitzt sie mitten in der Nacht im Treppenhaus und unterhält sich sanft mit Engeln oder streitet lautstark wider die Dämonen. Das macht sie natürlich gefährlich und hin und wieder greift die Psychiatrie zu, wenn gerade noch Plätze frei sind. In der Anstalt kümmert man sich dann um sie, in Form von Spritzen oder durch das fürsorgliche Anlegen von Gurten.

Gern räume ich ein, dass die Geschichten, die ich über Herrn X und Frau Y zu erzählen weiß, nicht besonders spannend sind. Von Schwarzgeld kann keine Rede sein, nur von krasser Armut. Hochgestellte Persönlichkeiten sind nicht als Steuerhinterzieher, sondern allenfalls via “Gänse-Bestechung” involviert. Mit Herrn X oder Frau Y verbinden sich keine guten Stories, sie stehen für das Namenlose, das nicht Greifbare, sie haben keine Identität, sogar ihr hier vorgetragenes Geschick ist zum Zwecke der Illustration frei erfunden. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen und Institutionen wären rein zufällig.

Real aber sind Zwangsdiagnose, Zwangseinweisung, Zwangsbehandlung. Dank Gustl Mollath hat psychiatrische Willkür ein Gesicht bekommen, zumindest vorübergehend. Ob Herr X und Frau Y davon profitieren werden, ist fraglich. Vielleicht sind sie sogar glücklich mit ihrem Schicksal, wer weiß? Schließlich, so könnte man argumentieren, leistet nur eine kleine, verlorene Schar Widerstand. Und das mag man sogar als beruhigend empfinden, als Hinweis darauf, dass für Herrn X und Frau Y halbwegs zufriedenstellend gesorgt sei, mehr schlecht als recht zwar, aber immerhin.

So also, lieber Leser, stellen Sie sich einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat mit sozialstaatlicher Verpflichtung vor? Klar, die Geschichte mit Mollath, so etwas natürlich hätte der Staat nicht machen dürfen, aber ansonsten ist doch alles in Ordnung? Weiter so?

Freiheit für Gustl Mollath, Herrn X und Frau Y!

Anmerkungen

(1) Albrecht, G. (2003). Probleme der Prognose von Gewalt durch psychisch Kranke. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (Journal of Conflict and Violence Research), Vol. 5, 1, 97-126
(2) Sandkühler, H. J. (Hrsg.) (1999). Enzyklopädie Philosophie, Band 2, Seite 1712
(3) Szasz, T. (1980). Recht, Freiheit und Psychiatrie. Auf dem Weg zum therapeutischen Staat? Fischer: Frankfurt am Main, Seite 71 ff.

Lesenswert

Der Rechtsprofessor Henning Ernst Müller nimmt Stellung: “Fall Mollath – was sind die Fehler der bayerischen Justiz?”

Sehenswert

Ein Interview mit der bayerischen Justizministerin Beate Merk

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Steuerung, Fehlsteuerung, Psychiatrie

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In seiner Schrift “Regulierungspsychologie” (1) definiert Horst Sacher sechs Ebenen der Steuerung des Menschen durch seine Umwelt. Diese sechs Ebenen werde ich an Beispielen aus dem thematischen Feld der Psychiatrie illustrieren.

  1. Totalsteuerung: Völlige Kontrolle des Verhaltens und Erlebens durch die Umwelt. Beispiel: Ein Mensch wird gegen seinen Willen in eine geschlossene psychiatrische Anstalt eingewiesen, dort zwangsbehandelt und schließlich mit den Mitteln der Gehirnwäsche zur “Krankheitseinsicht” gezwungen.
  2. Übersteuerung: Weitgehende Kontrolle des Verhaltens und Erlebens durch die Umwelt. Beispiel: Ein Mensch steht unter Betreuung und das Damoklesschwert der Zwangseinweisung schwebt über ihm.
  3. Hochsteuerung: Das Verhalten und Erleben des Menschen unterliegen sowohl der Fremd-, als auch der Selbststeuerung, wobei allerdings die Fremdsteuerung dominiert. Beispiel: Ein Mensch unterzieht sich freiwillig einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung, die nach dem Muster der klassischen Arzt-Patient-Beziehung abläuft: hier der wissende, aktive Arzt, dort der unwissende, passiv mitarbeitende Patient.
  4. Wenigsteuerung: Das Verhalten und Erleben des Menschen unterliegen sowohl der Fremd-, als auch der Selbststeuerung; die Selbststeuerung überwiegt. Beispiel: Ein Mensch schließt sich einer Selbsthilfegruppe an, die von einem “Fachmann” beratend begleitet wird.
  5. Untersteuerung: Weitgehendes Fehlen von Umweltsteuerungen. Beispiel: Ein Mensch ist arbeitslos und nimmt nach Lust und Laune hin und wieder an autonomen Selbsthilfegruppen teil.
  6. Nullsteuerung: Fehlende Fähigkeit oder Bereitschaft, auf Steuerungen aus der Umwelt zu reagieren. Beispiel: Ein Mensch ist in den “Generalstreik der Seele” getreten und lässt sich nicht mehr motivieren, weil er beispielsweise “depressiv” ist oder einem “Wahn” unterliegt.

In der Mitte zwischen diesen Steuerungseinstellungen, so schreibt Sacher, liege eine Ebene der “homöostatischen Befindlichkeit”; ein intaktes Persönlichkeitssystem ließe sich durch sinusförmige Schwingungen der Steuerungseinstellungen um den Sollwert der homöostatischen Befindlichkeit beschreiben. Die Wendepunkte der Verlaufskurve “sinusfunktional-optimaler” Steuerung lägen auf den Ebenen der Hoch- und Wenigsteuerung.

Die Lebenserfahrung lehrt, dass Menschen weder zu viel, noch zu wenig Fremdkontrolle vertragen. Bosse, die niemanden mehr über sich haben, neigen dazu, solange über die Stränge zu schlagen, bis es noch Mächtigeren zu bunt wird, und dies entspricht dann einer geheimen Sehnsucht der Bosse. Und andererseits wehren sich Menschen in untergeordneten Positionen nicht selten durch destruktive Akte (Sabotage, Dienst nach Vorschrift) gegen die totale Fremdbestimmung. Ein mittleres Maß der Kontrolle scheint also der “Natur” des Menschen zu entsprechen und die meisten empfinden dies auch als angemessen und gerecht.

Wer eine Gesellschaft anstrebt, in der die Steuerungen auf das Niveau der “homöostatischen Befindlichkeit” zugeschnitten sind, der muss die Psychiatrie aus kybernetischer Sicht also als kontraproduktiv, als Störfaktor einordnen. Das psychiatrische System ist darauf eingestellt, die Steuerung der Menschen in Richtung Totalsteuerung auszulenken. Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man ein chronisch unter- oder nullgesteuertes System  durch Über- bzw. Totalsteuerung korrigieren könnte; diese “Holzhammermethode” führt nur zu einem total demolierten System – zu chronifizierten Jammergestalten, die an den irreversiblen Nebenwirkungen der Psychopharmaka laborieren.

Es trifft uneingeschränkt zu, dass die Psychiatrie nicht das einzige kybernetisch dysfunktionale gesellschaftliche System ist. Doch kein anderes System hat eine auch nur annähernd vergleichbare Macht, die menschliche Persönlichkeit dieser Dysfunktionalität zu unterwerfen. Die Zahl der psychiatrisch Fehlgesteuerten nimmt beständig zu; dies zeigen die Statistiken der so genannten “psychisch Kranken” sowie der Zwangseingewiesenen und Zwangsbehandelten.

Im Wirtschaftsleben beginnt man allmählich zu erkennen, dass Mitarbeiter mit extrem engen Handlungs- und Entscheidungsspielräumen alles andere als kreativ und innovativ sind. Ein Unternehmen, dass auf die Erfindungsgabe und Experimentierfreude seiner Mitarbeiter angewiesen ist, tut gut daran, ihnen Räume zur Entfaltung “homöostatischer Befindlichkeit” zu erschließen.

Von diesem Geist ist unsere Psychiatrie natürlich weit entfernt. Der dort vorherrschende Geist ist vielmehr von obsessiven Kontrollfantasien durchdrungen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, glauben Psychiater offenbar, ohne das Recht zur Zwangsbehandlung müsse, wenn nicht die Welt, so doch immerhin die Blüte der Evolution, die Psychiatrie untergehen. Der Zwang, bis hin zur Totalsteuerung, ist der Kerngedanke der vorherrschenden psychiatrischen Ideologie. Psychiatrische Maßnahmen reduzieren sich auf die Metapher der Daumenschraube.

Der Fall Gustl Mollath illustriert die Zusammenhänge in atemberaubender Klarheit. Der Mann, so heißt es, habe einen Wahn, auch wenn alle mutmaßlichen Indikatoren dafür sich in Luft aufgelöst haben. Der Mann sei gefährlich, heißt es, und wenn er friedlich scheine, so beweise dies nur, wie gefährlich er in Wirklichkeit sei. Stünde die Sicherheit auf dem Spiel, so heißt es, sei im Zweifelsfall für die Totalsteuerung zu optieren. Und wer zweifele, der sei ein Querulant, wie Mollath.

Ist es nicht schön, auf einer Wanderung hoch droben die Freiheit der Berge zu genießen? Bäche schießen zischend und glitzernd zu Tal – und vor dem gewaltigen Alpenpanorama nur blauer Himmel. Ein lindes Lüftchen kühlt die heiße Stirn, und dort in der Hütten, man sieht sie schon, wartet eine deftige Brotzeit und ein zünftiges Mineralwasser. Kaum hocke ich auf der Holzbank, kaum lacht mich der Brotzeitteller an, setzt sich doch tatsächlich so ein Individuum neben mich, behauptet, mein Gesicht aus dem Internet zu kennen und was mir eigentlich einfiele.

Der Mann trägt moderne, funktionelle Wanderkleidung, sehr edel, sehr teuer, sehr praktisch und sehr aufschneiderisch, sie ist neu, kein Stäubchen, kein Kratzer. Der Mann muss Psychiater sein, denke ich. Und richtig. Der Mann gehört zur Zunft. So etwas, wie das, was Sie da schreiben, im Internet, so etwas gehört verboten, sagt er. So einen Quatsch nehme natürlich kein Fachmann ernst, so etwas lese er nicht einmal, aber die Patienten würden dadurch verunsichert, und deswegen würden Leben gefährdet und…

Ob er mich denn die Felswand herabstürzen, oder, schlimmer, zwangseinweisen lassen wolle, frage ich ihn. Der Spott werde mir schon vergehen, da müsse man Maßnahmen ergreifen, und überhaupt. Zenzi eilt herbei, ob alles recht sei und ob die Herren noch etwas bestellen möchten. Der Empörte bezahlt und schreitet grußlos von dannen. Ob er mir wohl auflauern wird, hinter einem Felsvorsprung?, frage ich mich. Vielleicht hat er eine Spritze dabei und sticht zu.

Ein Telefonanruf schreckt mich aus meinen Gewaltfantasien auf. Die letzten Zeilen habe ich offenbar wie im Trance und ohne klares Bewusstsein geschrieben. In dieser Hinsicht ähnele ich vermutlich den meisten Mitbürgern, die in aller Regel die alltägliche Gefahr psychiatrischer Totalsteuerung zwar irgendwie vermerkt, sich darüber aber keine bewusste Rechenschaft abgelegt haben. Sonst hätten sie ja eine Patientenverfügung ausgefertigt, und dies ist nur zu oft nicht der Fall.

Wenn ein Mensch darauf verzichtet, einen Missstand in seinem Unternehmen öffentlich zu machen, weil er schließlich nicht so enden wolle wie Gustl Mollath, so unterliegt er bereits einer Fehlsteuerung. Dies mag im Interesse derjenigen liegen, denen dieses Unternehmen gehört, aber im Interesse einer freiheitlichen Gesellschaft, in der sich die Menschen durch durch sinusförmige Schwingungen der Steuerungseinstellungen um den Sollwert der homöostatischen Befindlichkeit auszeichnen, liegt es sicher nicht. Selbst dort droben, im Reich der Freiheit im Gebirg’, wo man eigentlich nur den Herrgott über sich wähnt, sind sie da, welch ein Wahn.

Ganz gleich, was mit Gustl Mollath geschieht, ganz gleich, ob er voll rehabilitiert wird oder nicht, die Tatsache allein, dass er bereits sieben Jahre und immer noch einsitzt, hinter psychiatrischen Gittern schmachtet, wird viele, wird viel zu viele einschüchtern. Davor ist niemand, bewusst oder unbewusst, gefeit. Denn selbst wenn man schlussendlich recht bekommt, was keineswegs sicher ist, so hat man doch unter Umständen viele Jahre wertvoller Lebenszeit verloren. Also hält man die Klappe, also passt man sich an, also ist man normal – und wenn normal sein  bedeutet, dass die Reichen keine Steuern zahlen, dann passt das schon.

Nicht erst die Zwangseinweisung, bereits die psychiatrische Diagnose ist eine Daumenschraube, denn sie kann mit erheblichen negativen Folgewirkungen verbunden sein. Daher ist allein schon die Drohung, einem Psychiater oder Psychologen vorgestellt zu werden, eine erhebliche Einschüchterung. Der Aphoristiker Lichtenberg sagte, man spüre den Druck der Regierung ebenso wenig wie den Druck der Luft. Dies ist wahr, wenn man und solange man darüber nicht nachdenkt. Und dies gilt nicht nur für die Regierung, sondern auch für die Psychiatrie. Die Polizei sagt: Wer sich nichts zu schulden kommen lasse, habe sie auch nicht zu fürchten. Dies trifft auf die Psychiatrie nicht zu. Bei ihr spielt Schuld keine Rolle. Sie teilt ihre “Segnungen” nach dem Gießkannenprinzip aus.

Anmerkung

(1) Sacher, H. (1978). Regulierungspsychologie. Wien: Maudrich

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Leiden

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Seit Anbeginn versuchen die Menschen, das Leiden zu überwinden. Durch Gebete, durch spirituelle Übungen, durch ein tätiges Leben, durch das Zusammenbeißen der Zähne. Früher galt Krankheit als eine von vielen Ursachen des Leidens. Heute gilt zunehmend jedes Leiden als Krankheit, die des Arztes bedarf. Auch seelisches Leiden, so heißt es, sei körperlichen Ursprungs, beruhe auf Hirnstörungen, die durch Medikamente oder durch psychotherapeutische Einwirkungen (heilende Worte) wieder normalisiert werden könnten und müssten.

Durch die Vorentscheidung, Leiden grundsätzlich als Symptom einer Krankheit zu betrachten, erfolgt selbstverständlich eine gravierende Verengung der Perspektive. Wer noch einen weiteren Horizont besitzt, mag schockiert darüber sein, dass die neue Version des Diagnosemanuals DSM der amerikanischen Psychiaterzunft das Leiden nach dem Tode eines geliebten Menschen als behandlungsbedürftige Depression einstuft. Aber diese Revision der bisherigen Sicht ist durchaus folgerichtig.

In unserer schönen neuen Welt ist Leiden nämlich subversiv. Wer leidet, ist unzufrieden, obwohl es doch in dieser besten aller möglichen Welten keinen vernünftigen Grund gibt, unzufrieden zu sein. Wem der Erfolg versagt blieb, hat sich dies selbst zuzuschreiben, weil jeder schließlich seines Glückes Schmied ist und der Fleißige und Smarte den verdienten Lohn schon ernten wird, wenn er nur beharrlich genug sein Ziel verfolgt. Und wer körperlich erkrankt, der hat womöglich zu viel geraucht, getrunken, gegessen, der hat falsch gelebt, der hätte sich nur rechtzeitig der Segnungen des medizinischen Füllhorns versichern müssen, dann wäre ihn dies nicht passiert.

Und so ist der rechtschaffene, der vernünftige Bürger verpflichtet, Leiden, wo immer es sich zeigt oder auch nur ankündigt, den zuständigen Stellen anzuzeigen. Deswegen darf er keine Vorsorgeuntersuchung versäumen und ist selbstverständlich gehalten, jede Verfinsterung des Gemütes psychiatrischer Begutachtung anheimzustellen. Jeder körperliche oder seelische Schmerz ist ein Signal dafür, dass etwas aus dem Ruder läuft und dass wir Gefahr laufen, vom Kurs abzukommen; und dann ist der Experte gefragt, der uns den Weg zurück ins Reich der normalen Zufriedenheit weist.

Wie oft auch ist Leiden die Folge eines moralischen Vergehens. Hätten wir weniger geraucht, hätten wir nicht so viel Alkohol getrunken, hätten wir mit fachlicher Unterstützung rechtzeitig Stress abgebaut, hätten wir uns, als es noch Zeit war, einer Psychotherapeutin anvertraut, dann säßen wir jetzt nicht in der Patsche. Selber schuld. Wir wurden gewarnt. Die Zeitungen waren voll der Ratschläge und Hilfsangebote. In den Illustrierten konnten wir lesen, was alles des Arztes bedarf. Das Fernsehen ließ uns durch bewegte Bilder und sonore Stimmen wissen, dass Leiden keineswegs unser Schicksal, sondern dass Leidvermeidung eine Management-Aufgabe sei, der man sich unter kompetenter Anleitung durch Fachleute stellen könne und müsse.

Wenn die Buddhisten recht haben mit ihrem Slogan, dass Leben Leiden sei, dann wären wir alle also besser tot, sofern die neoliberale Ideologie des Leidens als Ausdruck krankhaften Versagens zutrifft. Da aber die Suizidneigung, der herrschenden Doktrin entsprechend, ebenfalls Symptom einer behandlungsbedürftigen Krankheit ist, kann der moderne Zeitgenosse nur danach streben, dem Zustand des Todes bereits im Leben möglichst nahe zu kommen. Viele, viele versuchen bereits, diesem Anspruch nach Kräften gerecht zu werden.

Die Zahl der Menschen, die sich als psychisch krank empfinden, steigt beständig, vor allem in Staaten, die eine Wunderwelt der Marktwirtschaft geschaffen haben oder gerade dabei sind, sie aufzubauen. Pflichtbewusst unterziehen sich diese Menschen einer psychiatrischen Behandlung. Diese verwandelt sie in Zombies, in lebende Tote. Diese aber trotzen dank ihres Zustandes den Leiden, die mit dem Leben untrennbar verbunden sind.

Selbst der hart gesottene Neoliberale wird einräumen, dass uns mitunter Leiden ereilt, für dessen Ursachen wir nicht verantwortlich sind. Wer beispielsweise von einer Erbkrankheit betroffen ist, kann dafür ja nicht verantwortlich gemacht werden. Dennoch sind die Gene keine Entschuldigung. Denn wir sind ja nicht gezwungen, darunter zu leiden. Vielmehr haben wir natürlich die Pflicht, beim leisesten Anzeichen des Leidens fachmännischen Rat einzuholen und diesen zu befolgen. Leiden muss einfach nicht sein – und wer leidet, zeigt damit nur, dass er schamlos mit der besten aller Welten unzufrieden ist.

Wer da einwendet, dass man Leiden vielleicht auch still erdulden könne, ist schief gewickelt. Wer Leiden erduldet, verweigert sich den Konsumangeboten der Wellness-Animateure und zeigt damit, dass er ein Außenseiter, ein Querulant, ein Sonderling ist. Und das ist krank, das ist ja so krank. Und das bedarf des Arztes. In unserer schönen neuen Welt ist kein Platz für Menschen, die sich dem Götzen der großen Verweigerung hingeben. Dieser Kult ist subversiv. Der Verfassungsschutz sollte ihn beobachten. Es reicht nicht, dass die Psychiatrie ein wachsames Auge auf ihn geworfen hat.

Wer allerdings das Risiko einer Akte beim Verfassungsschutz oder einer Zwangspsychiatrisierung zu tragen bereit ist, der wird sich der Idee des Erduldens  nicht verschließen. Wer Leiden nicht mit Krankheit identifiziert, wird erkennen, dass ihm ein Sinn innewohnen könnte, der sich allerdings nur dann offenbart, wenn man das Leiden tatsächlich auch erduldet, also durchlebt, erlebt, in Erfahrung verwandelt. Wer beispielsweise unter Traurigkeit leidet und diese Stimmung mit illegalen Drogen, Alkohol oder Psychopharmaka aus seinem Bewusstsein verbannt, der ist natürlich taub für die Stimme des Leidens.

Um Leiden zu erdulden, bedarf es nicht des Arztes, sondern der Geduld. Es spricht natürlich nichts dagegen, körperliche Ursachen des Leidens medizinisch behandeln zu lassen. Doch wer den Sinn des Leidens erfahren will, der sollte es nicht durch Pillen oder Psychotherapien ausmerzen. Unlängst hörte ich von einer Studie, die ergeben habe, dass ein handelsübliches, rezeptfreies Schmerzmittel nicht nur gegen Kopfschmerzen, sondern auch gegen existenzielle Ängste helfe. Wir sind auf dem besten Wege, mit dem Leiden, dem Schmerz auch den Sinn auszumerzen. Dann, so völlig ohne Sinn, werden wir Zombies sein, lebende Tote.

Nichts gegen eine angemessene Schmerztherapie! Ich predige hier keinen theatralischen Heroismus. Allerdings plädiere ich dafür, darüber nachzudenken, was man mit medizinischen Maßnahmen eigentlich anstrebt: Linderung unnötigen Leidens oder das Ausweichen vor einer notwendigen Auseinandersetzung mit sich selbst.

Wenn die medizinische Maßnahme ein taugliches Mittel für dieses Ausweichen wäre, könnte ich die Menschen ja noch verstehen, die zu diesem Mittel greifen. Allein, der Arztbesuch mit eingebildeten Krankheiten kann zur Sucht werden – und Sucht ist nichts anderes als die Folge der notorischen Bevorzugung kurzfristiger zu Lasten langfristiger und grundlegender Problemlösungen, mit meist verheerenden Folgen.

Süchtige bezahlen bekanntlich (fast) jeden Preis, und wenn sie das Geld nicht dazu haben, dann verschulden sie sich heillos, dann stehlen, mitunter morden sie sogar. Der süchtige Konsument ist der Traum jedes ehrlichen Verkäufers. Dies gilt natürlich auch für den süchtigen Psychiatrie-Konsumenten. Am schönsten ist es, wenn sich die Kunden nach der Behandlung hoch zufrieden zeigen, aber schon bald wiederkommen, um sich erneut an den Wohltaten der Therapie zu erfreuen.

Wer Leiden erduldet, ist wohl oft nicht so fröhlich, wie er in unserer schönen neuen Welt sein sollte, das ist wohl wahr. Falls, wider Erwarten, die Sinnsuche durch das Erdulden von Leiden einmal Mode werden sollte, dann würde hier natürlich ein neuer, lebendiger Markt entstehen. Psychotherapeuten, Coaches und die Pharma-Industrie könnten mit Mitteln und Methoden glänzen, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Branche ist ja nicht faul, wenn es gilt, neue Geschäftsfelder zu erschließen.

Allerdings befürchte ich, dass es an Leuten, die es ernst meinen, in dieser Hinsicht nicht viel zu verdienen gibt. Wer erkannt hat, was es bedeutet, sich mit seelischem Leiden, mit Ängsten, mit Traurigkeit, mit Verwirrung, mit Rastlosigkeit und Sinnleere auseinanderzusetzen, der weiß auch, dass man diese Aufgabe unausweichlich allein bewältigen muss. Wer Leid erdulden will, muss dies in existenzieller Einsamkeit tun – und dies kann er auch inmitten mitfühlender und hilfreicher Menschen.

Und was ist mit denen, die es allein nicht schaffen? Wer es allein nicht schafft, der scheitert, weil man es nur allein schaffen kann. Dies ist die Wahrheit, aber dies ist keine grausame Wahrheit, weil man sein Leben ja durchaus verfehlen darf. Es ist nicht verboten, könnte wohl auch gar nicht verboten werden. Und viele, viele lassen sich das nicht zweimal sagen. Psychiater, psychologische Psychotherapeuten, Apotheker, Pharma-Industrie und esoterische Heiler müssen also nicht fürchten, dass ihnen dieses Kunden-Segment wegbricht.

Seit Anbeginn versuchen die Menschen, das Leiden zu überwinden. Viele Wege wurden dazu beschritten, und der medizinische ist von allen derjenige, der am tiefsten in die Entfremdung führt, trotz aller Erfolge bei der Behandlung körperlicher Erkrankungen. Vielleicht verführen uns diese Erfolge, die dem Zweifel enthoben sind, sogar dazu, uns der Hilfe des Arztes zu versichern, wo dieser nichts auszurichten vermag, sondern wo wir selber gefragt sind.

Oft wird mir das Leiden der Betroffenen entgegengehalten, wenn ich die Existenz psychischer Krankheiten bestreite. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass man die Existenz psychischer Krankheiten bestreiten muss, gerade weil Menschen seelisch leiden. Sie können im Leiden bei sich, ganz bei sich oder dem “Man” verfallen sein: Man nimmt eine Pille, wenn man depressiv ist. Man geht zur Psychotherapie, wenn man unter Zwängen leidet. Man geht in die Eheberatung, wenn man Probleme in der Ehe hat.

Man kann unter einer Krankheit leiden. Aber das Leiden ist keine Krankheit, sondern wir leiden, weil es uns in unserem Dasein um unser Sein, um uns selbst geht.

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Die psychiatrische Dressur des Denkens

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Die psychiatrische Dressur des Denkens führt dazu, dass auch kluge Leute vielfach nicht zwischen einschlägigen Sachverhalten unterscheiden können, obwohl die Unterschiede ins Auge springen.

Ein Leser schreibt: “Sie behaupten, dass Geisteskrankheiten nicht existieren. Aber in Ihren Artikeln über multiple Persönlichkeiten lese ich, dass diese nach Ihrer Ansicht real seien. Ist dies nicht kurios? Nur die umstrittenste aller Diagnosen soll es wirklich geben?”

Wenn man etwas genauer liest, wird man wohl feststellen, früher oder später, was ich tatsächlich sage: Die Verhaltensweisen und die Muster des Erlebens, auf die sich psychiatrische Diagnosen beziehen, existieren tatsächlich. Dies ist trivial. Es gibt nun einmal Menschen, die Dinge sehen, die andere nicht sehen, die Stimmen hören, die andere nicht hören, die Ideen verfolgen, die andere für verrückt halten, die Dinge tun, obwohl sie darunter leiden, die traurig sind, obwohl sie nach Meinung anderer keinen Grund dafür haben, die sich vor Dingen fürchten, die nach Meinung anderer gar nicht bedrohlich sind, etc.

All diese Phänomene gibt es – und die meisten von uns zeigen solche “Symptome” mehrmals pro Tag, nämlich wenn sie träumen. Es handelt sich dabei aber nicht um “Geisteskrankheiten”, “psychische Krankheiten”, “psychische Störungen mit Krankheitswert” und was der Verunglimpfungen mehr sind. Vielmehr handelt es sich um Varianten des Spektrums menschlichen Verhaltens und Erlebens, um, mitunter riskante, Lebensstile usw.

Aus diesem Grunde sage ich: Es gibt keine psychischen Krankheiten. Es gibt jedoch sehr wohl Muster des Verhaltens und Erlebens, die als “psychische Krankheiten” missdeutet werden. Es gibt auch Muster des Verhaltens und Erlebens, die, sogar gemessen an den Wünschen und Zielen des Betroffenen, eindeutig dysfunktional sind und die man wohl als verrückt bezeichnen darf. Nur selbst in diesen Fällen handelt es sich nicht um Krankheiten. Hier gilt aus meiner Sicht die Devise: Garbage in – garbage out (GIGO). Diese Devise kennen wir ja auch aus dem Computerwesen. Wenn man den Computer mit Mülldaten füttert, dann darf man sich nicht wundern, wenn auch der Output Müll ist: GIGO. Aus dem hervorgebrachten Müll sollte man nicht schließen, dass der Computer kaputt sei oder die Software nichts tauge.

So reagiert beispielsweise die überwiegende Mehrheit der Frontsoldaten im Stahlgewitter mit Mustern des Verhaltens und Erlebens, die als “Krankheitssymptome” gedeutet werden können, weil sie in den psychiatrischen Manualen als Indikatoren psychischer Krankheiten beschrieben werden. Da greift man sich an den Kopf! Da die überwiegende Mehrheit so reagiert, da auch Soldaten so reagieren, die nie zuvor einschlägig auffällig geworden sind,  so kann es sich doch nur um eine normale Reaktion normaler Menschen auf eine verrückte Situation, nämlich auf den Wahnsinn des Krieges handeln. Alles GIGO oder was?

Wenn fast alle Kinder in einer Schule beständig Faxen machen und nichts lernen wollen, und wenn sich diese Schule in einem verrotteten Zustand befindet, wenn die Lehrer überfordert und demotiviert sind, wenn die Kinder aus einem nicht nur bildungs-, sondern erziehungsfernen Milieu stammen, dann brauchen diese Kinder kein Ritalin, nach meiner Meinung, sondern dann ist deren dysfunktionale Reaktion das erkennbare Ergebnis des Prinzips: Garbage in – garbage out!

Natürlich gibt es Störungen des Nervensystems oder anderer Organe des Körpers, die sich dysfunktional auf das Verhalten und Erleben auswirken. Aber der Witz ist doch, dass solche Störungen bei den so genannten psychischen Krankheiten bisher nicht entdeckt werden konnten. Und würden sie entdeckt, dann müsste man diese mutmaßlichen psychischen Krankheiten angesichts der eindeutigen Befunde als neurologische oder sonstige körperliche Krankheiten auffassen. Im 19. Jahrhundert hielt man beispielsweise die Epilepsie für eine psychische Krankheit und entwickelte skurrile psychiatrische Ideen zu ihren Ursachen. Als man schließlich die pathophysiologischen Prozesse, die dieser Krankheit zugrunde liegen, besser verstand, löste man sich von der, wie üblich falschen, psychiatrischen Diagnose.

Und nun zur multiplen Persönlichkeit: Natürlich gibt es Menschen, die sich so verhalten, als ob mehrere Persönlichkeiten unter ihrer Schädeldecke hausten. Dies bedeutet aber nicht, dass diese Menschen geisteskrank, psychisch krank oder psychisch gestört mit Krankheitswert seien. Auch hier gilt: Garbage in – garbage out. Von einer echten multiplen Persönlichkeit spreche ich, wenn Menschen von Kindesbeinen an mit den Mitteln der Gehirnwäsche abgerichtet wurden, sich wie eine multiple Persönlichkeit zu verhalten. Dies geschieht in der Regel aufgrund militärischer, geheimdienstlicher oder, seltener, krimineller Ziele. Von einer unechten multiplen Persönlichkeit spreche ich, wenn Menschen von Psychotherapeutinnen oder anderen wohlmeinenden Helfern dazu angestiftet wurden, ihre innere Zerrissenheit in Form einer psychiatrischen Diagnose, der so genannten Multiplen Persönlichkeitsstörung zu inszenieren. GIGO, was sonst?

Es gehört zu den Prinzipien des Marketings, ein Produkt – sei es ein materielles Gut oder eine Dienstleistung – mit einer Problemlösung zu assoziieren. Dies ist ein mechanischer Vorgang. Die Verbindung zwischen Produkt und Lösung wird dem Konsumenten durch Werbung regelrecht eingehämmert. Er wird konditioniert. Hinter dem sterilen Wort der Konditionierung verbirgt sich im Klartext die Dressur. Und so dressiert das Psychiatrie-Marketing ebenfalls ihre Konsumenten, indem sie ihnen folgende Assoziation einhämmert:

Rätselhaftes, normabweichendes Verhalten und Erleben => psychische Krankheit => medizinische Behandlung durch Pillen und Psychotherapie als Problemlösung.

Die Dressur war offenbar bei den meisten Mitbürgern sehr erfolgreich. Auch der Leser, an dessen Frage ich oben anknüpfte, hätte sie nicht stellen müssen, wenn er bei der Lektüre meiner Artikel nicht dieses Schema im Kopf gehabt hätte. Das klassische Muster für die Einpflanzung eines solchen Schemas ist die Werbung mit dem HB-Männchen, an das sich die älteren Leser noch erinnern werden. Dieser Zeichentrickfigur widerfuhr in einer Serie von Werbespots allerlei Unbill, oft selbstverschuldet, es regte sich mächtig auf, und dann empfahl ihm eine Stimme aus dem Off, lieber eine HB zu rauchen, denn dann gehe alles wie von selbst. Und so war es dann auch.

Man mag einwenden, dieses Beispiel sei schlecht gewählt, denn Rauchen schade bekanntlich der Gesundheit, wohingegen die psychiatrische Behandlung diese wiederherstellen wolle. So wirkt das Schema. Wenn die so genannten psychisch Kranken ein intaktes Gehirn haben, warum gibt man ihnen dann Medikamente, die auf das Gehirn einwirken und die teilweise mit erheblichen Schadwirkungen verbunden sind? Wenn das Schema weiterwirkt, so kommt nunmehr der Einwand:   Dass man bisher noch keine Hirnstörungen bei den psychisch Kranken zu entdecken vermochte, bedeutet doch nicht, dass es keine geben kann. Freilich. Allein, bisher sind diese Hirnstörungen hypothetisch, wohingegen die Schadwirkungen der Medikamente auf das Nervensystem nach wie vor sehr real sind.

Die Konditionierung durch das Psychiatrie-Marketing ist sicher nicht der einzige Grund dafür, dass dieses Schema bei vielen Menschen aktiv ist. Wie andere Werbebotschaften auch, knüpft es an bereits vorhandene Bedürfnisse der Konsumenten an. Selbstverständlich finden viele Zeitgenossen es ganz in Ordnung, wie die Psychiatrie mit armen, leidenden Menschen (lies: Störern) umgeht. Das beständige Einhämmern des Schemas sorgt nur dafür, dass diese Assoziation im Gehirn des Verbrauchers nicht irgendwann einmal verblasst.

Die psychiatrische Dressur des Denkens ist also “business as usual”. GIGO. Wer die Marktwirtschaft toll findet, kann dagegen recht eigentlich nichts einwenden. Sollte da aber einer der Meinung sein, dass die Marktwirtschaft im Großen und Ganzen schon, aber im Detail mitunter, hier und da müsse nachgebessert – wer so denkt, der sollte dann aber auch konsequent sein und eine dauerhafte Lösung anstreben: Erstens hat die Psychiatrie im Gesundheitswesen nichts zu suchen, denn sie behandelt keine Krankheiten, sondern sie korrigiert allenfalls Normabweichungen. Zweitens aber gehört das Gesundheitswesen nicht auf den Markt, denn mit der Gesundheit macht man keine Geschäfte. Medizinische Leistungen sind ein Grundbedürfnis, das nicht verhandelbar ist. Aber das ist ein anderes Thema, zurück zur psychiatrischen Dressur des Denkens.

Die psychiatrische Dressur des Denkens bezieht sich nicht nur auf das oben bereits beschriebene Schema. Eine weitere dieser Marketing-Assoziationen ist die Verkoppelung von Leiden und Krankheit, die ich in meinem Tagebucheintrag vom  23. April 2013 bereits ausführlich auseinandergenommen habe. Wenn man bei der Lektüre eines psychiatriekritischen Textes sich stets kaum des Verdachts erwehren kann, der Autor könne Scientologe sein, dann möge man sich fragen, woran das wohl liegt und wer davon profitiert. Der Leser möge sich präventiv das Schema einprägen: Gresch => vehementer Gegner von Scientology im Besonderen und Sekten bzw. Psycho-Kulten im Allgemeinen, ganz zu schweigen von den Amtskirchen.

Da ich Psychologe bin, fühle ich mich gedrängt, dem Schema, das dem Begriff des Psychologen innewohnt, zu entsprechen und ungefragt die Frage zu beantworten, wie man sich vor der psychiatrischen Dressur des Denkens schützen und bereits eingetretene Schäden heilen bzw. zumindest lindern könne. Hmmm. Äh. Ach wissen Sie was, lieber Leser, wenn Sie so blöd sind, auf all diese primitiven und längst durchschauten Propagandamethoden hereinzufallen, dann kann man Ihnen mit psychologischen Mitteln auch nicht mehr helfen. Wer partout nicht erkennen will, dass der Kaiser nackt ist, bei dem wäre ja auch der Augenarzt schnell am Ende seines kleinen Mediziner-Latinums. Bingo?

Im Übrigen sind ja auch die Folgen der psychiatrischen Dressur des Denkens meist gutartig. Ebenso wie nicht jeder Raucher Lungenkrebs bekommt, zieht sich nicht jeder Psychopharmaka-Konsument eine Spätdyskinesie zu, beispielsweise. Was wäre denn auch das Leben ohne Risiko? Jetzt gibt es sogar einen Hollywoodfilm zu diesem Risiko, den ich noch nicht gesehen habe; aber die Rezensionen in den Zeitungen klingen viel versprechend. Da spritzt das Blut nur so und die Psycho-Pillen sind schuld. Seien Sie aber beruhigt, lieber Leser, das ist Hollywood, ist Kintopp, die Wirklichkeit, die ist ganz, ganz anders, nämlich GIGO.

Noch 52 Wörter muss ich schreiben, dann habe ich 1500 beisammen und kann mich draußen auf die Bank in die Sonne setzen, um ein Buch Korrektur zu lesen. Für heute habe ich mir 1500 Wörter vorgenommen, der Zähler zeigt aber nur 1478. Die psychiatrische Dressur des Denkens, muss, so sagt mir mein Gewissen, für die Suchmaschinen zum Abschluss noch…

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Mind Control im Kalten Krieg

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Seitdem der französische Psychiater Jean-Martin Charcot, der weltweit erste Inhaber eines psychiatrischen Lehrstuhls, die Hypnose als Mittel der Forschung und Psychotherapie wissenschaftlich und gesellschaftlich hoffähig gemacht hatte, beflügelte die Vorstellung, ein Hypnotiseur könne Menschen in willenlose Sklaven verwandeln, die Fantasie von Literaten und später auch von Filmemachern.

Der Roman “Trilby” des britischen Schriftstellers George du Maurier, der sich mit dieser Thematik beschäftigt, wurde nach seinem Erscheinen 1894 zu einem der erfolgreichsten Bestseller dieses Jahrhunderts.

Angesichts der Probleme, die Geheimdienstler und Militärs zu lösen haben, ist es nicht erstaunlich, dass auch diese Leute sich für die angeblich so staunenswerte Macht der Hypnose interessierten. Nur wenige Jahre nach seiner Gründung im Jahre 1947 startete der amerikanische Geheimdienst CIA aufwändige Forschungsprojekte zur Kontrolle des menschlichen Bewusstseins, in denen die Hypnose eine zentrale Rolle spielte.

Namhafte Psychiater und andere Wissenschaftler aus einschlägigen Disziplinen unterstützten die Agency bei ihrem Plan, die Methoden zur hypnotischen Versklavung von entsprechend empfänglichen Menschen zu perfektionieren. Schon bald aber musste man sich resigniert eingestehen, dass die Macht der Hypnose nicht so groß ist, wie Romane im Stil von Trilby oder Filme nach Art des “Dr. Mabuse” suggerierten.

Wir wissen dies aus einst streng geheimen Dokumenten, die der CIA von investigativen Journalisten, die sich auf das amerikanische Informationsfreiheitsgesetz beriefen, abgerungen wurden. Diese Dokumente sind allerdings unvollständig; viele wurden von der Zensur, teils heftig, geschwärzt; andere wurden bereits zuvor dem Reißwolf anheimgegeben. Auch die amerikanische Armee experimentierte mit Methoden zur Bewusstseinskontrolle (Mind Control), aber in diesem Bereich ist die Aktenlage noch dünner.

Wenn die beteiligten Wissenschaftler damals jedoch gewusst hätten, was recht eigentlich so alles in ihren Lehrbüchern zu diesem Thema stand, dann wären sie vermutlich auf die Idee gekommen, die Hypnose mit anderen, brutaleren Verfahren mentaler Beeinflussung zu kombinieren und mit der Bewusstseinskontrolle (Mind Control) bereits in früher Kindheit zu beginnen.

Nun wissen wir nicht, ob diese Wissenschaftler überhaupt lesen konnten, geschweige denn, ob sich in diesem Fall ihr Interesse hinlänglich auf die Schriften des eigenen Faches konzentrierte. Falls dies so gewesen sein sollte und falls sie zudem in der Lage waren, 1 und 1 zusammenzuzählen, dann hätten sie bestimmt auch ein Verfahren entwickelt, das verschiedene Ansätze sinnvoll miteinander verbindet und das die mentale Versklavung von Menschen reibungslos ermöglicht.

Dazu freilich gibt es keine (freigegebenen) Akten, was die Fantasie entsprechend disponierter Menschen natürlich heftig anregt oder gar anheizt.

Und so habe ich dem inneren Drange schlussendlich nachgegeben und einen Was-wäre-wenn-Roman” geschrieben, in dem minutiös geschildert wird, was diese CIA- und Armee-Wissenschaftler kreiert hätten, wenn sie des Lesens kundig und zum Rechnen fähig gewesen wären, was man natürlich so genau nicht wissen kann.

Hier ist eine Leseprobe aus diesem Roman (“Ein Mann mit acht Augen“). Zum besseren Verständnis sei hinzugefügt, dass unser Held, Martin Nottick, zuvor mit den Mittel der Hypnose und der Folter (Mind Control) gezielt in eine multiple Persönlichkeit verwandelt wurde.

Er ist zum Zeitpunkt der folgenden Ereignisse ein elfjähriges Kind und die Namen “Robert”, “Martin” und “Peter Munk” beziehen sich auf ein- und dieselbe Person. Es handelt sich um Alter Egos (Fragment-Persönlichkeiten) eines multiplen Persönlichkeitssystems.

“In den folgenden Monaten musste Robert an drei weiteren Manövern dieser Art teilnehmen. Häufig wurde er gefoltert. Wenn er den Anweisungen nicht minutiös entsprach, erhielt er Stromstöße mit dem Elektroschocker. Mitunter wurde er aber auch geschockt, obwohl er sich sklavisch und buchstabengetreu an einen Befehl gehalten hatte. In diesen Fällen erforderte die Situation eine flexible Auslegung des Befehls oder zusätzliche Handlungen, die im Befehl nicht enthalten waren. Die geistigen Anforderungen lagen deutlich über der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit eines Kindes in seinem Alter. 

Die Janus-Leute hatten einen Panzer in einem Waldstück versteckt, so dass ihn Robert von seiner Position aus nicht sehen konnte. Wenn Martin die Bombenattrappe zünden sollte, rollte der Panzer auf einen Feldweg ins Blickfeld des Jungen. Mitunter stand die Armatur der Bombe unter Spannung, so dass Funken sprühten, wenn Roberts Finger sich dem roten Knopf auch nur auf Handbreite näherte. Kam er noch näher heran, erhielt er qualvolle Stromschläge. Doch Robert musste die Zähne zusammenbeißen und dennoch den Knopf drücken. Sonst erwartete ihn die Folter mit dem Elektroschocker, die erheblich schmerzhafter war als die Stromschläge, die von der Bombe ausgingen. 

FolterhoseWährend einer dieser Übungen trug Martin unter seiner Jeans eine lederne Unterhose. In dieser Unterhose führte ein Kabel mit einer Elektrode in seine Harnröhre. Die gesamte Foltervorrichtung war durch Gurte fixiert und verschlossen, so dass Robert sie nicht entfernen konnte. Eine Zeitschaltuhr löste regelmäßige Stromstöße aus. Dies sollte verhindern, dass er einschlief, denn die Übung dauerte viele Stunden. Der Strom für die Folterung stammte in der Regel aus einer Batterie, die an seinem Gürtel befestigt war. Eines Tages jedoch, als Robert bereits ein beinahe perfekter Zündmechanismus für atomare Munition geworden war, sagten ihm die Janus-Soldaten im Morgengrauen mit sehr besorgten Gesichtern, diesmal handele es sich nicht um ein Manöver, sondern um den Ernstfall. Man müsse jederzeit mit einer Attacke der Sowjetunion rechnen. Nun wurde Robert wie ein Nutztier am linken Bein mit einer langen Kette an einem eisernen Ring angebunden, der in einer Wand der Bombenkammer verankert war. Ein Janus-Agent sagte ihm, die Kette diene vor allem seinem Schutz, da sie zuverlässig Fluchtversuche verhindere, die umgehend mit standrechtlicher Erschießung geahndet würden.

Robert sollte sich an diese Kette gewöhnen. Allein auf die unsichtbaren Ketten, die durch die Folterdressur geschmiedet worden waren, wollte sich das Janus-System  im Ernstfall nicht verlassen. Durch die Glieder der eisernen Kette führte ein Kabel, zur Stromversorgung der Folter-Elektroden, die sich jetzt nicht nur an seinem Penis, sondern auch an seinem Fußgelenk befanden. Die Ummantelung des Kabels schimmerte blau wie Blei. Zunächst waren die Stromstöße nur kurz und schwach, doch nach einiger Zeit wurden sie immer länger und schmerzhafter. Schließlich folterte man ihn ununterbrochen, jedoch mit etwas schwächeren Strömen, so dass die Schmerzen gerade noch erträglich waren und zielgerichtetes Verhalten zuließen. Die Männer hatten ihm, bevor sie verschwanden, erklärt, dies sei das Signal dafür, dass ein Angriff der kommunistischen Panzer unmittelbar bevorstehe. Der Stromfluss würde in diesem Fall erst wieder unterbrochen, wenn er nach dem Erscheinen der Tanks weisungsgemäß den Knopf an der Bombe gedrückt habe. Er würde dann aus seiner Lage befreit und dürfe heim. Wenn Robert seinen Anweisungen gehorchte und den Knopf drückte, sobald er einen Panzer heranrollen sah, so wurde er umgehend mit einem in Chloroform getränkten Tuch betäubt – und zwar von einem Janus-Agenten, der sich stets in seiner Nähe aufhielt. Robert konnte diesen Mann jedoch aufgrund einer hypnotisch erzeugten partiellen Blindheit nicht wahrnehmen. 

Die Versuchung

Während einer dieser Übungen, bei der Robert nicht angekettet war, wurde er von einem Wanderer angesprochen. Dessen prächtiger Gamsbarthut faszinierte den Jungen und machten ihn neugierig, so dass er dem Fremden nicht so kurz angebunden begegnete, wie man Peter Munk aufgetragen hatte. Der Mann trug eine lederne Kniebundhose, einen saloppen Janker, massive Wanderschuhe und hatte ein zünftiges Fahrtenmesser am Gürtel. Was er denn hier so treibe, wollte der Wanderer wissen. Robert sagte, dass er den Fischen im Bach zuschaue. Man lerne durch Naturbeobachtung am meisten, viel mehr als aus Büchern. Das meine sogar seine Lehrerin, obwohl sie den Kindern immer wieder sage, sie sollten öfter in ihre Bücher schauen. Die Fische seien Stichlinge. Er habe schon viel über sie gelesen, aber das allein reiche eben nicht, um sie wirklich kennen zu lernen. Er blickte den Wanderer leutselig an und nicht der zarteste Anflug eines abmildernden Lächelns deutete darauf hin, dass ihm bewusst war, an einem Manöver teilzunehmen.

Der Wanderer sagte: „Ich weiß genau, warum du tatsächlich hier bist. Mir ist es eigentlich streng untersagt, mich mit dir zu unterhalten. Aber jetzt ist es sinnlos geworden, Befehlen zu gehorchen. Rette sich wer kann! Du darfst den Männern nicht trauen, die dir den Befehl gegeben haben, den Zeitzünder auszulösen. Wenn du auf den Knopf drückst, dann fliegst du sofort selbst mit in die Luft. Das hier ist nämlich gar kein Manöver; die sowjetischen Panzer rücken bereits an. Die Bombe ist auch keine Attrappe, sondern eine echte Atombombe. Dich wollen sie opfern, und mich, uns alle, das halbe Volk. Glaube mir, ich bin Soldat einer Spezialeinheit, die Kinder wie dich als menschliche Zünder benutzt. Doch das hat jetzt alles keinen Zweck mehr. Die sowjetischen Panzer kommen sowieso durch, es sind zu viele. Sie sind überall. Von der Küste bis zu den Alpen überschreiten sie gerade die Grenze. Komm, hau’ mit mir ab, bevor es zu spät ist. Wir müssen uns möglichst weit in Richtung Westen durchschlagen. Wir versuchen es per Anhalter. Vielleicht haben wir ja großes Glück und jemand, der noch Platz im Wagen hat, nimmt uns mit.“

Peter Munk war zuvor programmiert worden, Robert zu veranlassen, dieser Verführung nachzugeben. Der Trommlerjunge, dem die entsprechende Programmierung Peter Munks natürlich nicht bewusst war, sondern der nur eine verführerische innere Stimme hörte, verließ seine Stellung und lief dem Mann hinterher. Der Janus-Agent hängte ihn allerdings rasch ab und schlug sich in die Büsche. Robert wurde nach einigen hundert Metern von drakonischen Verstärkern aufgegriffen und erbarmungslos gefoltert.”

Dieses Buch schildert nicht nur den Ablauf einer mentalen Versklavung (“trauma-based mind control”) von der frühesten Kindheit bis ins Erwachsenenalter, sondern analysiert auch die mutmaßlichen militärischen, politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe derartiger Projekte.

Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um einen Tatsachenbericht. Auf der Titelseite steht schließlich “Roman” und wo “Roman” draufsteht, da ist auch “Roman” drin. Es ist wichtig, diese Unterscheidung bei der Lektüre stets im Hinterkopf zu behalten, weil der Autor ansonsten keine Garantie für die werte Nachruhe des geschätzten Lesers zu übernehmen vermag.

Wir leben schließlich seit dem Untergang des Nazi-Reichs in einem lupenreinen, freiheitlich demokratischen Rechtsstaat. Vorgänge der Art, die der Roman “Ein Mann mit acht Augen” schildert, wären in einem solchen Staat nicht einmal im Traum möglich gewesen.

Diese selbstverständlich frei erfundene Geschichte beruht allerdings auf Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen aus den Gebieten der Psychologie, Psychiatrie und den Neuro-Wissenschaften. Die geschilderte Methodik der Bewusstseinskontrolle durch Persönlichkeitsspaltung (trauma-based mind control) wäre durchaus effektiv, wenn Menschen monströs genug wären, sie anzuwenden.

Es handelt sich bei dieser Story also um einen Sachbuchroman. Er ist gleichsam das narrative Gegenstück zum meinem Sachbuch über “trauma-based mind control” (“Hypnose, Bewusstseinskontrolle, Manipulation“). Ein Motiv, diesen Roman zu schreiben, bestand auch darin, die Verständnislücken zu schließen, die das Sachbuch bei den meisten Lesern vermutlich unweigerlich zurücklässt. Dieser Sachbuchroman beschreibt minutiös, was möglich ist, wenn man seit rund 150 Jahren vorhandenes Wissen skrupellos anwendet.

PS: Frühere Versionen dieses Romans, die unter den Titeln “Janus-System”, “Ein Sklave der Freiheit” bzw. “Der Zünder” im Netz kursierten, sind nicht mit “Ein Mann mit acht Augen” identisch. Es handelt sich hier um eine radikal überarbeitete und gestraffte Fassung, also um die finale Version. Weitere Änderungen wird es nicht mehr geben. Wenn sich die Geschichte tatsächlich ereignet hätte, dann könnte ich nun sagen: Ja, bei bestem Wissen und Gewissen, so war es!”

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Abkehr vom medizinischen Modell der Diagnostik

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In einem neuen Positionspapier fordert die  ”British Psychological Society’s Division of Clinical Psychology” nichts Geringeres als die Abkehr vom medizinischen Modell in der Diagnostik psychischer Störungen.

Als Grundlage dieser Forderung identifizierte die “Division” folgende Problemfelder:

  1. Psychiatrische Diagnosen würden häufig als objektive Statements oder Fakten präsentiert, obwohl sie in Wirklichkeit nur Interpretationen von beobachtetem Verhalten und von Bekundungen der Patienten seien
  2. Damit seien gravierende Mängel der Reliabiltät und Validität dieser Diagnosen verbunden
  3. Und so sei die Nützlichkeit dieser Diagnosen für klinische Interventionen höchst begrenzt
  4. Die Dominanz des medizinischen Modells führe zu einer Unterschätzung psycho-sozialer Faktoren und zu einer Überbetonung medikamentöser Behandlungsformen
  5. Die negativen physischen und psychischen Auswirkungen dieser Medikamente würden heruntergespielt
  6. Psychiatrische Diagnosen kaschierten die Verbindungen zwischen den Erfahrungen, dem Leiden und dem Verhalten der Menschen und ihrem sozialen Kontext
  7. Sie seien zudem ethnozentrisch verzerrt und tendenziell diskriminierend in sexistischer, klassistischer, spiritueller und kultureller Hinsicht
  8. Sie verstärkten negative Einstellungen gegenüber den Betroffenen
  9. Sie seien stigmatisierend und wirkten sich negativ auf das Selbstbild aus
  10. Sie marginalisierten die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen, die häufig nur als auslösende Faktoren betrachtet würden
  11. Sie würden den Diagnostizierten aufgezwungen und nicht im Dialog mit ihnen erarbeitet
  12. Sie würden die Betroffenen entmachten und sie entmutigen, eigene, selbstbestimmte Entscheidungen zu fällen.

Daher fordert die “Division of Clinical Psychology” einen Paradigmenwechsel – hin zu einem multifaktoriellen Ansatz, der seelisches Leiden und Verhalten im Kontext begreift und der die Komplexität menschlicher Erfahrung berücksichtigt.

Dieses Papier kann als PDF-Datei hier heruntergeladen werden.

Die britische Presse hat diesen Vorstoß, der sicher eine kleine Sensation darstellt, sofort aufgegriffen. Der Guardian (11.05.20013)  zitiert eine der Urheberinnen dieses Statements , die psychologische Psychotherapeutin Lucy Johnstone mit den Worten: “Es ist nicht hilfreich, Probleme der psychischen Gesundheit im Licht biologischer Ursachen zu betrachten. Im Gegenteil, es gibt nun überwältigende Hinweise, dass Menschen infolge einer komplexen Mischung aus sozialen und psychischen Umständen zusammenbrechen – Trauer und Verlust, Armut und Diskriminierung, Trauma und Missbrauch.”

Der Guardian weist darauf hin, dass die Stellungnahme der britischen Psychologen bereits massiv aus psychiatrischen Kreisen kritisiert wurde. Ein Psychiater, ein Mitglied des Royal College of Psychiatrists, Prof. Simon Wessely, versuchte die Bedeutung psychiatrischer Klassifikationssysteme herunterzuspielen. Diese seien wie eine Landkarte. “Und wie Landkarten sind sie nur provisorisch und so wie diese geändert werden können, wenn sich die Landschaft ändert, so ändert sich auch die psychiatrische Klassifikation.”

Man soll natürlich Vergleiche nicht überstrapazieren, dennoch erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, dass sich die Beziehung zwischen einem Diagnostiker und einem Diagnostizierten nicht mit dem Verhältnis zwischen einem Kartographen und dem Terrain vergleichen lässt.

In der diagnostischen Beziehung interagieren zwei Subjekte miteinander, wohingegen in der Kartographie kein Austausch zwischen im Prinzip gleichwertigen Partnern stattfindet. Und wenn ich mich nicht täusche, so ist diese Differenz, die Wessely mit seinem Beispiel kaschiert, der entscheidende Grund dafür, dass der von den britischen Psychologen geforderte Paradigmenwechsel in der Tat längst überfällig ist.

Anmerkung

Jamie Doward: Psychiatrists under fire in mental health battle. The Guradian, 11 May 2013

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Allen Frances in der Krise

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Allen Francis wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch seine harsche Kritik an der neuesten Version der amerikanischen Psychiater-Bibel, dem DSM-5 bekannt. Er sprach davon, dass deren Genehmigung durch das zuständige Gremium der American Psychiatric Association (APA) der traurigste Tag in seiner Karriere gewesen sei. Nunmehr, so bekennt er in der Huffington Post, sieht für ihn alles noch viel düsterer aus.

Unter dem Titel “Die Insassen haben scheinbar das Irrenhaus übernommen” beklagt er

  • den biologischen Reduktionismus des National Institute of Mental Health (NIMH)
  • und den psychosozialen Reduktionismus der British Psychological Society (BPS) sowie
  • die Inflation psychischer Störungen durch das DSM-5.

Zur Erinnerung:

  • Der Direktor des NIMH, Thomas Insel bezeichnete unlängst alle psychiatrischen Diagnosen als nicht valide. Er fordert die Entwicklung eines Klassifikationssystems, das ausschließlich auf neuro- bzw. kognitionswissenschaftlichen und genetischen Daten beruht. 
  • Vor ein paar Tagen veröffentlichte die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Society” ein Statement, in dem sie sich für die Überwindung des medizinischen Modells der psychiatrischen Diagnostik einsetzt und dafür plädiert, seelisches Leiden auf Basis psychosozialer Faktoren zu interpretieren.

Beide Positionen schätzt Frances als “extremistisch” ein und fordert, ein Modell zu entwickeln, dass sowohl auf biologischen, als auch auf psychologischen und sozialen Gesichtspunkten beruht. Er schreibt:

“DSM-5, the NIMH, and the BPS have all gone far wrong and all for the very same reason — each has prematurely promised a grandiose paradigm shift when none is remotely possible. Paradigm shifts emerge from new scientific findings — not from bloviating statements, however well intended.”

Frances unterliegt unterliegt hier einigen Irrtümern, die diese, zunächst plausibel klingende, Einlassung als bloße Rhetorik entlarven.

  1. Thomas Insel fordert keineswegs einen Paradigmenwechsel, im Gegenteil: Er nimmt das vorherrschende Paradigma beim Wort. Denn der psychiatrische Mainstream bekennt sich heute zur biologischen Psychiatrie. Daher müssen die Validitätskriterien psychiatrischer Diagnosen physiologische sein. Und weil die gängigen Klassifikationssysteme DSM und ICD nicht mit irgendwelchen Hirnparametern korrelieren, müssen sie ersetzt werden. Diese Forderung folgt zwingend aus dem bestehenden Paradigma.
  2. Die “Division of Clinical Psychology” fordert in der Tat einen Paradigmenwechsel. Das alte, das biomedizinische Paradigma soll überwunden werden. Denn trotz jahrzehntelanger Bemühungen gibt es bisher keine empirischen Erkenntnisse, die es stützen. Und Frances hat recht: Es sind auch keine in Sicht. Nicht recht hat Frances allerdings mit seiner Behauptung, dass dies auch für den sozialwissenschaftlichen Bereich gilt. Sobald man sich von der Fiktion löst, dass es sich bei seelischem Leid und bei Abweichungen von sozialen Normen um Krankheiten handelt, wird man feststellen, dass eine Fülle psychologischer und sozialwissenschaftlicher Theorien zur Erklärung dieser wie aller anderen menschlichen Verhaltensmuster und Erlebnisformen bereits existiert und beständig weiterentwickelt wird.
  3. In seinem Artikel wirft Frances den Briten vor, sie würden die Rolle der Biologie bei “psychischen Krankheiten” ignorieren. Dass dies nicht der Fall ist, geht aus dem Positionspapier der “Division” eindeutig hervor. Natürlich sind Gehirn und der Körper allgemein mit im Spiel; doch dies gilt sowohl für das als krank diagnostizierte, wie auch für das als gesund verstandene Verhalten und Erleben.

In seiner Schrift “Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen” vertritt Thomas Kuhn – verkürzt – die These, dass sich ein neues Paradigma durchsetzt, wenn das alte zunehmend Phänomene nicht zu erklären vermag, wenn ein neues dies offenbar besser kann und wenn die Vertreter des alten endlich ihren Widerstand gegen Veränderungen aufgeben (oft, weil sie in den Ruhestand treten).

In einer solchen Situation befindet sich nunmehr die biologische Psychiatrie. Wir erinnern uns, dass Freud bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das psychiatrische Denken maßgeblich beeinflusste. Die Psychoanalyse verstand sich jedoch als eine biologisch fundierte naturwissenschaftliche Theorie. Dies hat Freud in seinen Werken, von seinen ersten bis zu seinen letzten Schriften, stets nachdrücklich betont. Diese Theorie darf als gescheitert betrachtet werden. Freuds Positionen spielen in der heutigen Psychiatrie keine nennenswerte Rolle mehr. Mit der neurowissenschaftlich begründeten, auf die Befunde bildgebender Verfahren und genetischer Forschungen gestützten Psychiatrie verbinden sich nach wie vor große Hoffnungen. Doch selbst ihr prominentester und einer der vehementesten Befürworter, Thomas Insel, muss einräumen, dass sie die erforderlichen Daten bisher noch nicht einmal in Ansätzen bereitzustellen vermag.

Kurz: Die Erklärungen der biologischen Psychiatrie haben sich als Scheinerklärungen ohne empirische Substanz herausgestellt. Besonders in den Vereinigten Staaten und Großbritannien äußern sich auch Psychiater zunehmend  skeptisch zur momentanen Verfassung ihres Faches. Der Neurowissenschaftler und führende Pharma-Manager H. Christian Fibiger macht die Unzulänglichkeit der psychiatrischen Forschung dafür verantwortlich, dass sich die Pharma-Wirtschaft weitgehend aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen hat. Die Positionen des unlängst verstorbenen Psychiatriekritikers Thomas Szasz, der jahrzehntelang von der Zunft wie ein Aussätziger behandelt wurde, scheinen plötzlich hoffähig zu werden.

Allen Frances schließt seinen Artikel in der Huff Post mit folgenden anrührenden Worten:

“So my plea to the American Psychiatric Association, to the National Institute of Mental Health, and to the British Psychological Society — spare us your empty promises of premature paradigm shifts and instead help us take better care of our patients.”

Der Paradigmenwechsel ist längst überfällig, hin zu sozialwissenschaftlichen Ansätzen und einer massiven Förderung des Selbsthilfe-Ansatzes – und wer eine bessere Versorgung der Betroffenen will, der sollte endlich, endlich mit dem Unfug aufhören, sie wie Kranke, wie Patienten zu behandeln.

PS: Angesichts der Tumulte, die Insels Statement hervorrief, haben sich das NIMH und die APA inzwischen dazu durchgerungen, ihre gemeinsamen Interessen zu bekunden.

“By continuing to work together, our two organizations are committed to improving outcomes for people with some of the most disabling disorders in all of medicine”,

heißt es in einer Pressemeldung des National Institute of Health (NIH, 13.05.2013), die von Thomas Insel und dem zukünftigen APA-Chef Jeffrey A. Lieberman unterzeichnet wurde. Vom ersten bis zum letzten Wort ist diese Meldung der Versuch, entstandenen Schaden zu begrenzen. Der öffentliche Schulterschluss kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gräben in der Zunft real sind.

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Validität psychiatrischer Diagnosen

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Der Direktor des weltweit größten psychiatrischen Forschungszentrums NIMH, Thomas Insel bezeichnete unlängst psychiatrische Diagnosen als nicht valide. Dieses Statement hat er nicht nach Lust und Laune aus der Luft gegriffen. Es entspricht vielmehr dem Stand der Wissenschaft. Trotz jahrzehntelanger Forschung zur Validität psychiatrischer Diagnosen ist es bisher noch nicht gelungen, diese im Licht empirischer Studien zu erhärten.

Nun meinen manche arglose Zeitgenossen, dass dies nur ein akademisches Problem sei und für die Praxis keine Bedeutung habe. Sie wissen offenbar nicht, was Validität heißt. Ein diagnostisches Verfahren ist valide, wenn es tatsächlich diagnostiziert, was es zu diagnostizieren vorgibt.

So ist beispielsweise ein Verfahren zur Krebsdiagnose valide, wenn die positiv Diagnostizierten mit einer vertretbaren Fehlerquote tatsächlich an diesem Leiden erkrankt und wenn, ebenfalls mit einer annehmbaren Irrtumswahrscheinlichkeit, die als gesund Eingestuften auch tatsächlich nicht von dieser Krankheit betroffen sind. Demgegenüber ist eine invalide Diagnose eine willkürliche, eine beliebige Diagnose. Bei einer solchen Diagnose verteilen sich die Diagnostizierten mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip auf die vier möglichen Ergebnisfelder “wahr positiv”, “falsch positiv”, wahr negativ” und “falsch negativ”.

Man stelle sich vor, ein moderner Staat würde unter dem Druck fundamentalistischer Bewegungen zu mittelalterlichen Denkweisen zurückkehren. Die so genannten psychischen Krankheiten würden nicht mehr auf irgendwelche Störungen des Gehirns zurückgeführt, sondern auf dämonische Besessenheit. Entsprechend würden diagnostische Verfahren eingesetzt, mit denen man die Präsenz von Dämonen in der Seele oder dem Körper des mutmaßlich “Besessenen” feststellen zu können glaubt. Wie valide wäre ein solches Instrument, gesetzt den Fall, es gäbe gar keine Dämonen?

Insels Urteil über die Validität psychiatrischer Diagnosen beruht auf der Erkenntnis, dass bisher noch für keine der so genannten psychischen Krankheiten Hirnstörungen als ursächlich nachgewiesen werden konnten. Da die moderne Psychiatrie diese als Ursache psychischer Krankheiten aber annimmt, müssen die entsprechenden Diagnosen nach diesem Konzept solange als invalide gelten, wie der Nachweis physiologischer Ursachen nicht erbracht wurde.

Genauso, wie ein diagnostisches Instrument, das auf dem Dämonen-Konzept basiert, nur valide sein kann, wenn es Dämonen gibt und wenn Dämonen in der Tat “psychische Krankheiten” hervorrufen, so ist auch ein diagnostisches Instrument, dass auf den Lehren der modernen Psychiatrie fußt, nur dann als valide zu betrachten, wenn tatsächlich Hirnstörungen verantwortlich sind für das rätselhafte Verhalten und Erleben.

Die Alternativ-Hypothese lautet: Rätselhaftes Verhalten und Erleben, das von sozialen Normen abweicht und als “psychisch krank” eingestuft wird, beruht weder auf  Teufelswerk und Dämonie, noch auf Hirnstörungen oder genetischen Defekten; vielmehr ist dieses Verhalten und Erleben die Reaktion eines intakten Gehirns auf suboptimale Umweltbedingungen (um es möglichst neutral auszudrücken, auf Deutsch: Die intakten und garantiert dämonenfreien Gehirne der Verrückten reagieren völlig normal auf ihren alltäglichen Wahnsinn.)

Da also laut Insel (und im Einklang mit der Forschung) psychiatrische Diagnosen nicht valide sind, folgt aus dieser Tatsache zwingend, dass die entsprechenden diagnostischen Verfahren den Diagnostizierten willkürlich und beliebig ein psychiatrisches Etikett anheften.

Dies ist die logische Konsequenz, die sich aus der Aussage des Direktors der größten psychiatrischen Forschungsinstitution der Welt, des National Institute of Mental Health (NIMH), einer Agentur des amerikanischen Gesundheitsministeriums, unweigerlich und zwingend ergibt.

Man mag sich an den Kopf greifen und sich fragen, ob hier vielleicht der eine oder andere nicht ganz bei Trost ist. Jahrein, jahraus werden Millionen Menschen psychiatrisch diagnostiziert, und da stellt sich der Direktor des NIMH, Thomas Insel hin und sagt trocken: April, April, um sich wieder seinen Obliegenheiten zuzuwenden.

Jeder Patient, der noch bei Trost ist, und eine solche Aussage zur Kenntnis nimmt, müsste seinem Psychiater eigentlich auf der Stelle die “Compliance” aufkündigen. Dadurch würde er jedenfalls seine “geistige Gesundheit” eindrucksvoll unter Beweis stellen.

Ja, durchaus, der eine oder andere Psychiater hat Thomas Insel widersprochen, aber im Großen und Ganzen hat man sich doch schnell wieder seinen Alltagsgeschäften zugewendet. Auch unter amerikanischen Patienten scheint Insels Verdikt keine besondere Aufregung verursacht zu haben.

Hat man sich etwa mit einem System der Lüge arrangiert, weiß man im Grunde, dass psychiatrische Diagnosen Quatsch sind und verfolgt man in diesem System schon immer ganz andere Interessen, die mit Krankheit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben?

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Validität – praktische Konsequenzen

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Der Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel hat unlängst festgestellt, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide seien (1). Er stützt sich dabei auf den Stand der Forschung.

Viele können sich nicht so recht vorstellen, was dies bedeutet. Dies ist auch nicht so leicht zu verstehen, aber recht einfach sind die Konsequenzen zu begreifen, die für den Patienten damit verbunden sind.

Denn die entscheidende Größe, nach der die Trefferquote eines diagnostischen Verfahrens bemessen wird, ist die Validität.

Bei der Trefferquote sind vier mögliche Ergebnisse zu betrachten:

  1. Richtig positive Diagnosen (Mensch hat die Krankheit und wird als krank diagnostiziert)
  2. Falsch positive Diagnosen (Mensch hat die Krankheit nicht und wird als krank diagnostiziert)
  3. Richtig negative Diagnosen (Mensch hat die Krankheit nicht und wird nicht als krank diagnostiziert)
  4. Falsch negative Diagnosen (Mensch hat die Krankheit und wird nicht als krank diagnostiziert).

Die Trefferquote ist ein Prozentwert und der ist umso niedriger, je weniger valide die Diagnose ist. Ist die Validität gering, dann wird die Diagnose überwiegend vom Zufall bestimmt. Der Arzt könnte dann auch auslosen, ab der Patient eine “psychische Krankheit” hat oder nicht.

Hier spielt natürlich auch die Basisrate eine Rolle. Extremfall: Wenn in einem Kollektiv alle krank sind und man dies weiß, dann spielt es keine Rolle, wie valide ein diagnostisches Verfahren ist: Man liegt so oder so immer richtig, wenn man ein Mitglied dieser Gruppe als krank diagnostiziert. Eine große Rolle spielt die Validität jedoch, wenn nur ein kleiner Prozentsatz krank ist bzw. als krank betrachtet wird. Dies ist ja bei den so genannten psychischen Krankheiten der Fall.

Im Klartext sagt Thomas Insel nichts anderes als genau das: Beim gegenwärtigen Stand psychiatrischer Diagnostik könnte man den Befund auch auslosen, ohne dass sich deswegen die Trefferquote verschlechterte.

Die Validität wird durch den Korrelationskoeffizienten zwischen den Befund und relevanten Außenkriterien geschätzt. Da die moderne Psychiatrie meint, psychische Krankheiten beruhten im Kern auch Hirnstörungen, sind die relevanten Außenkriterien Parameter von Hirnprozessen. Trotz jahrzehntelanger Forschung ist es bisher nicht gelungen, irgendeine derartige Korrelation empirisch zu erhärten.

Unter diesen Bedingungen muss man also zwangsläufig psychiatrische Diagnosen als nicht valide betrachten, weil die Validitätskriterien in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Störungstheorie ausgewählt werden müssen.

Hierzu noch ein Praxisbeispiel (Es gilt generell, für jeden Zweig der Medizin):

In einer Einrichtung zur Behandlung der Krankheit X seien zehn Plätze frei. Es gilt, aus einem Kollektiv von 100 Leuten mit Verdacht auf X zehn Patienten auszuwählen, die diese Krankheit tatsächlich haben. Unser diagnostisches Verfahren sei leider nicht sehr valide, es habe den Koeffizienten .15. Nun wissen wir aus Erfahrung, dass unter hundert Verdachtsfällen dreißig Prozent an X erkrankt sind.

Wir wenden zur Auswahl der Patienten unser Verfahren an.

Unter diesen Bedingungen werden vier Patienten aufgenommen, die tatsächlich an X erkrankt sind. Sechs Patienten werden behandelt, obwohl sie X nicht haben. 64 werden zu recht nicht behandelt, weil sie gesund sind. 26 Patienten, die krank sind, werden nicht behandelt. Die Trefferquote beziffert sich in diesem Fall auf ca. vierzig Prozent.

Wäre die Validität gleich null, dann wären drei Probanden wahr positiv, sieben falsch positiv, 63 wahr negativ und 27 falsch negativ. Die Trefferquote entspräche der Zufallswahrscheinlichkeit von dreißig Prozent.

Bei guter Validität von .7 würde die Trefferquote in diesem Beispiel auf 82 Prozent steigen.

Für Interessierte: Der statistische Hintergrund des Beispiels wird hier beschrieben:

H. C. Taylor, J. T. Russell: The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 1939, S. 565–578

Dies zeigt also, wie entscheidend die Validität eines diagnostischen Instruments ist. Es ist an der Zeit, den Konsequenzen ins Auge zu blicken, die sich aus dieser Tatsache ergeben. Die notwendige Auseinandersetzung mit den Konsequenzen der mangenden Validität psychiatrischer Diagnostik vollzieht sich im Augenblick weltweit. Eine zunehmende Zahl von Psychologen und Psychiatern fordert vehement einen Paradigmenwechsel. 

Diese grundlegende Kurskorrektur ist im Interesse seelisch leidender Menschen auch zwingend erforderlich. Und überdies liegt der Paradigmenwechsel gleichermaßen im Interesse der Steuerzahler und der Solidargemeinschaft der Versicherten. Denn hier, in der Psychiatrie, wird Geld verpulvert, und zwar heftig.

Meine Modellrechnung müsste auch Leuten einleuchten, die an die Existenz psychischer Krankheiten glauben: Es ist herausgeschmissenes Geld, “Patienten” zu behandeln, die gar nicht krank sind. Dies ist aber unvermeidlich, wenn die Diagnoseverfahren der Psychiatrie nicht valide sind: q.e.d.

Anmerkung

(1) “The goal of this new manual, as with all previous editions, is to provide a common language for describing psychopathology. While DSM has been described as a “Bible” for the field, it is, at best, a dictionary, creating a set of labels and defining each. The strength of each of the editions of DSM has been “reliability” – each edition has ensured that clinicians use the same terms in the same ways. The weakness is its lack of validity. Unlike our definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnoses are based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective laboratory measure. In the rest of medicine, this would be equivalent to creating diagnostic systems based on the nature of chest pain or the quality of fever. Indeed, symptom-based diagnosis, once common in other areas of medicine, has been largely replaced in the past half century as we have understood that symptoms alone rarely indicate the best choice of treatment. Patients with mental disorders deserve better.” (Link)

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Offener Brief zur Zwangsbehandlung “psychisch Kranker”

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An die Mitglieder des

  • Ausschusses für Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren (Landtag Baden-Württemberg)
  • Innenausschusses (Landtag Baden-Württemberg)
  • Ausschusses für Justiz, Datenschutz und Gleichstellung (Hamburgische Bürgerschaft)
  • Gesundheitsausschusses (Hamburgische Bürgerschaft)

Sehr geehrte …,

Sie müssen sich u. a. mit der Zwangsbehandlung sog. psychisch Kranker auseinandersetzen. Die Rechtfertigung einer Zwangsbehandlung beruht u. a. auf einer psychiatrischen Diagnose. Die Validität dieser Diagnosen wird aktuell von einigen renommierten Experten und Organisationen auf Grundlage wissenschaftlicher Befunde massiv in Zweifel gezogen.

Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders), die so genannte Psychiater-Bibel, ist das offizielle Diagnose-Schema der American Psychiatric Association (APA). In Deutschland wird anstelle des DSM der psychiatrische Teil der ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) verwendet; die Diagnosen („Krankheitsbilder“) stimmen aber weitgehend überein.

Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel bezeichnete am 29. April 2013 in seinem „Director’s Blog“1 das DSM als nicht valide.2Nicht valide“ bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt. Insel schreibt:

“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient.“

Insels Einschätzung, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide seien, schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht schließlich dem US-Gesundheitsministerium und sein Direktor ist einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten. Das NIMH ist das mit Abstand größte psychiatrische Forschungszentrum weltweit. Es kostet den amerikanischen Steuerzahler jährlich 1,5 Milliarden Dollar, also rund 1,16 Milliarden Euro.

Insels Statement stellt keineswegs eine Meinung unter Meinungen dar. Sein Urteil kann sich vielmehr auf den Stand der empirischen Forschung zu dieser Frage stützen. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen scheiterte die psychiatrische Wissenschaft bisher bei ihrem Versuch, einen Zusammenhang zwischen psychiatrischen Diagnosen und Hirnprozessen und / oder Erbanlagen nachzuweisen. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen beispielsweise unmissverständlich fest:

Mehr als drei Jahrzehnte nach Johnstones erster computerisierter, axialer Tomographie des Gehirns von Individuen mit Schizophrenie, wurden keine konsistenten oder reliablen anatomischen oder funktionellen Veränderungen eindeutig mit irgendeiner psychischen Störung assoziiert und keine neurobiologischen Veränderungen wurden in der psychiatrischen Forschung mit bildgebenden Verfahren endgültig bestätigt.3

Der Psychologe und Psychotherapeut Jay Joseph zeigt darüber hinaus in einer Dokumentation des Forschungsstandes zur Erblichkeit der so genannten psychischen Krankheiten, dass bisher noch bei keiner dieser Störungen eine genetische Grundlage methodisch einwandfrei nachgewiesen werden konnte.4

Nicht nur kritische Psychiater, auch klinische Psychologen haben die psychiatrische Diagnostik aufs Korn genommen, weil sie ja ebenfalls mit diesen Klassifikationssystemen arbeiten müssen. Die „Division of Clinical Psychology“ der „British Psychological Society“, die 50.000 Psychologen vertritt, plädiert in einem „Position Statement“ (13. Mai 2013) dafür, das DSM sowie den psychiatrischen Teil der ICD zu verwerfen.5 Sie fordert eine Abkehr vom medizinischen Modell seelischen Leidens und vom „Krankheitskonstrukt“. Sie begründet dies u. a. mit der mangelnden Validität des DSM sowie der in Großbritannien wie auch in Deutschland üblichen ICD.

Die Validität ist die entscheidende Größe zur Berechnung der Trefferquote eines diagnostischen Verfahrens. Diese ist umso niedriger, je weniger valide die Diagnose ist. Ist die Validität gering, dann wird die Diagnose überwiegend vom Zufall bestimmt. Der Arzt könnte dann auch auslosen, ab der Patient eine “psychische Krankheit” hat oder nicht. Folgendes Beispiel veranschaulicht die praktische Bedeutung der Validität diagnostischer Verfahren:

In einer Einrichtung zur Behandlung der Krankheit X seien zehn Plätze frei. Es gilt, aus einem Kollektiv von 100 Leuten mit Verdacht auf X zehn Patienten auszuwählen, die diese Krankheit tatsächlich haben. Unser diagnostisches Verfahren sei leider nicht sehr valide; der Validitätskoeffizient betrage r= .15. Nun wissen wir aus Erfahrung, dass unter hundert Verdachtsfällen dreißig Prozent an X erkrankt sind.

  • Unter diesen Bedingungen werden vier Patienten aufgenommen, die tatsächlich an X erkrankt sind.
  • Sechs Patienten werden behandelt, obwohl sie X nicht haben.
  • 64 werden zu recht nicht behandelt, weil sie gesund sind.
  • 26 Patienten, die krank sind, werden nicht behandelt.
  • Die Trefferquote beziffert sich in diesem Fall auf ca. vierzig Prozent.
  • Wäre die Validität gleich null6, dann wären drei Probanden wahr positiv, sieben falsch positiv, 63 wahr negativ und 27 falsch negativ. Die Trefferquote entspräche somit der Zufallswahrscheinlichkeit von dreißig Prozent.
  • Bei guter Validität mit einem Koeffizienten in Höhe von r= .7 würde die Trefferquote in diesem Beispiel auf 82 Prozent steigen.(Der statistische Hintergrund dieses Beispiels wird in einem Aufsatz von Taylor und Russell erläutert.7)

Der Streit um das DSM-5 offenbart eine tiefe Krise der Psychiatrie, denn die Validität der Diagnosen ist keine rein akademische Frage. Mit welchen Recht werden eigentlich Menschen zwangsbehandelt, wenn das Gesetz dies nur bei “psychisch Kranken” mit Neigung zur Selbst- bzw. Fremdgefährdung zulässt, die Psychiatrie aber die Validität der entsprechenden Diagnosen nicht zu gewährleisten vermag? Angesichts fehlender Validität der Diagnostik kann niemand mit hinlänglicher Sicherheit garantieren, dass Zwangsbehandelte tatsächlich „psychisch krank“ und für sich selbst oder andere gefährlich sind.

Ich bitte Sie, die genannten Gesichtspunkte bei Ihrer Entscheidung zur Zwangsbehandlung „psychisch Kranker“ zu berücksichtigen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Hans Ulrich Gresch


1 Thomas Insel, Director’s Blog: Transforming Diagnosis

2 „The goal of this new manual, as with all previous editions, is to provide a common language for describing psychopathology. While DSM has been described as a “Bible” for the field, it is, at best, a dictionary, creating a set of labels and defining each. The strength of each of the editions of DSM has been “reliability” – each edition has ensured that clinicians use the same terms in the same ways. The weakness is its lack of validity. Unlike our definitions of ischemic heart disease, lymphoma, or AIDS, the DSM diagnoses are based on a consensus about clusters of clinical symptoms, not any objective laboratory measure. In the rest of medicine, this would be equivalent to creating diagnostic systems based on the nature of chest pain or the quality of fever. Indeed, symptom-based diagnosis, once common in other areas of medicine, has been largely replaced in the past half century as we have understood that symptoms alone rarely indicate the best choice of treatment. Patients with mental disorders deserve better.“

3 ”More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

4 Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83,

6 Diesen Wert müsste man annehmen, wenn man Insels Verdikt folgt.

7 Taylor, H. C. & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 565–578

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Aus gegebenem Anlass: Schon wieder Mollath

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Zitat aus der SZ:

“Der Zeitpunkt ist verstörend. Keine 24 Stunden nach dem Auftritt von Gustl Mollath vor dem Landtag erklärt nun die Strafvollstreckungskammer Bayreuth: Mollath bleibt weggesperrt. Noch verstörender ist die Begründung. Der Psychiater, der für das letzte Gutachten verantwortlich zeichnet, aufgrund dessen Mollath in der Psychiatrie bleiben muss, dieser Gutachter fühle sich “extrem beeinträchtigt” von den negativen Reaktionen auf seine Arbeit. Das Gericht hatte ihn im Lichte der neuen Erkenntnisse mit einer ergänzenden Stellungnahme beauftragt, diese verweigert der Gutachter nun offenbar.”

Mein Kommentar:

Es heißt, Mollath habe vor dem Untersuchungsausschuss rational und beherrscht gewirkt, er habe seine Position ruhig und durchdacht vorgetragen, er habe beileibe nicht den Eindruck eines Spinners oder gar eines gefährlichen Irren erweckt.

So sehen ihn Menschen mit gesundem Menschenverstand. Allein, der forensische Psychiater bringt sein wissenschaftliches Konstrukt der “Dissimulation” in Anschlag. Es sei, so sagt er, für den “psychisch Kranken” ganz typisch, seelische Gesundheit vorzutäuschen.

Ganz gleich also, was der Proband sagt oder tut, ob er die für ein “Krankheitsbild” charakteristischen Merkmale zeigt oder nicht – der Diagnostiker entscheidet, wie es in seinem Inneren aussieht.

Nun muss man allerdings wissen, dass psychiatrische Diagnosen subjektiv sind. Es gibt keine Laborwerte, keine Biomarker, keine objektiven Verfahren, um sie zu erhärten. Daher ist eine Diagnose natürlich dogmatisch. Und mit dem Konstrukt der “Dissimulation” wird sie sogar zu einem – um einen Begriff Karl Poppers zu verwenden – doppelt verschanzten Dogmatismus. Sie immunisiert sich perfekt selbst.

Die psychiatrische Diagnose ist erstens dogmatisch, weil sie nicht auf objektiv überprüfbaren Fakten beruht, sondern auf subjektiven Bewertungen. Sie ist zweitens dogmatisch, weil sie nicht anhand der angeblichen Kriterien des subjektiven Urteils widerlegt werden kann. Schließlich kann, wenn der Diagnostizierte die als Grundlage der subjektiven Bewertung dienenden, beobachtbaren Verhaltensmuster nicht zeigt, immer eine Dissimulation unterstellt werden. Die unausgesprochene Anklage lautet: „Dass Sie so vernünftig reden, beweist doch, wie verrückt Sie sind, sonst hätten Sie es doch gar nicht nötig, so zu tun als ob.“

Eine Diagnose, die sich gegen Kritik immunisiert, kann keine wissenschaftliche sein. Denn der Motor jeder Wissenschaft ist die Kritik. Damit aber eine Diagnose kritisierbar sein kann, muss sie in einer überprüfbaren Form vorgetragen werden. Es muss also Kriterien geben, anhand derer die Diagnose unabhängig von Diagnostiker beurteilt werden kann. Ist dies nicht der Fall, dann ist die Diagnose nicht falsifizierbar und demgemäß ein Dogma. Aus meiner Sicht haben dogmatische Gutachter vor Gericht nichts zu suchen.

Wenn man die “Logik” des doppelt verschanzten Dogmatismus akzeptiert, dann hat der Diagnostizierte solange unrecht, wie ihm der Diagnostiker nicht recht gibt. Daher muss Mollath weiter hinter psychiatrischen Gittern einsitzen, weil sich der Diagnostiker weigert, ihm recht zu geben.

Wollen wir, wollen wir Bürger, wir Bürger eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats diese “Logik” tatsächlich akzeptieren, auch wenn sie dem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlägt? Ist unser Respekt vor Experten wirklich so groß, dass wir ihnen auch dann noch trauen, wenn ihre Erfolge in der Praxis überaus dürftig sind? Oder ist genug genug, wenn kalauernde Psychiaterwitze zur düsteren, grausamen Realität mutieren?

PS: Mollath hat nur eine Chance, um von einem doppelt verschanzt dogmatischen forensischen Psychiater eine halbwegs günstige Prognose zu erhalten: Er müsste sich “krankheitseinsichtig” zeigen, er müsste bei seiner “Therapie” aktiv mitwirken und er müsste Anzeichen der “Besserung” erkennen lassen, kurz: er müsste so lange und durchdringend lügen, bis sich die Balken bzw. die Bretter vor den Köpfen forensischer Psychiater biegen. Denn “Heilung” bedeutet in diesem Metier – dies scheint auch der Fall Mollath wieder einmal zu bestätigen – nichts anderes als möglichst theatralische, möglichst werbewirksame Inszenierung von Unterwerfung. Mollath wäre vermutlich längst draußen, wenn er rechtzeitig gelogen und sich zum Schein unterworfen hätte.

Nebenbei: Da psychiatrische Diagnosen nicht valide sind, kann man weder objektiv feststellen, ob einer “psychisch krank” ist, noch, ob er “geheilt” oder “gebessert” wurde. Dazu fehlen einfach belastbare Daten, die unabhängig von der Meinung des Diagnostikers überprüfbar sind. Dieser Sachverhalt verdammt dieses Gewerbe zur Theatralik. Daran hat sich seit Jean-Martin Charcots Theater der Hysterie nichts geändert.

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Zwangsbehandlung: Alles Banane?

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Stellen Sie sich vor, im Staat Banania würde ein Teil der Bürger dazu gezwungen, die ungeliebten Produkte und Dienstleistungen einer bestimmten Gruppe von Anbietern zu konsumieren. Diese Bürger würden durch ein Losverfahren ausgewählt. Um keinen Unmut aufkommen zu lassen, würde diese Lotterie als “wissenschaftlich fundierte Diagnostik” getarnt und von hochkarätigen Experten verwirklicht. Diese Fachleute wären Mitarbeiter der Anbieter dieser Produkte und Dienstleistungen. Ihnen obläge es auch, die Zahl der Lose, die den betroffenen Bürger zum Zwangskonsum verpflichten, festzulegen.

Wenn Sie nun meinen, dass es sich bei dieser Geschichte um einen Kalauer handele oder um eine Episode aus einer schlechten Comedy-Serie, dann sollten Sie folgendes Dokument etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Drucksache 15/3588

Um dieses Dokument in den Banania-Kontext einordnen zu können, muss man sich allerdings Folgendes vor Augen halten:

  1. Psychiatrische Diagnosen und Prognosen sind nicht valide; dies bedeutet, dass die damit verbundenen Trefferquoten in etwa zufälligen Resultaten entsprechen. Nehmen wir also einmal an, es gäbe tatsächlich psychisch Kranke, die für sich selbst oder andere gefährlich sind. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung sei 1 Prozent. Dann entspräche die psychiatrische Selektion solcher Personen der Ziehung aus einer Urne mit 99 weißen Kugeln und einer roten, wobei die rote den tatsächlich psychisch kranken Gefährlichen repräsentiert.
  2. Richter neigen dazu, den forensischen Gutachten zu entsprechen, die auf Basis solcher Diagnostik und Prognostik verfasst wurden.
  3. Grundlage psychiatrischer Diagnostik sind Diagnosemanuale, die von Psychiatern mit oft engen Beziehungen zur Pharma-Industrie entwickelt wurden.

Manche Leute, die einräumen, dass psychiatrisch forensische Gutachten mitunter sehr fragwürdig seien, wenden häufig jedoch ein, dass gut ausgebildete und erfahrene Gutachter zu deutlich über der Zufallswahrscheinlichkeit liegenden Diagnosen und Prognosen in der Lage seien. Doch dies ist, im Licht der empirischen Forschung betrachtet, leider ein Trugschluss. Es mag ja sein, dass Ausbildung und Erfahrung in anderen Bereichen eine Rolle spielen, doch im psychiatrischen und psychotherapeutischen Sektor ist dies nicht der Fall. Die entsprechenden Beweise dafür hat Robyn Dawes u. a. in seinem Buch “House of Cards” systematisch dokumentiert (1).

Das Einzige, was das Procedere in Banania und die Zwangsrekrutierung von Kunden im psychiatrischen Bereich voneinander unterscheidet, sind die guten Absichten aller Verantwortlichen. Gute Absichten allein sind zwar kein Garant für gute Taten, aber sie taugen immerhin als Entschuldigung. Dies trifft natürlich auch auf die Verfasser und Unterzeichner des Dokuments zu, das ich Ihnen oben zur kritischen Durchsicht empfohlen habe.

In diesem Dokument heißt es:

Zwangsbehandlungen sollten nur noch möglich sein, wenn eine Person erstens durch ihre Krankheit nicht einsichtsfähig sowie behandlungsbedürftig sei und ihr durch die Behandlung ermöglicht werde, künftig ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, wenn zweitens eine Selbstgefährdung der Person bestehe oder drittens von der Person eine Gefahr für Dritte ausgehe.

Wir haben bereits gesehen, dass psychiatrische Diagnostik mangels Validität ihres Instrumentariums nicht in der Lage ist, Einsichtsfähigkeit, Behandlungsbedürftigkeit sowie Gefährlichkeit für sich selbst und andere festzustellen. Nun wäre es ja schön, wenn sie wenigstens vorherzusagen vermöchte, dass die Behandlung mit guten Erfolgsaussichten ein selbstbestimmtes Leben in Zukunft ermöglicht.

Doch leider auch hier: Fehlanzeige. Wie die Ärztezeitung berichtete, gibt es keine Daten zum Nutzen und Schaden der Zwangsbehandlung für Betroffenen (2). Ohne solche Daten aber kann es keine valide Prognose geben.

Fazit: Unter den gegebenen Bedingungen kann niemand mit hinlänglicher Gewissheit sagen, ob eine Person erstens durch ihre Krankheit nicht einsichtsfähig und behandlungsbedürftig ist und ob ihr durch eine Behandlung ermöglich wird, künftig ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen, und ob sie zweitens für sich selbst oder drittens für andere gefährlich ist. Im Grunde also dürfte deswegen niemand zwangsbehandelt werden, weil niemand mit hinlänglicher Gewissheit die genannten Kriterien erfüllt. Leider jedoch sieht alles danach aus, als sei es völlig egal, was im Grunde sein darf oder nicht. The show must go on.

Allein: Was auch immer man anstellt, um die Einrichtungen zur Zwangsbehandlung mit “Patienten” zu füllen – es läuft stets auf eine Lotterie hinaus. Und wenn es denn schon sein muss, dann sollten wir uns wenigstens in einer Hinsicht von Banania unterscheiden: keine Kaschierung des Procederes. Die Selektion der Zwangskundschaft könnte öffentlich im Anschluss an die Ziehung der Lottozahlen erfolgen. Dann winkt die Lottofee dem einen mit dem Millionen-Scheck und dem anderen mit der Zwangseinweisung.

Halt, wird mancher ausrufen: “Da stimmt doch was nicht. Dann hätte ja jeder die gleiche Chance, zum Zwangskunden von Psychiatrie und Psychopharmaka-Herstellern zu werden.”

Gut mitgedacht! Dies müssen wir noch korrigieren. Beispielsweise dadurch, dass wir die Personalausweisnummern von Leuten aus der Unterschicht gleich auf mehrere rote Kugeln drucken, also mehrfach in die Urne werfen. Schließlich wollen wir ja nicht, dass allzu viele Leute aus der Mittel- oder gar aus der Oberschicht hinter psychiatrischen Gittern landen und dass deswegen in gehobenen sozialen Schichten Unmut  entsteht, der den führenden politischen und wirtschaftlichen Kreisen tatsächlich gefährlich werden könnte. 

Anmerkungen

(1) Dawes, R. (1996). House of Cards. New York: Free Press
(2) Ärztezeitung, 1.10.2012: Regierung überfragt. Daten-Blackout um Zwangsbehandlungen

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Weglaufhaus Pfalz

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Das Weglaufhaus Pfalz braucht Ihre Unterstützung.

Auf der Crowdfunding-Seite “VisionBakery” können Sie Ihren Beitrag leisten.

In der Selbstbeschreibung des Weglaufhauses Pfalz heißt es:

“Das Weglaufhaus versteht sich als geschützter Lebensraum für eine bestimmte Zeit, der von den BewohnerInnen genutzt wird, Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des psychiatrischen Systems zu entwickeln. Dort finden sie zunächst einmal Ruhe und können die aktuelle Lebenssituation überdenken. Die BewohnerInnen können mit den MitarbeiterInnen ihres Vertrauens psychische, soziale, finanzielle, juristische, berufliche und gesundheitliche Schwierigkeiten besprechen und deren schrittweise Lösung planen und umsetzen. Im Weglaufhaus werden außergewöhnliche Verhaltensweisen und Wahrnehmungen als sinnvolle Reaktion auf belastende Lebensumstände verstanden. Es versteht sich von selbst, dass es keine allgemeine ‘Gebrauchsanweisung’ für den Umgang mit Menschen gibt. Wie etliche Untersuchungen belegen, verlieren persönliche Krisen in einer Umgebung außerhalb des psychiatrischen Systems ihre Dramatik. In einer solchen Atmosphäre sind die mittel- und langfristigen Prognosen für Betroffene wesentlich besser als nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie.”

Ausführliche Infos über dieses Projekt gibt es hier.

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Leseempfehlung

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Üblicherweise erscheint in der “Pflasterritzenflora” keine Verlagswerbung. Für dieses bemerkenswerte Projekt aber mache ich eine Ausnahme.

Hans Ulrich Gresch

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Ein Buch, das wachrüttelt
Made in Auschwitz. Psychiatrie: Der unsichtbare Krieg“ (2013), Teil 1

made-in-auschwitz-cover1ISBN 978-3-9816088-0-9
(E-Book PDF)
175 Seiten DIN A5
Preis: 14,99 €

Liebe Leser,

nun ist es soweit: Wir haben unser erstes Buch zum Thema Zwangspsychiatrie veröffentlicht. In einer für ALLE verständlichen Sprache bemühen wir uns die Hintergründe zu erklären, warum der psychiatrische Zwang für uns ALLE gefährlich ist. Anbei eine kleine Leseprobe zur freien Veröffentlichung.

Lesen und weiterempfehlen ist jetzt die Devise!

Veröffentlichungen des ArtBonus Verlages, den wir wegen „UNABHÄNGIG BLEIBEN WOLLENS“ gegründet haben, gehen zu 100% für das von IAAPA Polska (www.anty-psychiatria.info) geschirmte, psychiatrieunabhängige Familien-Projekt-Modell ArtBonus „Ersatz-Familien-Haus“ und werden für antipsychiatrische Kampagnen eingesetzt. In diesem Buch zeigen wir nicht nur die Fakten auf, dass die Psychiatrie ein gut organisiertes, verbrecherisches Monstrum ist, wir beweisen auch, dass unabhängige Alternativen unerwünscht sind und hinter dem Rücken der Öffentlichkeit bekämpft werden…

Wir hoffen auf Ihre Unterstützung bei der Verbreitung dieses gesellschaftlich wichtigen Buches. Auch eine gedruckte Form wird bald herausgegeben und im Handel erhältlich sein. Die spezielle Patientenverfügung + Vorsorgevollmacht, „PatVerfü“, die vor psychiatrischen Übergriffen schützt, ist nur als eine Übergangslösung gedacht; jetzt geht es um die ,,Wurscht”! Wir werden nicht zulassen, dass die neu eingeführten Gesetze bestehen bleiben. Eine immer noch aktuelle Warnung… vom Pastor Niemöller:

Als die Nazis die Kommunisten holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Kommunist.

Als sie die Sozialdemokraten einsperrten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Sozialdemokrat.

Als sie die Gewerkschafter holten,
habe ich geschwiegen,
ich war ja kein Gewerkschafter.

Als sie mich holten,
gab es keinen mehr,
der protestieren konnte.“

Hier die Leseprobe aus: „Made in Auschwitz. Psychiatrie: Der unsichtbare Krieg” (2013): http://artbonus.files.wordpress.com/2013/07/teil-1-made-in-auschwitz-_psychiatrie_der_unsichtbare_krieg_e-book_pdf_leseprobe.pdf

Hier zu erwerben: „Made in Auschwitz. Psychiatrie: Der unsichtbare Krieg” (2013) – https://www.1a-shops.eu/cgi-bin/shopserver/shops/s019448/index.cgi?aktion=detail&ai=537250&ps=0&subid=234915

Heute bei Ebay-Aktion: http://cgi.ebay.de/ws/eBayISAPI.dll?ViewItem&item=321166898144

Hier Facebook-„Gefällt mir“-Seite: https://www.facebook.com/pages/Made-in-Auschwitz-Psychiatrie-Der-unsichtbare-Krieg/478680275547830?ref=hl

Familien Projekt-Modell ArtBonus: www.artbonus.info

ArtBonus auf Facebook: https://www.facebook.com/pages/ArtBonus/596615690358374?ref=hl

 

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Mollath, sentimental

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Ein Mann sitzt hinter psychiatrischen Gittern. Alle Welt glaubt zu wissen, dass ihn eine böse Frau dorthin brachte, unterstützt von Dunkelmännern im Hintergrund, dass er Opfer eines Justizirrtums, ja, einer Rechtsbeugung wurde. Dass nun, aus zwielichtigen Gründen, den Anträgen auf Wiederaufnahme seines Falls nicht stattgegeben wurde, ist Wasser auf die Mühlen der Justiz-Kritiker. Die Empörung ist gewaltig. Kaum ein Politiker lässt die Chance ungenutzt verstreichen, vor laufenden Kameras das Schicksal des armen, armen Mannes, Gustl Mollath zu bedauern.

Dies ist Sentimentalität, schiere, pure, unverfälschte Sentimentalität. Fakt ist, dass der Mann rechtskräftig verurteilt wurde und dass dieses Urteil nach wie vor Bestand hat. Daran gibt es nichts zu deuteln. Doch die Sentimentalität erlaubt keinen abwägenden Standpunkt. “Der Mann sitzt unschuldig in der Psychiatrie!”, heißt es. Die so zürnen, bemerken nicht einmal, dass dies ja auch die Auffassung der Gerichte ist. Gustl Mollath wurde für schuldunfähig befunden und deswegen, weil er nach wie vor als gefährlich und psychisch krank gilt, sitzt er hinter Gittern.

Man kann natürlich die Auffassung vertreten, dass er weder seine Frau gewürgt, noch Autoreifen zerstochen habe, wie ihm vorgeworfen wird, dass er auch nicht verrückt und erst recht nicht allgemein gefährlich, sondern dass er vielmehr ein friedfertiger Zeitgenosse mit einer beachtlichen Selbstbeherrschung sei. Doch dabei sollte man nicht vergessen, dass es sich bei dieser Auffassung nur um eine subjektive Gewissheit, nicht aber um objektiv erwiesene Tatsachen handelt.

Doch solche feinen Unterschiede zu machen, lässt die Sentimentalität nicht zu. Bayern sei, so heißt es, kein Rechtsstaat mehr, weil Gustl Mollath immer noch hinter Gittern sitze. Wer dies behauptet, stellt sich die Frage, ob ein Staat, der kein Rechtsstaat ist, so viele Gerichte mit einen derartigen Fall beschäftigen würde, dann wohl eher nicht. Einem Staat, der kein Rechtsstaat ist, würde ein Schauverfahren genügen – oder, was noch wahrscheinlicher wäre, es würde gleich kurzer Prozess gemacht.

Gustl Mollath erregt die Gemüter aus einem Bündel von Gründen. Die “böse Frau” passt den antifeministischen Geistern ins Konzept. Die mögliche Verstrickung von (lokalen) CSU-Granden gefällt allen, die lieber eine andere Partei an der Regierung sähen. Die Schwarzgeld-Geschichten sind ein gefundenes Fressen für die Verschwörungstheoretiker. Bundesweit aufwallende Emotionalität, die dem Anlass nicht gerecht wird, kurz: Sentimentalität ist jene Reaktion, die der geistig-moralischen Verfassung unseres Landes entspricht.

Das ist das vorherrschende Bild. Gelegentlich melden sich allerdings auch Stimmen zu Wort, die den Fall in den rechtlichen Zusammenhang stellen und den Eindruck eines nüchternen Fazits erwecken. Die Bundesjustizministerin, so hört man beispielsweise, will die Lehren aus dem Fall ziehen und die Einweisung in geschlossene Anstalten erschweren. Diese dürfe nur die “ultima ratio” sein. Die Unterbringung soll häufiger überprüft, die Dauer soll begrenzt, die Anforderungen an die Gutachter sollen erhöht werden.

Was nüchtern und besonnen klingt, ist aus meiner Sicht aber nur Augenwischerei. Was nützen wohl häufigere Überprüfung, begrenzte Zeitdauer und erhöhte Anforderungen an Gutachter, wenn die Voraussetzungen für eine rationale, ethisch vertretbare Entscheidung über eine Unterbringung nicht gegeben sind. Die Psychiatrie ist grundsätzlich nicht in der Lage, eine “psychische Erkrankung” valide zu diagnostizieren und die Gefährlichkeit deutlich oberhalb der Glaskugelschau zu prognostizieren. Daher kann nicht mit Anspruch auf Objektivität und wissenschaftliche Redlichkeit gesagt werden, dass ein Mensch psychisch krank und deswegen gefährlicher als andere Leute sei.

Gustl Mollath sitzt aus purer Willkür hinter psychiatrischen Gittern. Das ist der wahre Kern der sentimentalen Aufwallungen. Doch die Sentimentalität verstellt den Blick dafür, dass alle anderen, die sich dort befinden, ebenfalls Opfer schierer Beliebigkeit sind. Ohne psychiatrische Gutachterei wäre Gustl Mollath längst wieder frei, selbst wenn er die ihm zur Last gelegten Taten tatsächlich begangen hätte. Auch falls Schwarzgeld,  Nürnberger CSU-Granden und bekannte Persönlichkeiten aus der Wirtschaft im Spiel gewesen wären, könnte sich Gustl Mollath längst wieder seiner Freiheit erfreuen, wenn er nicht Opfer psychiatrischer Maßnahmen geworden wäre.

Denn die genannten finsteren Kräfte, sofern sie denn tatsächlich involviert gewesen sein sollten, hätten ihn nicht so lange in den Knast bringen können, wie er nun schon in der Psychiatrie einsitzt. Doch die Sentimentalen möchten davon nichts wissen, wohl auch, weil sie sich den Spaß an sentimentalen Reaktionen nicht verderben lassen wollen. Sie möchten sich ja wieder schön aufregen dürfen, wenn der nächste Sexualtäter, der aus dem Maßregelvollzug entlassen wird, wenig später neuerlich Kinder missbraucht. Dann möchte man schließlich jene an den Pranger stellen können, die diesen Täter in die Freiheit entließen, dann möchte man aus vollen Herzen fordern können: “Wegsperren für immer!”

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Soll Mollath lügen?

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Manche meinen, Gustl Mollath wäre längst draußen, wenn er sich “krankheitseinsichtig” gezeigt, an “Therapien” teilgenommen und eine allmähliche Besserung seines Zustandes (im Sinne seiner “Behandler”) vorgetäuscht hätte. Kurz: Wenn er denn nur gelogen hätte, könnte er längst wieder sein Leben in Freiheit genießen.

Um den Wahrheitsgehalt dieser Einschätzung zu beurteilen, muss man sich vor Augen führen, dass die Psychiatrie eine “psychische Krankheit” weder valide zu diagnostizieren vermag, noch dazu in der Lage ist, den Erfolg der “Behandlung” nach objektiven Kriterien festzustellen. Der Erfolg der “Behandlung” hängt vor allem davon ab, ob der “Behandelte” daran glaubt, dass sie sinnvoll und Erfolg versprechend sei.

Noch einmal: Es gibt keine objektiven Tests, keine soliden, empirisch gesicherten Verfahren, mit denen man feststellen könnte, ob jemand “psychisch krank” und gefährlich ist und ob eine “Behandlung” bei ihm anschlägt. Wir bewegen uns hier also ausschließlich im subjektiven Raum, in dem das Verhalten des “Patienten” zwischen authentischem Ausdruck von Befindlichkeiten sowie Täuschung und Schein oszilliert. Dies ist unausweichlich. Auch die Anwendung standardisierter Methoden kann daran nichts ändern.

Es dürfte sich von selbst verstehen, dass die meisten Psychiater, die in diesem Bereich arbeiten, natürlich wissen, dass manche “Patienten” geneigt sein werden, “Krankheitseinsicht” und allmähliche “Heilung” zu simulieren. Es kommt für sie also darauf an, die Spreu vom Weizen zu trennen. Man darf sich das durchaus als einen mentalen Ringkampf zwischen einem zunächst misstrauischen Arzt und einen “Patienten” vorstellen, der, wer kann das einschätzen?, arglos oder arglistig ist.

Der kluge “Patient” weiß natürlich, dass ihm der Arzt zunächst nicht traut und er wird daher gar nicht erst versuchen, ihn unmittelbar von seiner “Compliance” zu überzeugen. Vielmehr wird er den Verlauf einer erfolgreichen Gehirnwäsche imitieren. Zunächst also wird er heftig Widerstand leisten, ermatten, sich zu neuem Widerstand aufschwingen und schließlich so tun, als habe er schlussendlich doch (“Wie jeder hier, verlassen Sie sich darauf!”) seinen Bruchpunkt erreicht. Danach wird er handzahm werden. Hin und wieder wird sein Widerstand noch einmal aufflackern, aber nie so heftig wie zuvor und auch nur kurz. Dann darf man ihn wohl als remittiert einstufen.

So läuft das bei den klugen Patienten. Es heißt, dass die klugen nicht selten zu jenen Patienten gehören, denen man nicht im Dunkeln begegnen möchte. Aber Genaues darüber weiß man nicht, denn diese Prozesse wurden niemals wissenschaftlich erforscht. Die Psychiatrie möchte Derartiges erst gar nicht so genau wissen. Und das kann man ja auch gut verstehen.

Gustl Mollath ist offenbar kein guter “Patient”. Er ist nicht “krankheitseinsichtig”, er lässt sich nicht diagnostizieren, er lässt sich nicht “behandeln”, er zeigt keine Besserung seines Zustandes. Unmöglich kann die Psychiatrie von sich aus seine Entlassung empfehlen. Das wäre nicht gut für die Moral. Andere “Patienten” könnten sich daran ein Beispiel nehmen.

Das geht nicht. Grundsätzlich darf nur entlassen werden, wer sich als gebessert zeigt, wer der Psychiatrie eine gute Arbeit attestiert. Da es keinerlei objektiven Maßstab dafür gibt, kommt es darauf an, dass der Patient das ganze Spektrum der Unterwerfungsgesten zeigt, die eine Remission unter Beweis stellen. Doch Gustl Mollath zeigt ungebrochen Widerstand. Und nicht genug damit: Er zeigt seinen Widerstand in sozialverträglicher Form, erweckt den Eindruck, gar nicht irre zu sein. Er randaliert nicht, er schäumt nicht, keine Spur von Raserei, keine Aussetzer, nichts.

So kommt er vermutlich nie frei, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht spricht ein Machtwort. Oder gar der Europäische Gerichtshof. Die Richter müssen sich allerdings klarmachen, was auf dem Spiel steht. Gustl Mollath ist der prominenteste Patient des Maßregelvollzugs aller Zeiten. Wenn so einer ohne die erforderlichen Unterwerfungsgesten freikommt, wenn so einer sich hinterher sogar beklagt und Bücher schreibt, dann hat das natürlich Auswirkungen auf die Moral der Truppe. Nicht auszudenken.

Soll Mollath lügen? Hätte das jetzt überhaupt noch einen Sinn? Könnte dann die Psychiatrie noch halbwegs das Gesicht wahren, wenn sie ihn dann schlussendlich doch noch freiwillig freiließe oder würde das Ganze in diesem Fall vollends in eine Klamaukveranstaltung verwandelt. Schon jetzt herrscht ja Jahrmarktstimmung. Mit jedem “Haut den Mollath!” werden die Rufe “Schwindel!”, “Betrug!”, “Skandal!” ja lauter.

Brechen wir hier ab. Mollath soll natürlich nicht lügen. Er soll ausharren. Irgendwann muss ihn die Bande ja freilassen.

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Autoritäten

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Dringender den je braucht die Psychiatrie Autoritäten. Und dies nicht nur wegen der Sentimentalität in den öffentlichen Debatten, die sich um den Fall Mollath ranken. Man kreidet der Psychiatrie auch an, dass sie in ihren Verhältnis zur Pharmaindustrie Dreck am Stecken habe. Doch der Reihe nach:

Wissenschaftlich hat die Psychiatrie wenig zu bieten. Die Diagnosen sind nicht valide. Es gibt keine Laborbefunde, keine Biomarker, nichts, was eine Übereinstimmung zwischen den Diagnosen und realen Krankheitsprozessen nachweisen würde. Die medikamentösen Therapien richten langfristig mehr Schaden an, als sie Nutzen stiften. Die Psychotherapien sind zwar effektiv, aber jede Methode ist gleich wirksam und es spielt keine Rolle, ob der “Therapeut” ein langjährig erfahrener, gut ausgebildeter Fachmann ist oder ein blutiger Laie. Die Elektroschocktherapie ist ebenfalls nicht wirksamer als eine Placebo-Behandlung. Daher kann auch niemand vorhersagen, bei wem welche “Therapie” am besten wirkt und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg eintreten wird.

Diese Aussage scheint im Widerspruch zu dem Bild zu stehen, dass sich dem wohl informierten Leser deutscher Intelligenzblätter oder den Zuschauern des Edel-Fernsehens nach 23 Uhr bietet. Dort scheinen Psychiatrie und Neuro-Wissenschaften dauernd Triumphe zu feiern. Allerdings sollte man bedenken, dass die Befunde dieser Forschungen in aller Regel nicht zutreffen, weil die Studien nicht die Anforderungen für Untersuchungen erfüllen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig als falsch sind. Wer dies nicht glauben mag, möge den Artikel von John Ioannidis lesen: “Why Most Published Research Findings Are False.”

Es ist daher auch kein Wunder, dass es meistens nicht gelingt, diese “bahnbrechenden” Resultate zu replizieren; doch davon berichten die Qualitätsmedien, wenn überhaupt, nur in einem Dreizeiler auf der allerletzten Seite des Feuilletons. Die Qualitätsmedien pflegen diese Praxis natürlich kostenlos, entweder aus purer Solidarität mit der Psychiatrie und Pharmaindustrie oder aus anderen, eher schleierhaften Gründen.

Wenn man sich die Meta-Studien und Review-Artikel anschaut, die methodisch auch nur halbwegs Bestand haben, so muss man durchgängig feststellen, dass die eingangs berichtete Situationsschilderung durchweg zutrifft. Gut dokumentiert ist der Stand der Dinge beispielsweise in Valensteins “Blaming the Brain”, in Dawes’ “House of Cards”, in Whitaker “Anatomy of an Epidemic” oder in Bentalls “Doctoring the Mind”.

Trotz der Schützenhilfe durch die Qualitätsmedien stehen die Marketingabteilungen von Psychiatrie und Pharmaindustrie jedoch zunehmend vor einem Legitimationsproblem. Erstens haben Pharma-Skandale den Glauben daran erschüttert, dass die psychiatrische Forschung sich unabhängig von äußeren Einflüssen und finanziellen Anreizen nur zum Wohle der Patienten entfaltet und zweitens ließen auch Fälle wie der des Gustl Mollath Zweifel daran aufkommen, dass in der Psychiatrie alles mit rechten Dingen zugeht.

Gefragter denn je sind also Autoritäten, die dem staunenden Publikum überzeugend vermitteln, dass die Psychiatrie im Großen und Ganzen, auch ohne Biomarker und zweifelsfreie wissenschaftliche Befunde und trotz gelegentlicher Missgriffe aufgrund fragwürdiger Einflüsse von außen, eine gute Arbeit macht. Gebraucht wird der Edelpsychiater, der dem Volk das Gefühl vermittelt, dass die zufriedenen Mienen dankbarer Patienten immer noch aussagekräftiger seien als miese Meta-Studien oder Berichte über Whistleblower, die zu unrecht in Psychiatrie einsitzen.

Solchen Autoritäten haben im Prinzip leichtes Spiel, denn das Bewusstsein der Massen wird wie selten zuvor durch Sentimentalität geprägt. “Sentimentalität”, schreibt Theodore Dalrymple in seinem Buch “Spoilt Rotten. The Toxic Cult of Sentimentality”, “ist der Ausdruck von Emotionen ohne Urteil.” Dalrymple analysiert diese Gemütsverfassung als vorherrschend in Großbritannien, aber sein Befund gilt gleichermaßen für Deutschland. Sentimentalität prägt nicht nur das private Erleben und Verhalten der Menschen, sondern sie ist das vorherrschende Kennzeichen unserer politischen Kultur geworden.

Solche Autoritäten müssen sich also öffentlich aus warmherzige Praktiker konfigurieren, die erfolgreich Patienten helfen; sie müssen Kritiker als Theoretiker diffamieren, die entweder naiv sind oder sich von zweifelhaften Interessen leiten lassen. Wenn es ihnen gelingt, handverlesene und handzahme Patienten in den Mittelpunkt zu rücken, die sich vollen Herzens als von der Psychiatrie gerettet empfinden, dann werden sie vergessen machen, dass die Psychiatrie, im Lichte der empirischen Forschung, vor einem Scherbenhaufen steht.

Im Zeitalter der Sentimentalität kommt es nämlich gar nicht darauf an, ob man tatsächlich gerettet wurde, sondern nur darauf, dass man sich als gerettet empfindet und sich öffentlich dazu bekennt. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob man nachweislich “psychisch krank” ist, sondern man ist “psychisch krank”, weil man unter einer psychischen Krankheit zu leiden vorgibt. Im Zeitalter der Sentimentalität kommt es auch nicht darauf an, ob man tatsächlich von der Psychiatrie geheilt wurde, sondern nur darauf, dass man seinem Psychiater dafür so dankbar ist und zu ihm aufblickt.

In welchem Ausmaß Sentimentalität auch die politische Ebene beherrscht, wird beispielsweise an der neueren Gesetzgebung zur Zwangsbehandlung deutlich. Eine rationale Analyse zeigt, dass Zwangsbehandlungen gegen die Behindertenrechtskonvention verstoßen und dass die Psychiatrie gar nicht in der Lage ist, die Gefährlichkeit eines Menschen für sich und andere auch nur halbwegs verlässlich vorherzusagen. Dennoch hält man an ihr unbeirrbar fest. Das Volk hält die Irren mehrheitlich fälschlicherweise für gefährlicher als andere Menschen, für unberechenbar, für verantwortungslose Reaktionsautomaten. Also passt sich die Gesetzgebung dieser sentimentalen Stimmung an – obwohl es in einer repräsentativen Demokratie gerade nicht die Aufgabe der Politik sein kann, solche Stimmungen bedingungslos 1 zu 1 umzusetzen. Ohne Minderheitenschutz wird eine Demokratie zur Diktatur einer Mehrheit.

Es wird dennoch immer Leute geben, die auf einem rationalen Urteil, auf einer systematischen Analyse bestehen. Doch im Zeitalter der Sentimentalität werden solche Leute als Störenfriede betrachtet. Die Autoritäten sind gut beraten, auf solche Leute gar nicht ein-, sondern achselzuckend oder leicht ironisch über sie hinwegzugehen. Denn heutzutage ist es nicht nur üblich, sentimental zu reagieren, es wird nicht nur toleriert, nein, es ist Pflicht. Wer nicht sentimental reagiert, macht sich verdächtig, eckt an, läuft Gefahr, dass man befremdet auf Distanz zu ihm geht.

Heute ist es nicht mehr unbedingt erforderlich, dass die Autoritäten saloppe Sakkos tragen und Pfeife rauchen. Sie dürfen sogar weiblich sein, vor allem, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Sie müssen sich aber als Beschützer ihrer Patienten gerieren, selbst wenn sie diese gegen ihren Willen behandeln. Hier ist dann zu betonen, dass die Behandlung wider Willen zu ihrem Besten geschehe und dass die Patienten hinterher dafür dankbar seien. Im Zeitalter der Sentimentalität ist ein Beweis mittels Studien für diese steile These nicht erforderlich. Der Beweis erfolgt durch Behauptung.

Dies gilt sogar dann, wenn sich die Autoritäten auf Studien beziehen. Diese dürfen nur allgemein angesprochen werden (“Studien belegen, dass…”), aber niemals identifizierbar zitiert werden. Das sentimentale Publikum würde dies als Aufforderung verstehen, sich selbst ein Urteil zu bilden, und wäre pikiert. Das wollen wir ja nun doch nicht riskieren.

Zur Zeit sind die psychiatrischen Autoritäten allerdings etwas gehandicapt, weil auch der Fall Mollath so gut ins sentimentale Weltbild passt. Die Gegenseite hat also ein gefundenes Fressen, und je länger Mollath einsitzt, desto nahrhafter wird es. Doch freilassen kann man ihn nicht, weil er sonst ein verhängnisvolles Vorbild für andere Patienten würde. Diese könnten sich, ermutigt durch den Erfolg, animiert fühlen, nicht nur ihre Diagnosen, sondern gleich die gesamte Psychiatrie in Frage zu stellen. Zum Glück konzentriert sich die Sentimentalität überwiegend auf die Justiz und die bayerische Politik. Es kommt für die Autoritäten also darauf an, sich als unschuldige Vollstrecker des Willens übergeordneter Gewalten darzustellen und unverbrüchlich daran festzuhalten, dass Mollath dennoch und trotz alledem zu seinem Besten einsitze und, den Umständen entsprechend, gut versorgt werde.

Wenn mir abschließend dieser Einwand erlaubt sein sollte, dann möchte ich allerdings doch darauf hinweisen, dass für die Patienten der Psychiatrie Sentimentalität das schiere Gift ist. Wenn nämlich die Wissenschaft zeigt, dass die Diagnosen nicht valide sind und die Therapie nicht viel hilft, dann sieht es in der Praxis nicht etwa anders und besser, sondern zumindest genauso und wahrscheinlich noch viel schlimmer aus.

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Mollath zu recht hinter Gittern?

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Zwei wichtige Kenngrößen zur Beurteilung der Qualität von Verfahren zur Vorhersage menschlichen Verhaltens sind “Sensitivity” und “Specificity”. “Sensitivity” ist die Rate der richtig als Merkmalsträger klassifizierten Personen. “Specificity” ist der Prozentsatz der richtig als Nicht-Merkmalsträger eingestuften Probanden.

Ein verhältnismäßig gutes Instrument zur Vorhersage gewalttätigen Verhaltens ist das der “Violence Risk Assessment Guide” (VRAG). Er hat eine “Sensitivity” von .73 und eine “Specificity” von .63. (Dabei handelt es sich um Durchschnittswerte einer größeren Zahl von Studien).

In der CATIE-Studie (Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness) wurde als Rate körperverletzender Gewalt bei den Studienteilnehmern  ein Wert von 3,6 Prozent ermittelt. Das ist die so genannte Base Rate. Wir haben nun alle drei Werte zusammen, um die “number needed to detain” berechnen zu können. Unter diesen, sehr realistischen Bedingungen muss man 15 Leute hinter psychiatrische Gitter bringen, um eine Gewalttat zu verhindern.

Es bringt bei niedrigen Base Rates im Übrigen nicht viel, die diagnostischen Verfahren zu verbessern. Im vorliegenden Fall würde beispielsweise eine Verbesserung der “Sensitivity” um 20 Prozent, unter sonst gleichen Bedingungen, die “number needed to detain” nur auf 13 verringern. Man müsste als 13 Leute wegschließen, um eine Gewalttat zu verhindern.

Dieses Beispiel stammt aus einem Aufsatz von Alec Buchanan (Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184).

Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass die im Fall Mollath eingesetzten Instrumente eine bessere “Sensitivity” und “Specificity” aufweisen als im obigen Beispiel. Aus dieser Sicht darf man also annehmen, dass er mit einer erheblichen größeren Wahrscheinlichkeit zu unrecht als zu recht hinter psychiatrischen Gittern einsitzt. Und nicht nur er.

Man mag nun einwenden, dass Gustl Mollath ein Spezialfall sei. Doch wenn man diese Auffassung vertritt, sollte man – da die menschliche Freiheit ein hohes Rechtsgut ist – diese Behauptung auch durch belastbare Daten erhärten können.

Es wird gesagt, Mollath ließe sich nicht behandeln, und daher sei er immer noch gefährlich. Dies allerdings setzt voraus, dass Behandlungen tatsächlich die Gefährlichkeit zu senken vermögen.

Da Mollath ja seine Frau verprügeln haben soll, werfen wir einen Blick in die entsprechende Forschungsliteratur. Eine Meta-Studie von Babcock und Mitarbeitern ergab, dass die heute üblichen Verfahren nur einen sehr geringen Einfluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit haben (Does batterers’ treatment work? A meta-analytic review of domestic violence treatment. Clinical Psychology Review 23 (2004) 1023 – 1053).

Selbst wenn Mollath also seine Frau verprügelt haben sollte, so stünde nicht zu erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls durch Teilnahme an einer Therapie gesenkt werden könnte. Warum also sitzt er ein? Er ist mit einer erheblich größeren Wahrscheinlichkeit nicht gewaltbereit als ein zukünftiger Gewalttäter und selbst wenn er ein potentieller Gewalttäter wäre, würde ihm eine Therapie nicht nennenswert helfen.

Es gilt hier im Besonderen, was auch im Allgemeinen zutrifft. Die Psychiatrie kann weder eine passable Diagnostik, noch eine brauchbare Therapie bieten. Dies ist im Übrigen nicht die private Einschätzung eines notorisch nörgelnden Psychologen, sondern dies ist Stand der Forschung. Wenn man Marketing und Propaganda als irrelevant aus der einschlägigen Literatur herausoperiert, dann bleibt genau dieses Fazit übrig. Mollath ist also kein Einzelfall, sondern er ist der Regelfall.

Ist es wirklich gerechtfertigt, sehr viele Menschen ohne zukünftiges Gewaltpotenzial wegzusperren, um ein paar Gewalttaten zu verhindern? Oder ist es der Preis der Freiheit, Gewalttaten hinzunehmen, die man, wenn überhaupt, nur durch Polizeistaatmethoden verhindern könnte. Denn es sind Polizeistaatmethoden, Leute ohne vernünftigen Grund wegzusperren, auch wenn dies auf rechtlicher Grundlage erfolgt.

Je häufiger die Psychiatrie in den alltäglichen Umgang der Bürger miteinander eingreift, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Bürger zu unrecht auf Dauer hinter psychiatrischen Gittern landet, weil er als Gefahr für andere oder sich selbst eingestuft wird. Jeder, der die Polizei ruft, weil ein Mitmensch agitiert ist und sich rätselhaft aufführt, beispielsweise, sollte sich dies klarmachen. Die Psychiatrie hat keinerlei Möglichkeiten, hier die Spreu vom Weizen zu trennen.

Im Fall Mollath werden der Ex-Ehefrau finstere Absichten unterstellt, als sie sich von einer Psychiaterin aus der Ferne die Verrücktheit ihres damaligen Ehemannes attestieren ließ. Wie dem auch sei: Ein Ehepartner, beispielsweise, der gegenüber einem Arzt, selbst mit besten Absichten, einen vergleichbaren Verdacht auch nur andeutet, spielt mit dem Feuer. Dies sollte sich jeder sehr gut überlegen.

Seitdem Mollath zum prominentesten Psychiatriepatienten aller Zeiten avancierte, kann niemand mehr behaupten, er habe nichts Böses ahnen können. Nein, wer sich heute mit der Psychiatrie einlässt, kann und muss wissen, was ihm oder seinen Angehörigen blüht.

Selbst wenn im Prozess gegen Gustl Mollath alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, so würde dies an meiner Einschätzung nichts ändern, denn die entscheidenden Fakten, auf die ich meine Position stütze, gelten unabhängig von diesem Fall. Sie sind allgemein gültig. Meine Einschätzung ist auch unabhängig davon zu sehen, ob es aufgrund einer “psychischen Krankheit” gefährliche Menschen überhaupt gibt oder nicht. Sie bezieht sich nur auf die Effizienz von Prognostik und Therapie, nicht aber auf mutmaßliche Ursachen gewalttätigen Verhaltens.

Die Situation könnte sich allerdings einschneidend ändern, wenn man die angeblichen pathologischen Mechanismen psychogener Gewalt tatsächlich entdecken oder wenn man gar Biomarker entdecken würde, die sie indizieren. Dies könnte die Prognostik natürlich erheblich verbessern. Doch wenn man heute Gustl Mollath von Kopf bis Fuß durchchecken würde auf der Suche nach Anzeichen einer fortbestehenden Gewaltbereitschaft, würde man nichts finden; kein Wunder: Man wüsste ja noch nicht einmal, wonach man suchen sollte.

Ich wüsste nur zu gern, auf welcher theoretischen Grundlage die Gutachten beruhen, in denen Mollath Gefährlichkeit unterstellt wird. Ich könnte man analysieren, ob diese Theorien im Licht der empirischen Forschung erhärtet wurden. Mit scheint aber, dass es diese theoretische Grundlage gar nicht gibt, sondern dass vielmehr die Gutachten in der Gewissheit erstellt wurden, dass schon niemand danach fragen wird. Aber hier lasse ich mich gern eines Besseren belehren.

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Ist Mollath (immer noch) gefährlich?

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Wenn ein psycho-physiologischer Mechanismus psychogener Gewalt bekannt wäre und wenn es einen eindeutigen Biomarker für diesen Mechanismus gäbe, dann könnten wir klar sagen, ob Gustl Mollath zu Recht hinter psychiatrischen Gittern sitzt oder nicht. Ein solcher Mechanismus ist aber nicht bekannt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass psychiatrische Diagnostik und Prognostik nicht hinlänglich valide sind. Und daraus wieder folgt zwingend, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten, die wegen mutmaßlicher Gefährlichkeit in der Psychiatrie einsitzen, dort nicht aus gutem Grund festgehalten wird.

Manche meinen, dass die Gutachten, die Mollath hinter Gitter brachten, schlecht seien. Dies ist jedoch eine unhaltbare Auffassung, denn angesichts der mangelnden Validität psychiatrischer Prognostik und Diagnostik kann es keine Gutachten geben, die hinsichtlich der hier relevanten Kriterien das Urteil “gut” auch verdienten. Wie schlüssig ein Gutachten auch immer argumentieren und wie elegant und verständlich es auch formuliert sein mag: An der Tatsache, dass es auf keiner empirisch erhärteten Grundlage zur Vorhersage psychogener Gewalt beruht, ändert all dies gar nichts. Ein Gutachten, dass Mollath psychische Gesundheit und Friedfertigkeit bescheinigte, wäre also kein fachlich gutes Gutachten. Es wäre ebenso willkürlich wie ein gegenteiliges.

Angesichts der mangelnden Validität psychiatrischer Diagnostik und Prognostik und der Seltenheit psychogener Gewalttäter muss eine große, eine sehr große Zahl von Menschen ohne vernünftigen Grund in der Psychiatrie festgehalten werden, um eine Gewalttat zu verhindern. Hinzu kommt, dass eine weitaus größere Zahl potenzieller Gewalttäter frei herumläuft, weil niemand auf die Idee käme, sie für “psychisch krank” und daher gefährlich zu halten. Wir betreiben hier einen Kult der Sicherheit, der auf einem Mythos beruht, dem nämlich, dass Psychiatrie und Justiz die Gefährlichen herausfischen könnten. Dies jedoch ist definitiv nicht der Fall.

Niemand kann dafür garantieren, dass Gustl Mollath nach seiner Freilassung keine gewaltbezogene Straftat begeht. Eine solche Garantie kann für niemanden gegeben werden. Wenn ein psycho-physiologischer Menchanismus, der Gewalttaten zugrundeliegt, bekannt wäre, dann könnte man vielleicht die Spreu vom Weizen trennen; aber zur Zeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass ein solcher Mechanismus kurz- oder mittelfristig entdeckt werden könnte.

Ich halte es auch für zweifelhaft, ob er jemals entdeckt wird. Denn ein solcher Mechanismus bedeutet ja, dass ein Prozess im Gehirn dem Betroffenen keine Wahl lässt, sich für oder gegen eine Gewalttat zu entscheiden. Manche meinen, dass die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften im Allgemeinen und der Neurowissenschaften im Besonderen die Existenz eines freien Willens ausschlössen. Die einen seien gesetzestreu, weil sie ihr Nervensystem dazu determiniere und die anderen handelten aus eben diesen Gründen gesetzeswidrig. Der freie Wille sei eine Illusion.

Der amerikanische Professor für Neurowissenschaften, Peter Ulric Tse zeigt allerdings in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will. Criterial Causation”, dass der freie Wille erstens keineswegs den Naturgesetzen widerspricht und dass er zweitens mit dem, was wir heute über die Funktionsweise des Gehirns wissen, bestens übereinstimmt. Es ist daher überaus unwahrscheinlich, dass die einen zu gutem und die anderem zu bösem Verhalten gezwungen werden wie Reaktionsautomaten.

Auch Gustl Mollath ist kein Reaktionsautomat. Er besitzt, wie jeder von uns, einen freien Willen und er kann sich, aufgrund seiner Präferenzen, dafür entscheiden, in Zukunft friedlich zu sein oder gewalttätig. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, ihm diesen freien Willen abzusprechen. Einflüsse aus dem Reich der Erbanlagen oder aus der Umwelt können einen Menschen zwar geneigt stimmen, dieses oder jenes zu tun, aber ob er einer Neigung dann auch nachgibt, entscheidet letztlich immer noch er selbst. Es gibt keine prognostischen Verfahren, mit denen man seine Entscheidung vorhersehen könnte und auch kein Psychiater kann dies aufgrund seiner klinischen Erfahrung oder seines psychiatrischen Blicks.

Allenfalls Verhaltenstendenzen können wir vorhersagen; aber solche vagen Prognosen bieten keine ethisch vertretbare Grundlage dafür, jemanden hinter psychiatrische Gitter zu bringen. Man müsste schon definitiv sagen können, dass jemand aufgrund einer “psychischen Krankheit” eine Gefahr für andere darstellt. Doch für eine solche Aussage gibt es keine Grundlage, weder bei Gustl Mollath, noch bei sonst irgendwem. Wir betreiben hier einen Kult der Sicherheit, der auf einem Mythos beruht, dem nämlich, dass Psychiatrie und Justiz die Gefährlichen herausfischen könnten. Dieser Kult ist eine unwürdige Veranstaltung, ein Ausdruck wohlmeinender Niedertracht.

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