Ja, natürlich, klar, so räumen manche ein, sei die Psychiatrie, gemessen an den Maßstäben der modernen Medizin, noch keine reife Wissenschaft – und ja, bedauerlicherweise seien die naturwissenschaftlichen Grundlagen dieser Disziplin erst rudimentär entwickelt. Der Vergleich mit dem Rest der Medizin sei aber unfair, denn zwar seien “psychische Krankheiten” Erkrankungen wie Fußpilz oder Diabetes, allein ihre Behandlung vollziehe sich in einer besonderen Dimension: viel ausgeprägter als beim Hals-Nasen-und-Ohrenarzt oder in der rheumatologischen Sprechstunde seien die Herausforderungen der mitmenschlichen Begegnung, die sich naturgemäß aber nur zu einem Teil mit naturwissenschaftlichen Mitteln und Methoden greifen ließe. Und so sei die Psychiatrie, immer noch und viel mehr als andere Bereiche der Medizin, weniger Heilkunde als Heilkunst. Ärztliches Fingerspitzengefühl spiele eine entscheidende Rolle und zur Bewältigung der praktischen Probleme des Alltags sei die Erfahrung des Arztes ausschlaggebend.
Hier gilt es im Wesentlichen wohl, zwei Künste zu betrachten, nämlich die Kunst, in möglichst kurzer Zeit “Medikamente” zu verschreiben und die “Kunst”, in einer begrenzten Zahl von Stunden “Psychotherapie” abzuwickeln. Beide Künste beruhen in der Tat auf rudimentärer wissenschaftlicher Grundlage. Wohl weiß man, dass “Medikamente” und “Psychotherapie” etwas bewirken, und sei es auch nur einen Placebo-Effekt, doch was genau sie hervorrufen und vor allem, was dabei im Gehirn geschieht, dies alles ist nach wie vor weitgehend unbekannt.
Die Idee der ärztlichen Kunst in der Psychiatrie erfreut sich großer Beliebtheit, vor allem bei den Frauen. Sie findet ihren Nährboden überwiegend in der Psychotherapie, denn die Heilkunst kann sich bei der Verschreibung von Medikamenten nicht so eindrucksvoll entfalten. Zwar kann man von “Augenmaß” und “Intuition” schwärmen, doch dies ist, wenn es um schnöde Pillen geht, als Gesprächsstoff nicht übermäßig ergiebig. Doch wie hingebungsvoll kann man über gute und schlechte Psychotherapeuten fabulieren, stundenlang, beim Friseur, am Telefon, mit wachsender Begeisterung!
Die Virtuosität mancher Leute, die hier auf der Bühne stehen und ihre Kunststücke vorführen, mag ja durchaus beeindruckend sein; doch bei nüchterner Betrachtung fragt man sich dann doch: Was hat dies alles mit Medizin zu tun? Nicht den geringsten Zweifel habe ich daran, dass sich die feinstofflichen Wirkungen dieses künstlerischen Schaffens nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden messen lassen, allein: Was bewirkt das Feinstoffliche bei Menschen, die unter ziemlich grobstofflichen Störungen ihres Wohlbefindens leiden, die beispielsweise Stimmen hören, die sonst niemand hört und dies als besorgniserregend empfinden, die sich vor Dingen fürchten, die andere als harmlos betrachten, die sich beständig sinnlos im Kreise drehen, obwohl sie lieber still in der Ecke sitzen möchten?
Leider kann ich nicht erkennen, wieso sich die Lage dieser Menschen verbessern sollte, wenn sie einer künstlerischen Darbietung teilhaftig werden. Kritiker ziehen aus der vorliegenden empirischen Literatur den Schluss, dass die Wirkung der Psychotherapie wohl überwiegend auf dem Verstreichen der Zeit beruhe. Mit anderen Worten: Den Leuten ginge es vermutlich auch ohne Psychotherapie nach einer Weile wieder besser, zumindest vorübergehend. Vielleicht schadet es ja nichts, wenn sich diese Leute während dieser Zeit am psychiatrischen Kunstgewerbe erfreuen; doch ob man hier von Heilkunst sprechen sollte?
Gleicht die Psychotherapie eher dem Ballett, so entspricht die medikamentöse Behandlung der Bildhauerei. Mit wuchtigen Schlägen wird das Material umgeformt. Myriaden kleiner Meißel gleich, hämmern Moleküle die Unebenheiten der Nervenbahnen glatt. Doch dieses Bild hat einen winzigen Schönheitsfehler: Es stimmt nicht. In Wirklichkeit meißelt der Bildhauer in die Luft und das Material verfällt unter dem Zahn der Zeit oder dem Einfluss schädlicher Chemikalien. Mag sich der Künstler auch im Vollbesitz seines Augenmaßes und seiner Intuition sonnen, so hängt das Ergebnis doch von Einflüssen ab, die sich seiner schöpferischen Kraft entziehen.
Sicher: Das menschliche Dasein steckt voller Unwägbarkeiten und Rätsel und die Feinheiten zwischenmenschlicher Begegnung können weder mit der Goldwaage, noch mit dem Computer-Tomographen gemessen werden. Es mag durchaus sein, dass Lebenskünstler hilfreich sein können, wenn es darum geht, Widrigkeiten des Lebens zu meistern. Allein, des Arztes bedürfen wir dazu nicht, auch nicht des psychiatrischen Kunstgewerblers.
Die Protagonisten der Psychiatrie als Heilkunst begreifen nicht, dass ihre Finte sich letztlich als Manöver zur Abschaffung ihrer Disziplin auswirken muss. Aus diesem Grund halten die tonangebenden Persönlichkeiten und die maßgeblichen Institutionen auch dagegen: Statt auf Heilkunst zu bauen, soll sich die Psychiatrie zur klinisch angewandten Neurowissenschaft bilden. Dies ist die Message des “National Institute of Mental Health” bzw. seines Direktors Thomas Insel in den Vereinigten Staaten und vergleichbarer Einrichtungen und Persönlichkeiten hierzulande.
Doch dies würde selbst dann nicht funktionieren, wenn für das eine oder andere Phänomen, das heute als “Symptom einer psychischen Krankheit” gedeutet wird, eine körperliche Ursache nachgewiesen werden könnte. Denn die Psychiatrie hat nun einmal Aufgaben, die sich nicht mit dem Instrumentarium der Neurologie bzw. der klinischen Neurowissenschaft bewältigen lassen. Dabei handelt es sich auf Aufgaben im Bereich der Repression; und deren Bewältigung als medizinische Leistung zu kaschieren, ist die eigentliche Kunst des ärztlichen Standes in diesem Bereich.
Gealterte ehemalige Revoluzzer, die es zu einem Amt gebracht haben, bezeichnen die Politik gern als die “Kunst des Möglichen”. In diesem degenerierten Sinne ist auch die psychiatrische Politik eine Kunst. Gern verweist der wohlmeinende Psychiater darauf, dass sich sein ärztliches Handeln im Spannungsfeld von politischen und juristischen Vorgaben zu entfalten habe, dass ihm mitunter die Hände gebunden seien und dass er zu einer schwierigen Gratwanderung gezwungen sei. Diese Gratwanderung mag in der Tat eine artistische Qualität erfordern. Das Instrumentarium einer klinischen Neurowissenschaft braucht man jedenfalls nicht, um in diesem Bereich einen Absturz zu vermeiden. Die psychiatrische “Heilkunst” entpuppt sich als Politik, und Politik ist nun einmal Herrschaft des Menschen über den Menschen.
Wie ja auch der Polizist, ist der Psychiater unser Freund und Helfer bei der Meisterung unserer gemeinsamen Aufgabe, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Was gibt es denn Schöneres, als nach einem Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung eigenes Fehlverhalten einzusehen und Besserung zu geloben? Damit vergleichbar ist die “Krankheitseinsicht” im psychiatrischen Bereich. Wer wird da gleich den Polizeiknüppel oder den Rezeptblock zücken? Hier sind die Meister der diplomatischen Kunst gefragt. Wenn die Psychiatrie in Zukunft ein Schauspiel aufführt, das sich klinische Neurowissenschaft nennt, so wird sich am wahren Charakter dieser Disziplin dadurch nichts ändern.
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