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Ist Mollath verrückt?

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Wir wissen nicht, anhand welcher objektiven Merkmale man “psychisch Kranke” von nicht “psychisch Kranken” unterscheiden kann. Wir haben keine Biomarker, es sind keine Hirnprozesse bekannt, die “psychisch Kranken” eigentümlich sind, und auch in den Erbanlagen ließen sich bisher keine eindeutigen Unterscheidungsmerkmale finden. Keine der in den internationalen Klassifikationssystemen (DSM, ICD) aufgeführten “psychischen Krankheiten”  lässt sich objektivieren.

Es gibt zwar “Symptome”, die Psychiatern dazu dienen, “psychisch Kranke” zu identifizieren, aber Symptome sind eben keine Krankheiten, sondern sie werden durch Krankheiten hervorgebracht. Wenn ich aber die Krankheiten gar nicht kenne, dann darf ich streng genommen auch nicht von “Symptomen” sprechen; es handelt sich vielmehr um Phänomene, die vielleicht Symptome einer mutmaßlichen Krankheit sein könnten.

Da wir nicht wissen, wer an einer “psychischen Krankheit” leidet und ob es diese Krankheiten überhaupt gibt, dürfen wir Gustl Mollath natürlich auch nicht unterstellen, in einem “objektivierbaren Sinne” psychisch krank zu sein. Sonst nämlich müssten wir in der Lage sein, an Gustl Mollath irgendwelche Merkmale auszuzeichnen, die unabhängig von unserer Meinung seine Krankheit belegen.

Selbst wenn viele Leute Gustl Mollath für “psychisch krank” hielten (allzu viele sind es allerdings zur Zeit wohl eher nicht), würde dies keineswegs bedeuten, dass er es auch ist. Über die Wahrheit kann man bekanntlich nicht abstimmen und die Reliabilität der Psychiaterurteile (die ohnehin gering ist) ist unter den gegebenen Bedingungen nur ein Kosename für das Maß der Übereinstimmung von Vorurteilen.

Ist Gustl Mollath also verrückt? Wenn man darunter eine “psychische Krankheit” versteht, dann ist keine Antwort auf diese Frage möglich, die den Anforderungen wissenschaftlicher Redlichkeit entspricht. Aber mir ist natürlich bewusst, dass viele meiner Leser dies zwar zustimmend, aber mit einem gewissen Unbehagen zur Kenntnis nehmen werden.

  • Ist es denn nicht verrückt, sich mit den Mächtigen in Bayern anzulegen und ihnen ihre Schwarzgeldgeschichten vermiesen zu wollen?
  • Ist es denn nicht verrückt zu glauben, dass man in diesem Bundesland ohne mächtige Seilschaften im Hintergrund mit solchen Absichten ungeschoren davonkäme?
  • Ist es denn nicht verrückt, wenn man schon einmal in der Psychiatrie sitzt, keine “Krankheitseinsicht” vorzutäuschen, sich der Therapie zu entziehen und sich so die Chance zur schnellen Entlassung zu verbauen?

Dass ist schon verrückt, oder? Dass ist sogar weiß Gott verrückter als die Polizei erlaubt, nicht nur in Bayern, auch anderswo. Gustl Mollath ist zweifelsfrei “verrückt” – und wir können froh und dankbar sein, dass es solche “Verrückten” gibt.

  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, was es mit dem Rechtsstaat auf sich hat, dass er durchaus selektiv ist.
  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, was es mit psychiatrischen Gutachten auf sich haben kann.
  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, wie es, zumindest im Großen und Ganzen, im Maßregelvollzug zugeht.

Für diese “Verrücktheit”, von der wir alle profitieren, hat Gustl Mollath einen hohen Preis bezahlt. Manche wundern sich, dass er trotz alledem, trotz Jahren hinter psychiatrischen Gittern, geistig immer noch so gesund wirkt. Manche Psychiater meinen, er dissimuliere damit seine “Krankheit” nur, er sei ein besonders gerissener Wahnsinniger.

Doch Fakt ist, dass solche “Verrückten” in aller Regel charakterstarke und gut geerdete Menschen sind, die etwas aushalten, sonst ließen sie nämlich keine Neigung erkennen, sich zu derlei “Verrücktheiten” hinreißen zu lassen. Seine augenblickliche Prominenz verdankt er selbstverständlich auch der Tatsache, dass er ein außergewöhnlicher Mensch ist. “Verrückte” dieser Art sind halt interessant. Ihr Schicksal macht neugierig. Jeder will mitreden.

Dass ist natürlich die Gefahr, die in diesem Fall verborgen liegt. Wir leben in einer Zeit, in der Emotionalisierung und Personalisierung immer mehr das rationale Urteil verdrängen. Weil Gustl Mollath eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, meint man, dass auch die Umstände, die ihn in seine Lage gebracht haben, außergewöhnlich sein müssten. Man empört sich über die Psychiatrie, den Staat, die Richter, die CSU, die Psychiatrie, weil sie Gustl Mollath so übel mitgespielt hätten. Nur wenige begreifen, dass den Umständen, die ihn in die Geschlossene führten, ein Muster zugrunde liegt, dass sich auch bei den Namenlosen findet, die sein Schicksal teilen.

Auch von diesen Menschen kann, ebenso wenig wie von Gustl Mollath, mit Anspruch auf wissenschaftliche Redlichkeit gesagt werden, dass sie “psychisch krank” und daher “gefährlich” seien. Dennoch wurden auch sie, aus zweifelhaften Gründen, für “psychisch krank” und “daher gefährlich” erklärt. Auch bei ihnen mag der Grund, sie länger brummen zu lassen als für ihre (mutmaßliche) Tat gerechtfertigt gewesen wäre, eine Rolle gespielt haben. Auch sie waren wahrscheinlich verrückt genug, sich mit Leuten einzulassen, denen sie nicht gewachsen waren. Auch sie waren u. U. nicht charakterlos genug, um “Krankheitseinsicht” zu heucheln und Therapieerfolge vorzutäuschen.

Es ist gut, dass Gustl Mollath verrückt genug wahr, um uns allen vor Augen zu führen, wozu der Rechtsstaat imstande ist. Die Kehrseite der Medaille ist, dass sein Schicksal viele einschüchtert, auch wenn sie sich dies nicht bewusst machen. So wie ja auch angesichts der NSA-Überwachungsorgie viele nunmehr vorsichtig werden, wenn sie sich im Internet bewegen, so sind viele gewarnt und halten sich zurück, um nicht wie Gustl Mollath in der Psychiatrie zu landen. Vielen ist jetzt erst das Damokles-Schwert bewusst geworden, das über uns allen schwebt. Dies begünstigt eine Tendenz zur Konformität, die sich ganz und gar nicht mit dem Geist einer demokratischen Gesellschaft verträgt.

Gerade jetzt also ist der Mut zur “Verrücktheit” notwendiger denn je. Wir sollten uns klarmachen, dass die Psychiatrie in ihrem unermüdlichen Kampf gegen “psychische Krankheiten” auch all jene Verrückten einschüchtert oder einzuschüchtern versucht, die eine demokratische Gesellschaft unbedingt braucht, um nicht zu einer Fassaden-Demokratie zu verkommen. Auch wenn sie nicht, wie im Fall Mollath, aktiv involviert ist, genügt ihre bloße Existenz, um “Verrückten” den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Und machen wir uns nichts vor: Wenn erst einmal der Fall Mollath ausgestanden ist, dann werden viele, die jetzt wach geworden sind, wieder in Tiefschlaf versinken. Die para-medizinische Pseudo-Wissenschaftlichkeit der Psychiatrie ist das Tarnmäntelchen für eine ihrer wesentlichen Funktionen, die darin besteht, den Trend zur Konformität aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Sobald Mollath keine Schlagzeile mehr wert ist, wird sich in den Medien das Marketing des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes wieder durchsetzen und die meisten der jetzt noch Kritischen werden sich einlullen lassen.

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Gute und schlechte Gutachten

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Wir wissen aus einschlägigen Forschungen, dass Gefährlichkeitsprognosen zwar etwas besser sind als zufällige Vorhersagen; aber sie sind bei weitem nicht gut genug. Um eine Gewalttat zu verhindern, muss eine große Zahl harmloser Zeitgenossen eingesperrt werden (Buchanan 2008). Es mag zwar sein, dass in Zukunft bessere Vorhersagemethoden entwickelt werden; im Augenblick stehen diese aber nicht zur Verfügung.

Kritiker behaupten nun, dass sich die Forschungen zur (mangelnden) Qualität der Gefährlichkeitsprognosen auf große Menschengruppen bezögen. Die an solchen “Aggregaten” gewonnenen Befunde könne man aber nicht auf den Einzelfall übertragen. Daher seien Gutachter gefragt, die den Besonderheiten des Einzelfalls gewachsen seien und diese sinnvoll in ihr Gutachten einzubeziehen wüssten.

An diesem Argument ist richtig, dass an großen Menschengruppen gewonnene Durchschnittswerte sich nicht auf den Einzelnen übertragen lassen. Herr Meyer mag zu einer Menschengruppe gehören, die mit 4-prozentiger Wahrscheinlichkeit in Freiheit eine Gewalttat in den nächsten sechs Monaten begehen wird; es gibt aber keine Möglichkeit, genau zu sagen, wie groß diese Wahrscheinlichkeit bei ihm tatsächlich ist. Was wir sagen können, ist: Wählten wir nach dem Zufallsprinzip 100 Leute aus dieser Menschengruppe aus und sperrten sie weg, dann könnten damit rechnen, durch diese Maßnahme vier Gewalttaten zu verhindern. Wenn wir nun, statt auf den Zufall zu vertrauen, ein prognostisches Verfahren einsetzen, dann hängt die Zahl der zusätzlich verhinderten Gewalttaten von der prognostischen Validität dieses Verfahrens ab. Beim Stand der Dinge sind selbst die besten nicht valide genug.

Doch kann hier der Einzelfall-Diagnostiker helfen, der dank seiner Erfahrung und wissenschaftlichen Akribie Gutachten anzufertigen vermag, in denen sich eine realistische Prognose des Einzelfalles widerspiegelt. Es gibt ja viele, die behaupten, genau dies zu können, Statistik hin oder her. Wenn sie diese Behauptung aber beweisen wollten, dann wären sie wieder auf die verpönte Statistik angewiesen. Denn im Einzelfall können wir ja nicht überprüfen, ob der Gutachter nur gut geraten oder das Verhalten seines Probanden richtig vorhergesagt hat. Er müsste also eine größere Zahl von Menschen beurteilen und dann wäre zu prüfen, in wie vielen Fällen er richtig lag oder falsch. Liegt er über der Zufallswahrscheinlichkeit (der Ratewahrscheinlichkeit) richtig, dann bestätigt sich seine Behauptung im Verhältnis zu seiner Trefferquote.

Nehmen wir an, ein Gutachter, nennen wir ihn Rudolf, habe den Herrn Meyer zu beurteilen. Es habe sich in einem vorherigen Experiment gezeigt, dass Rudolf bei Menschen, die aus der Bezugsgruppe Herrn Meyers stammen, eine Trefferquote von 70 Prozent aufzuweisen vermag. Dies bedeutet keineswegs, dass Rudolf, bezogen auf Herrn Meyer, zu siebzig Prozent richtig liegt. Nein, es bedeutet nur: Wenn Rudolf weiterhin Menschen aus dieser Bezugsgruppe begutachtet, dann liegt in bei dreißig pro hundert Probanden schief.

Wir haben daher auch keine Möglichkeit, die Qualität von Rudolfs Gutachten über Herrn Meyer, also auf der Ebene des Einzelfalls zu beurteilen. Sicher: Rudolfs Gutachten sind akribisch, sie gehorchen den Regeln der Kunst, er bemüht sich, den Besonderheiten der Lebensgeschichte, den Tatumständen und anderen wesentlichen Faktoren gerecht zu werden. All dies ist vorbildlich an Rudolfs Gutachten; allein, das nützt nichts. Wir wissen nur, welche durchschnittlichen Ergebnisse Rudolf auf lange Sicht vermutlich erbringen wird. Wir wissen aber nicht, wie gut – hinsichtlich der relevanten Merkmale – sein Gutachten über Herrn Meyer ist.

Dies wäre etwas anderes, wenn Herrn Meyers Gefährlichkeit (oder ein anderes relevantes Merkmal) auf einem bekannten physiologischen oder psychologischen Mechanismus beruhte, der bei allen Mitgliedern der Bezugsgruppe Herrn Meyers vorhanden, aber mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. Es gäbe einen Schwellenwert der Ausprägung dieses Mechanismus, jenseits dessen die Wahrscheinlichkeit einer Gewalttat (oder einer anderen relevanten Aktion) unverhältnismäßig hoch wäre, so dass man die Einkerkerung Herrn Meyers als ethisch vertretbar betrachten könnte.

Mechanismen dieser Art sind jedoch nicht bekannt; man weiß noch nicht einmal, wo man nach ihnen suchen sollte. Rudolfs Gutachten beruht also ausschließlich darauf, was er für plausibel und aufgrund seiner Erfahrung für wahrscheinlich hält. Zwar weiß er dies in eine wissenschaftlich klingende Sprache zu übersetzen und mit allerlei Fachbegriffen und “name dropping” zu garnieren; aber der Kundige erkennt selbstredend, dass er im Trüben fischt wie alle anderen auch.

All dies ist Rudolf natürlich bewusst, falls er Psychologie studiert und noch nicht alles vergessen haben sollte. Er hofft vermutlich, dass die Mehrheit der anderen dies nicht weiß und dass die Minderheit, die dies weiß, schon die Klappe halten wird, aus Eigeninteresse oder aus Gleichgültigkeit. Er rechnet wohl damit, dass viele gegenüber der Statistik misstrauisch sind und auf das Urteil der Experten vertrauen. Doch Robyn Dawes (z. B. in seinem Buch: “House of Cards”) und viele andere haben gezeigt, dass die auf “klinischer Erfahrung” beruhenden Prognosen der Experten weitaus schlechter sind als die mit formalisierten, quantitativen Verfahren gewonnenen, und die sind schon schlecht genug.

Bisher habe ich stillschweigend vorausgesetzt, dass Merkmale wie “Gefährlichkeit” relativ stabil seien. Da nicht alle in einer Bezugsgruppe diese Merkmale hätten – so heißt es in den Kreisen der Prognostiker, die diese Auffassung teilen – bestünde die Schwierigkeit darin, jene Menschen herauszufischen, die sie besitzen. Es könnte aber durchaus sein, dass Menschen, die beispielsweise während einer Phase ihres Lebens höchst gefährlich sind, während einer anderen Phase friedlich sind wie ein Lamm. Dies könnte sogar sein, wenn die Gefährlichkeit auf einer starken genetischen Grundlage beruhte, weil sich das Verhalten eines Menschen immer aus Interaktionen zwischen Anlage und Umwelt ergibt. Es ist beim Stand neurowissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt nicht auszuschließen, dass unser Gehirn Schwellenwerte aggressiven Verhaltens aufgrund von Umwelterfahrungen verschiebt; auch die Muster, die dieses oder anderes relevantes Verhalten auslösen, können verändert werden. Dass ein Saulus zum Paulus wird, ist gar nicht so selten. Das heißt: Wenn wir die Uhr zurückdrehen könnten, ist gar nicht sicher, dass einer, der eine Gewalttat begangen hat, sie unter sonst gleichen Bedingungen begehen würde.

Die Prognose individuellen Verhaltens ist eine vertrackte Sache. Es mag gute Gutachten geben, weil sie weniger Rechtschreibefehler enthalten als die schlechten. Es mag gute Gutachten geben, weil ihre Argumentation plausibel erscheint und in einer gründlichen Abwägung der wichtigsten, relevanten Sachverhalte besteht. Es gibt aber keine guten Gutachten, die auf einer soliden wissenschaftlichen Basis beruhen würden, aus der man ihre zentralen Aussagen ableiten könnte.

Im Fall Mollath wird heftig um die Qualität der Gutachten gestritten. So seien, so heißt es vielfach, die Gutachten schlecht, bei denen und weil der Gutachter nicht mit dem Probanden gesprochen habe. Sei seien nach Aktenlage gefällt worden. Dieses Argument ist im Licht des bisher Gesagten allerdings zu verwerfen. Selbst wenn ein Gutachter mit Mollath gesprochen und ihn getestet hat, weiß er deswegen nicht gut genug, was von dem Mann zu erwarten ist, um auf dieser Grundlage ein Gutachten auszufertigen, das dem Anspruch wissenschaftlicher Redlichkeit genügt.

Selbstverständlich kann eine persönliche Untersuchung hilfreich, auch notwendig sein, um nämlich festzustellen, ob ein Mensch an einer neurologischen oder sonstigen Krankheit mit Auswirkung auf das Verhalten und Erleben leidet. Doch auch ein solcher Befund, so wichtig er für den Betroffenen auch sein mag, würde keine zuverlässige Gefährlichkeitsprognose gestatten.

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Mollath frei

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Das Oberlandesgericht Nürnberg hat die Wiederaufnahme des Falls “Mollath” angeordnet. Somit kommt der Mann umgehend frei, weil, so sagt das Gericht, die Grundlage für den Vollzug der Unterbringung entfällt. Das ist gut.

Viele, die sich in ähnlicher Lage befinden wie Gustl Mollath bisher, kommen allerdings nicht frei, obwohl es niemals eine Grundlage für den Vollzug der Unterbringung gab. Das ist nicht gut.

Die Hinweise darauf, dass es im Fall Mollath nicht mit rechten Dingen zuging, sind erdrückend. In anderen Fällen mag die Sachlage nicht so klar sein und manche Täter haben auch wirklich die Taten begangen, wegen derer sie hinter psychiatrischen Gittern sitzen. In keinem Fall aber existiert eine wissenschaftlich solide Grundlage für das Verdikt, sie seien “psychisch krank” und daher gefährlich.

Daher mag es sein, dass sie zu recht in einem ordentlichen Gefängnis säßen; aus vernünftigen Gründen sitzt aber niemand im Maßregelvollzug. Und es bleibt zu hoffen, dass sich jene, die sich so eifrig für Gustl Mollath einsetzten, auch weiterhin am Ball bleiben, bis der Maßregelvollzug abgeschafft wurde.

Gustl Mollath hat darum gebeten, seine Haft in einem normalen Gefängnis fortsetzen zu dürfen, sofern eine Wiederaufnahme seines Falles endgültig verworfen würde. Schenkt man Gustl Mollath Glauben, so muss es wirklich schrecklich sein im Maßregelvollzug.

Mollath frei. Ich hätte nicht gedacht, dass dies so schnell geht. Ich hoffte auf das Bundesverfassungsgericht, war mir aber nicht sicher, ob es tatsächlich in Mollaths Sinn entscheiden würde. Man könnte sich vorstellen, dass ein bayerisches Gericht dem Bundesverfassungsgericht zuvorkommen wollte.

Mollath frei. Ich hoffe, dass Mollath nun seine Aufzeichnungen zur Grundlage für ein Buch über den Maßregelvollzug nimmt, um aus erster Hand darüber zu berichten, was dort mit und aus Menschen gemacht wird. Ohne den prominenten Namen “Gustl Mollath” hätte ein solches Buch keine nennenswerten Chancen am Markt. So aber ließe, wenn es denn erschiene, die Verfilmung wahrscheinlich nicht lange auf sich warten.

Mollath frei. Es wäre zu wünschen, wenn er irgendwo in einer alten Hütte tief im fränkischen Wald hinter Bohlen einen Packen Unterlagen versteckt hätte, die beweisen, wer die allseits bekannte Nürnberger Persönlichkeit ist, von der immer wieder einmal die Rede war und deren Enttarnung, so heißt es, Bayern in seinen Grundfesten erschüttern würde.

Aber ich beginne zu fabulieren. Mollath frei. Ein Grund zur Freude.

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Maßregelvollzug

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Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) äußert sich in einer Pressemeldung vom 26. 07. 2013 zum Maßregelvollzug. Dort heißt es:  ”Die ambulante Nachbetreuung in den forensischen Institutsambulanzen ist bundesweit etabliert und arbeitet sehr erfolgreich (weniger als 5 Prozent Rückfälle).”

Fakt ist, dass unser Wissen über die Nachbetreuung forensischer Patienten nach § 63 StGB sehr gering ist, weil es nur eine Handvoll halbwegs ernst zu nehmender empirischer Studien dazu gibt (1).

Keine dieser Arbeiten entspricht den methodischen Anforderungen, die an solche Studien heute üblicherweise gestellt werden müssen. Was für die Zwangsbehandlung der so genannten psychisch Kranken allgemein gilt – die Ärztezeitung konstatierte am 1. 10. 2012 einen Daten-Blackout – trifft auch auf diesen Bereich uneingeschränkt zu.

Zum Fall Mollath schreibt die DGPPN: “Die derzeitige Berichterstattung über den Fall Mollath unterstellt aus Sicht der DGPPN der forensischen Psychiatrie, dass diese ein rechtloser Raum sei. Es ist die rechtsstaatliche Aufgabe des Gerichts und nicht die Pflicht der forensischen Psychiatrie, zu prüfen und festzustellen, ob sich die einem Menschen zur Last gelegten Straftaten überhaupt ereignet haben und nicht eventuelle Falschbezichtigungen eine Rolle spielen. Es ist auch alleinige Aufgabe des Gerichts, die Schwere von begangenen Straftaten zu bewerten. Gutachter haben eine diagnostische und prognostische Aufgabe. In Gerichtsverfahren entscheiden nicht sie, ob es eine Straftat überhaupt gegeben haben könnte oder ob der von ihnen untersuchte Proband sie begangen hat, sondern sie arbeiten angeleitet durch das Gericht.”

Die DGPPN vergisst hinzuzufügen, dass forensische Gutachter auf Grundlage dieser Vorgaben beurteilen, ob ein Mensch psychisch krank und daher gefährlich sei. Dass dies, wissenschaftlich gesehen, nicht möglich ist, habe ich in mehreren Blog-Einträgen ausführlich dargestellt und mit empirischen Studien belegt. Eine Vielzahl von nicht (weiter) gefährlichen Menschen muss eingesperrt werden, um eine Straftat zu verhindern. Die “number to detain” ist aufgrund eklatanter Validitätsmängel der psychiatrischen Diagnostik und Prognostik unverhältnismäßig hoch und kann, zumindest aus meiner Sicht, ethisch nicht gerechtfertigt werden.

“Das Bundesjustizministerium ist derzeit dabei”, so heißt es weiter in der Pressemeldung, “dem öffentlichen Druck nachzugeben und eine Reform des Maßregelrechts einzuleiten. Damit greift es endlich die seit 2011 von der DGPPN erhobene Forderung auf. Die Bedeutung einer korrekten Begutachtung in Hinblick auf Diagnose, Behandelbarkeit, Gefährlichkeitsprognose und Risikoabschätzung erfordert zwingend die Beteiligung forensisch-psychiatrischer Experten.”

Wir wissen aber, dass diese Experten auch nur mit Wasser kochen. Robyn Dawes (in seinem Buch “House of Cards”) und viele andere haben gezeigt, dass Expertenurteile nicht besser sind als jene von Laien, dass sie statistisch begründeten Prognosen deutlich unterlegen sind und dass sie auch durch wachsende Berufserfahrung nicht besser werden.

In ihrer Pressemeldung ignoriert die DGPPN meines Erachtens also den Stand der Wissenschaft: Es gibt keine empirisch fundierte Möglichkeit, Straftäter, die aufgrund einer “psychischen Krankheit” schuldunfähig oder eingeschränkt schuldfähig und zudem deswegen gefährlicher sind als vergleichbare Leute, mit vertretbarer Gewissheit zu identifizieren.

Es ist daher auch nicht gerechtfertigt, wenn sich die Psychiatrie mit dem Hinweis zu exkulpieren versucht, für den Fall Mollath und vergleichbare Fälle sei die Justiz zuständig; sie arbeite nur angeleitet durch das Gericht. Durch ihre Gutachten wirkt sie vielmehr aktiv daran mit, dass Leute in den Maßregelvollzug gelangen.

Der Maßregelvollzug gibt dem System die Möglichkeit, Leute länger hinter Gittern zu halten, als dies angesichts der Schwere ihrer Tat angebracht wäre. Jedem System, dass eher auf Repression, denn auf Nachsicht und Milde setzt, muss ein solches Institut höchst willkommen sein. Host Seehofer zeigt sich zufrieden mit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Nürnberg, eine Wiederaufnahme des Verfahrens in Sachen Mollath anzuordnen und den Mann (vorerst) auf freien Fuß zu setzen. Das kann man so oder so deuten.

Gustl Mollath hat ein Buch zum Maßregelvollzug angekündigt. Er spricht von “schlimmen Dingen” und “grausamen Schicksalen”. Man darf hoffen, dass er den Haien im Verlagswesen entkommt, die versuchen werden, darauf ein persönliches Drama zu machen, das sich nicht verallgemeinern lässt. Auch mancher wohlmeinende Psychologe und Unterstützer mag schon bereitstehen, in der Absicht, ihm zu suggerieren, dass sein Schicksal vor allem die Schuld schlechter und korrupter Gutachter sei und dass es gute Gutachten und gute Gutachter gäbe. Vertrauen wir aber darauf, dass Gustl Mollath auch hier seine bekannte Standfestigkeit und Erdverbundenheit unter Beweis stellen wird.

Der Maßregelvollzug ist abzuschaffen. Manche werden sagen, dass dies unvorstellbar grausam sei für Leute, die ohne besondere Betreuung im normalen Strafvollzug verloren seien. Der normale Strafvollzug ist jedoch ohnehin so umzugestalten, dass er den Bedürfnissen von Menschen mit Eigentümlichkeiten ihres Charakters gerecht wird, auch ohne Hokuspokus-Diagnostik, Glaskugel-Prognostik und unnütze Therapien.

Anmerkung

(1) Schmidt-Quernheim, F. (2011). Evaluation der ambulanten Nachsorge forensischer Patienten (§ 63 StGB) in Nordrhein-Westfalen, Dissertation, Universität Duisburg-Essen

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Psychiatrie, Diagnostik, Symptom, Phänomen

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Die psychiatrische Diagnostik kann nicht als valide gelten, weil sie keine Korrelationen zwischen ihren Befunden und relevanten Außenkriterien (wie z. B. gestörten, ursächlichen Hirnprozessen) nachweisen kann. Aus konservativer Sicht kann man ihr also nur eine Trefferquote in Höhe der Zufallswahrscheinlichkeit zuordnen. Diese entspricht der so genannten Basisrate, also der relativen Häufigkeit einer so genannten psychischen Erkrankung in der Grundgesamtheit. Daraus folgt zwingend, dass die überwiegende Mehrheit der Insassen psychiatrischer Anstalten nicht psychisch krank ist. Wenn man die Existenz psychischer Krankheiten bezweifelt, liegt also die Trefferquote psychiatrischer Diagnostik bei Null. Glaubt man jedoch an die Existenz dieser Krankheiten, dann ist sie natürlich höher anzusetzen; aber auch in diesem Fall werden in diesen Institutionen, beim Stand der psychiatrischen Diagnostik, deutlich mehr Gesunde als Kranke behandelt.

Dies ist nicht etwa meine subjektive Meinung, sondern eine Frage der Mathematik, die man gar nicht anders beantworten könnte, sofern man sich gedanklich im Rahmen des mathematischen Denkens bewegen möchte. Denn der Zusammenhang zwischen Validität und Trefferquote ist ein mathematischer, kein empirischer. Im naturwissenschaftlich-technischen Zeitalter dürften sich allerdings nur die wenigsten Menschen zu der Forderung versteigen, das mathematische Denken über Bord zu werfen. In der Regel muss man sich also auf den Einwand gefasst machen, dass die Validität psychiatrischer Diagnosen und damit die Treffsicherheit in Wirklichkeit viel höher seien als die Basisrate, dass man die Validität nur noch nicht messen könne. Dies mag sein – oder auch nicht. Hier und heute müssen wir aber dennoch mit dem vorlieb nehmen, was die Wissenschaft empirisch zu erhärten vermag.

Man könne doch, unabhängig von den Feinheiten der Wissenschaft, so heißt es dann, auch ohne statistische Daten oft “mit bloßen Auge” erkennen, dass die Insassen psychiatrischer Anstalten tatsächlich “psychisch krank” seien. Man finde dort von Ängsten gepeinigte Menschen, auch solche, die rasten und tobten und wieder andere, die in tiefe, unerklärliche Traurigkeit versunken seien, deren Zustand sich aber früher oder später bessere, wenn sie entsprechende Medikamente erhielten. Dies, der bloße Augenschein, beweise besser als jede Wissenschaft und Statistik, dass die Insassen dieser Institutionen tatsächlich der medizinischen Behandlung bedürftig seien.

Die beschriebenen Phänomene dürfen aber nur dann als Symptome einer Krankheit betrachtet werden, wenn sich die zugrunde liegende Erkrankung auch nachweisen lässt. Dies ist aber nicht der Fall, sonst hätte die psychiatrische Diagnostik ja auch kein Validitätsproblem. Es handelt sich hier allenfalls um mutmaßliche Symptome einer Krankheit. Selbst wenn man an psychische Krankheiten glaubt, so zeigt die überwiegende Mehrheit der Insassen psychiatrischer Anstalten diese und vergleichbare “Symptome”, obwohl sie nicht krank ist, weil eine nicht valide Diagnostik zwangsläufig viele falsch positiv eingeschätzte “Patienten” hervorbringt.

Dies ist auch dann der Fall, wenn ausnahmslos alle Insassen einer psychiatrischen Anstalt rasen, toben, in tiefe Traurigkeit versunken sind oder sonstige Verhaltensweisen und Erlebnismuster zeigen, die nach psychiatrischer Auffassung “Symptome einer psychischen Krankheit” darstellen. Wir kennen die Gründe dieser Phänomene nicht. Man mag das eine oder andere vermuten, aber woran es im jedem Einzelfall liegt, das wissen wir einfach nicht. Es gibt keinerlei wissenschaftlich tragfähige Hinweise darauf, dass diese Phänomene von einem erkrankten Gehirn hervorgerufen werden. Es könnte sich ebenso um die Reaktionen eines intakten Gehirns auf Widrigkeiten des Umfelds oder der Lebensgeschichte handeln. Ja, der Krankenhausaufenthalt selbst oder die (medikamentöse) Behandlung dort könnten für die Phänomene verantwortlich sein. Was auch immer.

Diese Tatsache ist sicher aus wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Gründen Besorgnis erregend, aber wenn sich die Insassen psychiatrischer Anstalten dort freiwillig einfinden, weil sie unter ihren Phänomenen leiden und meinen, sie fänden Hilfe und Linderung in diesen Einrichtungen, dann ist dies aus ethischer Sicht sicher nicht zu beanstanden. Allein Zwangseinweisung, gar Zwangsbehandlung, das geht, erkennbar, gar nicht. Diese Maßnahmen widersprechen eindeutig den Menschenrechten. Doch was soll mit Menschen geschehen, die, nach eigenem Bekunden, aufgrund solcher Phänomene Straftaten begehen; die, beispielsweise, Stimmen hören, die ihnen befehlen, den Nachbarn oder einen Politiker mit einem Messer zu töten?

Es mag ja sein, dass der dem Menschen eigentümliche freie Wille durch eine Erkrankung oder einen angeborenen Defekt des Gehirns eingeschränkt ist. Wenn sich dies nachweisen lässt, wird man den Betroffenen nach einer Straftat u. U. zu recht als schuldunfähig befinden und ihn in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung unterbringen, sofern er auch weiterhin für andere, in deutlich über das Basisrate liegendem Ausmaß, gefährlich ist. Doch wenn sich diese Einschränkung des freien Willens mit objektiven Methoden nicht erhärten lässt, dann muss Gleichheit vor dem Gesetz herrschen. Dann muss der Mörder, der seltsame Gründe für seine Tat vorbringt, einsitzen, wie jeder andere auch. Die Zahl der Menschen, die aufgrund einer nachweislich organisch bedingten Einschränkung des freien Willens Straftaten begangen haben und auch weiterhin eine erhebliche Gefahr für andere darstellen, ist sehr klein. Diese Menschen leiden nicht an psychiatrischen “Krankheiten”, sondern an neurologischen oder anderen körperlichen Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben.

Wer sich natürlich freiwillig behandeln lässt, ist selbst schuld und verdient kein Mitleid. Doch was heißt “freiwillig”. Man kann sich nur freiwillig zu einer psychiatrischen Therapie entscheiden, wenn man wahrheitsgemäß aufgeklärt und nicht etwa arglistig getäuscht wurde. Wer weiß, dass psychische Störungen nur mutmaßliche Krankheiten sind und dass psychiatrische Behandlungen (ganz gleich, ob medikamentös oder psychotherapeutisch) nicht heilen, sondern allenfalls mutmaßliche Symptome abschwächen, der kann sich natürlich frohgemut und sehenden Auges in psychiatrische Hände begeben, ohne dass er und seine Behandler zu tadeln wären. Zwar setzt er sich schwer kalkulierbaren Risiken aus, die beispielsweise in gravierenden, durch Neuroleptika ausgelösten Erkrankungen bestehen können; aber auch Extremsportler beispielsweise begeben sich in erhebliche Gefahr, ohne dass wir sie oder die Veranstalter entsprechender Events aus ethischen Gründen verdammen müssten. Das Leben birgt nun einmal Risiken, die wir nicht alle ausschalten können, selbst wenn wir es gern möchten.

Leider glauben viele Menschen daran, “psychisch krank” zu sein und eine spezifisch auf ihre “Erkrankung” zugeschnittene Behandlung zu erhalten, weil ihnen dies ihre Ärzte und die Medien so suggeriert haben. In diesen Fällen kann man nicht  von “Freiwilligkeit” sprechen, vor allem dann nicht, wenn Familienangehörige, Arbeitgeber oder sonstige wohlmeinende Mitmenschen Druck auf sie ausgeübt haben, sich einer Therapie zu unterziehen. Zwar hätten sie sich auch weigern können, sie hätten sich auch anders entscheiden können, von der Verantwortung für sich selbst kann man sie also nicht freisprechen; allein, es wurde ihnen mitunter verteufelt schwergemacht, sich dem Sog der psychiatrischen “Problemlösung” zu entziehen.

Die psychiatrische Diagnostik erzeugt heute, beinahe unangefochten, die, freilich täuschende, Gewissheit, dass diverse Phänomene des Verhaltens und Erlebens Symptome “psychischer Krankheiten” seien. Diese Gewissheit ist nicht gerechtfertigt, weil die diagnostischen Verfahren der Psychiatrie nicht valide sind. Daher können wir auch nicht wissen, ob die so genannten Heilerfolge der Psychiatrie nicht an Gesunden erzielt wurden – selbst dann, wenn wir an die Existenz psychischer Krankheiten glauben. Denn mangels Validität psychiatrischer Diagnostik sind die meisten Patienten der Psychiatrie ja gesund. Das ist Mathematik, sonst nichts, keine Meinung.

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Kommando-Halluzination: Eine Stimme hören und morden

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Ein Mensch bringt einen anderen um und wird gefasst. Bei seiner Vernehmung gibt er an, eine Stimme gehört zu haben, die sonst niemand hören könne. Diese Stimme habe ihm die Tat befohlen. Wie unter Zwang habe er diesem Befehl gehorchen müssen. Vor Gericht wird der Mensch für schuldunfähig erklärt und in den Maßregelvollzug eingewiesen. Ist dies gerechtfertigt? Spielte bei dieser Tat tatsächlich eine so genannte Kommando-Halluzination eine entscheidende Rolle?

Es gibt eine Reihe von Sichtweisen, hier die wohl wichtigsten:

  1. Der Mensch reagierte aufgrund einer Erkrankung seines Gehirns wie ein Automat auf den Befehl einer halluzinierten Stimme.
  2. Der Mensch ist ein Simulant.
  3. Der Mensch hatte die Absicht, den Mord zu begehen, aber er verleugnete diese Absicht und setzte an ihre Stelle den unwiderstehlichen Befehl einer Stimme, die sonst niemand hört.

Welche dieser Erklärungen trifft zu?

Bisher ist es der Forschung, trotz Jahrzehnte langer Bemühungen, nicht gelungen, Hirnprozesse zu identifizieren, die für ein derartiges Verhalten ursächlich sein könnten. Es sind auch keine Störungen des Nervensystems bekannt, die einen Menschen seines freien Willens berauben könnten. Wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” zeigte, gibt es keinen neurowissenschaftlichen Grund, dem Menschen generell den freien Willen abzusprechen. Daraus folgt, dass wir, wissenschaftlich betrachtet, keinen Anlass haben zu glauben, dass der erwähnte Mensch tatsächlich, aufgrund einer Erkrankung seines Gehirns, schuldunfähig wie ein Automat oder ein wildes Tier, seine Tat begangen habe.

Die Studien zu Gewalttaten unter dem mutmaßlichen Einfluss von Kommando-Halluzinationen stecken noch in den Kinderschuhen und strotzen vor methodischen Fehlern. Dies zeigt sich beispielsweise in einer gründlichen Meta-Studie von L. G. Braham und Mitarbeitern (Acting on command hallucinations and dangerous behavior: a critique of the major findings in the last decade. Clin Psychol Rev. 2004 Sep;  24 (5): 513-28). Die Gewissheit, mit der man sich im Falle dieses Menschen für die erste Interpretation seines Verhaltens entschied, hat also keinen Fußhalt in der Wissenschaft.

Nun könnte der Mensch natürlich auch ein Simulant sein. Doch dies ist ziemlich unwahrscheinlich, weil es sich im Gefängnis weitaus angenehmer lebt als im Maßregelvollzug und weil man als “psychisch kranker” Mörder eine viel geringere Wahrscheinlichkeit hat, freizukommen als ein Straftäter unter sonst gleichen Bedingungen.

Die dritte Erklärung vertritt der amerikanische Psychiater und Psychiatriekritiker Thomas Szasz, u. a. in seinem Aufsatz: Mental illness: psychiatry’s phlogiston (J Med Ethics 2001; 27:297-301). Hier schreibt er:

As I have shown elsewhere, the so-called voices some mentally ill people “hear” are their own inner voices or self conversations, whose authorship they disown.(10) This interpretation is supported by the fact that neuroimaging studies of hallucinating persons reveal activation of Broca’s (speech) area, not activation of Wernicke’s (auditory) area.(13)

The “mental patient” who attributes his misdeed to “voices”-that is, to an agent, other than himself, whose authority is irresistible-is not the victim of an irresistible impulse; he is an agent, a victimiser rationalising his action by attributing it to an irresistible authority. The analogy between a person who “hears voices” and an object, say a computer programmed to play chess, responding to information, is false. Mental patients responding to the commands of “voices” resemble persons responding to the commands of authorities with irresistible powers, exemplified by “suicide-bombers” who martyr themselves in the name of God. Both types of persons are moral agents, albeit both types represent themselves as slave-like objects, executing the wills of others (often identified as God or the devil). These representations are dramatic metaphors that actors and audience alike may, or may not, interpret as literal truths. It is not by accident that, in all the psychiatric literature, there is not a single account of voices that command a schizophrenic to be especially kind to his wife. That is because being kind to one’s wife is not the sort of behaviour to which we want to assign a causal (psychiatric) explanation.

Es spricht also sehr viel dafür, dass ein Mensch, der einen anderen unter dem angeblichen Einfluss von Stimmen umbringt, eine Art “Gesichtswahrung” betreibt. Dies ist der wahre Sinn der Kommando-Halluzination. Die eigene Absicht einer fremden Stimme zuzuschreiben, ist eine Fehlattribution, deren Funktion uns sofort ins Auge springt, wenn wir uns vom Mythos der Schizophrenie als einer Gehirnerkrankung lösen.

Der Schutz des Selbstwertgefühls spielt generell eine erhebliche Rolle im “psychotischen” Geschehen. Ein Beleg dafür findet sich in den Büchern Richard Bentalls (Madness explained; Doctoring the mind), der die einschlägige Literatur zu diesem Thema ausgewertet hat. Unter diesen Bedingungen liegt es nahe, die Einstufung dieses Menschen als “schuldunfähig” nicht für gerechtfertigt zu betrachten. Dieser Mensch hätte also Anspruch darauf, seine Strafe im normalen Strafvollzug abzusitzen.

Eine Studie J. Jungingers zeigt, dass sich Menschen mit Kommando-Halluzinationen durch ein erhöhtes Risiko gefährlichen Verhaltens auszeichnen (Command Hallucinations and the Prediction of Dangerousness. Psychiatric Services, September 1995, 46:911-914). Dies verblüfft ganz und gar nicht, wenn man die oben beschriebene Funktion dieser Halluzinationen ins Auge fasst.

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Validität

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Die Validität psychiatrischer Diagnosen wird bezweifelt, weil sich keine organischen Ursachen der Syndrome, die in den Manualen DSM und ICD aufgelistet werden, nachweisen ließen. Kritiker dieser Auffassung wenden ein, dass psychische eben nicht mit körperlichen Krankheiten gleichgesetzt werden könnten. Man müsse einen “psychologischen” Krankheitsbegriff zugrunde legen.

Diese Forderung geht allerdings ins Leere, denn “Validität” hängt nicht in der Luft, sie ist vielmehr immer auf das Konstrukt zu beziehen, dass dem jeweiligen Diagnose-Schema entspricht. Sowohl der psychiatrische Teil der ICD als auch das DSM beruhen auf dem medizinischen Modell psychischer Erkrankungen. Nach diesem Modell sind psychische Krankheiten im Kern Erkrankungen des Gehirns. Zwar mögen soziale, wirtschaftliche und kulturelle Faktoren eine Rolle spielen; die wesentlichen Ursachen jedoch seien in Störungen des Gehirns, aber auch des Nervensystems insgesamt sowie evtl. auch in anderen Bereichen des Körpers zu suchen.

Wenn wir also die Psychiatrie ernst nehmen, dann müssen wir fordern, dass die Validität ihrer diagnostischen Verfahren durch Korrelationen zwischen den entsprechenden Befunden und organischen Prozessen abgesichert wird. Dies ist bekanntlich bisher nicht der Fall. Es wurden, trotz Jahrzehnte langer Bemühungen, keine ursächlichen Zusammenhänge zwischen diesen Krankheitsbildern und organischen Faktoren entdeckt.

Dies gilt natürlich nicht für neurologische und andere körperliche Krankheiten mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben, aber bei diesen Krankheiten handelt es sich ja auch nicht um psychische.

Da aber ein enger mathematischer Zusammenhang zwischen der Validität und der Treffsicherheit einer Diagnose besteht, gibt es bei gegebener Datenlage keinen vernünftigen Grund, die entsprechenden Trefferquoten oberhalb der Zufallstrefferwahrscheinlichkeit anzusiedeln. Dies mag manche verblüffen oder gar empören, man mag dies für übertrieben halten – aber wenn man die Psychiatrie und den Validitätsbegriff ernst nimmt, kann man recht eigentlich gar nicht zu einer anderen Einschätzung kommen.

Natürlich ist es denkbar, dass in Zukunft solche Korrelationen entdeckt werden. Dies würde dann, in Abhängigkeit von der Ausprägung dieser Korrelationen auch zu einer höheren Trefferquote führen. Im Augenblick gilt aber noch: Wenn man nicht weiß, woran man einen Kranken erkennen kann, dann ist es unmöglich, zwischen Kranken und Gesunden zu unterscheiden.

Hier wird häufig eingewendet, dass es doch Merkmale gäbe, anhand derer man den Symptomträger erkennen könne. Dies ist fast richtig. Selbstverständlich listen die Diagnose-Schemata die Charakteristika der jeweiligen “Krankheitsbilder” auf. Allein, dadurch, dass man eine Liste von Merkmalen zusammenstellt, beweist man ja noch lange nicht, dass es sich dabei um “Symptome”einer Krankheit handelt.

Daraufhin halten mir viele entgegen, dass sich doch die “Experten” hinsichtlich der Beurteilung eines Probanden in der Regel einig seien. Erstens jedoch ist die Übereinstimmung de facto nur mäßig und zweitens bedeutet auch diese Übereinstimmung nicht, dass deswegen die Diagnose einer “psychischen Krankheit” auch zuträfe. Es könnte sich durchaus um einer Übereinstimmung von unbegründeten Vorurteilen handeln; und darum handelt es sich auch, und zwar zwangsläufig, wenn das diagnostische Verfahren nicht valide ist. Ein nicht valides diagnostisches Verfahren diagnostiziert nämlich nicht das, was es zu diagnostizieren vorgibt.

Manche meinen, dass deswegen in den diagnostischen Schemata ja auch nicht von Krankheiten, sondern von Störungen gesprochen werde. Es handele sich bei den Syndromen nur um Muster von Merkmalen, die gehäuft zusammen aufträten. Es würde nicht der Anspruch erhoben, die Ursachen dieses gemeinsamen Auftretens zu kennen. Es handele sich um pragmatische Konstrukte, bei denen sich die Frage der Validität gar nicht stelle.

Das allerdings ist auch falsch. Erstens werden diese Störungen als krankheitswertig betrachtet, sonst würden die Krankenkassen gar nicht für die Behandlung aufkommen. Zweitens treten diese Muster gar nicht gehäuft zusammen auf; eine Vielzahl von “Patienten” fällt in einen Bereich zwischen den Diagnosen; in diesem Zwischenbereich müsste bei validen Diagnosen eine Zone der Seltenheit (“zone of rarity”) liegen. Und drittens stellt sich die Frage der Validität bei einem diagnostischen Verfahren immer. Schließlich geht es darum, behandlungsbedürftige von nicht behandlungsbedürftigen Personen zu unterscheiden. Medizinisch behandlungsbedürftig ist aber nur, wer eine Krankheit hat. Er ist nicht behandlungsbedürftig allein deswegen, weil er mittels eines diagnostischen Verfahrens zweifelhafter Validität für krank erklärt wurde.

Die kritische Replik lautet im Allgemeinen, dass es doch tatsächlich behandlungsbedürftige Menschen gebe, dies sei mit bloßem Auge erkennbar und man bedürfe, um dies festzustellen, keines validen diagnostischen Instruments. Dies mag sein. Natürlich gibt es Menschen, die rasen und toben, die zutiefst niedergeschlagen sind, die sich nicht konzentrieren können oder unter unerklärlichen Ängsten leiden. Und wenn diese Menschen Hilfe suchen, dann sollte man sie ihnen auch gewähren, sofern es nicht besser wäre, sie aufzufordern, sich selbst zu helfen, weil dies im Rahmen ihrer momentanen Möglichkeiten liege.

Die gegenwärtige Psychiatrie arbeitet jedoch auf der Grundlage eines medizinischen Modells psychischer Krankheiten. Zuständig wäre sie für diese Menschen also nur dann, wenn diese auch tatsächlich psychisch krank wären. Psychisch krank wären sie nur, wenn sie an einer im Kern organischen Krankheit litten, die diese Symptome hervorbringt. Um dies festzustellen, braucht man aber ein valides diagnostisches Verfahren.

Man kann die Sache also drehen und wenden, wie man will. Die Frage nach der Validität der diagnostischen Verfahren ist die Frage nach der Legitimität psychiatrischen Handelns. Ich verstehe die emotionalen Aufwallungen, die manche befallen, wenn man diese Frage stellt. Darf es denn wahr sein, dass die Aktivität einer Institution, die seit Jahrtausenden Menschen in Nöten hilft, nicht legitim ist?

Wer in die Geschichte zurückblickt, wird feststellen, dass solchen Menschen mit Lebensproblemen fast immer, von seltenen Ausnahmen abgesehen, am besten von Personen und Institutionen außerhalb des medizinischen Rahmens geholfen wurde und dass die Psychiatrie sie schlimmstenfalls verstümmelte oder gar, wie im Dritten Reich, umbrachte. Doch dies ist ein anderes Thema, dem ich mich in anderen Postings gewidmet habe und noch widmen werde.

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Mollath-Unterstützer – nützliche Idioten der Psychiatrie?

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Vorab: Mollath ist nicht psychisch krank. Niemand ist psychisch krank. Es gibt zweifellos Menschen, die sich seltsam verhalten und Merkwürdiges zu erleben bekunden; aber wenn es einen Beweis dafür gibt, dass es sich dabei um die Symptome einer Krankheit handelt, so können wir nicht von einer psychischen, sondern wir müssen dann von einer körperlichen, beispielsweise neurologischen Krankheit sprechen. Eine solche Krankheit wurde bei Mollath im Übrigen nicht diagnostiziert.

Es gibt auch keine objektivierbaren Anzeichen dafür, dass Mollath für andere gefährlicher ist als du oder ich. Die Behauptung, er sei psychisch krank und deswegen für andere gefährlich, war schon immer eine haltlose Unterstellung. Heute aber wäre es eine bodenlose Behauptung, denn dank des stattgegebenen Antrags auf Wiederaufnahme seines Verfahrens gilt für ihn ja wieder die Unschuldsvermutung, aber nicht mehr im Sinne der Schuldunfähigkeit, sondern in dem Sinne, dass bis auf Weiteres vorauszusetzen ist, dass er die ihm zur Last gelegten Taten gar nicht begangen hat.

Soviel vorab. Mollath-Unterstützer behaupten, dass schlechte psychiatrische Gutachten ihn in den Maßregelvollzug gebracht hätten. Damit dies nicht wieder vorkomme, fordern sie strengere Regeln für Gutachten und Gutachter, eine bessere Kontrolle dieses Gewerbes und was weiß ich nicht noch alles. Dies ist natürlich Unfug. Die Gutachten in der Causa Mollath sind “State of the Art”; sie sind Stand der “ärztlichen Kunst”. Es handelt sich dabei um eine willkürliche, subjektive Auswahl von Fakten und um deren Bewertung. Sie können auch nichts anderes sein, da die psychiatrische Wissenschaft keine objektiven Grundlagen für derartige Gutachten sie bieten vermag.

Es sind im Übrigen alle Gutachten in Sachen Mollath in diesem Sinne einwandfrei, auch jede, die für ihn plädieren. Es spricht keineswegs gegen ein Gutachten, wenn andere ihm widersprechen. Es gibt keinen guten Grund dafür zu fordern, dass alle Menschen die gleiche subjektive Sicht der Dinge haben und Sachverhalte gleichartig beurteilen sollen. Und die Übereinstimmung dieser Sichtweisen beweist auch nicht deren Wahrheit. Nein, in der Tat: Jedes einzelne dieser Gutachten ist für sich genommen eine Perle dieser Wissenschaft, gemessen an den Maßstäben, die an diese beim Stand der Dinge angelegt werden müssen.

Selbstverständlich saß Gustl Mollath nicht zu Recht im Maßregelvollzug, und er gehörte dort auch nicht wieder hin, selbst wenn er die ihm zur Last gelegten Taten tatsächlich begangen hätte. Doch dies steht auf einem anderen Blatt. Richter mögen Gutachter und Gutachten benutzen, um Leute für beliebige Zeit, unabhängig von der Schwere ihrer Tat, hinter Gitter zu bringen; dies bedeutet aber nicht, dass die entsprechenden Gutachten schlecht wären. Sie können natürlich schlecht sein, im Sinne von Rechtschreibefehlern oder einem unzulänglichen Stil. Schlecht im Sinne dessen, was man von ihnen erwarten kann, was relevant ist, sind sie jedenfalls nie und nimmer. Es handelt sich ja nicht um Deutschaufsätze, wo es auf Stil und Rechtschreibung ankäme. Vielmehr sind sie und können sie nur sein: eine subjektive Selektion und Bewertung von Fakten. Die kann eben so oder so ausfallen.

Unter diesen Bedingungen ist die Politik vieler Mollath-Unterstützer sehr kritisch zu sehen. Indem sie die Gutachten Leipzigers, Pfäfflins und Kröbers als schlecht beurteilen, suggerieren sie, dass es in einem substanziellen Sinne auch bessere, nämlich objektive und wissenschaftlich fundierte geben könnte. Wenn es nicht unschicklich für Krähen wäre, anderen ein Auge auszuhacken, dann würden viele, sehr viele Psychiater dieser Kritik beipflichten; manche tun dies auf hinter vorgehaltener Hand, wenngleich wenige sich offen dazu versteigen. Man kann ja auf diese Weise die grundsätzliche Kritik an der Psychiatrie, die überfällig ist, sehr leicht ins Persönliche abschieben und dann weitermachen, wie bisher. Das möchte viele, viel zu viele.

Gerade habe ich in Kröbers Gutachten geblättert und ich muss sagen: Wenn man einmal davon absieht, dass es sich de facto nicht auf den realen Gustl Mollath bezieht, sondern auf “Gustl Mollath”, dann ist es wirklich eine Lust, dieses Meisterwerk psychiatrischen Denkens zu lesen. Jeder Satz ein Volltreffer. Dies meine ich keineswegs ironisch. Wenn man von der Psychiatrie nichts Unmögliches erwartet, nämlich objektive Befunde, dann versteht man, warum dieser Mensch tonangebend ist in der forensischen Psychiatrie.

Die Mollath-Unterstützer nehmen den Fall ihres Helden akribisch auseinander und Tag für Tat kommen neue, teilweise haarsträubende Ungereimtheiten ans Licht. Doch wenn sich die Gutachten besser reimen würden, wären sie deswegen ja noch lange nicht wahr. Fakt ist, dass die Psychiatrie nicht zu belegen vermag, dass ihre Diagnosen und Prognosen valide sind. Und daher ist es auch Fakt, dass Menschen in den geschlossenen Bereichen dieser Zunft dort willkürlich festgehalten werden.

Es mag durchaus sein, dass der eine oder andere, der sich hinter psychiatrischen Gittern befindet, durchaus gefährlich ist. Doch man kann einfach nicht – je nach Schätzung – zwischen sechs bis sechzehn Menschen wegsperren, um eine schwere Gewalttat zu verhindern. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gibt es nicht gratis. Sie haben ihren Preis. Den müssen wir durch Abstriche an unserer Sicherheit bezahlen. Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, die Psychiatrie könne die Spreu vom Weizen unterscheiden.

Sind Mollath-Unterstützer also nützliche Idioten der Psychiatrie? Sie laufen Gefahr, es zu werden, wenn sie uns vorgaukeln, dass an dieser Situation kurzfristig grundsätzlich etwas zu verbessern sei. An dieser Situation könnte sich allenfalls etwas ändern, wenn die Forschung einen physiologischen Mechanismus psychogener Gewalt entdecken würde, den man zuverlässig diagnostizieren könnte. Damit ist erstens, auch mittelfristig, nicht zu denken und zweitens ist es fraglich, ob es einen solchen Mechanismus überhaupt gibt.

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Gutachten in der Psychiatrie

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Viele meinen, die Gutachten schlechter Gutachter hätten Gustl Mollath in den Maßregelvollzug gebracht und dort festgehalten. Bei besseren Gutachtern, die sich an die anerkannten Kriterien zur Qualitätssicherung in diesem Bereich hielten, wäre dies nicht passiert. Stimmt das?

Wir unterscheiden zwei Grundformen der Prognose: jene, die sich auf das klinische Urteil stützt und jene, die auf einer standardisierten Verrechnung von objektivierbaren Daten (Actuarial Judgment) beruht. Welche Form ist effektiver? Seit rund sechzig Jahren wird diese Frage empirisch erforscht. Das Ergebnis ist eindeutig:

Bereits die frühen Studien von Mehl zeigten die erhebliche und durchgängige Überlegenheit des “Actuarial Judgment” gegenüber dem klinischen Urteil (1-3). Im Verlauf der Jahrzehnte bestätigte eine große Zahl weiterer Untersuchungen diesen Befund. Eine Meta-Studie aus dem Jahre 1970 ergab beispielsweise, dass in 13 von 14 Vergleichsstudien die standardisierte statistische Methode dem klinischen Urteil überlegen war (4). Es liegen inzwischen gut und gern rund 100 solide Studien vor, in denen sich die Einschätzungen Mehls aus den fünfziger Jahren widerspiegeln. Das “Actuarial Judgment” ist überlegen bei der Vorhersage des Rückfalls bei Bewährungsstrafen (5); es erwies sich überlegen bei der Vorhersage “psychotischer Zustände (6); in nahezu allen Bereichen, einschließlich der Vorhersage von Gewalt und individueller Psychopathologie, hatten die statistischen Methoden die Nase vorn (7).

Die einschlägige Literatur ist umfassend und kann hier nicht einmal ansatzweise referiert werden (einen guten Überblick bietet Robyn Dawes’ Buch: House of Cards).

Deutsche Gutachter verlassen sich aber vor deutschen Gerichten immer noch auf ihr klinisches Urteil, auch wenn sie allen geltenden Qualitätsstandards genügen, und deutsche Richter erwarten dies auch so. Man darf also festhalten, dass psychiatrische Gutachten vor deutschen Gerichten in jedem Fall schlechter sind, als sie sein könnten. Dies gilt auch dann, wenn sie standardisierte Tests in ihr klinisches Urteil einbeziehen, denn das klinische Urteil verzerrt, empirisch nachweisbar, die Interpretation der Tests.

Doch selbst die besten Gutachten sind nicht gut genug. In meinem Beitrag “Mollath zu Recht hinter Gittern” habe ich eine Übersichtsarbeit Buchanans referiert, die eindeutig zeigt: Selbst mit den besten verfügbaren Methoden ausgearbeitete Gutachten sind immer noch unverantwortbar fehlerbehaftet.

Was aber soll mit den gefährlichen Leuten geschehen? Sollen sie frei herumlaufen, solange sie keine Straftaten begehen? Soll man sie, obwohl immer noch gefährlich, freilassen, wenn sie ihre Strafe abgesessen haben? Es gibt Leute, auch kluge, für die ist dieses Thema so bedrohlich, dass sie ihren Verstand abschalten. Wider alle Vernunft und Empirie behaupten sie, dass beispielsweise niemand zu Unrecht im Maßregelvollzug sitzen müsse, wenn nur die Gutachter einen vernünftigen Job machen und sich an die Kriterien zur Qualitätssicherung im Gutachterwesen halten würden.

Man kann doch nicht den Kopf in den Sand stecken, nur weil die Wahrheit mit einigen höchst unerwünschten Konsequenzen verbunden zu sein scheint.

Anmerkungen:

(1) Meehl P. E. (1954). Clinical versus statistical prediction: a theoretical analysis and a review of the evidence. Northvale, NJ: Jason Aronson
(2) Meehl P. E. (1957). When shall we use our heads instead of the formula? Journal of Counseling Psychology, 4:268–73.
(3) Meehl P. E. (1959). A comparison of clinicians with five statistical methods of identifying psychotic MMPI profiles. Journal of Counseling Psychology, 6:102–9.
(4) Sines J. O. Actuarial versus clinical prediction in psychopathology. Br J Psychiatry, 116:129–44
(5) Palmer W. R. (1997). Parole prediction using current psychological and behavioural predictors, a longitudinal criterion, and event history analysis [dissertation]. Kingston, ON: Queen’s Univ
(6) Dawes R.M., Faust D., Meehl P.E. (1989). Clinical versus actuarial judgment. Science, 243:1668–74
(7) Dawes R.M., Faust D., Meehl P.E. (1993). Statistical prediction versus clinical prediction: improving what works. In: Keren G, Lewis C. A handbook for data analysis in the behavioral sciences: methodological issues. Hillsdale, NJ: Erlbaum Associations, 351–67

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Psychiatrie, Physikalismus

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Meine Einstellung zur Psychiatrie kann ohne die grundsätzlichen Voraussetzungen meines Denkens nicht verstanden werden. Daher erwarte ich auch nicht, dass sie jemand teilt, der diese Voraussetzungen nicht akzeptiert. Es handelt sich hier um die Grundhaltung eines naturwissenschaftlich denkenden Psychologen.

Ich bin Physikalist. Dementsprechend bin ich davon überzeugt, dass jeder mentale Vorgang ein Prozess im Nervensystem ist. Ich spreche hier nicht von bloßer Korrelation. Ich meine nicht, dass den mentalen Vorgängen psychische Vorgänge zugrunde lägen, dass beide miteinander korrelierten. Nein, aus meiner Sicht sind physische und mentale Prozesse identisch. Schmerz zu haben beispielsweise ist identisch mit einem entsprechenden physischen Vorgang im Nervensystem.

Ich will mich hier nicht mit den philosophischen Einwänden gegen diese Position auseinandersetzen. Es wäre vermessen zu behaupten, dass ich diese mit leichter Hand widerlegen könnte. Aus meiner pragmatischen Sicht genügt es festzustellen, dass alle Tatsachen für den Physikalismus sprechen und keine gegen ihn spricht. Es gibt zweifellos gewichtige logische und erkenntnistheoretische Einwände gegen den Physikalismus; aber es gibt keine Tatsachen, die gegen ihn sprechen; vielmehr sprechen alle für ihn; und darauf kommt es mir hier an.

Als Physikalist setze ich voraus, dass “Geisteskrankheiten” (psychische Krankheiten, Störungen etc.) Gehirnkrankheiten sind. Mit dieser Auffassung bewege ich mich durchaus im Mainstream psychiatrischen Denkens. Wenn wir also von einem Geisteskranken (psychisch Kranken, psychisch Gestörten) sprechen, so handelt es sich dabei um einen Menschen mit gestörten Hirnprozessen (auf die wir mit Begriffen wie beispielsweise “wahnhaft” oder “zwanghaft” verweisen) und bei dem diese Abweichungen zugleich ursächlich auf Störungen im Nervensystem oder im Körper generell  zurückzuführen sind.

Es gibt solche Menschen. Bei der Stoffwechselerkrankung Porphyrie beispielsweise können psychotische Zustände auftreten, die nach menschlichem Ermessen letztlich auf die Störung des Aufbaus des roten Blutfarbstoffs Häm zurückzuführen sind. Bei den so genannten psychischen Krankheiten (im engeren Sinne) finden sich solche ursächlichen Zusammenhänge zwischen den verdächtigen Phänomenen und körperlichen Störungen aber nicht. Daher kann man hier allenfalls von mutmaßlichen Krankheiten sprechen.

Die so genannten psychischen Krankheiten sind also mutmaßliche Krankheiten, und es gibt sich häufende Hinweise aus der neurowissenschaftlichen Forschung, dass sich diese Mutmaßungen als falsch herausstellen werden. Für kritische Wissenschaftler ist dies auch nicht weiter erstaunlich. Bei den so genannten Syndromen, die in den einschlägigen diagnostischen Handbüchern aufgelistet werden, handelt es sich ja nicht um empirisch erhärtete Sachverhalte, um Muster von Merkmalen, die im realen Leben tatsächlich gehäuft auftreten. Vielmehr beruhen sie auf einem Konsens, der in internationalen Psychiatergremien erarbeitet wurde;  es handelt sich also um Politik. Es ist nicht zu erwarten, dass sich solche ideologischen Konstrukte in den Befunden der empirischen, naturwissenschaftlichen Forschung wiederfinden.

Es ist natürlich denkbar, dass sich zumindest einige der so genannten psychischen Krankheiten – oder andere, von den bisherigen “Krankheitsbildern” abweichende Zusammenstellungen von Merkmalen aus diesem Spektrum – als Krankheiten im Sinne physikalistischen Denkens herausstellen werden. Ein Kandidat dafür wäre beispielsweise die Melancholie, eine Unterform der Depression. Damit hätte ich keine Probleme, würde dann aber nicht von “psychischen Krankheiten”, sondern von neurologischen Krankheiten oder anderen körperlichen Krankheiten mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben sprechen.

Allerdings will ich nicht verhehlen, dass ich nicht in allzu vielen Fällen mit derartigen Erkenntnissen rechne. Aus meiner Sicht dürfte es sich bei den “psychischen Krankheiten” in der Regel um Reaktionen eines intakten Gehirns auf soziale und ökonomische Schieflagen handeln. Für diese Reaktionen sind die Betroffenen allerdings selbst verantwortlich, denn niemand ist gezwungen, auf derartige Umweltfaktoren unangemessen zu reagieren. Entgegen anders lautenden Gerüchten ist der Physikalismus durchaus mit dem Konzept des freien Willens vereinbar.

Aus meiner Sicht sprechen viele bekannte Tatsachen für und nur wenige gegen die These der Reaktion eines intakten Gehirns auf missliche Umstände. Korrelationen zwischen sozialem Status, ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Arbeitslosigkeit, Überforderung im Beruf und vielen anderen sozio-ökonomischen bzw. kulturellen Faktoren werden seit Jahrzehnten gemessen und wurden vielfach dokumentiert. In vielen Fällen finden sich bei Betroffenen psychische Konflikte, die auf solche Faktoren, zumindest teilweise, zurückzuführen sein könnten.

Doch ich will keineswegs behaupten, dass diese Zusammenhänge als empirisch erhärtet oder gar als erwiesen betrachtet werden könnten. Korrelationen sind sicher gegeben, aber ob auch eine ursächliche Beziehung vorliegt, ist umstritten, zu Recht übrigens. Wir wissen einfach nicht, warum sich manche Menschen rätselhaft verhalten und Merkwürdiges bekunden. Wir haben aber auch keinen vernünftigen, aut Tatsachen fußenden Grund dafür anzunehmen, dass sie dies nicht aus freien Stücken, sondern getrieben von einer “Krankheit” täten.

Wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” gezeigt hat, gibt es aus neurowissenschaftlicher und physikalistischer Sicht keinen Grund, den Menschen generell den freien Willen abzusprechen. Wenn man dies im Einzelfall, bei den so genannten psychisch Kranken tun will, so müsste man dafür starke, auf Tatsachen fußende Argumente vorbringen. Ich kann nicht erkennen, wie dies beim Stand der Forschung möglich sein sollte.

Wer Bücher zur Psychopathologie aufschlägt, muss feststellen, dass er weitgehend einen metaphorischen Raum betritt. Ganz gleich, aus welcher Zeit das Buch stammt und ganz gleich, ob der Autor naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich orientiert ist: Die “Syndrome” werden den Phänomenen zugeordnet wie sprachliche Bilder. Die Zuordnung wird nicht durch empirische Zusammenhänge zwischen Verhaltensweisen und ursächlichen biologischen oder sozio-ökonomischen Phänomenen erhärtet.

Manche meinen ja, die Forschung sei eben noch nicht so weit; dies entbinde uns aber nicht von der praktischen Aufgabe, zu helfen und Leiden zu lindern. Dem kann und will ich nicht widersprechen. Allerdings sollte die Hilfe an den Stand der Wissenschaft anknüpfen und nicht auf Fantasien zukünftigen Wissens beruhen. Solange es also keinen guten Grund dafür gibt, daran zu zweifeln, dass die so genannten psychisch Kranken letztlich für ihren Zustand selbst verantwortlich sind, sollte man sie auch so behandeln wie freie Bürger.

Freie Bürger können entscheiden, ob sie Hilfe wollen und wer sie ihnen ggf. gewähren soll. Es ist nicht gerechtfertigt, sie ihnen aufzuzwingen. Ebenso wenig ist es gerechtfertigt, ihnen vorzuschreiben, wer sie ihnen gewähren soll – zum Beispiel ein Psychiater oder ein psychologischer Psychotherapeut. Die Vorstellung, dass “psychisch Kranke” unbedingt des Arztes bedürften, lässt sich weder auf Grundlage der wissenschaftlichen Forschung, noch der praktischen Erfahrung rechtfertigen. Sehr viele Betroffene “gesunden” auch ohne professionelle Hilfe. Häufig sogar schadet diese mehr als sie nutzt. Wer dies nicht glaubt, möge beispielsweise Robert Whitakers Bücher “Mad in America” und “Anatomy of an Epidemic” lesen.

Man zählt mich gelegentlich zur Antipsychiatrie und der Antipsychiatrie unterstellt man generell, sie leugne die biologische Basis menschlichen Verhaltens und Erlebens. Fakt ist, dass ich nicht antipsychiatrisch eingestellt und dass ich von der Identität mentaler und physiologischer Prozesse überzeugt bin. Selbstverständlich habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn sich freie Bürger, aus freien Stücken und gut aufgeklärt, in eine psychiatrische Behandlung begeben. Zwar glaube ich, dass sie sich klüger entscheiden könnten; aber dies ist meine subjektive Auffassung, die niemand zu teilen gezwungen ist und gegen die es sicher gute Einwände gibt, auch wenn mir diese nicht einfallen wollen.

Meine Kritik an der Psychiatrie beruht auf empirischen Befunden bzw. deren Fehlen. Sie ist daher nicht absolut und unverrückbar; gern lasse ich mich belehren – durch Tatsachen. Persönliche Beleidigungen und moralisierende Anschuldigungen allerdings prallen an mir ab. Ich bekenne mich zu den Methoden und zur Methodologie der empirischen Psychologie und Sozialforschung und an deren Maßstäben messe ich auch Einwände gegen meine Postionen. Wer dieses Bekenntnis teilt, kann nach meiner Meinung zu keiner grundsätzlich anderen Einschätzung der Sachverhalte gelangen, wenngleich man sich über Detailfragen sicher trefflich streiten kann. Dazu inkommensurablen Grundauffassungen will ich die Legitimität nicht absprechen. Anything goes. Doch das ist nicht meine Welt.

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Krankheit

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Nehmen wir an, es ließe sich eine biologische Ursache einer bisher noch mutmaßlichen psychischen Krankheit, dank einer soliden Zahl methodisch einwandfreier Untersuchungen, zweifelsfrei nachweisen. Bedeutete dies, dass damit als erwiesen betrachtet werden könnte, dass es sich bei dieser mutmaßlichen tatsächlich um eine echte Krankheit handele?

Stellen wir uns vor, jemand höre Stimmen, die sonst niemand hört. Nun stellt sich heraus, dass die Ursache dafür ein gestörter Schaltkreis im Gehirn ist. Eigentlich sollte man doch annehmen, dass damit die Ursachenfrage geklärt und dass offensichtlich das Hören solcher Stimmen etwas Krankhaftes ist.

Fragen wir uns, ob dieses Urteil einer genaueren Prüfung gewachsen ist. Man mag anwenden, dass es sich natürlich nur dann um eine Krankheit handele, wenn der Betroffene darunter leide. Aber es leiden mitunter Menschen unter Stimmen, die auch andere hören. Der ewig und überzogen kritische Chef wird zur Qual, die pausenlos nörgelnde Ehefrau bereitet dem Mann die Hölle auf Erden. Leiden plus Stimmenhören allein machen also nicht prinzipiell schon eine Krankheit.

Wer Stimmen hört, die sonst keiner hört, leidet aber vermeidbar. Die Stimmen der Ehefrau oder des Chefs muss man u. U. aushalten. Vermeidbares Leiden unter Stimmen ist also krank und bedarf des Arztes. Wer so argumentiert, sollte sich fragen, auf welche Tatsachen er seine Einstellung stützt. Es könnte ja durchaus sein, dass die Botschaften der Stimmen, die sonst niemand hört, für den Betroffenen einen Sinn haben, dem es nachzuspüren gilt und die daher nicht vorschnell abgewürgt werden dürfen.

Man kann sich natürlich auf den Standpunkt stellen, dass die Botschaften dieser Stimmen vernünftiger Überprüfung nicht standhielten, daher krankhaft seien, so dass man den Betroffenen behandeln müsse, um ihn von diesen Stimmen zu befreien. Selbst wenn dies so wäre: Warum sollten denn überhaupt die Botschaften der Stimmen vernünftig sein. Ist die Unvernunft krankhaft?

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Um ein Phänomen als krankhaft einzustufen, muss man es bewerten; allein auf Fakten kann man sich dabei nicht stützen. Aus diesem Grunde könnte man es auch nicht als erwiesen betrachten, dass es sich um eine Krankheit handelt, wenn die biologische Ursache eines Phänomens feststeht.

Das Gegenargument lautet: Die biologische Ursache ist eine Abweichung vom Normalen. Eine Abweichung von der normalen Funktion des Gehirns aber ist pathologisch. Doch woher wollen wir denn wissen, dass es sich bei dieser Abweichung tatsächlich um etwas Anormales und nicht etwa um eine seltenere Spielart des Normalen handelt? Was ist überhaupt das Normale?

Hätten wir ein empirisch erhärtetes Modell des gesunden, seiner Natur entsprechend arbeitenden Gehirns, wäre die Frage einfach zu beantworten. Aber wir haben ein solches Modell eben nicht. Die empirische Forschung ist Lichtjahre von einem solchen Modell entfernt. Und es stellt sich überdies die Frage, ob es ein solches Modell überhaupt geben kann. Denn was ist die wahre Natur des menschlichen Gehirns? Wie sollte es arbeiten, damit es dieser entspricht?

Sartre meinte, der Mensch sei zur Freiheit verdammt; es sei seine Natur, nicht festgelegt zu sein und daher wählen zu müssen. Er schreibt in “Das Sein und das Nichts”:

„So ahnen wir langsam das Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche Realität ist.“

Wenn dies zutrifft – und auch die Befunde der Neurowissenschaften schließen dies nicht aus – dann gibt es gar keine Möglichkeit zu bestimmen, wie das menschliche Gehirn von Natur aus “gesund” funktioniert. Wenn ein Mensch Stimmen hört, die sonst niemand hört, beispielsweise, so ist dies seine freie Wahl – und wenn er glaubt, diese Stimmen nicht kontrollieren zu können, dann wäre dies nur wahr, wenn sein Gehirn gleichsam automatisch diese Stimmen, die sonst niemand hört, hervorbrächte. Selbst wenn dies der Fall wäre, so könnte er sich damit abfinden, er ist nicht gezwungen, darunter zu leiden. Nur wenn er, aufgrund eines fundamentalen Hirnschadens, ein vollständiger Automat wäre, so hätte er keine freie Wahl. Wäre er dann noch ein Mensch?

Diese Erläuterungen erheben nicht den Anspruch, die Fragestellung erschöpfend zu beantworten. Es dürfte aber klar geworden sein, dass man eine Krankheit nicht feststellen kann ohne eine Bewertung, die nicht durch Fakten begründet werden kann, sondern die uns, recht bedacht, letztlich in metaphysische Bereiche führt. Die Antwort auf derartige Fragen aber ist immer arbiträr: Nicht Naturnotwendigkeiten führen uns zu ihr, sondern die freie Willensentscheidung.

In einer freien Gesellschaft ist das Konzept der “psychischen Krankheit” verhandelbar. In einer solchen Gesellschaft hat niemand das Recht, einem anderen seine, auf freier Willensentscheidung beruhende, Auffassung aufzuzwingen. Er muss überzeugen. Aus diesem Grund habe ich nichts dagegen einzuwenden, wenn sich Menschen aus freien Stücken in eine psychiatrische Behandlung begeben, weil sie sich als “psychisch krank” empfinden und sich vom Arzt Heilung oder Linderung ihres Leidens erhoffen. Zwangsbehandlungen aber sind absolut unerträglich. Alle Gesetze, die sie rechtfertigen, sind abzuschaffen.

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Antipsychiatrie

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Wenn Antipsychiatrie bedeutet, die Psychiatrie in Bausch und Bogen abzulehnen, dann gehöre ich eindeutig nicht zu dieser Fraktion. Wenn erwachsene Menschen, gut aufgeklärt über Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen, sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, dann ist dies ihr gutes Recht, das ihnen als freien Bürgern eines demokratischen Rechtsstaates uneingeschränkt zusteht. Zwar glaube ich nicht, dass allzu viel Gutes bei einer solchen Behandlung herauskommt, aber dies ist nur meine subjektive Meinung. Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Hilfe benötigt und wenn ja, in welcher Form.

Selbstverständlich lehne ich psychiatrische Zwangsbehandlungen unbedingt ab; ich halte sie für Folter. Auch betrachte ich psychiatrische Therapien, denen sich der Betroffene formal freiwillig, aber unter Druck durch Arbeitgeber, Verwandte etc. unterzieht, mit großer Skepsis. In diesen Fällen hat der Genötigte zwar durchaus noch eine Wahl; aber wenn man bedenkt, dass sich viele Menschen, die vor einer derartigen Wahl stehen, in ernsthaften Lebenskrisen befinden und ziemlich hilflos sind, dann ist es, salopp gesprochen, mit der Freiwilligkeit oftmals nicht weit her und die Grenzen zum Zwang sind fließend.

Grundsätzlich aber – also in allen Fällen ohne Zwang – wünsche ich allen Psychiatrie-Patienten viel Erfolg und gute Besserung. Die Antipsychiatrie ist mir wie jede Anti-Haltung fremd. Vielen Menschen, die psychiatrisch behandelt wurden, geht es, nach eigenem Bekunden, nachher besser als vorher. Die Forschung spricht zwar dafür, dass es sich dabei um einen Placebo-Effekt handelt, aber auch die Aktivierung der “Selbstheilungskräfte” ist eine Leistung, die man nicht geringschätzen darf. Verglichen mit Selbsthilfegruppen oder der Lektüre eines Psycho-Ratgebers ist die Psychiatrie zwar eine überaus kostspielige Veranstaltung zur Aktivierung der Selbstheilungskräfte, aber wenn sich Kassen, Ärzte und Patienten einig sind, dass eine Behandlung notwendig ist und Erfolg verspricht, dann bin ich dennoch bereit, dies hinzunehmen, wenngleich kopfschüttelnd.

Es ist keineswegs prinzipiell Antipsychiatrie, wenn man die Existenz “psychischer Krankheiten” in Frage stellt. Ich bin sogar bereit einzuräumen, dass man einen Menschen gegebenenfalls durchaus als “psychisch krank” bezeichnen kann, wenn man sich klarmacht, dass es sich dabei um eine bildhafte Umschreibung handelt. Sobald man darunter aber eine echte Krankheit, also im Kern eine Erkrankung des Gehirns versteht, sind Zweifel durchaus angebracht. Denn nach Prozessen im Hirn, die den so genannten psychischen Krankheiten zugrunde liegen sollen, forscht die Psychiatrie intensiv seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, ohne fündig zu werden. Es gibt zur Zeit keinerlei Anzeichen, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird. Die Neurowissenschaften sind noch Lichtjahre von einem Verständnis der höheren Geistestätigkeit und ihrer Störungen entfernt.

Wer sich zu den Methoden der empirischen Psycho-, Neuro- und Sozialwissenschaften bekennt, muss dies als Tatsache in Rechnung stellen. Meine Kritik an der Psychiatrie ist gleichsam ein Nebenprodukt dieser Haltung; ich kann gar nicht anders, wenn ich mich selbst ernst nehmen will. Beim gegenwärtigen Stand der Forschung muss man einfach einräumen, dass die Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten unbekannt, dass die entsprechenden Diagnosen nicht valide und dass die objektivierbaren  Resultate der diversen Behandlungsformen höchst unbefriedigend sind. Dies muss man auch dann, wissenschaftliche Redlichkeit vorausgesetzt, konstatieren, wenn man der Psychiatrie, so wie ich, im Grunde wohlgesonnen ist.

Man mag einwenden, dass zwischen Wissenschaft und Praxis ein großer Abgrund klaffe und dass man nicht auf wissenschaftliche Durchbrüche warten könne, bevor man leidenden Menschen helfe. Dies ist sicher richtig. Doch wenn die Psychiatrie leidenden Menschen effektiv helfen könnte, dann wären doch die Resultate der Studien, die sich mit dieser Praxis beschäftigen, nicht so dürftig, wie sie es tatsächlich sind – sofern man einmal von “Forschungen” absieht, die von gewissen Kreisen in der Pharmaindustrie finanziert wurden. Es mag abgehobene Bereiche der Wissenschaft geben, die in ideologischen Höhen schweben und deren Resultate man nicht überbewerten darf; doch empirische Studien, die Praxis-Prozesse beleuchten, stellen doch ein anderes Kaliber dar.

Man muss kein Anhänger der Antipsychiatrie sein, um festzustellen, dass die Psychiatrie vor einem Scherbenhaufen steht. Auch wer, wie ich, Scientology rundum ablehnt, kann nicht die Augen davor verschließen, dass die Psychiatrie bisher mehr Schaden angerichtet, als Nutzen gestiftet hat. Um dies zu erkennen, genügt es, seine Nase in die seriöse Forschungsliteratur zu stecken. Ich kann es verstehen, wenn man die Praxis der Psychiatrie beschönigt, weil es keine Alternative zu ihr zu geben scheint. Doch dabei läuft man Gefahr, Alternativen zu übersehen, die es tatsächlich gibt.

Es gibt sie: Nicht-psychiatrische Hilfen für Menschen mit Lebensproblemen, für Menschen in existenziellen Krisen. Es gibt Weglaufhäuser, es gibt Soteria-Einrichtungen, es gibt eine Vielzahl von unabhängigen Selbsthilfegruppen – doch es gibt viel zu wenig davon. Und davon gibt es viel zu wenig, weil, so steht zu vermuten, der Lobbyismus des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes  es bisher sehr erfolgreich verhindert hat, dass diese Ansätze sich zu einer ernst zu nehmenden Konkurrenz entwickeln können.

Es geht schließlich um Milliarden und Abermilliarden – entsprechend viel Geld steht der Marketing-Maschine des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes zur Verfügung. Hinzu kommen die nützlichen Idioten, die, aus Unwissenheit und Gedankenlosigkeit, Psychiatrie-Kritiker als “Antipsychiatrie” oder “Scientology” verunglimpfen. Es geht den seriösen Kritikern aber gar nicht darum, die Psychiatrie zu verdrängen oder gar auszumerzen bzw. mit den eigenen Sekten-Angeboten zu ersetzen. Wer sich gern in dieser Weise behandeln lassen möchte, dem soll dieser Weg natürlich auch in Zukunft offen stehen. Natürlich sind mit diesen Behandlungen erhebliche Risiken verbunden – aber wer wollte denn schon in einem Staat leben, der seine Bürger um jeden Preis vor allen Risiken bewahren will?

Wenn die Psychiatrie Menschen mit Lebensproblemen nachweislich besser helfen könnte als andere Ansätze, dann gäbe es die “Pflasterritzenflora” gar nicht. Aber sie kann es nicht. Nicht in der Lage dazu ist die Psychiatrie. Im Gegenteil: Oft macht sie vieles unnötig schlimmer. Darum braucht sie Konkurrenz. Und diese Konkurrenz benötigt staatliche Mittel, die ja auch die Psychiatrie erhält. Da muss Waffengleichheit herrschen. Die nicht-psychiatrischen Hilfen sind auch auf gutwillige Journalisten angewiesen, die in den Medien über diese Ansätze berichten – und nicht immer nur das Hohelied der Pharmaindustrie singen.

Manche meinen trotz alledem, die Psychiatrie sei viel besser als ihr wissenschaftlicher Ruf. Auf die Wissenschaft könne man nichts geben. Man glaube ohnehin nur an die Statistiken, die man selbst gefälscht habe. Im Volk wissen man schon, dass man die Psychiatrie brauche und wie viel Gutes sie leiste, trotz aller Missstände und Fehlgriffe. Ist das wirklich so? Hätte der Fall Mollath beispielsweise so viel Staub aufwirbeln können, wenn es tatsächlich nur um diesen Mann ginge. Wie viel Unbehagen, wie viel Misstrauen ist tatsächlich im Volk lebendig?

Natürlich: Im Allgemeinen interessiert sich das Volk nicht übermäßig für Zahlen, Daten und Fakten. Wir vertrauen auf die Experten, die uns damit verschonen und uns die Welt erklären. Im Allgemeinen gibt sich das Volk mit diesen Welterklärungen durch Experten auch zufrieden. Doch seit ein, zwei Jahrzehnten verstärken sich die Zweifel an den Experten in der Medizin im Allgemeinen und ganz besonders in der Psychiatrie. Der Fall Mollath scheint nun dass Fass zu Überlaufen gebracht zu haben. Dies erkennt man auch daran, dass sich nunmehr zunehmend Experten unter die Mollath-Unterstützer mischen, um den Schaden zu begrenzen, nach dem Motto: “Kannst du eine Bewegung nicht stoppen, dann stelle dich an ihre Spitze!”

Aber der Unmut wird bleiben, auch wenn die Experten dem Volk suggerieren, der Fall Mollath sei das Ergebnis von Missständen in Psychiatrie und Justiz, die behoben werden müssten, damit dann alles wieder gut sei. Angesichts der horrenden Zahlen bei den Zwangseinweisungen kennt doch heute fast jeder den einen oder anderen Fall und viele beginnen sich zu fragen, ob da tatsächlich alles mit rechten Dingen zuging oder ob es sich nicht doch um “einen kleinen Fall Mollath” handelt. Manch einer erkennt, dass hier nicht immer Schwarzgeld und Politiker-Komplotte eine Rolle gespielt haben können, sondern das am System insgesamt etwas faul ist.

Dennoch: Antipsychiatrie ist dumm, gar nicht zu reden von Scientology. Selbstverständlich müssen alle Gesetze aufgehoben werden, die eine zwangsweise Unterbringung und Behandlung angeblich psychisch Kranker erlauben. Aber genauso selbstverständlich brauchen wir die Psychiatrie, sofern sie nicht auf Zwang beruht. Dies erkennt man daran, dass ihre Dienstleistungen nachgefragt werden, warum auch immer. In einer freien Gesellschaft und Marktwirtschaft reicht dies als Nachweis der Existenzberechtigung völlig aus.

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Paranoia

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Unlängst schrieb mir ein forensischer Diplom-Psychologe, dass er ziemlich leicht erkennen könne, ob ein Mensch an einer Paranoia leide. Wenn ich dies nicht könne, sei ich eine Pappnase. Ich schrieb zurück, ich glaubte ihm, dass er in zehn bis fünfzehn Prozent der Fälle erfolgreich sei, denn nach konservativer Schätzung hätten zehn bis fünfzehn Prozent der Normalbevölkerung regelmäßig Gedanken, die eindeutig die psychiatrischen Kriterien einer “Paranoia” erfüllten (1). Wenn er beanspruche, eine höhere diagnostische Trefferquote als die Zufallstrefferwahrscheinlichkeit zu verzeichnen, so möge er dies beweisen. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.

Und, um ehrlich zu sein, bin ich darüber auch ganz froh, denn ein Blick auf die Website dieses Menschen überzeugte mich davon, dass sich bei ihm offenbar ein Phänomen zeigt, dass die Psychiatrie bei anderen, nicht also bei ihresgleichen, durchaus als “Größenwahn” einstufen würde. Er spart nicht mit Kritik an der forensischen Psychiatrie, zugleich aber erweckt er den Eindruck, dass man zuverlässig den gefährlichen Paranoiker herausfischen könne, wenn man sich nur an seine Anweisungen hielte und dabei jene Kunstfertigkeit unter Beweis stelle, die ihm (und recht eigentlich: nur ihm) zu eigen sei.

Es versteht sich von selbst, dass er dem Leser statistische Belege für diese steile These schuldig bleibt. Der empirischen Forschung, die sich an die gängigen Methoden hält, scheint er überdies abhold zu sein; er bevorzugt die “Einzelfallanalyse”. Auf welche Weise er dann die Überlegenheit seines Vorgehens erhärten möchte, bleibt sein Geheimnis. Denn am Einzelfall kann man nicht erkennen, ob es sich bei einer richtigen Prognose um einen Zufallstreffer handelte oder eben nicht.

Es ist ja beispielsweise durchaus denkbar, dass ein Mensch weder an einer Paranoia leidet, noch ein inneres Gefährlichkeitspotenzial besitzt und trotzdem, situativ bedingt, eine für ihn untypische Gewalttat begeht. Oder, noch wahrscheinlicher, der Mann hat gut geraten und einen aus den zehn bis 15 Prozent der Leute mit Paranoia erwischt, die zudem noch gewalttätig sind (eine verschwindend kleine Zahl). Schließlich findet ein blindes Huhn – im Einzelfall – auch einmal ein Korn.

Während die “Paranoia” mehr oder weniger normal ist, sind von “Paranoiden” begangene Gewalttaten überaus seltene Ereignisse. Und wie so oft bei seltenen Ereignissen fehlt uns bei diesen die solide empirische Basis für wissenschaftlich halbwegs vertretbare Prognosen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass viele Harmlose als gefährlich erachtet und viele Gefährliche als harmlos eingestuft werden. Wenn es einen biologischen Mechanismus für psychogene Gewalt gäbe und wenn wir diesen zuverlässig feststellen könnten, sähe die Sache natürlich anders aus. Aber wir kennen ihn nicht und vielleicht gibt es ihn auch gar nicht, weil die überwiegende Mehrheit der rätselhaften, rational nicht erklärbaren Gewalttaten situativ bedingt sein und nicht auf persönlichen Faktoren beruhen könnte.

Was ist eigentlich “Paranoia”? Die Psychiatrie sagt: Paranoid ist einer, der unverbrüchlich an einer Überzeugung festhält, obwohl sie erwiesenenermaßen falsch ist bzw. von der überwältigenden Mehrheit seines Umfelds für bizarr und abwegig gehalten wird. Nicht paranoid jedoch sind selbst falsche Überzeugungen dann, wenn auch die primäre Bezugsgruppe des Betroffenen daran glaubt (zum Beispiel religiöse Glaubenslehren). Was die Psychiatrie sagt, deckt sich weitgehend mit dem so genannten gesunden Menschenverstand. Aus diesem Grund ist es so verteufelt schwierig, mit Aussicht auf Erfolg dagegen zu argumentieren.

Auch wenn Sie nicht paranoid sein sollten, lieber Leser, wird es ihnen schwerfallen, die meisten Ihrer Überzeugungen zu beweisen. Sie werden auch keine Kirche finden, die alle dieser unbeweisbaren Überzeugungen mit Ihnen teilt. Sie müssten schon Ihre eigene Kirche gründen, die alle Ihre Überzeugungen zur Glaubenslehre erklärt und selbst dann brauchten Sie auch noch Kirchenmitglieder in nennenswerter Zahl. Sie werden vielleicht argumentieren, dass auch Ihre unbeweisbaren Überzeugungen kein Wahn, sondern allenfalls und möglicherweise ein Irrtum seien. Und wenn sie dennoch, also auch im Falle eines Irrtums, unverbrüchlich daran festhielten, so sei dies kein Symptom einer psychischen Erkrankung, sondern der Tatsache geschuldet, dass man lieb gewonnene Überzeugungen nicht mir nichts dir nichts über Bord werfe.

Sicher, natürlich. Aber erklären Sie dies einmal einem forensischen Diagnostiker wie dem oben erwähnten, wenn es hart auf hart kommt. Sie haben keine Chance, weil diese Leute den Unterschied zwischen Irrtum und Paranoia nicht gelten lassen, wenn Sie ihrem Vorurteil entsprechen. Sie lieben den Wahn, weil man ihn nicht beweisen kann. Beweisen kann man bestenfalls den Irrtum, nicht aber den Wahn, denn dieser ist eine subjektive Meinung. Der Wahn unterstellt eine “psychische Krankheit” und alle Versuche, die Existenz solcher Krankheiten zu beweisen, sind bisher fehlgeschlagen.

Gäbe es physiologische Grundlagen der “Paranoia” und psychogener Gefährlichkeit und ließen diese sich feststellen, dann könnte man zuverlässig vor Gericht entscheiden, ob jemand in den Knast oder in die Klapse muss. Doch da solche Mechanismen nicht bekannt sind, eröffnet sich eine weite Seelandschaft für die Zünfte der forensischen Psychiatrie und Psychologie, wo man weitgehend unbehelligt im Trüben fischen darf und muss, solange man nur schlussendlich die richtigen an der Angel hat, also jene, die der jeweilige Richter gern auf unbestimmte Zeit hinter psychiatrischen Gittern wissen möchte.

Die “Paranoia” ist eine schöne Sache, denn der “gesunde Menschenverstand” hält die Paranoiden unverbrüchlich und unverrückbar für besonders gefährlich, obwohl sie dies erwiesenermaßen nicht sind. Psychiatrisch betrachtet müsste man dies also als paranoiden Zug im gesunden Menschenverstand identifizieren; aber das erste, was man im Umgang mit der Psychiatrie zu lernen hat, besteht darin zu erkennen, dass sie ihre Prinzipien sehr selektiv anwendet. Was also bei dem einen als Symptom einer Paranoia gewertet wird, gilt bei dem anderen als Anzeichen eines klaren Durchblicks. Darum ist der, der sich mehr vor Paranoiden fürchtet als vor anderen Menschen, eindeutig nicht paranoid.

Besonders scharfe Kritiker der Psychiatrie meinen, diese sei selbst eine Form der institutionalisierten Paranoia. Jeder, der von der Norm abweiche und dafür keine Entschuldigung vorbringen könne, die auch Kleingeistern einleuchte, werde verdächtigt, “psychisch krank” zu sein und sich eventuell selbst oder andere zu gefährden. Doch laut psychiatrischer Doktrin ist eine Paranoia nicht durch soziale, ökonomische oder kulturelle Faktoren zu erklären. Bei der Psychiatrie aber sind wesentliche Ursachen offensichtlich, nämlich das Streben nach Geld und Sicherheit. Daraus folgt, dass es sich bei der Psychiatrie nicht um institutionalisierte Paranoia handeln kann.

Das Schöne an der Paranoia ist auch, dass man sie mühelos künstlich hervorrufen kann, wenn danach Bedarf besteht. Man sperre einen beliebigen Menschen zur Beobachtung in einer Klapsmühle ein. Schon bald wird er ängstliches oder aggressives Misstrauen gegenüber dem Personal entwickeln und sich womöglich als Opfer einer Verschwörung empfinden. Und schon ist er paranoid; gut nur, dass er rechtzeitig weggesperrt wurde. Auch eine Familie, die den lästigen Opa, beispielsweise, loswerden möchte, hat keine Schwierigkeiten damit, diesen in einen Zustand der Paranoia zu versetzen. Nach außen liebevolle Sorge, nach innen Schikane – und der Opa ist reif für die Anstalt. So einfach geht das.

Angriff ist die beste Verteidigung. Nur Mut. Erklären Sie andere für paranoid, bevor diese das mit Ihnen tun. Merken Sie denn gar nicht, dass diese nur noch auf einen günstigen Augenblick warten. Kommen sie denen, die Ihnen eine Paranoia unterstellen wollen, möglichst schnell zuvor. Vergeuden Sie keine Zeit und lassen Sie sich durch die freundliche Fassade nicht täuschen: Die sind hinter Ihnen her. Drehen Sie den Spieß um. Der Psychiatrie ist es egal, wen sie für paranoid erklärt. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Anmerkung

(1) Freeman, D. (2007). Suspicious Minds: The Psychology of Persecutory Delusions. Clinical Psychology Review, 27, 4, 425-427

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Psychopharmaka

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Es kann wohl kein Zweifel mehr daran bestehen, dass einflussreiche Kreise innerhalb der Pharmaindustrie die Psychopharmaka-Forschung in erheblichem Ausmaß verzerrend und zu ihren Gunsten beeinflusst haben. Man lese hierzu beispielsweise David Healys Buch “Pharmageddon”. Inzwischen haben sich die großen Pharma-Unternehmen allerdings weitgehend aus der Psychopharmaka-Forschung zurückgezogen. Es heißt, das Gebiet sei ihnen zu riskant und andere Bereiche seien Gewinn versprechender. Der wahre Grund dürfte letztlich darin bestehen, dass die psychiatrische Forschung den Pharma-Unternehmen keine Zielgebiete im Hirn zu nennen vermag, für die man Medikamente mit neuen Wirkmechanismen, also patentfähige und damit profitable Substanzen entwickeln könnte. Manche meinen, dies liege daran, dass die psychiatrische Forschung immer noch mit den Diagnosemanualen DSM bzw. ICD arbeite, deren “Krankheitsbilder” nicht im geringsten mit dem übereinstimmten, was wir heute über die Arbeitsweise des Gehirns wissen.

Seit ein paar Jahren wird auch in den Kreisen der psychiatrischen Wissenschaft Kritik an Psychopharmaka und am biologischen Modell “psychischer Krankheiten” laut; und böse Zungen behaupten, dies sei die Rache dafür, dass aus Pharma-Kreisen nicht mehr soviel Geld an die Universitäten und in die Taschen der einschlägig tätigen Wissenschaftler fließt. Wenn erst einmal der Patentschutz für die heute noch geschützten, gängigen Psychopharmaka abgelaufen sein wird, dann mag sich dieses Phänomen noch verstärken. Heute wird die These, dass Psychopharmaka gestörte Hirnprozesse korrigierten (chemische Ungleichgewichte usw.), von der Zunft zwar immer noch mehrheitlich vertreten, aber wie lange noch? Dass es sich dabei um Schwindel und Betrug handelt, hat beispielsweise Joanna Moncrieff in ihrem Buch “The Myth of the Chemical Cure: A Critique of Psychiatric Drug Treatment” gezeigt. Wird man diese offensichtlich abwegige Fiktion auch dann noch vertreten, wenn ärztlicherseits von der Pharmaindustrie absolut nichts mehr zu holen sein wird?

Mein zynisches Weltbild: Korrupte Ärzte im Griff der Pharmaindustrie – dieses Weltbild ist sicher ungerecht und es verzerrt die Wirklichkeit. Selbstredend hat die Psychiatrie auch ihre Schwarzwaldkliniken, mit guten Ärzten, deren kleine menschliche Schwächen sie nicht daran hindern, schlussendlich alles wieder  ins Lot zu bringen. Darum halten ja auch die meisten Menschen die Psychiatrie, trotz mancher Missstände, für eine notwendige Institution. Von meinem zynischen Weltbild mag ich dennoch nicht lassen, da mir bewusst ist, was es für die Betroffenen bedeutet, mit psychiatrischen und dies heißt überwiegend mit psychopharmakologischen Mitteln wieder ins Lot gebracht worden zu sein. Der Preis für die häufig fragwürdigen, oft überwiegend auf dem Placebo-Effekt beruhenden Wirkungen der Psychopharmaka ist die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken”. Dies bedeutete: teilzuhaben an einer Veranstaltung, in der Lebensprobleme als “Krankheiten” inszeniert werden.

Es gibt zahllose Befunde, die einen engen Zusammenhang zwischen sozialen bzw. ökonomischen Schieflagen und den so genannten psychischen Krankheiten belegen, wohingegen Belege für einen Zusammenhang zwischen psychischen Krankheiten und gestörten Hirnprozessen oder genetischen Faktoren spärlich und methodisch meist fragwürdig sind. Dennoch behandelt die biologische Psychiatrie letztere als erst- und erstgenannte als zweitrangig, sofern sie überhaupt beachtet werden. Kritiker sprechen von einer Überkleisterung sozio-ökonomischer Probleme durch eine medikamentöse Therapie, die Betroffene bestenfalls gleichgültig und emotional stumpf macht. Dies mag helfen, insofern es die passive Anpassung an gesellschaftliche Verhältnisse erleichtert; eine echte Lösung ist dies dennoch nicht. Psychotherapien, die nach dem medizinischen Modell Worte wie Pillen verabreichen, an die sozialökonomischen Schwierigkeiten aber nicht rühren, sind gleichermaßen keine echte Lösung von Lebensproblemen.

Manche räumen ein, dass Psychopharmaka langfristig zwar mehr schadeten als nutzten, unterstellen aber, dass sie kurzfristig ein wahrer Segen sein könnten. Auf einer oberflächlichen Ebene betrachtet, auf der sich auch die Befürworter des mäßigen Alkoholkonsums bewegen, mag dies durchaus zutreffen. Schaut man genauer hin, so erkennt man dennoch darin eine Strategie des Ausweichens vor grundlegenden Problemlösungen. Eine gemobbte Sekretärin beispielsweise, die, wenn’s wirklich nicht mehr anders geht, gelegentlich und kurzfristig ein Beruhigungsmittel nimmt, wird dadurch vielleicht befähigt, an ihrem Arbeitsplatz auszuharren. Dass dies aber eine wünschenswerte Problemlösung sei, mag bezweifelt werden.

Aus Sicht der biologischen Psychiatrie sind psychische Störungen Hirnerkrankungen ohne sozialen Sinn. Stress mag als Auslöser eine Rolle spielen, gesunde Leute aber seien dem Stress des Lebens gewachsen; nur die biologisch Vorgeschädigten kämen damit nicht zurecht. Aus dieser Sicht handelt die oben erwähnte Sekretärin natürlich vernünftig. Die Geschäftsleitung ihres Unternehmens wird dies sicher recht sein, denn es enthebt sie der Notwendigkeit, gegen das Mobbing vorzugehen; man kann sich also Ärger ersparen. Wer aber die Entwicklung der gesamten Gesellschaft im Auge hat, kann solche Vorgänge nicht als akzeptabel betrachten. In allen Industriestaaten hat sich der Konsum von Psychopharmaka zu einer gesellschaftlich akzeptierten Gewohnheit entwickelt. Das führt dazu, dass soziale und ökonomische Probleme viel eher hingenommen werden. Der Politik scheint dies zu gefallen; dies könnte man zumindest aus der Tatsache schließen, dass sie nichts Einschneidendes dagegen unternimmt.

Psychopharmaka sind also nicht nur ein chemisches, sondern auch ein politisches Gift. Manche meinen, sie seien dennoch ein notwendiges Übel, denn so schnell, wie manche Leute Hilfe brauchten, könne man die Gesellschaft nicht ändern. Auch wenn Psychopharmaka nicht das “Gelbe vom Ei” seien, so sei der grundsätzliche Verzicht darauf dies noch viel, viel weniger. Mitunter müsse man, zähneknirschend, den Teufel mit Beelzebub austreiben. Es dürfte nur wenige Menschen geben, die einer solchen Sicht nicht spontan zustimmen. An solcher Spontaneität habe ich nichts auszusetzen, solange sie nicht späteres Nachdenken verhindert. Dieses spätere Nachdenken sollte sich auf die Frage konzentrieren, ob es von Fall zu Fall nicht Alternativen ohne Psychopharmaka gebe, ohne das deswegen gleich die ganze Gesellschaft verändert werden müsste. Könnte man nicht beispielsweise den “Schizophrenen” in eine Einrichtung stecken, die auf Therapie und Medikamente (weitgehend) verzichtet, anstatt ihn mit Drogen vollzupumpen? Überall da, wo Derartiges versucht wurde bzw. wird, scheint es es erfolgreich zu sein. Dafür sprechen die, allerdings noch spärlichen, Befunde einschlägiger Studien (1).

Das System aber hat kein besonders ausgeprägtes Interesse an solchen Alternativen, auch wenn vereinzelt Einrichtungen dieser Art geduldet, mitunter sogar gefördert werden. Dennoch könnte man mehr davon bekommen, wenn Betroffene und Angehörige Druck auf das System ausüben würden, Revolution machen müsste man deswegen nicht. Doch die vermeintliche Knopfdrucklösung durch Griff zu Psychopharmaka ist einfach zu verlockend; sie verspricht das günstigste Verhältnis von Aufwand und Ertrag. Dies behauptet jedenfalls die Marketing-Maschine des psychiatrisch-psychopharmakologischen Komplexes. Doch wie glaubwürdig ist diese Marketing-Maschine?

Psychopharmaka, so denken manche, seien effizient (schnell wirksam) und ideologiefrei (unabhängig von psychotherapeutischem Firlefanz). Dies macht sie attraktiv. Man habe, so glaubt man, einfach nicht die Zeit, sich mit den Hintergründen seiner Lebensprobleme vertieft auseinanderzusetzen. Vermutlich denken vor allem Männer so, besonders, wenn sie im Berufsleben stehen und Wichtigeres zu bearbeiten haben als die eigene “Psyche”. Sie unterliegen einem Trugschluss, denn es geht hier gar nicht um die “Psyche”. Es geht um ihre konkreten Lebensverhältnisse, ihre Arbeit, ihr Eheleben, ihre (oft kaum vorhandene) Freizeit. Es spricht viel dafür, dass die so genannten psychischen Störungen Ausdruck von Missverhältnissen in diesen Lebenssphären sind. Wer meint, in diesen Bereichen Wichtiges zu tun zu haben, der kann diese Missverhältnisse nicht aussparen und die Auseinandersetzung damit durch Psychopharmaka ersetzen. Richtige Männer schlucken keine Psychopharmaka.

Und die Frauen? Sie hätten, vor allem ab vierzig, am liebsten esoterisch angehauchte Psychotherapie und dazu, zur Sicherheit, Psychopharmaka. Es hat wenig Zweck, dagegen zu argumentieren. Ein Mann kann Frauen nur raten, diesen Weg zu beschreiten (in der Hoffnung, dass sie dann deswegen dagegen opponieren und zumindest die Psychopharmaka weglassen). Psychopharmaka ändern jedenfalls nichts an den besonderen  Lebensverhältnissen, die bei Frauen recht häufig zu Problemen führen, die dann – weil frau es nicht besser weiß – in der Rolle der “psychisch Kranken” ausgelebt werden. Was auch immer unter patriarchalischen Verhältnissen zu verstehen sein mag: Es wird durch Psychopharmaka nicht besser.

Männer, Frauen, reißt euch zusammen. Das klingt altmodisch, das hört die Pharmaindustrie nicht gern. Dennoch: Reißt euch am Riemen. Ändert, was sich ändern lässt und was sich (noch) nicht ändern lässt, dass erduldet ohne Medikamente, illegale Drogen oder Alkohol.

Anmerkung

Calton, T. et al. (2008). A Systematic Review of the Soteria Paradigm for the Treatment of People Diagnosed With Schizophrenia. Schizophr Bull, 34 (1): 181-192

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Kommentare

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Wer zur Zeit in der Pflasterritzenflora zu kommentieren versucht und die Fehlermeldung erhält: “Error – empty answer!”, der möge dies nicht persönlich nehmen. Die Kommentarfunktion ist defekt, mein Provider wurde informiert und man versprach mir, nach der Ursache des Problems und einer Lösung zu suchen. Warten wir also ab und hoffen das Beste.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.

MfG

Hans Ulrich Gresch

PS (heute 20 h): Nach einer Deinstallation und Neu-Installation meiner Antispam-Programme scheint das Problem gelöst zu sein.  Ich bitte Leser, die gegenteilige Erfahrungen machen, mir dies via e-Mail mitzuteilen.

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Wahlempfehlung für “Die Linke”?

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Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und die Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener empfehlen – auf Basis einer Befragung von 1126 Kandidatinnen und Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 – die Wahl der Partei “Die Linke”. Nur diese Partei setze sich für eine bedingungslos gewaltfreie Psychiatrie ein und fordere konsequent die Abschaffung aller psychiatrischen Sondergesetze.

Allerdings versehen die genannten Vereinigungen ihre Wahlempfehlung mit einem Warnhinweis. In einer Stellungnahme zu einer Kleinen Anfrage habe die Gesundheitsministerin des Landes Brandenburg, Anita Tack am 24. 05. 2013 betont, dass man zwischen Menschen, die aufgrund ihres freien Willens ein Recht auf Krankheit hätten, und krankheitsbedingt nicht zur Krankheitseinsicht fähigen Menschen unterscheiden müsse. Letztere gegen ihre Willen zu behandeln, sei durchaus verfassungskonform.

Im Klartext bedeutet dies: Da es keine objektiven Methoden gibt, die Fähigkeit zur freien Willensbildung bei den sogenannten psychisch Kranken festzustellen, redet die Ministerin ärztlicher und juristischer Willkür das Wort. Daher ist der Warnhinweis gerechtfertigt. Man kann nicht zuverlässig ausschließen, dass die Linke bei einer Regierungsbeteiligung Gesetzen zur Aufrechterhaltung der Zwangspsychiatrie zustimmen wird.

Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass die Linke in Sachen Zwangspsychiatrie mit Abstand den besten Eindruck hinterlässt, aber ob sie nach der Wahl hält, was sie vor der Wahl verspricht, ist keineswegs gewiss. Es geht hier im Übrigen nicht um eine Bagatelle, sondern u. a. darum, ob man Menschen im Falle eines Falles gewaltsam schwere Nervengifte verabreichen darf,  deren Wirkungen oftmals als sehr unangenehm empfunden werden und die teilweise (evtl. sogar irreversibel) gesundheitsschädigend sind.

Wenn wir von schweren geistigen Behinderungen einmal absehen, gibt es keinen vernünftigen, auf Fakten fußenden Grund, Menschen den freien Willen abzusprechen. Dies gilt auch für so genannte psychisch Kranke, die nicht “krankheitseinsichtig” sind. Das Konstrukt der “psychischen Krankheit” ist bekanntlich nicht valide; warum sollte sich also ein Mensch zu einer “psychischen Krankheit” bekennen, wenn man diese nicht mit objektiven Methoden feststellen kann? Nach den Kriterien der Psychiatrie müsste man sogar den unverbrüchlichen Glauben an dieses Konstrukt als Wahnvorstellung bezeichnen.

Ich gehöre schon zu den älteren Semestern und ich habe in meinem bisherigen Leben nur allzu oft erleben müssen, wie Parteien ihre Wahlversprechen gebrochen haben; und deswegen spreche ich grundsätzlich keine Wahlempfehlungen aus, da ich nicht, was voraussehbar wäre, als schlechter Ratgeber dastehen möchte. Ich wäre sehr überrascht, wenn in absehbarer Zeit die Zwangspsychiatrie abgeschafft würde. Selbst wenn die Linke an der Regierung beteiligt würde, hätte ich da keine große Hoffnung. Zu tief ist in den Köpfen der Bevölkerungsmehrheit die Überzeugung verwurzelt, dass man “psychisch kranke und deswegen gefährliche” Menschen präventiv wegsperren müsse.

Mitunter fordern Parteien vor der Wahl Unmögliches und betonen nach der Wahl, dass Politik die Kunst des Möglichen sei. Wer Parteien wegen ihrer Programme und Wahlversprechen wählt, ist meines Erachtens schief gewickelt. Sie können immer behaupten, dass widrige, unvorhersehbare Umstände oder der Koalitionspartner sie zwängen, von ihren Ankündigungen schweren Herzens abzurücken. Es ist kaum vorstellbar, dass irgendeine Regierung – mit linker Beteiligung oder nicht – es riskieren würde, die Zwangspsychiatrie abzuschaffen. Der nächste angeblich irre Mörder wäre ein gefundenes Fressen für die Opposition und würde in der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung auslösen.

Eine Wahlempfehlung für die Linke, auch wenn ich sie nicht ausspreche, halte ich durchaus für vertretbar, aber aus anderen Gründen. Einen gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro, die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze auf 500 Euro und die Abschaffung der Rente mit 67 zu fordern, beispielsweise, ist ja nicht unrealistisch. Auch hier übernehme ich keine Garantie dafür, dass diese Partei als Voraussetzung einer Regierungsbeteiligung oder Duldung, darauf besteht; aber die Wahrscheinlichkeit ist doch deutlich höher als in Sachen Zwangspsychiatrie.

Solange nicht eine Mehrheit der Bevölkerung den politischen Charakter der Zwangspsychiatrie durchschaut, haben die Befürworter ihrer Abschaffung schlechte Karten. Wer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung für notwendige medizinische Maßnahmen hält, wird zu dieser Einsicht wohl eher nicht vordringen. Daher hätte man die Kandidatinnen und Kandidaten fragen sollen, ob sie an die Existenz psychischer Krankheiten glauben. Die Antworten hätten eine sicherere Prognose ihres zukünftigen Verhaltens im Bundestag erlaubt.

Das ist in der Tat die entscheidende Frage. Dass es Menschen gibt, deren Verhalten und bekundetes Erleben Rätsel aufgeben und irrational erscheinen, steht ja außer Frage. Dass manche Menschen rasen und toben, in abgrundtiefe Traurigkeit versunken sind oder sich konfuser Betriebsamkeit anheimgeben, beispielsweise, kann nicht ernsthaft bestritten werden. Aber ist dies die Folge einer psychischen Krankheit, das Ergebnis eines eingeschränkten oder nicht mehr vorhandenen freien Willens? Oder haben sich die Menschen, im Gegenteil, frei dazu entschieden?

Das Konzept der freien Entscheidung steht im Widerspruch zum Konstrukt der “psychischen Krankheit”.

  • Der “psychisch Kranke” ist allenfalls eingeschränkt für seine “Symptome” verantwortlich; diese sind vielmehr Ausdruck einer “Psychopathologie”; diese Menschen bedürfen des Arztes. Im Extremfall muss man die psychisch Kranken dazu zwingen, sich einer Behandlung zu unterziehen, weil ihnen krankheitsbedingt die Krankheitseinsicht fehlt.
  • Nach dem Konzept der freien Entscheidung kann der Mensch zwar andere und sogar sich selbst glauben machen, er habe die Kontrolle über sich verloren, aber weder die wissenschaftliche Forschung, noch die allgemeine Lebenserfahrung zwingen uns dazu, uns diese Auffassung zu eigen zu machen.

Bisher ist es uns noch nicht gelungen, menschliches Verhalten unter realen Lebensbedingungen halbwegs treffsicher vorherzusagen; dies gilt auch für gewalttätiges oder selbstschädigendes Handeln. Dies beweist zwar nicht das Konzept der freien Entscheidung, aber es spricht eindeutig dafür. Beim Stand der wissenschaftlichen Forschung müssen wir jedenfalls eine größere Zahl von Menschen einsperren, um eine Gewalttat oder einen Suizid zu verhindern. Die Validität psychiatrischer Prognosen ist für eine vertretbare Trefferquote viel zu gering.

Wer das Konzept der freien Entscheidung vertritt, lehnt das Konstrukt der “psychischen Krankheit” ab und muss sich daher auch für die unbedingte Abschaffung der Zwangspsychiatrie einsetzen. Wer aber das Konstrukt der “psychischen Krankheit” für angemessen hält, dessen grundsätzliche Ablehnung der Zwangspsychiatrie ist zumindest fragwürdig. Ich kann es natürlich nicht wissen, aber ich könnte es mir sehr gut vorstellen, dass die meisten Politiker der Linken, die sich jetzt vor der Wahl gegen die Zwangspsychiatrie aussprechen, sich diesen grundlegenden Sachverhalt noch nicht klargemacht haben.

Wenn es nämlich psychische Krankheiten gäbe, dann müsste man auch mit Menschen rechnen, die krankheitsbedingt ein erhöhtes Gewaltrisiko aufweisen und dann wäre u. U. auch an eine zwangsweise Behandlung zu denken. Es wäre womöglich sogar fahrlässig, darauf zu verzichten.

Wenn es aber keine psychischen Krankheiten geben würde, dann dürfte man auch niemandem unterstellen, er sei wegen einer solchen Erkrankung gefährlicher als andere Leute. Und dann wäre es verwerflich, ihn wegen dieser mutmaßlichen Gefährlichkeit zwangsweise einer Behandlung hinter den Gittern der Psychiatrie zu unterwerfen.

Dass es keinen wissenschaftlich, empirisch erhärteten Beweis für die Existenz der so genannten psychischen Krankheiten gibt, habe ich in der Pflasterritzenflora wiederholt betont, und bisher hat sich auch noch niemand zu Wort gemeldet, mit der Behauptung, einen derartigen Beweis vorlegen zu können. Bisher wurden nur die “Symptome” als Beweis für die Krankheit ausgegeben; dabei wurde aber geflissentlich übersehen, dass Phänomene aus wissenschaftlicher Sicht erst dann als “Symptome” gedeutet werden können, wenn sich nachweisen lässt, dass sie auf einer Krankheit beruhen.

Zurück zur Partei “Die Linke”: Erstens hat sich diese Partei meines Wissens noch nicht vom Konstrukt der “psychischen Krankheiten” distanziert. Zweitens hat sie dieses Thema, bevor der Fall Mollath hochkochte, auch nicht sonderlich interessiert. Dies hat mich, bei aller Sympathie für diese Partei (die ich für eine echt sozialdemokratische halte), immer schon sehr irritiert und auch skeptisch gemacht. Dies ist ja kein Randthema, sondern es gehört durchaus zu den zentralen Fragen, die sich gerade den sozialen Schichten stellen, für die sich diese Partei starkzumachen behauptet.

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Warum wird einer “psychisch krank”?

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Beim Stand der empirischen Forschung muss man daran zweifeln, dass die so genannten psychischen Krankheiten tatsächlich Krankheiten sind. Jedenfalls ist es der Psychiatrie bisher noch nicht gelungen, die Prozesse im Nervensystem zu identifizieren, die diesen Krankheiten angeblich ursächlich zugrunde liegen. Desgleichen war der Versuch, die genetischen Wurzeln zu ergründen, bisher weitgehend ein Fehlschlag. Seitdem sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur modernen Wissenschaft wandelte, versucht die Psychiatrie, den biologischen Ursachen der mutmaßlichen psychischen Krankheiten auf die Spur zu kommen, bisher allerdings vergeblich. Nach wie vor hängt es nur von der subjektiven Meinung des Diagnostikers ab, ob jemand als “psychisch krank” eingestuft wird oder nicht.

Es mag also erlaubt sein, nach alternativen Erklärungen für Phänomene zu suchen, die ja zweifellos existieren.

  • Ein Mensch wird “depressiv”, um vor einer Lebensaufgabe auszuweichen, bei der er zu scheitern fürchtet.
  • Ein Mensch wird “paranoid”, weil er so eine Erklärung für das Versagen bei der Meisterung einer Lebensaufgabe hat (die Freimaurer, Illuminaten, Marsmenschen, Geheimdienste usw. waren schuld)
  • Ein Mensch wird “hyperaktiv”, weil dies in seinem Bezugssystem von ihm so erwartet wird (weil beispielsweise die Eltern vor der Scheidung stehen und die Sorge um ihr Kind sie wieder zusammenschmiedet)

In diesen drei Fällen übernimmt der Mensch offensichtlich die Rolle des psychisch Kranken, um sich der Verantwortung zu entziehen (durch Self-handicapping, durch Wahnbildung) oder weil er dem Drängen signifikanter Anderer zur Übernahme dieser Rolle nachgegeben hat. In jedem Fall haben ihn die Umstände seines Lebens geneigt gemacht, sich aus freien Stücken dazu zu entscheiden, “psychisch krank” zu sein.

Wenn wir genauer hinschauen, so vermute ich, werden wir in jedem Fall einer so genannten psychischen Krankheit ähnliche Muster entdecken. Heute ist es Mode geworden, als Ersatz für die oder als Ergänzung zu den “biologischen” Ursachen psychische Traumata für “psychische Krankheiten” verantwortlich zu machen. Und ich will gar nicht bestreiten, dass traumatisierende Umwelt Menschen besonders geneigt stimmen können, sofort oder im späteren Leben die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Aber es bleibt dennoch die freie Entscheidung des Betroffenen; er ist nicht wie ein Automat dazu gezwungen.

Natürlich gibt es neurologische und andere körperliche Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben. Diese und nur diese bedürfen des Arztes. Bei den so genannten psychischen Krankheiten aber ist nach menschlichem Ermessen “körperlich” alles in Ordnung. Und daher fallen sie auch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Medizin. Es geht hier nämlich nicht darum, eine Krankheit zu heilen, sondern darum, Entscheidungen zu überdenken und ggf. neu zu fällen.

Obwohl diese Zusammenhänge offensichtlich sind, werden sie von Psychiatern geflissentlich übersehen. Es gibt allerdings Ausnahmen. Eine davon ist der unlängst verstorbene William Glasser. Auf der Website des William-Glasser-Instituts heißt es: “Dr. Glasser’s approach is non-traditional. He does not believe in the concept of mental illness unless there is something organically wrong with the brain that can be confirmed by a pathologist.”

“Psychisch krank” zu sein, beruht also auf Entscheidungen des Betroffenen. Die “psychische Krankheit” ist teilweise real und teilweise fiktiv. Real sind die problematischen Verhaltensweisen und Erlebnisformen, fiktiv sind die Krankheiten, die sie angeblich verursachen. Die Psychiatrie ist ein System, dass im fiktiven Teil der so genannten psychischen Krankheiten wurzelt. Da sich aber der ganze Mensch in eine psychiatrische Behandlung begibt und den realen Teil des Phänomens natürlich mitbringt, erweckt die Psychiatrie den Anschein einer handfesten Grundlage.

Doch wer einen kritischen Blick auf die Befunde der (nicht von der Pharma-Industrie abhängigen) Forschung wirft, erkennt sehr schnell, dass sie vollends im Fiktiven wurzelt. Nichts von dem, was sie voraussetzt und verspricht, kann sie empirisch erhärten. Sie hält dennoch an dieser Fiktion fest, weil diese erstens ihre Tätigkeit (Geld) und zweitens ihre Kontrolle (Macht) legitimiert.

Selbst wenn jemand zwangsweise in die Psychiatrie eingewiesen wurde, ist es seine eigene Entscheidung, “psychisch krank” zu sein. Man kann sich gegen eine solche Diagnose auch wehren. Gustl Mollath hat bewiesen, dass man auch 7 Jahre lang im Maßregelvollzug sitzen kann, ohne sich als “psychisch krank” empfinden zu müssen. Während dieser Zeit hat Mollath tapfer die Rolle des Gefangenen eingenommen und der Versuchung widerstanden, seine Existenz im Fiktiven zu verwurzeln, obwohl dies in seinem Bezugssystem, dem Maßregelvollzug, so von ihm erwartet wurde.

Nicht immer wird auf Menschen ein so massiver Druck ausgeübt, sich in die Rolle des “psychisch Kranken” zu fügen, wie auf Gustl Mollath. Aber bei vielen genügt auch ein wesentlich geringerer Druck, um sie gefügig zu machen. Und nicht wenige geben nur zu gerne nach oder werden selbst aktiv, um sich in eine “psychisch Krankheit” zu flüchten. Es gibt schwierige Lebensumstände, unter denen es – nicht nur subjektiv – die beste aller realen Möglichkeiten sein mag, sich als “psychisch Kranker” zu präsentieren. Dies ist nicht schwer, denn die Diagnose ist willkürlich, und wer sie einmal hat, der kann tun, was er will: Alles, was er tut und sagt, wird dann als “Symptom” seiner Krankheit oder als Ausdruck eines “Genesungsprozesses” aufgefasst.

Dennoch muss es als Unverfrorenheit gegenüber den Mitmenschen aufgefasst werden, “psychisch krank” zu sein. Die einzige Entschuldigung, die ich gelten lasse, besteht darin, dass ein Mensch totaler Desinformation unterliegt und daher tatsächlich glaubt, psychisch krank zu sein. Die psychiatrische “Hypnose” hat seine Fähigkeit zu kritischem Denken ausgeschaltet und er verwechselt seine freie Entscheidung zur Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” mit einem krankheitsbedingten Phänomen. Tief im Innern aber, so will mir scheinen, spüren die meisten “psychisch Kranken”, dass sie in einen Sumpf geraten sind, aus dem sie sich durchaus selbst befreien könnten, wenn sie nicht zu feige oder zu bequem dazu wären.

Ist diese Unverfrorenheit verzeihlich? Sind wir nicht alle mitunter zu feige und / oder zu bequem, um notwendige und mögliche Veränderungen in unserem Leben zu verwirklichen? Wissen wir nicht nur zu oft, dass wir uns einen Ruck geben müssten und finden dennoch die Kraft nicht dazu? Die Psychiatrie baut auf dieses nur zu reale Phänomen, es ist eine ihrer Geschäftsgrundlagen. Sie verzeiht Unverfrorenheiten dieser Art nur zu gern. Und darum ist sie manchem glücklichen Patienten auch ans Herz gewachsen. Die weißen Kittel und Anzüge strahlen eine Reinheit aus, die es sonst kaum noch gibt in dieser Welt.

Warum wird einer “psychisch krank”? Wird er verführt durch eine Gesellschaft, die nur zu gern den Selbstbetrug belohnt, wenn dies im Interesse der Reichen und Mächtigen liegt? Oder ist dies eine Neigung, die in die Conditio humana eingebaut ist? Wie auch immer: Die “psychische Krankheit” wird, wie die Statistiken zeigen, zunehmend zur Normalität, sehr zur Freude der Psychiatrie und Pharma-Industrie. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin berichtet: “Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen hat unterdessen zugenommen. Im Jahr 2008 waren es noch 41 Millionen verpasste Arbeitstage, im Jahr 2011 bereits 59,2 Millionen.”

“Psychisch krank” wird einer, weil er aus irgendeinem Grund “psychisch krank” sein will. Dieser Grund mag gut oder schlecht durchdacht sein oder auf schierer Gedankenlosigkeit beruhen. Es gibt keine äußere Macht oder Kraft, die den “Kranken” daran hindern könnte, seine Entscheidung zur “psychischen Krankheit” zu revidieren. Die Gesellschaft kann es den “psychisch Kranken” leicht machen, dies zu tun – oder schwer. Sie kann ihm nahelegen, diese Ausflucht zu wählen; sie kann ihn ermutigen, nach produktiveren Lösungen für Lebensprobleme zu suchen. Unsere Gesellschaft scheint sich auf dem Weg der Medikalisierung, der Verkrankung zu befinden. Wollen wir das wirklich – oder haben wir nur noch nicht genug über Alternativen nachgedacht?

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Entscheidung zur Krankheit

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Die Auffassung, dass sich “psychisch Kranke” zur “psychischen Krankheit” entscheiden, kann selbst bei Menschen, die der Psychiatriekritik wohlwollend gegenüberstehen, Verwirrung, wenn nicht Empörung hervorrufen. Um diese Auffassung zu begreifen, also um nicht nur emotional auf sie zu reagieren, muss man sich allerdings die grundsätzlichen Möglichkeiten und Sichtweisen vor Augen führen.

  • Ein Mensch wird aufgrund einer Hirnstörung oder anderer körperlicher Faktoren psychisch krank. Seine Entscheidungen spielen keine Rolle. Er agiert wie ein Automat.
  • Ein Mensch wird aufgrund von schädlichen Einflüssen aus der Umwelt psychisch krank (beispielsweise Traumatisierungen in der frühen Kindheit). Seine Entscheidungen spielen keine Rolle. Er agiert wie ein Automat.
  • Ein Mensch entscheidet sich dazu, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen. Er kann dazu durch äußere Umstände oder / und körperliche Faktoren verführt oder genötigt werden, aber er hat prinzipiell die Wahl. Er ist kein Automat, kein Roboter, sondern ein mit freiem Willen begabter Mensch wie du und ich.

Das heutige medizinische Modell “psychischer Krankeiten” lässt sich in etwa wie folgt zusammenfassen: Umweltbelastungen können eine psychische Krankheit hervorrufen. Aber ob jemand dem Stress gewachsen ist oder mit einer “psychischen Krankheit” reagiert, hängt von biologischen Faktoren ab, die als die eigentliche Ursache der “psychischen Krankheiten” gesehen werden müssen. Die Erkrankung wird durch einen inneren Prozess im Individuum hervorgerufen, auf den der Betroffene, wenn überhaupt, nur geringen Einfluss hat. Deswegen muss er sich, möglichst früh, in ärztliche Behandlung begeben.

Das heutige sozialwissenschaftliche Modell “psychischer Störungen” bestreitet den Einfluss biologischer Einflussgrößen nicht, sieht aber die entscheidenden Ursachen in sozialen Faktoren, wie Arbeitslosigkeit, Arbeitsbelastung, Rasse, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Klassenlage usw. In diesem Modell ist der Mensch überwiegend Produkt seiner Umwelt und wird als “Reaktionsautomat” gesehen, als Spielball der sozio-ökonomischen Bedingungen seines Lebens. Psychotherapien können “ein Stück weit” helfen; eine grundsätzliche Lösung ist jedoch nur von einer Veränderung dieser Bedingungen zu erwarten.

Es gibt natürlich auch Versuche, diese beiden Ansätze in bio-psycho-sozialen Modellen miteinander zu kombinieren; aber auch in diesen Modellen spielen die Entscheidungen des Betroffenen, wenn überhaupt, nur eine zweitrangige Rolle; sie sind etwas, zu dem die “Kranken” durch die Interventionen professioneller Helfer gebracht werden müssen.

Diesen drei Modelltypen ist folgende Grundauffassung gemeinsam: Auf der einen Seite steht der wissende Arzt oder “Sozialingenieur”, der die Behandlung steuert, und auf der anderen Seite steht der “Patient”, der sich den Anweisungen des professionellen Helfers fügen muss. Mitunter bemüht man sich, diese Hierarchie durch Ideen zur Partizipation der “Patienten” zu überkleistern, aber am Grundsätzlichen ändert sich dadurch nichts, weil der Patient nicht als Entscheider gesehen wird, sondern als Opfer von Kräften, die sich seiner Kontrolle entziehen.

Mein Standpunkt ist von diesen Ansätzen grundsätzlich unterschieden. Die so genannten Symptome der so genannten Patienten beruhen auf Entscheidungen, die oftmals unter widrigen und verwirrenden Umständen gefällt werden. Sie können als sinnvoll verstanden werden, wenn man die Situationen berücksichtigt, in denen die “Patienten” stecken. Dazu muss man aber genauer hinsehen und darf nicht vorgefertigte Modelle an die Betroffenen und ihre Lebenslagen herantragen. Niemand ist ein “Reaktionsautomat”. Von Extremfällen abgesehen, zwingen uns nicht innere oder äußere Mechanismen zu unseren Handlungen. Wir erhalten Informationen, die wir mehr oder weniger bewusst reflektieren und wir entscheiden uns dann für die eine oder andere Alternative. Wenn uns dann das Verhalten und bekundete Erleben “psychisch krank” erscheint, so bedeutet dies nicht, dass es tatsächlich Ausdruck einer “psychischen Krankheit” wäre; vielmehr ist es Ausdruck von Entscheidungen, zu denen auch die Entscheidung zählen kann (aber nicht muss), die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen.

Entscheidungen aber fällt jeder Mensch in eigener Verantwortung. Sie sind das Ergebnis der Abwägung von Fakten und Präferenzen im Inneren des Individuums. Zutritt zur Innenwelt hat nur das Individuum selbst. Wenn überhaupt irgendwer weiß, was in unserer Innenwelt vorgeht, dann ist es der Einzelne selbst. Spezialisten, die es besser zu wissen vorgeben, sollte man grundsätzlich misstrauen, denn sie beanspruchen Unmögliches für sich, sind also entweder größenwahnsinnig, Schwindler oder dumm. William Glasser sagt zu Recht. Der einzige Mensch, den wir ändern können, sind wir selbst. Wenn wir versuchen, andere zu ändern, so gelingt uns dies höchstens sehr unvollkommen und dann fangen die Frustrationen an. Daher sind Psychiater und andere Psycho-Profis sehr häufig frustriert und allzu frustrierten Leuten sollte man aus dem Weg gehen.

Entgegen anders lautenden Gerüchten steht mein Menschenbild im Übrigen nicht im Widerspruch zur naturwissenschaftlichen Forschung. Es wurden bisher noch keine Fakten bekannt, die gegen den freien Willen des Menschen sprechen. Dieser ist mit den Erkenntnissen der Neurowissenschaften durchaus verträglich. Es steht im Übrigen auch im Einklang mit der Alltagserfahrung, wenn man genauer hinschaut. Kein “Alkoholiker” beispielsweise wird mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen, sich die Flasche an den Hals zu setzen. Er entscheidet sich dazu und er kann, unter bestimmten Bedingungen, auch darauf verzichten. Kein “Schizophrener” muss seinen Nachbarn bezichtigen, ein Verbündeter der Außerirdischen zu sein. Er entscheidet sich dazu und kann, unter bestimmten Bedingungen, auch darauf verzichten. Was uns als zwanghaft oder automatisch erscheint, kann, und muss, als die Beharrlichkeit eines starken Willens gedeutet werden.

Aus meiner Sicht ist eine fundamentale Kritik der Psychiatrie nur vom Standpunkt eines solchen Menschenbildes möglich. Wenn wir einräumen, dass der Mensch die Kontrolle über sich selbst prinzipiell an unpersönliche Prozesse (beispielsweise im Gehirn oder in der Gesellschaft) verlieren könne, dann kann prinzipiell auch fürsorgliche Bevormundung gerechtfertigt sein. Viele denken scheinbar insgeheim: “Weil ich die fürsorgliche Bevormundung seltsamer Menschen will, darum kann es gar nicht anders sein, als dass Menschen mitunter die Kontrolle über sich verlieren können.”

Die Hypothese, dass beispielsweise der “Wahn” durchaus als sinnhafte Lebensäußerung verstanden werden kann, hat Richard P. Bentall in seinem Buch “Madness Explained” anhand zahlloser empirischer Studien erhärtet. Die psychiatrische Sichtweise, dass es sich bei den “psychischen Krankheiten” um Störungen ohne sozialen Sinn handele, findet keinen Fußhalt in der empirischen Forschung. Dies ist meines Erachtens auch nicht verwunderlich, denn sie beruht auf einem falschen Menschenbild. Wir müssen akzeptieren, dass die so genannten Symptome sinnstiftende Momente im Leben der so genannten “psychisch Kranken” darstellen. Wer das nicht begreift, wird diese Leute auch dann nicht in Ruhe lassen, wenn sie in Ruhe gelassen werden wollen. Und das ist schlimm, sehr schlimm. Fatal.

Gerade im Fall Mollath wird deutlich, dass es hier ums Ganze geht. Viele angebliche Psychiatriekritiker behaupten, dass Gustl Mollath Unrecht widerfahren sei, weil er sich offensichtlich bester psychischer Gesundheit erfreue. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber zugleich, dass Menschen aus gutem Grund wegen schlechter psychischer Gesundheit im Maßregelvollzug festgehalten werden. Dabei wird offenbar übersehen, dass der Begriff der “psychischen Gesundheit” ebenso unangemessen ist wie der Begriff der “psychischen Krankheit”.  Niemand entscheidet sich, beispielsweise, Krebs zu haben, und selbst wenn sich jemand dazu entschiede, würde er ihn deswegen nicht bekommen. Anders ist das bei den “psychischen Krankheiten”. Wer zum Psychiater geht, ganz gleich, in welchem Zustand, verlässt die Praxis nicht ohne eine psychiatrische Diagnose, im Regelfall jedenfalls, und es gibt keine Methode, mit der man objektiv feststellen könnte, ob diese Diagnose zutrifft.

Grundsätzlich aber geht es hier um weit mehr als nur um Psychiatriekritik. All diese Fragen kreisen doch letztendlich um die Grundfrage, in welcher Art von Gesellschaft wir eigentlich leben wollen: in einer freien oder in einer, in der über jedem Bürger das Damoklesschwert der fürsorglichen Bevormundung steht? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen die Verantwortung für ihr Leben und für die Veränderung ihrer Persönlichkeit selbst übernehmen? Oder wollen wir ein kostspieliges Heer von Menschen aufrecht erhalten, deren notwendig frustrierende Aufgabe darin besteht, andere zu verändern?

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Die Freiheit zur “Depression”

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Ein Mann, nennen wir ihn Paul, verliert seinen Job. Er findet keinen neuen. Schließlich verlässt ihn seine Frau. Er hat nur wenige Freunde, die meisten leben in intakten Familien und haben wenig Zeit für ihn. Er fühlt sich traurig und leer. Er hat keine Freude mehr an alltäglicher Aktivität, auch nicht mehr an Tätigkeiten, die ihn zuvor begeisterten. Er fühlt sich immer müde, kommt selten vor 12 Uhr aus dem Bett. Trotzdem spürt er eine unerklärliche Unruhe in sich, sein Schlaf ist schlecht. Er fühlt sich wertlos und grübelt darüber nach, ob er nicht an all dem nicht selbst schuld sei. Mitunter denkt er an Freitod. Er quält sich durch den Tag.

Folgt man dem medizinischen Modell psychischer Krankheiten, so ist Paul “depressiv”. Ausgelöst durch soziale Stressoren, ist er krank geworden, weil er an einer angeborenen Störung seines Gehirns leidet. Diese führt dazu, dass er Belastungen durch Umweltbedingungen nicht so gut standzuhalten vermag wie psychisch gesunde Leute. Hätte er diese Gehirnstörung nicht, so würde er, allenfalls nach einer kurzen Phase der Verwirrung, wieder Kraft schöpfen und zu neuen Ufern aufbrechen.

Folgt man dem sozialwissenschaftlichen Modell psychischer Störungen, so ist Paul das Opfer seiner Verhältnisse. Der Verlust von Arbeitsplatz und Ehefrau, die soziale Isolation sowie eine Vielzahl weiterer sozio-ökonomischer Bedingungen haben die depressive Verstimmung hervorgebracht. Beinahe jeder, der solchen Verhältnissen ausgesetzt ist, entwickelt die eine oder andere Form psychischer Störungen, es sei denn, dass protektive Faktoren in seiner Umwelt ihn davor bewahren.

Doch was ist tatsächlich geschehen: Paul verlor seinen Arbeitsplatz und sagte sich: Dies ist schrecklich, nie wieder werde ich eine Arbeit finden, ich bin wertlos. Er verlor seine Frau und sagte sich: Dies ist schrecklich, nie wieder werde ich eine Frau finden, ich bin nicht liebenswert. Er geriet in soziale Isolation und sagte sich: Das ist schrecklich, nie wieder werde ich Freunde finden, ich bin nicht mehr interessant für andere.

Die Folge dieser Gedanken waren Gefühle der Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, er stürzte in ein “schwarzes Loch”. Ich kann nicht erkennen, dass ihn irgendetwas dazu gezwungen hätte, auf die objektiven Sachverhalte seines Lebens (Arbeitsplatzverlust, Scheidung, soziale Isolation) mit diesen Gedanken zu reagieren. Die biologischen Theorien der Depression sind gescheitert. Und auch die sozialwissenschaftlichen Theorien können nicht plausibel begründen, wieso eigentlich ein Mensch in einer solchen Situation gleichsam automatisch mit derartigen Gedanken reagieren müsste.

Warum auch immer sich Paul so verhält, wie er sich verhält: Er hat sich dazu entschieden. Er hat sich dazu entschieden, sich der Traurigkeit hinzugeben. Er hat sich dazu entschieden, an nichts mehr Freude zu empfinden. Er hat sich dazu entschieden, nicht vor zwölf Uhr aufzustehen. Er hat sich zur Schlaflosigkeit entschieden. Der Mensch ist, wie Jean Paul Sartre sagt, zur Freiheit verdammt. Er ist nicht festgelegt. Paul hat seine Freiheit genutzt, er wurde “depressiv”. Er hätte sich auch anders entscheiden können.

Er hat sich aber entschieden, zu einem Psychiater zu gehen. Er hat sich entschieden, Antidepressiva zu nehmen. Er hat sich entschieden, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen. Er hatte die Wahl. Immer, immer hat der Mensch die Wahl. Er hat sich schließlich umgebracht, weil er die Wahl hatte. Wäre er nicht zu einem Psychiater gegangen und hätte er sich einem guten Freund anvertraut, und hätte ihm dieser gute Freund vermitteln können, dass wir immer die Wahl haben, die Dinge “den Umständen entsprechend” positiv zu sehen, dann würde er vermutlich noch leben.

Paul aber wurde suggeriert, er litte an einer angeborenen, unheilbaren Gehirnerkrankung, deren Symptome man jedoch durch die modernen Antidepressiva recht gut in den Griff bekommen könne. Das ist eine glatte Lüge. Es ist vielmehr erwiesen, dass Antidepressiva, wenn überhaupt, kaum effektiver sind als Placebos. Jede Trauer, jede Verzweiflung in seinem Leben, die sich infolge von Widrigkeiten einstellte, hat Paul fortan als Bestätigung der Theorie interpretiert, er litte an einer unheilbaren Gehirnerkrankung und er sei deshalb zu ewiger Qual verdammt, die allenfalls, mehr schlecht als recht, durch “Medikamente” gelindert werden könne.

“Depressionen” überfallen uns nicht wie eine Naturkatastrophe; sie werden gewählt. Die Betroffenen entscheiden sich dazu, “depressiv” zu sein. Sie machen sich depressiv, warum auch immer. Fraglos gibt es schreckliche Lebensumstände, aber niemand ist dazu gezwungen, “depressiv” auf sie zu reagieren. Keine Krankheit hat den “Depressiven” im Griff. Niemand hat eine Depression, er deprimiert sich selbst.

Leider werden Menschen in unserer Kultur dazu verführt, den Lebensstil der Depression zu wählen. Gefühle der Traurigkeit, der Hoffnungslosigkeit gehören zum Leben. Sie sind unvermeidlich. Aber man muss sich ihnen nicht hingeben. Doch die unausgesprochene Botschaft unserer Kultur lautet: Der Mensch ist von Natur aus froh und leistungsstark, und wenn er von dieser Norm abweicht, dann ist er krank und muss zum Arzt, der ihm Medikamente verschreibt. Die neueste Version der amerikanischen Psychiater-Bibel DSM erklärt sogar die Trauer nach dem Verlust des Ehepartners zur Krankheit.

Leider können viele Depressive ihre Wahlfreiheit nicht mehr erkennen, weil sich die Menschen beim leisesten Anzeichen einer Verstimmung als “psychisch krank” empfinden und dann schnell in den Teufelskreis der Selbstentmutigung geraten. Natürlich kann man auch diesem Teufelskreis entrinnen, aber die Betroffenen werden in unserer Kultur gleichsam dazu verführt, in ihm zu verharren. Wenn man sich erst einmal an den depressiven Lebensstil gewöhnt hat, der als Krankheit gilt, für die man nichts kann, dann ist es in der Tat verteufelt schwer, der “Depression” zu entkommen.

Selbst in verzweifelter Lage bieten sich Menschen Chancen, etwas Sinnvolles zu tun und sich auch an kleinen Fortschritten zu erfreuen. Depressionen sind nicht das unausweichliche Schicksal von Menschen, die vom Leben gebeutelt wurden. Sie sind auch keine Krankheit, zumindest wurde bisher noch nichts dergleichen nachgewiesen. Nachgewiesen aber wurden enge Korrelationen zwischen sozio-ökonomischen Faktoren und der Depressionsdiagnose einerseits und zwischen kulturellen Bedingungen und dieser Diagnose andererseits. Die Pharma-Industrie musste sich beispielsweise heftig ins Zeug legen, um den Japanern die Diagnose der Depression schmackhaft zu machen, wie Ethan Watters in seinem Artikel “Exporting Depression” zeigt.

Sozio-ökonomische Faktoren allein reichen also nicht aus; es müssen auch noch kulturelle Bedingungen hinzukommen, um eine Epidemie der Depressionen auszulösen. Bemerkenswert ist auch, dass vor der Erfindung der “Antidepressiva” die “Depression” eine wesentlich seltener diagnostizierte Störung war. Sie wurde als ein in der Regel rasch vorübergehendes Phänomen betrachtet. Man entscheidet sich nicht dazu, krebskrank zu sein; sehr wohl aber wählt man eine “Depression” als Lebensstil. Dieses Phänomen ist auch der Marketing-Maschine des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes nicht verborgen geblieben. Wie beispielsweise Ben Goldacres Buch “Bad Pharma” zeigt, waren die Methoden der Promotion für Antidepressiva nicht immer sonderlich zimperlich.

Wir haben offenbar die Freiheit zur “Depression”, weil diese Verstimmungen ein Signal sind, dass in unserem Leben etwas nicht stimmt. Wenn die Unstimmigkeiten gravierender Natur sind, wird es vermutlich etwas länger dauern, bis die “Depression” vorüber ist. Dies ist der Lauf der Dinge. Wer sich entscheidet, daraus eine “psychische Krankheit” zu machen, pathologisiert und medikalisiert damit eine normale und sinnvolle Reaktion. Die richtige Antwort bestünde darin, zu ändern, was sich ändern lässt, und das Unvermeidliche zu erdulden.

PS: Es liegt mir fern, mich auf Kosten kranker Menschen zu profilieren, was mir inzwischen vorgeworfen wurde. Ich äußere mich in meinen Blogs ja auch gar nicht zu kranken Menschen. Vielmehr betone ich, dass Menschen, die als “psychisch krank” diffamiert und diskriminiert werden, keineswegs Reaktionsautomaten sind, sondern Menschen wie alle anderen auch, die sich frei entscheiden können. Deswegen ist es ein Ausdruck meines Respekts vor diesen Menschen, dass ich ihnen unterstelle, sich frei dazu entschieden zu haben, die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen. Respekt bedeutet aber nicht Kritiklosigkeit. Meine Kritik will diese Menschen vielmehr ermutigen, sich nicht in die Rolle des “psychisch Kranken” drängen zu lassen und stattdessen Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Ihre Aufgabe im Leben besteht schließlich nicht darin, die Taschen der Psychiatrie und der Pharma-Industrie zu füllen.

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Künstliche “Krankheiten”

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In Zeiten, als die Gremien, die über die Ethik der Forschung wachen, noch nicht so streng waren wie heute, wurde experimentell nachgewiesen, dass man “psychische Krankheiten” durch Hypnose hervorrufen kann. Beispiele dafür werden u. a. in Schriften Lurias und Ericksons beschrieben (1,2).

Das Verfahren ist relativ einfach, obwohl man es natürlich nach Belieben ausgestalten und verfeinern kann. Das Grundprinzip lässt sich wie folgt skizzieren: Man suche sich eine gut hypnotisierbare Versuchsperson, bei der man Halluzinationen und Wahnideen hervorrufen kann. Nennen wir sie Otto. Man suggeriere Otto in einem solchen somnambulen Zustand ein psychiatrisches Symptom. Beispiel: Sobald er aus der Hypnose erwache, werde er eine bestimmte Person für einen Marsmenschen in Menschengestalt mit übernatürlichen Fähigkeiten halten und gleichzeitig den Tatbestand der Hypnose vergessen haben.

In der Gegenwart des “Marsmenschen” wird sich Otto nunmehr überaus skurril und merkwürdig verhalten. Er wird uns, sobald er Vertrauen zu uns gefasst hat, in Abwesenheit des “Marsmenschen” vielleicht verraten, dass er sich vor dem Außerirdischen fürchte, weil dieser mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet sei. Erst wenn wir den entsprechenden posthypnotischen Befehl wieder aufheben, wird es ihm wie Schuppen von den Augen fallen und er wird erkennen, dass er von einem Hypnotisieur im wahrsten Sinne des Wortes zum Narren gehalten wurde.

Handelt es sich bei diesem Vorgang um die Erzeugung einer experimentellen psychischen Krankheit. Dafür spricht einiges:

  • Otto leidet durchaus an einem Wahn im psychiatrischen Sinn. Der “Marsmensch” ist in Wirklichkeit unser Gewährsmann und wir wissen definitiv, dass er nicht vom Mars stammt.
  • Der Wahn beruht auf einem Mechanismus
  • Man darf annehmen, dass dessen Exekution und damit das Wahnphänomen von gestörten Hirnprozessen abhängt.

Andererseits aber hat sich Otto entschieden, sich von uns hypnotisieren zu lassen und er hat sich entschieden, unseren Befehlen zu folgen, einschließlich dem, die Hypnose zu vergessen. Auch wenn er sich nicht daran erinnern kann, wie all dies zustande kam, so handelt er doch aus freien Stücken. Sein Wahn beruht auf einer eigenen Entscheidung. Der Hypnotisierung haftet nichts Geheimnisvolles an; sie funktioniert, weil sich der Hypnotisand entscheidet, den Befehlen des Hypnotiseurs zu folgen. Wenn ihm dann sein eigenes Verhalten rätselhaft erscheint oder wenn er ihm eine falsche Erklärung gibt, so genau darum und nur darum, weil er sich entschieden hat, auch in dieser Hinsicht den Anweisungen des Hypnotiseurs zu gehorchen.

Dabei müssen die Anweisungen nicht immer direkt und offen ausgesprochen werden. Sie können auch implizit sein, sich aus der Logik der Sache ergeben. Der posthypnotische Befehl legt einen Rahmen fest, den der Hypnotisand frei ausgestalten kann. Wenn wir Otto fragen, warum er denn glaube, dass unser Mitarbeiter ein “Marsmensch” sei, dann kann er alle möglichen Gründe dafür nennen, nur den einen, den wahren wird er nicht angeben, denn dies würde dem posthypnotischen Befehl widersprechen. Vielleicht wird Otto sogar einräumen, dass er eventuell “psychisch krank” sein könnte, sofern es uns mit entsprechenden psychiatrischen Maßnahmen gelingt, seine “Krankheitseinsicht” zu fördern.

Die Hypnotisierung ist eine Kommunikationsform, die nicht an bestimmte Methoden, an ein bestimmtes Procedere gebunden ist. Es ist auch nicht erforderlich, dass einer der Beteiligten den Begriff “Hypnose” verwendet, geschweige denn, dass irgendwem bewusst wird, an einer Hypnotisierung teilzunehmen. Gut hypnotisierbare Menschen – in etwa zehn Prozent der Bevölkerung – können in Hypnose fallen, wenn ihr Bewusstsein eingeengt und ihre Kritikfähigkeit ausgeschaltet wird, mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen auch immer.

Ich überlasse es dem Leser, sich die Details dieses Grundsachverhalts auszumalen und auf beliebige Beispiele aus seinem eigenen Leben zu übertragen. Heute herrscht trübes, regnerisches Wetter, aber wir können unsere Fantasie ausschweifen lassen; und schon liegen wir am Strand und genießen die wärmenden Strahlen der Sonne auf unserer Haut. Befinden wir uns nicht alle häufig in einer Situation, in der wir angeblich X aus dem Grund G tun, obwohl wir uns zugleich darüber klar sind, dass wir X tun, weil uns “unbewusst” der Grund K dazu getrieben hat? Im Grunde wissen wir, dass K relevant ist, obwohl wir keinen Zweifel daran haben, dass G der Grund ist. Im Grunde gibt es immer viele Gründe, aber wer hat schon die Zeit, die Lust und den Mut, immer allen Dingen auf den Grund zu gehen.

Oft muss es einfach genügen, uns mit einem plausiblen Grund für unser Verhalten und Erleben darüber hinwegzutrösten, dass die Welt im Grunde doch ein großes Rätsel und zugleich alles offenbar und einleuchtend ist. Warum sollte beispielsweise ein Mensch, der alle psychiatrischen Kriterien einer psychischen Krankheit erfüllt, sich nicht als “psychisch krank” empfinden, wenn ihm dies ein Psychiater von oben herab mit sonorer Stimme nahelegt, selbst wenn all dies fragwürdig wäre, gar willkürlich erschiene?

Manche meinen ja, wenn ein Krankheitsbegriff nur eindeutig definiert sei, dann sei er auch valide. In gewissem Sinne gilt des ja auch: Das Thomas-Theorem lautet: Wenn Menschen ihre Situationen als real definieren, dann sind sie auch in ihren Konsequenzen real. In diesem Sinne schafft die psychiatrische Diagnose durchaus die Tatsachen, die sie abzubilden vorgibt. Dies ist die Realität, mit der man sich abfinden kann.

Aber natürlich nicht muss. Die Frage ist, ob wir anderen gestatten wollen, unsere Realität zu definieren, ob wir uns diese Definitionen zu eigen machen wollen. Eine Frau geht zu einem Psychiater, weil sie, so sagt sie ihm, unter Erinnerungen an grausame Rituale leide, die sie angeblich als Kind in einer Familie, die zu einer satanischen Sekte gehörte, zu erdulden hatte. Der Psychiater sagt ihr, diese Erinnerungen seien falsch und die Symptome einer Krankheit, die man Schizophrenie nenne. Der satanische Missbrauch habe gar nicht stattgefunden. Die Frau muss sich nun entscheiden, welche Definition sie sich zu eigen machen will.

Definition steht gegen Definition. Die Frau führt ihre Symptome auf den satanisch rituellen Missbrauch, der Psychiater auf eine Stoffwechselstörung im Gehirn zurück. Welche dieser beiden Diagnosen ist valide? Die besser definierte – oder jene, die mit den Tatsachen übereinstimmt? Können wir die Tatsachenprüfung durch Suggestion ersetzen? Schneller geht es natürlich, wenn die suggestive Kraft des Psychiaters ausreicht, um die Frau von ihren Ideen abzubringen. Dann kann der Rezeptblock gezückt werden und ab geht’s in die Apotheke. Die Sache ist sauber definiert und in trockenen Tüchern. Wollen wir dies so handhaben?

Man kann natürlich behaupten, dass man durch Hypnose durchaus Symptome einer “psychischen Krankheit” hervorrufen könne, nicht aber diese selbst. Ja, aber wo steckt sie denn, diese Krankheit? Im Gehirn? Trotz eifriger Suche ist es der Psychiatrie bisher nicht gelungen, sie dort ausfindig zu machen. Wenn nicht dort, wo sonst? Manche meinen, irgendwann einmal werde die Psychiatrie schon die gestörten Hirnprozesse identifizieren, die diesen Krankheiten zugrunde lägen. Das ist eine Suggestion, kein Fakt. Manche meinen, auch wenn es im Gehirn nichts zu entdecken gäbe, so litten diese Menschen doch und seien deswegen krank. Auch dies ist eine Suggestion, kein Fakt.

Wo, lieber Leser, sind die Fakten den Suggestionen stets untergeordnet? Mir fällt dazu spontan das Marketing ein.

Anmerkungen

(1) Luria, A. R. (1932). The Nature of Human Conflict. New York: Grove Press
(2) Erickson, M. H. (1935). A study of an experimental neurosis hypnotically induced in a case of ejaculatio praecox. British Journal of Medical Psychology, 15, 34-50

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