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Psychiatrie als Kunstgewerbe

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Ja, natürlich, klar, so räumen manche ein, sei die Psychiatrie, gemessen an den Maßstäben der modernen Medizin, noch keine reife Wissenschaft – und ja, bedauerlicherweise seien die naturwissenschaftlichen Grundlagen dieser Disziplin erst rudimentär entwickelt. Der Vergleich mit dem Rest der Medizin sei aber unfair, denn zwar seien “psychische Krankheiten” Erkrankungen wie Fußpilz oder Diabetes, allein ihre Behandlung vollziehe sich in einer besonderen Dimension: viel ausgeprägter als beim Hals-Nasen-und-Ohrenarzt oder in der rheumatologischen Sprechstunde seien die Herausforderungen der mitmenschlichen Begegnung, die sich naturgemäß aber nur zu einem Teil mit naturwissenschaftlichen Mitteln und Methoden greifen ließe. Und so sei die Psychiatrie, immer noch und viel mehr als andere Bereiche der Medizin, weniger Heilkunde als Heilkunst. Ärztliches Fingerspitzengefühl spiele eine entscheidende Rolle und zur Bewältigung der praktischen Probleme des Alltags sei die Erfahrung des Arztes ausschlaggebend.

Hier gilt es im Wesentlichen wohl, zwei Künste zu betrachten, nämlich die Kunst, in möglichst kurzer Zeit “Medikamente” zu verschreiben und die “Kunst”, in einer begrenzten Zahl von Stunden “Psychotherapie” abzuwickeln. Beide Künste beruhen in der Tat auf rudimentärer wissenschaftlicher Grundlage. Wohl weiß man, dass “Medikamente” und “Psychotherapie” etwas bewirken, und sei es auch nur einen Placebo-Effekt, doch was genau sie hervorrufen und vor allem, was dabei im Gehirn geschieht, dies alles ist nach wie vor weitgehend unbekannt.

Die Idee der ärztlichen Kunst in der Psychiatrie erfreut sich großer Beliebtheit, vor allem bei den Frauen. Sie findet ihren Nährboden überwiegend in der Psychotherapie, denn die Heilkunst kann sich bei der Verschreibung von Medikamenten nicht so eindrucksvoll entfalten. Zwar kann man von “Augenmaß” und “Intuition” schwärmen, doch dies ist, wenn es um schnöde Pillen geht, als Gesprächsstoff nicht übermäßig ergiebig. Doch wie hingebungsvoll kann man über gute und schlechte Psychotherapeuten fabulieren, stundenlang, beim Friseur, am Telefon, mit wachsender Begeisterung!

Die Virtuosität mancher Leute, die hier auf der Bühne stehen und ihre Kunststücke vorführen, mag ja durchaus beeindruckend sein; doch bei nüchterner Betrachtung fragt man sich dann doch: Was hat dies alles mit Medizin zu tun? Nicht den geringsten Zweifel habe ich daran, dass sich die feinstofflichen Wirkungen dieses künstlerischen Schaffens nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden messen lassen, allein: Was bewirkt das Feinstoffliche bei Menschen, die unter ziemlich grobstofflichen Störungen ihres Wohlbefindens leiden, die beispielsweise Stimmen hören, die sonst niemand hört und dies als besorgniserregend empfinden, die sich vor Dingen fürchten, die andere als harmlos betrachten, die sich beständig sinnlos im Kreise drehen, obwohl sie lieber still in der Ecke sitzen möchten?

Leider kann ich nicht erkennen, wieso sich die Lage dieser Menschen verbessern sollte, wenn sie einer künstlerischen Darbietung teilhaftig werden. Kritiker ziehen aus der vorliegenden empirischen Literatur den Schluss, dass die Wirkung der Psychotherapie wohl überwiegend auf dem Verstreichen der Zeit beruhe. Mit anderen Worten: Den Leuten ginge es vermutlich auch ohne Psychotherapie nach einer Weile wieder besser, zumindest vorübergehend. Vielleicht schadet es ja nichts, wenn sich diese Leute während dieser Zeit am psychiatrischen Kunstgewerbe erfreuen; doch ob man hier von Heilkunst sprechen sollte?

Gleicht die Psychotherapie eher dem Ballett, so entspricht die medikamentöse Behandlung der Bildhauerei. Mit wuchtigen Schlägen wird das Material umgeformt. Myriaden kleiner Meißel gleich, hämmern Moleküle die Unebenheiten der Nervenbahnen glatt. Doch dieses Bild hat einen winzigen Schönheitsfehler: Es stimmt nicht. In Wirklichkeit meißelt der Bildhauer in die Luft und das Material verfällt unter dem Zahn der Zeit oder dem Einfluss schädlicher Chemikalien. Mag sich der Künstler auch im Vollbesitz seines Augenmaßes und seiner Intuition sonnen, so hängt das Ergebnis doch von Einflüssen ab, die sich seiner schöpferischen Kraft entziehen.

Sicher: Das menschliche Dasein steckt voller Unwägbarkeiten und Rätsel und die Feinheiten zwischenmenschlicher Begegnung können weder mit der Goldwaage, noch mit dem Computer-Tomographen  gemessen werden. Es mag durchaus sein, dass Lebenskünstler hilfreich sein können, wenn es darum geht, Widrigkeiten des Lebens zu meistern. Allein, des Arztes bedürfen wir dazu nicht, auch nicht des psychiatrischen Kunstgewerblers.

Die Protagonisten der Psychiatrie als Heilkunst begreifen nicht, dass ihre Finte sich letztlich als Manöver zur Abschaffung ihrer Disziplin auswirken muss. Aus diesem Grund halten die tonangebenden Persönlichkeiten und die maßgeblichen Institutionen auch dagegen: Statt auf Heilkunst zu bauen, soll sich die Psychiatrie zur klinisch angewandten Neurowissenschaft bilden. Dies ist die Message des “National Institute of Mental Health” bzw. seines Direktors Thomas Insel in den Vereinigten Staaten und vergleichbarer Einrichtungen und Persönlichkeiten hierzulande.

Doch dies würde selbst dann nicht funktionieren, wenn für das eine oder andere Phänomen, das heute als “Symptom einer psychischen Krankheit” gedeutet wird, eine körperliche Ursache nachgewiesen werden könnte. Denn die Psychiatrie hat nun einmal Aufgaben, die sich nicht mit dem Instrumentarium der Neurologie bzw. der klinischen Neurowissenschaft bewältigen lassen. Dabei handelt es sich auf Aufgaben im Bereich der Repression; und deren Bewältigung als medizinische Leistung zu kaschieren, ist die eigentliche Kunst des ärztlichen Standes in diesem Bereich.

Gealterte ehemalige Revoluzzer,  die es zu einem Amt gebracht haben, bezeichnen die Politik gern als die “Kunst des Möglichen”. In diesem degenerierten Sinne ist auch die psychiatrische Politik eine Kunst. Gern verweist der wohlmeinende Psychiater darauf, dass sich sein ärztliches Handeln im Spannungsfeld von politischen und juristischen Vorgaben zu entfalten habe, dass ihm mitunter die Hände gebunden seien und dass er zu einer schwierigen Gratwanderung gezwungen sei. Diese Gratwanderung mag in der Tat eine artistische Qualität erfordern. Das Instrumentarium einer klinischen Neurowissenschaft braucht man jedenfalls nicht, um in diesem Bereich einen Absturz zu vermeiden. Die psychiatrische “Heilkunst” entpuppt sich als Politik, und Politik ist nun einmal Herrschaft des Menschen über den Menschen.

Wie ja auch der Polizist, ist der Psychiater unser Freund und Helfer bei der Meisterung unserer gemeinsamen Aufgabe, Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Was gibt es denn Schöneres, als nach einem Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung eigenes Fehlverhalten einzusehen und Besserung zu geloben? Damit vergleichbar ist die “Krankheitseinsicht” im psychiatrischen Bereich. Wer wird da gleich den Polizeiknüppel oder den Rezeptblock zücken? Hier sind die Meister der diplomatischen Kunst gefragt. Wenn die Psychiatrie in Zukunft ein Schauspiel aufführt, das sich klinische Neurowissenschaft nennt, so wird sich am wahren Charakter dieser Disziplin dadurch nichts ändern.

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Warum müssen Diagnosen valide sein?

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Manche meinen, Diagnosen seien Definitionen, diese seien freie Übereinkünfte, daher genüge es, einen Begriff (beispielsweise “Schizophrenie”) mit einer Reihe von Merkmalen zu versehen (beispielsweise “Halluzinationen”, “Wahnideen” etc.) und fertig sei die psychiatrische Diagnose. Dies klingt plausibel. Es kommt nur darauf an, die Merkmale präzise zu umschreiben, damit man reliabel feststellen kann, ob jemand ein Merkmalsträger ist oder nicht.

Dass diese Strategie der freien Übereinkunft nicht zu befriedigen vermag, erkennt man unschwer, wenn man sie auf eine richtige Wissenschaft überträgt. Nehmen wir beispielweise die Biologie. Wir definieren das “Einhorn” als Pferd mit einem Horn. Nun begegnet uns irgendwo ein Tier, das augenscheinlich ein Pferd, aber, was bekanntlich bei den Equidae sonst nicht üblich ist, ein schön gewundenes Horn auf seinem Haupte trägt. Damit also wäre die Existenz des Einhorns erwiesen?

Wohl kaum. Jemand könnte sich einen Scherz mit uns erlaubt haben. Es wäre also zu prüfen, ob das Horn nicht nur angeklebt wurde. Es muss gefordert werden, dass dieses Horn tatsächlich aus dem Knochen des Schädels emporwächst, mit diesem organisch verbunden ist. Ein Horn zu haben, muss diesem Tier also wesentlich sein, um sich als Einhorn zu qualifizieren. Es genügt nicht, nur auf der Ebene der Erscheinungen einen Pferdekörper und ein Horn festzustellen, um von einem “Einhorn” sprechen zu können.

Mit anderen Worten: Wissenschaftliche Begriffe müssen stets validiert werden. Valide ist ein Begriff, wenn sich zeigen lässt, dass ihm etwas real Vorhandenes entspricht. Daher ist es auch nicht zulässig, von einem Schizophrenen zu sprechen, wenn der betreffende Mensch beispielweise Stimmen hört, die sonst niemand hört, und dies auf die Besendung seines Nervensystems durch die Illuminaten zurückführt. Man müsste vielmehr zeigen können, dass diese Phänomene ihm wesentlich sind, dass sie durch etwas, was in ihm liegt, ursächlich hervorgebracht werden, also Symptome einer Krankheit sind.

Wissenschaftliche Begriffe schweben nicht frei in der Luft; sie sind stets integraler Bestandteil einer Theorie. Ihre Validität hängt daher immer auch davon ab, ob ihre die Vorhersagen, die sich zwingend aus der jeweiligen Theorie ergeben, sich auch empirisch erhärten lassen. Wenn also die Psychiatrie von einer “psychischen Krankheit” oder von einer “psychischen Störung mit Krankheitswert” spricht, dann impliziert dies einen körperlichen, zumindest einem im Individuum ablaufenden Prozess, der die jeweiligen Symptome verursacht.

Dies wird im Übrigen vom psychiatrischen Mainstream auch so gesehen; die Suche nach chemischen Ungleichgewichten und aus dem Lot geratenen Schaltkreisen ist ja voll im Gange, allerdings bisher ohne jeden Erfolg. Auch scheinbar aussichtsreiche Kandidaten für das Ursachenbündel der so genannten psychischen Krankheiten scheitern immer wieder grandios. Medizinische Diagnosen sind, wissenschaftlich betrachtet, also alles andere als freie Übereinkünfte; vielmehr ist die Freiheit zur Diagnose massiv begrenzt durch die Realität, die nicht mit sich verhandeln lässt.

Es ist zwar auch eine Frage der subjektiven Bewertung, ob man ein Phänomen als Ausdruck einer Krankheit deutet (Paradebeispiel “Cellulite”); aber bevor es etwas zu bewerten gibt, muss man zeigen können, dass dieses Phänomen in Wirklichkeit tatsächlich existiert und nicht nur ein freier Übereinkunft und der Fantasie geschuldetes Konstrukt ist. Wenn man dies nicht beachtet, produziert man Zirkelschlüsse der folgenden Art: X halluziniert und hat Wahnideen und ist daher schizophren und er ist schizophren, weil er halluziniert und Wahnideen hat.

Gelegentlich wird behauptet, dass psychiatrische Diagnosen zwar nicht valide, aber dennoch nützlich seien. Es handele sich um freie Übereinkünfte, die den Zielen und Zwecken des Definierenden dienten. Sie würden beispielsweise der Kommunikation unter Fachleuten und der Zuordnung von Patienten und Behandlungsmethoden erleichtern. Dies klingt gut, bei oberflächlichem Hinhören. Schaut man aber genauer hin, so stellt man fest, dass nicht valide diagnostische Verfahren naturgemäß, mit gleichsam mathematischer Gewissheit, falsch positive und falsch negative Einstufungen produzieren. Unter diesen Bedingungen sind psychiatrische Diagnosen weder hilfreich in der Kommunikation unter Fachleuten, noch können sie Behandler dabei unterstützen, die richtigen Therapien für den jeweiligen Patienten auszuwählen.

Es gilt als Großtat Robert Spitzers, das amerikanische Diagnose-Handbuch DSM vom psychoanalytischen Beiwerk  befreit und auf einer rein deskriptiven Ebene verankert zu haben. Sein Ziel war es, dass notorisch mangelhafte Reliabilität zu steigern (dass ihm auch dies nicht gelungen ist, steht auf einem anderen Blatt). Die Frage der Validität spielte für ihn allenfalls eine untergeordnete Rolle. Genau deswegen aber ist das DSM (ebenso wie der an dieses Manual angelehnte psychiatrische Teil der ICD), wissenschaftlich betrachtet, unbrauchbar. Seine Nützlichkeit beschränkt sich überdies auf seine Eignung für die Marketing-Maschine der Psychiatrie.

Nach dem medizinischen Modell werden “psychische Krankheiten” durch Prozesse verursacht, die im Individuum, also in seinem Körper ablaufen. Der soziale Kontext spielt zwar als Auslöser und Verstärker oder als protektiver Faktor eine Rolle, aber er gehört nicht zum Kern der Sache, nicht ins Ursachenbündel. Aufgabe der Medizin ist es, die Störung im Individuum zu beseitigen oder ihre Auswirkungen zu mildern. Es ist offensichtlich, dass im Rahmen eines solchen Modells die Diagnose eine entscheidende Rolle spielt. Dieses Modell kann nur dann eine rationale Grundlage ärztlichen Handelns sein, wenn die diagnostischen Verfahren hinlänglich valide sind.

Sie sind es nicht. Dieser im vergangenen Jahr von Thomas Insel, dem Direktor des einflussreichen “National Institute of Mental Health”, gleichsam autoritativ eingeräumte Sachverhalt  wird von seriösen Forschern nicht bestritten. Allein, man geht achselzuckend darüber hinweg und die Verbände der Psychiatrie verschanzen sich hinter der Behauptung, man müsse bis zur Klärung dieser wissenschaftlichen Fragen zur Validität auch weiterhin in der Praxis den Alltag bewältigen, um schwer leidenden Menschen zu helfen. Allein, die Antwort auf die Frage, ob die Psychiatrie für diese Hilfe überhaupt zuständig ist, muss dann wohl ebenfalls vertagt werden.

Denn wenn die Frage der Validität nicht geklärt ist, dann ist es ebenfalls ungewiss, ob es “psychische Krankheiten” überhaupt gibt. Und so wissen wir auch nicht, ob die so genannten “psychisch Kranken” überhaupt in den Verantwortungsbereich von Ärzten fallen. Kritiker meinen, Ärzte maßten sich in diesem Bereich nur eine Zuständigkeit an, weil sich ihnen und der Pharmaindustrie hier die besten Verdienstmöglichkeiten bieten. Eine genuine, fachlich begründete Zuständigkeit könnte die Ärzteschaft in der Tat nur durch eine Validierung ihrer diagnostischen Systeme nachweisen. Solange dies nicht gelungen ist, steht der böse Verdacht ausschließlich finanzieller Interessen unverrückbar im Raum.

Ebenso wenig, wie man die Existenz von Einhörnern durch Hollywood-Filme beweisen kann, in denen sie die Hauptrolle spielen, so kann man die Existenz psychischer Kranker durch den Verweis auf Leute belegen, die sich im Sinne derartiger Diagnosen verhalten. Es kann viele Gründe geben, warum sich diese Menschen so betragen. Man kann nicht einfach nur voraussetzen, sie benähmen sich so, weil sie “psychisch krank” seien. Nein, wirklich nicht: Dies ist keineswegs nur eine akademische Frage. Hier geht es um Geld, um viel Geld sogar, und es geht um eine angemessene Hilfe für Menschen, die u. U. tatsächlich Hilfe nötig hätten.

Diagnosen müssen valide sein – und dies sogar moralisch zwingend, wenn die Behandlungen auch mit Schadwirkungen verbunden sein können. Man kann Leute nicht auf gut Glück mit schweren Nervengiften therapieren oder mit Psychotherapien, deren Auswirkungen auf die Selbstachtung zumindest zweifelhaft sind.

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Warum psychiatrische Therapieforschung irrelevant ist

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Die Validität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Test misst, was er zu messen vorgibt. Entsprechend ist die Validität einer medizinischen Diagnose – technisch gesprochen – ein Zahlenwert, der das Ausmaß der Übereinstimmung einer Diagnose mit dem, was sie zu diagnostizieren vorgibt, ausdrückt. Dabei ist die Validität keine Eigenschaft eines Tests bzw. eines diagnostischen Verfahrens, sondern sie hängt von der jeweiligen Fragestellung ab. Wenn wir uns beispielsweise fragen, wie viele Leute in einen Fahrstuhl passen, dann hat der Body-Mass-Index eine andere Validität, als wenn wir den Gesundheitszustand von Menschen damit abschätzen wollen.

Die relevante Fragestellung einer psychiatrischen Diagnose lautet: Hat ein Mensch eine psychische Krankheit und wenn ja, welche? Anders formuliert: Die Validität sagt uns, welche Bedeutung wir einem diagnostischen Befund hinsichtlich unserer Fragestellung zuschreiben dürfen.

Thomas Insel, der Direktor des weltgrößten psychiatrischen Forschungszentrums, des National Institute of Mental Health (NIMH), bezeichnete die psychiatrische Diagnostik als nicht valide. Er erntete Empörung, aber keinen Widerspruch.

Kein seriöser Forscher würde ernsthaft versuchen, die Behauptung, dass psychiatrische Diagnostik valide sei, mit empirischen Daten zu erhärten. Man kann es zwar für unangemessen halten, die Öffentlichkeit mit Erkenntnissen zu Validitätsmängeln zu verunsichern, aber am kruden Faktum mangelnder Validität kommt man nicht vorbei.

Bisher ließ sich kein Hirnprozess als Ursache der so genannten psychischen Krankheiten erhärten; kein Biomarker deutet auf ihr Vorhandensein hin; kein Hirnscan verrät, ob jemand “psychisch krank” ist oder nicht. Auch angebliche Befunde zur Erblichkeit “psychischer Krankheiten” erweisen sich bei näherer Betrachtung als schlecht belegte Hypothesen. (Informationen und Belege zu diesem Themenkreis finden sich u. a. hier und hier.)

Die Konsequenzen dieses Sachstands sind für die psychiatrische Therapieforschung dramatisch. Nehmen wir einmal an, ein neues Medikament gegen die so genannte Schizophrenie sollte erprobt werden. Wir bilden zwei Gruppen von “Schizophrenen”, die eine erhält das Medikament, die andere ein Placebo. Zu Beginn der Behandlung weisen die Versuchspersonen charakteristische “Symptome” auf, so hören sie beispielsweise Stimmen, die sonst niemand hört. Am Ende des Untersuchungszeitraums jedoch sind diese “Symptome” in der Experimentalgruppe weniger häufig und schwächer ausgeprägt als in der Placebo-Kontrollgruppe.

Wie soll dieses Ergebnis interpretiert werden? Man beachte, dass es Sinn einer medizinischen Behandlung ist, Krankheiten zu heilen oder zu lindern. Weder vor, noch nach dem Experiment wurde die “Krankheit” der “Schizophrenie” jedoch mit einem validen Verfahren diagnostiziert. Daher kann die beobachtete Veränderung in der Experimentalgruppe auch nicht als Heilungs- oder Linderungsprozess einer Krankheit interpretiert werden.

Nehmen wir einmal an, es gäbe so etwas wie die Krankheit Schizophrenie tatsächlich. Sie sei irgendein pathologisches Geschehen im Gehirn. Angesichts der mangelnden Validität der Diagnostik würde uns unser Experiment nun nicht verraten, ob sich der Gesundheitszustand der Betroffenen durch die Behandlung verbessert bzw. verschlechtert habe und unverändert geblieben sei, weil wir den Hirnmechanismus nicht kennen, geschweige denn messen können.

Ein Beispiel aus einem anderen Bereich soll dies verdeutlichen. Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung sagte der Mediziner Harald Schneider von der Uni München:  “Warum der BMI noch immer Goldstandard für medizinische Fragestellungen ist, weiß eigentlich kein Mensch. Oft liefert er ein falsches Ergebnis, was das Gesundheitsrisiko betrifft.”

Wir verwirklichen nun ein Experiment mit Übergewichtigen. Die einen erhalten ein Schlankheitsmittel, die anderen ein Placebo. Vorher und nachher messen wir den Body-Mass-Index. Wir stellen fest, dass sich der Body-Mass-Index in der Experimentalgruppe im Vergleich zur Placebo-Kontrollgruppe deutlich verringert hat. Bedeutet dies, dass sich auch das Gesundheitsrisiko der Menschen, die mit dem Schlankheitsmittel behandelt wurden, vermindert hat?

Wenn eine Diagnose nicht valide ist, so bedeutet dies, dass sie sehr häufig Menschen, die nicht krank sind, als krank einstuft und Menschen, die krank sind, als gesund erachtet. Bei einer vollständig invalide Diagnose entspricht die Trefferquote der Ratewahrscheinlichkeit, die sich als der Basisrate, nämlich der Zahl der Kranken in einer Population ergibt. Je weniger Kranke ist gibt, desto wahrscheinlicher ist es unter diesen Bedingungen, dass eine positive Diagnose falsch ist. Daraus folgt auch, dass sich bei einem Experiment in der Versuchsgruppe und in der Placebogruppe viele falsch positiv eingestufte Menschen finden werden.

Nehmen wir einmal an, es gäbe ein Medikament, dass effektiv ist, aber nur bei wirklich Kranken eine echte Wirkung zeigt. Befinden sich nun in der Versuchsgruppe viele falsch Positive, so müsste dieser Effekt im statistischen Durchschnitt untergehen. Beispiel: Hundert Leute erhalten ein Verum, hundert Leute ein Placebo. Zwei der Leute in der Experimentalgruppe sind wirklich krank, die anderen wurden falsch positiv eingestuft. Auch in der Placebogruppe sind zwei tatsächlich krank. Das Verum wirkt bei diesen zwei Leuten durchaus, aber statistisch fällt dies nicht ins Gewicht, zumal sich in der Placebogruppe vermutlich auch bei einigen ein scheinbarer Effekt zeigt.

Nun könnte man argumentieren, all dies seien durchaus zutreffende Erwägungen, aber sie sie seien unerheblich, weil es einzig und allein darauf ankomme, das subjektive Leiden der Betroffenen zu lindern. Wenn also ein Medikament beispielsweise Wahnideen oder Halluzinationen bei “Schizophrenen” reduziere, so sei dies immer positiv zu bewerten – unabhängig davon, ob dadurch eine Krankheit gelindert würde oder nicht.

Dies klingt natürlich beim ersten Hinhören plausibel, doch wenn man genauer hinschaut, dann poppen die Fragezeichen auf. Denn häufig haben Behandlungen – und dies gilt nicht nur für medikamentöse, sondern auch für psychotherapeutische – neben den erwünschten auch unerwünschte Wirkungen. Und so kann der Preis einer Verminderung des Stimmenhörens bei “Schizophrenen” eine schwere und irreversible neurologische Störung sein. Und im Gegensatz zur so genannten Schizophrenie können diese neurologischen Störungen oft sogar valide diagnostiziert werden, weil der Pathomechanismus mit naturwissenschaftlichen Methoden erfasst werden kann.

Streng genommen kann man also sagen: Wenn sich eine Veränderung des Gesundheitszustandes nach einer psychiatrischen Behandlung objektiv messen lässt, dann handelt es sich beim Stand der Dinge stets um eine Verschlechterung. Beispiel: Vor Beginn der Behandlung hatte keiner der Patienten keine Spätdyskinesie, die sich in der Folge jedoch bei dreißig Prozent einstellt (verglichen mit 0 Prozent in der Placebokontrollgruppe).

Dass mit Therapieforschung, die auf invalider Diagnostik beruht, kein Blumentopf zu gewinnen ist, hat inzwischen auch Thomas Insel offen ausgesprochen. Er, der Herr der amerikanischen Psychiatrie-Forschungsförderung, will solche unzulänglichen Studien in Zukunft nicht mehr finanzieren.  Er schreibt:

“Vorschläge für Studien werden ein Zielobjekt (‘target’, HUG) oder einen Vermittler identifizieren müssen; ein positives Ergebnis wird nicht nur den Nachweis erfordern, dass eine Intervention ein Symptom lindert, sondern auch, dass es einen dokumentierten Effekt auf ein Zielobjekt hat, zum Beispiel einen neuronalen Pfad, der in der Störung verwickelt ist, oder eine entscheidende kognitive Operation.”

Dies ist ein ehrgeiziges, ein eminent ehrgeiziges Vorhaben. Es ist sich beim gegenwärtigen Stand der Neurowissenschaften überhaupt verwirklichen lässt, halte ich für fraglich. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob der Optimismus des NIMH-Direktors gerechtfertigt war. Aus der Kurskorrektur des “National Institute of Mental Health” kann man indirekt aber auch schließen, dass wir die Ergebnisse der bisherigen psychiatrischen Therapieforschung getrost in der Pfeife rauchen können.

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Warum ich ein leidenschaftlicher Befürworter der Psychiatrie bin

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Viele sehen in mir den fundamentalistischen Psychiatriekritiker, einige verorten mich gar in der “antipsychiatrischen Ecke” und so wird es manche überraschen, von mir zu hören, dass ich in Wirklichkeit ein leidenschaftlicher Befürworter der Psychiatrie bin (mit Ausnahme der Zwangspsychiatrie, die ich fanatisch ablehne).

Für meine durch und durch wohlwollende Einstellung zur freiwillig beanspruchten Psychiatrie sind insbesondere zwei Gründe verantwortlich:

  1. Als Anarchist bin ich Anhänger einer Philosophie der Freiheit. Die individuelle Freiheit sollte aus meiner Sicht nicht durch willkürliche staatliche Verbote, durch unziemlichen sozialen oder ökonomischen Druck beschränkt werden. Ihre Verwirklichung darf allerdings nicht zu Lasten der Freiheitsrechte anderer erfolgen; daher ist die soziale der individuellen Freiheit übergeordnet. Jeder Mensch sollte einen individuellen Freiheitsspielraum zugeordnet bekommen, in dem er nach Gutdünken schalten und walten kann, wobei dieser Freiheitsspielraum seine Grenzen an den ebenso berechtigten Freiheitsspielräumen anderer findet. Und so bleibt es jedem erwachsenen Menschen überlassen, selbst zu entscheiden, welche Produkte und Dienstleistungen er für sich in Anspruch nehmen will. Dies gilt natürlich auch für die Angebote der Psychiatrie und Pharmaindustrie. Es wäre ja auch ein Widersinn, wenn ich einerseits die Freigabe aller Drogen fordere, andererseits aber das Verbot von Psychopharmaka propagieren würde.
  2. Gemessen an ihrem Anspruch, “psychische Krankheiten” zu diagnostizieren, zu heilen oder zu lindern, ist die Leistungsbilanz der Psychiatrie grottenschlecht. Die diagnostischen Verfahren sind nicht valide, die Psychotherapien nicht effektiver als Placebobehandlungen, die “Medikamente” entweder nicht wirksamer als Zuckerpillen oder sie rufen schwer wiegende neurologische Störungen bzw. Abhängigkeiten hervor. Obwohl ich niemanden daran hindern will, sich nach Gusto in eine psychiatrische Behandlung zu begeben, so werde ich nicht müde, darauf hinzuweisen, dass hier das Preis-Leistungs-Verhältnis ganz und gar nicht stimmt. Auch wenn die Kasse die Behandlungskosten übernimmt, so zahlen wir letztlich doch alle dafür. Wählt man jedoch einen realistischeren Maßstab als den einer Krankenbehandlung (nämlich den der Repression), so zeigt sich, dass die Psychiatrie hochgradig effektiv ist. Dafür spricht eindeutig und unmissverständlich die Tatsache, dass sie in großer Zahl “Patienten” hervorbringt, die sich “krankheitseinsichtig” zeigen, die brav ihre “Medikamente” schlucken, die sich mit ihrer Hilfe in die ihnen zugedachte gesellschaftliche Rolle als “psychisch Kranke” fügen; kurz, viele, die vor einer Behandlung gestört haben und eventuell darunter litten, stören nach einer Behandlung nunmehr etwas weniger oder gar nicht mehr und dadurch wurde womöglich auch ihr Leiden gelindert. Ob sie im Sinne eines gelingenden Lebens tatsächlich geheilt wurden, steht auf einem anderen Blatt; doch gemessen an den Kriterien der Repression ist diese Frage unerheblich. Und solange sich die Betroffenen wünschen, von der Psychiatrie unterdrückt zu werden, kann ich dagegen auch keine überzeugenden Einwände vorbringen.

In einer Gesellschaft, die anarchistische Ideale verwirklicht, wären die genannten Gründe sicher obsolet, weil in einem solchen Gemeinwesen niemand das Bedürfnis hätte, sich psychiatrisch behandeln zu lassen und auch das Kollektiv keinen Bedarf an einer Entstörung dieser Art geltend machen würde. Allein, wir leben in einem kapitalistischen System, das die Fähigkeit vieler Menschen, Lebensprobleme vernünftig zu meistern, bei weitem überfordert und aus diesem Grund existiert die Psychiatrie. Sie ist eine rationale Lösung für Lebensprobleme in einem irrationalen System, in dem die Freiheit von vielen zugunsten der Freiheit weniger beeinträchtigt wird.

Selbst in einem kapitalistischen System gäbe es bessere Lösungen als die Psychiatrie (die auf der Ebene der professionell begleiteten Selbsthilfe angesiedelt sind), aber solange die große Mehrheit der Menschen lieber die Psychiatrie hätte, werde ich diese Form der Hilfe selbstverständlich leidenschaftlich unterstützen, weil ich die Freiheit meiner Mitbürger achte. Dass diese Unterstützung kompromisslos bei der Zwangspsychiatrie in all ihren Erscheinungsformen ihre Grenze findet, ergibt sich aus der Logik meiner politischen Grundhaltung und wurde bereits erwähnt.

Selbstverständlich verurteile ich auch niemanden, der die Rolle des “psychisch Kranken” übernimmt, auch wenn ich ihm nicht abkaufe, dass er tatsächlich an einer “psychischen Krankheit” leidet. Für mich ist das Recht zur freien Entfaltung der Persönlichkeit eines der wichtigsten Grundrechte überhaupt. Daher halte ich es auch für legitim, seine Persönlichkeit zu entfalten, indem man sich als “psychisch Kranker” in Szene setzt. Mit scheint dies in vielen Fällen nicht angemessen zu sein; aber selbstverständlich kann ich von niemanden erwarten, dass er sich meine Sicht der Dinge zu eigen macht.

Ich bin gemäßigter Empiriker; dies bedeutet, dass Erkenntnisse, die aus der Sinneserfahrung stammen, aus meiner Sicht Vorrang haben sollten. Meine Psychiatriekritik speist sich daher überwiegend aus den Ergebnissen der empirischen Forschung. Als Anarchist jedoch bin ich ein bedingungsloser Verteidiger der geistigen Freiheit und akzeptiere daher uneingeschränkt auch Grundhaltungen, die der meinen entgegengesetzt sind. Wer auf einer solchen Basis zu der Überzeugung gelangt, dass die Psychiatrie das Gelbe vom Ei sei, der mag mit seiner Überzeugung glücklich werden.

Dies bringt mich zwanglos zur moralischen Frage, die in der Pflasterritzenflora bereits verhandelt wurde, ob nämlich Psychiater böse seien. Solange ihre Dienstleistungen und Produkte von ihren Kunden freiwillig beansprucht werden, kann man davon natürlich nicht sprechen. Wer meint, er müsse die Rolle “des psychisch Kranken” inszenieren und bedürfe des Arztes zu diesem Zwecke, der hat selbstverständlich auch ein Recht dazu. Wer aber einen berechtigten Bedarf deckt, der kann deswegen unmöglich als böse bezeichnet werden. Der Psychiater macht hier ja auch nur von seinen Freiheitsrechten Gebrauch, die mir heilig sind.

Problematischer ist die moralische Frage in der Zwangspsychiatrie. Diese heißt ja so, weil hier den Menschen die “Segnungen” der Psychiatrie aufgezwungen werden. Spontan kann man dies durchaus als böse bezeichnen. Nach genauerem Hinsehen muss man aber einräumen, dass die in der Zwangspsychiatrie tätigen Psychiater nicht nur im Einklang mit höchstrichterlicher Rechtsprechung, sondern auch in Übereinstimmung mit der Meinung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung handeln. Wer könnte es ihnen also verdenken, wenn sie unter diesen Bedingungen ihre Zwangsmaßnahmen für moralisch gerechtfertigt halten? Zwar sind sie es aus meiner anarchistischen Perspektive nicht; sie sind es womöglich auch von anderen Rechtspositionen aus betrachtet nicht; aber da man seine eigene Einstellung nicht verabsolutieren darf, fällt es mir dennoch schwer, die Mitarbeiter der Zwangspsychiatrie moralisch zu verdammen. Zumindest muss ich einräumen, dass auch sie ihrem Gewissen folgen und es gut meinen könnten.

“Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. –
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick.”

So heißt es in Goethes Faust. In einem freien Volk, das auf freiem Grund steht, gibt es selbstverständlich auch keine Zwangspsychiatrie. Heute aber haben wir sie, und ich fürchte, sie wird uns auch durch die kommenden Jahrzehnte begleiten. Dort werden Menschen gegen ihren Willen an ihre Betten gefesselt und mit schweren Nervengiften traktiert. Dort sind Menschen weitgehend rechtlos und der Gnade ihrer Ärzte ausgeliefert. Wer dort arbeitet, möge dies vor seinem eigenen Gewissen verantworten. Ein endgültiges moralisches Urteil maße ich mir nicht an. Allerdings handelt sich sich bei der Zwangspsychiatrie nicht um jene Form der Psychiatrie, die ich leidenschaftlich befürworte. Die von mir befürwortete Psychiatrie ist eine Veranstaltung, die freie Bürger auf Grundlage ihrer Überzeugungen und von Verträgen unter sich ausmachen.

Meine leidenschaftliche Befürwortung der Psychiatrie ist keine Ironie, sie kommt von Herzen und daher spiele ich hier auch nicht mit Worten. Die Leidenschaft gilt jedoch nicht der Psychiatrie an sich, die ich für eine Pseudowissenschaft und für praktisch unzulänglich halte, sie entflammt vielmehr für das Recht der Menschen, nach Belieben jene Dienstleistungen und Produkte in Anspruch zu nehmen, nach denen ihnen der Sinn steht. Und ich habe keinen Anlass, diesen Sinn für weniger begründet zu halten als meinen eigenen. Der Sinn beruht immer auf einer Entscheidung des Einzelnen; er fußt nicht in einer objektiven Wertordnung, die man allen Mitmenschen als verbindlich aufzwingen könnte.

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Krankenkasse

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Die Psychiatrie verfügt bekanntlich nicht über objektive Methoden zur Diagnose der so genannten psychischen Krankheiten. Es gibt keine Biomarker; im Blutbild ist nichts zu erkennen; keine Brainscans können darüber entscheiden, ob ein Mensch psychisch krank ist oder nicht.

Die psychiatrischen Diagnosen sind also willkürlich; sie beruhen auf der schieren subjektiven Meinung des Diagnostikers. Der Psychiater entscheidet nach Gutdünken, ob er einen einen Menschen als “psychisch krank” betrachtet und behandelt oder nicht. Sagt: Was könnte, außer einer Lizenz zum Gelddrucken, schöner sein?

Die Zahl der so genannten psychisch Kranken steigt beständig, und so auch die Kosten, die für Medikamente, Psychotherapien und Krankengeld anfallen. Da die Betroffenen als krank gelten, muss dafür die Krankenkasse aufkommen. Eine psychiatrische Diagnose ist bares Geld wert, für die Psychiatrie, für die Pharmaindustrie – und dieses bare Geld strömt aus dem Füllhorn der Krankenkassen. Allein, wer füllt dieses Horn?

Kann man der Solidargemeinschaft der Versicherten zumuten, die Behandlung von Krankheiten zu finanzieren, die sich objektiv nicht nachweisen lassen? Es genügt schon, diese Frage auch nur zu stellen, um sozialer Kälte geziehen und als “Neoliberaler” verdächtigt zu werden.

Schnell wird behauptet, dass, wer die Finanzierung psychisch Kranker durch die Krankenkasse für nicht gerechtfertigt halte, den Ärmsten der Armen die Butter auf dem Brot nicht gönne. Dabei wird allerdings vergessen, dass man den Kuchen nur einmal verteilen kann. Geld, das auf der einen Seite verschwendet wird, fehlt auf der anderen Seite genau da, wo Menschen Hilfe bitter nötig haben.

Natürlich haben Menschen, bei denen eine psychische Krankheit diagnostiziert wird, oftmals reale Lebensprobleme und in vielen Fällen sind sie auch nicht in der Lage, sie allein aus eigener Kraft zu bewältigen. Allerdings handelt es sich bei der Behauptung, ihre Lebensprobleme seien durch eine “psychische Krankheit” verursacht worden, nur um eine Mutmaßung – um eine Mutmaßung, die sich im Licht der empirischen Forschung als ziemlich vage herausstellt.

Derart vage Mutmaßungen rechtfertigen es aus meiner Sicht keineswegs, den teuren medizinischen Apparat in Gang zu setzen, um “Behandlungen” zu realisieren, die – nach heutigem Wissensstand – entweder nicht effektiver sind als Placebos (Antidepressiva, Psychotherapie) oder die eine mutmaßliche Krankheit durch eine reale neurologische Störung (Neuroleptika) oder eine handfeste Sucht (Benzodiazepine) ersetzen.

Angesichts dieses Sachstands erhebt sich die Frage, ob man den Betroffenen nicht kostengünstiger helfen könnte. Dies hat mit Neoliberalismus und sozialer Kälte nichts zu tun. Mittelverschwendung zugunsten der Pharmaindustrie und der Psychiatrie ist unabhängig vom politischen Standpunkt nicht wünschenswert – es sei denn, man wäre Lobbyist.

Unabhängig davon, hat natürlich jeder, der die Produkte und Dienstleistungen der Pharmaindustrie und Psychiatrie in Anspruch nehmen möchte, auch uneingeschränkt das Recht dazu, wie teuer diese auch immer sein mögen; allerdings sollte er sie aus eigener Tasche bezahlen.

Natürlich weiß ich, dass nicht alle Menschen mit realen Lebensproblemen es sich leisten können, psychiatrische Hilfe selbst zu finanzieren. In unserem gegenwärtigen System sieht es ja so aus, dass sich solche Menschen als “psychisch krank” diagnostizieren lassen müssen, wenn sie die Kosten für Hilfen nicht selbst schultern können oder wollen. Dies halte ich für einen Skandal. Es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass professionelle Helfer – Psychiater, psychologische Psychotherapeuten etc. – Menschen mit Lebensproblemen besser helfen könnten als andere Leute.

Daher schlage ich vor, Stiftungen zu gründen, um Menschen mit Lebensproblemen, die sich Hilfen nicht leisten können, ein Budget zur Verfügung zu stellen, über das sie frei verfügen können. Es sollte ihnen erlaubt sein, damit einen Psychiater zu finanzieren, wenn sie wollen, aber genauso gut sollte es ihnen gestattet sein, sich für dieses Geld der Dienste eines Wunderheilers, eines Heilpraktikers, eines Gurus oder eines Nachbarn zu versichern.

Es würde ein echter freier Markt entstehen, der zwar auch keine Wunder wirkt, aber in diesem Fall durchaus den Interessen der Konsumenten besser dient als der bisherige Zustand, in dem Anbieter mit psychiatrischen Diplomen und psychotherapeutischen Zertifikaten bevorzugt werden, obwohl es nicht die Spur eines Beweises dafür gibt, dass sie dank ihrer “Qualifikation” besser helfen könnten als andere Leute.

Auf einem solchen Markt würden sich Anbieter mit einem guten Preis-Leistungs-Verhältnis durchsetzen; es gäbe keine eingebaute Begünstigung von Dienstleistern mit bestimmten pseudowissenschaftlichen Ausbildungen.

Selbstverständlich sollten alle Drogen und damit auch die so genannten Psychopharmaka legalisiert werden. Niemand wäre dann gezwungen, einen Arzt aufzusuchen, um sich eine Substanz mit stimmungsverändernden Wirkungen verschreiben zu lassen. Dass damit eine enorme Kostensenkung verbunden wäre, versteht sich von selbst.

Auf den Sachverstand der Ärzte kann man hier gut verzichten, da diese bekanntlich auch nicht wissen und vorhersagen können, wie Psychopharmaka wirken, bei wem und warum. Völlig unerforscht sind überdies auch die Interaktionen zwischen einschlägigen Medikamenten.

So schreibt beispielsweise der Mitbegründer der Cochrane Collaboration und Leiter des Nordic Cochrane Centre, der Medizinprofessor Peter C. Gøtzsche in seinem Buch: “Deadly Medicines and Organised Crime“:

“Und ich bin in keiner Weise ‘Antipsychiatrie’. Aber meine Studien in diesem Bereich führten mich zu einem sehr unbequemen Schluss: Unsere Bürger wären viel besser dran, wenn wir alle Psychopharmaka vom Markt nehmen würden, da Ärzte unfähig sind, mit ihnen umzugehen. Es ist unausweichlich, dass ihre Verfügbarkeit mehr Schaden als Nutzen hervorruft (3).”

Da ich Drogenprohibition grundsätzlich für ineffektiv halte, plädiere ich zwar nicht wie Gøtzsche dafür, Psychopharmaka vom Markt zu nehmen, wohl aber halte ich es für sinnvoll, den Ärzten das Privileg zu ihrer Verschreibung zu entziehen. Viele Menschen glauben nach wie vor, dass Ärzte wüssten, was sie tun, wenn sie Psychopharmaka verschreiben, sie hätten dies schließlich studiert.

Diese falsche Sicherheit entfiele, wenn jedem das Recht eingeräumt bzw. die Verpflichtung auferlegt würde, die Verantwortung für den Konsum solcher Substanzen selbst zu übernehmen. Möglicherweise würde dies in diesem Bereich sogar zur Schadensbegrenzung und Nutzensteigerung beitragen.

Zum Schluss möchte ich noch einen letzten, und wirklich, nicht den schlechtesten Pfeil aus meinem Köcher ziehen, nämlich das bedingungslose Grundeinkommen. Niemand müsste sich, finanziell so abgesichert, von einem Psychiater für “psychisch krank” erklären lassen, wenn er sich aufgrund eines Lebensproblems außerstande sieht, seiner Arbeit nachzukommen.

Es führt ohnehin kein Weg an einem bedingungslosen Grundeinkommen vorbei, da bezahlte Arbeit in Zukunft sehr, sehr knapp werden wird. Jede Tätigkeit, die nicht allzu viel Kreativität und allzu komplexe Entscheidungen unter Unsicherheit erfordert, wird in absehbarer Zeit von Robotern übernommen. Dies ist längst keine Sciencefiction mehr, sondern eine realistische und in Ansätzen bereits realisierte Möglichkeit.

Statt Medikalisierung, Prohibition und monströser Bürokratisierung der Arbeitsverwaltung: Freie Wahl des Helfers bei Lebensproblemen, Freigabe aller Drogen und bedingungsloses Grundeinkommen! Diese Formel mag Widerspruch, ja, Empörung auslösen, bei manchen auch nur ein Kopfschütteln. Dass wir aber nicht so weitermachen können wie bisher, sollte eigentlich jedem klar sein, ganz gleich, wie er zu meinem Lösungsvorschlag steht.

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Schuldlos in die Psychiatrie zwangseingewiesen?

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Ein Beispiel aus einem anderen Bereich zur Einstimmung:

Eine junge Frau joggt nach Einsetzen der Dunkelheit leicht bekleidet in einem einsamen Park am Rande eines Viertels mit üblem Ruf. Sie wird vergewaltigt. Leute geben ihr eine Mitschuld daran, denn sie hätte sich ja auch in einer sichereren Gegend sportlich ertüchtigen können.

Das Gegenargument: Es ist grundsätzlich verboten, Frauen zu vergewaltigen. Die Schuld trägt allein der Vergewaltiger. Es ist sexistisch, von Frauen zu verlangen, sich durch Wahl ihrer Kleidung oder Meidung von Gegenden vorbeugend zu verhalten.

Es ist zwar der Psychiatrie nicht verboten, Menschen wegen einer angeblichen psychischen Krankheit, verbunden mit unterstellter Gefährlichkeit oder Suizidalität, zwangseinzuweisen und zwangszubehandeln. Allerdings ist die Psychiatrie nicht in der Lage, die so genannten psychischen Krankheiten valide zu diagnostizieren oder Gefährlichkeit bzw. Suizidalität mit hinlänglicher Treffsicherheit zu prognostizieren.

Gemessen an ethischen Kriterien könnte man sich also mit gleichem Recht wie im Fall der vergewaltigten Frau moralisch auf der sicheren Seite wähnen, wenn man folgendes Argument vortrüge:

Es ist grundsätzlich fachlich nicht zu begründen, einen Menschen wegen einer angeblichen psychischen Krankheit, verbunden mit unterstellter Gefährlichkeit bzw. Suizidalität, zwangseinzuweisen und zwangszubehandeln. Es ist diskriminierend, von Menschen mit Neigung zu abweichendem Verhalten zu verlangen, sich durch Zurückhaltung vorbeugend zu verhalten.

Selbstverständlich gibt es Frauen, die trotz aller Vorsichtsmaßnahmen vergewaltigt und es gibt Menschen, die trotz größtmöglicher Normalität ihres öffentlichen Handelns gegen ihren Willen hinter psychiatrische Gitter gesperrt werden. Selbstverständlich ist dies aber nicht immer so. Manche Frauen und andere Menschen erhöhen durch ihr Verhalten das Risiko eines Schadens. Sie werden dazu nicht gezwungen. Kein Automatismus in ihrem Gehirn und keine äußere Gewalt lassen ihnen keine Wahl, als sich in Gefahr zu begeben. Dass erhöhte Risiko beruht auf ihren eigenen Entscheidungen.

Also doch Mitschuld? Ist jede und jeder letztlich selbst dafür verantwortlich, wenn sie oder er von Männern im Park oder von der Zwangspsychiatrie vergewaltigt wird? Wenn man die Frage auf der Grundlage rechtlicher bzw. ethischer Prinzipien beurteilt, lautet die Antwort natürlich nein. Im Rahmen des nicht Verbotenen können Menschen tun oder lassen, was sie wollen und niemand kann aus ihrem so bestimmten Verhalten das Recht ableiten, sie zu vergewaltigen, sie ihrer Freiheit zu berauben, sie gegen ihren Willen mit gefährlichen Nervengiften zu traktieren.

(Dass die Zwangspsychiatrie dank ihres Konstrukts der “psychischen Krankheit” auf rechtlicher Grundlage agiert, räume ich ein; dies kann aber an meinem moralischen Urteil der grundsätzlichen Unrechtmäßigkeit zwangspsychiatrischen Handelns nichts ändern, weil das Konstrukt der “psychischen Krankheit” nicht valide, also willkürlich ist und so aus meiner Sicht niemals Grundlage von Freiheitsberaubung sein kann.)

Versucht man jedoch die Frage der Mitschuld auf einer pragmatischen Grundlage zu klären, dann fällt die Antwort nicht mehr so leicht. Ist es nicht eine Frage der Klugheit, die Realität so zu akzeptieren, wie sie nun einmal ist? Ist es nicht ein Ausdruck von Dummheit, sein Verhalten an einem Wunschbild der Wirklichkeit auszurichten? Gehört Dummheit etwa nicht bestraft, vor allem, wenn sie auf Selbstverblödung beruht?

Eine psychiatrische Diagnose ist ein strategisches Etikett. Sie ist ein Etikett, weil sie einem Menschen willkürlich “aufgeklebt” wird; es gibt keine objektive Rechtfertigung für sie. Und sie ist strategisch, weil sie eine bestimmte Behandlung des Etikettierten determinieren und legitimieren soll. Willkürlich bedeutet aber nicht zufällig. Der Psychiater würfelt nicht, wenn er seine Diagnosen verteilt.

Warum einer oder eine zum Opfer wird, ist die Leitfrage der “Viktimologie“. Bei der Beantwortung dieser Frage unterliegen nicht nur Laien sehr häufig einem Denkfehler, den man “fundamental attribution error” nennt. Wir neigen dazu, anderen zu unterstellen, sie seien selbst schuld, wenn ihnen ein Unglück widerfährt, wohingegen wir für eigenen Schaden unter vergleichbaren Bedingungen situative, äußere Einflüsse verantwortlich machen.

Dieses Denkfehlers eingedenk, bin ich dennoch davon überzeugt, dass nicht wenige Leute in geschlossenen Abteilungen der Psychiatrie sitzen, weil sie zuvor anderen Leuten mutwillig gefährlich auf die Nerven gegangen sind und nicht bedacht haben, dass die Welt nun einmal so ist, wie sie ist, und nicht so, wie man sie gern hätte. Bei manchen dieser Leute, deren Schicksal ich beobachtete, beschlich mich sogar der Verdacht, dass sie sich insgeheim wünschten, zum Opfer psychiatrischer Gewalt zu werden.

Die Existenz solcher Leute kann freilich die Zwangspsychiatrie nicht rechtfertigen. Tatsache aber ist, dass es Menschen gibt, die anderen in unerträglicher Weise auf die Nerven gehen, so dass die davon Betroffenen sich nicht anders mehr zu helfen wissen, als die Psychiatrie einzuschalten. Damit muss, solange die Zwangspsychiatrie existiert, jeder rechnen, der anderen Leuten penetrant auf die Nerven geht. Es wäre natürlich besser, unsere Gesellschaft hätte angemessenere, humanere Strategien, um mit solchen Fällen fertig zu werden. Heute aber ist die Wahrscheinlichkeit, in der Zwangspsychiatrie zu landen, größer als jemals zuvor, besonders in Bayern.

Davor darf man natürlich nicht die Augen verschließen, wenn man nicht für verrückt gehalten werden will. Da es nicht eine Spur des Beweises dafür gibt, dass die so genannten psychischen Krankheiten auf Hirnstörungen oder anderen körperlichen Ursachen beruhen, da also auch die als “psychisch krank” apostrophierten Menschen keine Roboter sind, sondern da sie sich frei entscheiden können, sich so oder so zu verhalten, gibt es auch keinen Grund anzunehmen, dass sie nichts dafür könnten, wenn sie anderen Menschen auf die Nerven gehen.

Wir leben in einer Welt, die zwischen Gleichgültigkeit und Mitleidslosigkeit schwankt, wobei diese Oszillation gelegentlich durch Ausbrüche nicht erbetener Hilfe pointiert wird. Es ist ratsam, dies zu bedenken, wenn man Menschen auf die Nerven geht. Das damit verbundene Risiko ist nicht unerheblich. Wie schnell ist man doch hinter psychiatrischen Gittern verschwunden, vor allem dann, wenn auch die Grundvoraussetzungen stimmen: Zugehörigkeit zur Unterschicht, keine schützenden sozialen Netzwerke, Neigung zu emotionalen Ausbrüchen u. ä.

Vom sichern Port einer manichäischen Weltsicht aus betrachtet, gibt es in dieser Frage natürlich nur das Licht und die Finsternis. Kein Schattenreich des Zwielichts und der Fragwürdigkeiten verbindet die böse Zwangspsychiatrie auf der einen und ihre guten unschuldigen Opfer auf der anderen Seite. Grundsätzlich habe ich Verständnis für diese Sichtweise, denn die vornehme und vordringliche Aufgabe der Politik ist bekanntlich die Unterscheidung zwischen Freund und Feind. Allerdings muss ich mitunter würgen, wenn diese Idealisierung allzu sehr überzeichnet wird.

Es sollte keine Zwangspsychiatrie geben. Sie ist fachlich nicht gerechtfertigt, weil sie ihre vorgeblichen Ziele nicht zu erreichen vermag. Allenfalls durch Glück und Zufall gelingt es ihr mitunter, Menschen vor Gewalttat oder Suizid zu bewahren. Man muss sogar befürchten, dass sie mit ihren Nervengiften und mit ihren traumatisierenden Zwangsmaßnahmen Tendenzen zur Aggressivität und Suizidalität sogar verstärkt. Dennoch gibt es die Zwangspsychiatrie und ich fürchte, daran wird sich so schnell auch nichts ändern. Allenfalls wird die unter Druck geratene Zwangspsychiatrie ihre Rechtfertigungsrhetorik, ihr Gesäusel von der “ultima ratio” verfeinern.

Über allen Menschen schwebt ein Damoklesschwert der Zwangspsychiatrisierung. Allein der Faden ist von Fall zu Fall unterschiedlich dick. Dies sollte man bedenken. Da es sich hier um eine Metapher handelt, kann man, anders als bei realen Fäden, an denen Damoklesschwerter hängen, deren Dicke zumindest teilweise selbst bestimmen. Die Zwangspsychiatrie ist kein Dämon, der sich auf dem Rücken unserer Gesellschaft festgekrallt hat und nur abgeschüttelt werden muss. Dieses Gift wirkt von innen, es ist eingesenkt in die Seele aller Menschen, sogar manche Insassen der Zwangspychiatrie glauben, sie seien die einzigen, die nicht dorthin gehörten, alle anderen seien, weil gefährlich, zu recht dort.

Wenn sich Furcht und Niedertracht vermählen, wuchert der willkürliche Zwang. Der Kapitalismus ist ein prächtiger Nährboden für all dies, weil in diesem System die Entsolidarisierung (genannt Konkurrenzkampf) als Kraftquelle für den Motor des Betriebes genutzt wird. Man darf kein Erbarmen erwarten, wenn man Leuten, vor allem solchen, die mächtiger sind als man selbst, notorisch auf die Nerven geht, auch wenn man im Recht ist oder zu sein meint.

Der Kampf gegen die Zwangspsychiatrie ist gerechtfertigt und als politischer wird er, der Natur der Dinge entsprechend, als eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse geführt. Dies ist wohl unvermeidlich und kann auch nicht schaden, solange man sich dessen bewusst bleibt, dass in Fights mit moralischen Keulen immer derjenige gewinnt, der die größte hat, dass aber über die Größe der Keulen allein das Publikum befindet. Es könnte also durchaus sein, dass wider Erwarten das Publikum die moralische Keule der Zwangspsychiatrie-Befürworter für die größere hält.

Nach Rants dieser Art komme ich häufig auf die Freiheit der Berge zu sprechen. Diese ist und bleibt natürlich heilig. Natürlich darf jeder die Sau rauslassen, solange er sich dabei an die einschlägige Gesetzgebung hält. Wer aus majestätischen Höhen mit dem Feldstecher ins Dorf hinabschaut und dort die Sau wüten sieht, mag sich daran erfreuen, während die Sonne zarte Glanzlichter ins lächelnde Gesicht tupft. Drunten im Tale aber, im Getümmel, verlieren die Leute leider schnell die Geduld mit dem Besitzer von Säuen, die einfach nur so, ohne Grund, ohne Sinn und Verstand, herausgelassen werden.

Wer beispielsweise Nacht für Nacht im Treppenhaus randaliert oder immer wieder einmal mit Selbstmord droht, zwingt die Leute, sich um ihn zu kümmern. Das haben die Leute auf Dauer aber nicht gern, weil man ja schließlich auch noch andere Dinge zu tun hat. Und also rufen die Leute früher oder später nach der Zwangspsychiatrie. Eine Fremd- und Selbstgefährdung zu konstruieren, ist selbst dann nicht schwer, wenn es keine greifbaren Anzeichen dafür gibt. Nur so ein Tipp: Es ist besser, das Messer im Brotkasten zu lassen, wenn man erregt ist.

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Selbstbeherrschung

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In seinem Buch “Choice Theory” berichtet der amerikanische Psychiater William Glasser von einem Patienten, den er in jungen Jahren kennen lernte. 1954 arbeitete Glasser im Brentwood Veterans Hospital in Los Angeles. In seiner Abteilung hatte alle Patienten die Diagnose “Schizophrenie”.

Einer der Patienten mit wahnhaftem Verhalten benahm sich besonders erschreckend. Jeden Morgen, wenn Glasser seine Runde in der Abteilung machte, stieß dieser Mann Flüche gegen Glasser aus und spuckte auf den Boden, sobald sich der Arzt näherte. Er verlangte von Glasser, dass er den imaginären Affen von seinem Rücken entferne, der ihm das Fleisch von den Knochen reiße. Der Patient benahm sich so, als säße tatsächlich ein Affe auf seinem Rücken. Er klagte den Arzt an, unfähig zu sein, da es ihm nicht gelinge, etwas gegen den Affen zu unternehmen, der ihm das Leben zur Hölle mache. Glasser war damals noch unerfahren im Umgang mit solchen Menschen; es gelang ihm nicht, diesen Patienten in irgendeine Form der Konversation zu verwickeln.

Eines Tages aber veränderte sich das Verhalten dieses Patienten schlagartig. Er fragte seinen Arzt höflich, ohne den Affen auch nur zu erwähnen, ob er ihn nach seinem Rundgang in seinem Sprechzimmer aufsuchen dürfe. Glasser war unsicher, aber ein Pfleger versprach, während der Untersuchung anwesend zu sein, und so willigte der Psychiater ein. Der Patient suchte ihn also im Sprechzimmer auf und erklärte ihm in völlig normaler Weise, dass er fürchte, krank zu sein und bat den Arzt, ihn physisch zu untersuchen.

Es stellte sich heraus, dass er unter einer seltenen Form der Lungenentzündung (lobar pneumococcal pseumonia) litt. Glasser entschied sich sofort, ihn in eine dieser Krankheit entsprechende Abteilung des Krankenhauses zu verlegen. Auf dem Weg dorthin zeigte er keinerlei Anzeichen einer “Psychose”. Er dankte Glasser dafür, dass er so nett zu ihm sei. Der Arzt in der Lungenabteilung bestätigte die Diagnose Glassers.

Während der Behandlung der Lungenentzündung besuchte ihn Glasser täglich. Der Patient produzierte in dieser Zeit keinerlei Anzeichen von Verrücktheit. Glasser hatte große Mühe, das Personal in der Lungenabteilung davon zu überzeugen, dass sein Patient schizophren sei, ja, der verrückteste Patient, den er jemals gesehen habe. So recht konnte er sie davon nicht überzeugen und er musste viele Rüffel dafür einstecken, weil er einen offensichtlich geistig gesunden Mann in einer psychiatrischen Abteilung behandele.

Nach erfolgreicher Behandlung kehrte der Affe zwar zurück, aber gegenüber Glasser blieb der Patient auch weiterhin stets freundlich. Immer wieder betonte er, wie gut er in der Lungenabteilung behandelt worden sei und trotz des teuflischen Affens klagte er ihn niemals mehr an, ein schlechter Arzt zu sein.

Damals, so schreibt Glasser, habe er noch nicht gewusst, wie man vernünftig mit solchen Leuten umgeht. Dies sollte sich ändern und Glasser entwickelte seine “Choice Theory”, die auf der Idee beruht, dass Menschen, die sich dazu entschieden haben, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen, eine solche Entscheidung auch wieder revidieren können.

Ich habe Ähnliches selbst erlebt – nicht in einer Klinik, sondern im privaten Bereich, da ich viele Jahre auf sehr vertrautem Fuß mit einem Menschen lebte, der als “paranoid schizophren” diagnostiziert worden war.

Natürlich, so könnte man einwenden, dies seien Einzelfälle, die man zudem nicht überprüfen könne. Die Forschung beweise aber, dass Schizophrene und andere Menschen mit schweren psychischen Krankheiten einem pathologischen Hirnprozess unterlägen, der sich ihrer Kontrolle entziehe.

Viele Menschen lassen sich einschüchtern, wenn der Begriff “Forschung” oder “Studien” erwähnt wird. Da ich mich aber ein wenig in der einschlägigen empirischen Literatur auskenne, kann ich ohne Einschränkungen sagen, dass ein solcher pathologischer Hirnprozess weder für die “Schizophrenie” oder für irgendeine andere so genannte psychische Krankheit identifiziert werden konnte.

Beim gegenwärtigen Stand der Forschung spricht nichts dagegen, dass es sich beim so genannten Kontrollverlust der “psychisch Kranken” um einen Mythos handeln könnte – um einen Mythos, der nicht nur von der Psychiatrie, sondern auch von manchen Betroffenen kultiviert wird, aus naheliegenden Gründen. Für den Arzt ist er eine wesentliche Rechtfertigung seiner Zuständigkeit und sogar eine Legitimation zur Zwangsbehandlung, und für den Patienten kann er als Entschuldigung für Fehlverhalten dienen, für das er sonst die Verantwortung übernehmen müsste.

Selbstverständlich zweifele ich nicht daran, dass manche “psychisch Kranke” tatsächlich daran glauben, sie hätten die Selbstbeherrschung aufgrund eines gestörten Hirnprozesses oder anderer Faktoren, die sich ihrem Einfluss entziehen, verloren.

Aber Selbstbeherrschung ist eine Frage des Charakters – und wenn auch das Temperament eines Menschen (weitgehend) angeboren sein mag, so sind die die vielschichtigen Ausformungen seines Charakters das Ergebnis einer Kultivierung. Wir selbst formen unseren Charakter von Kindesbeinen an, Tag für Tag ein Stück, wir konditionieren uns, auf die Wechselfälle des Lebens in bestimmter Weise zu reagieren. So prägen wir Gewohnheiten aus, regelhafte Verhaltensmuster, die mit der Zeit als Ausdruck unseres Charakters gelten.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen diese Charakterzüge dann wie ein Zwang zu wirken; wir sagen, dass wir nicht über unseren Schatten springen könnten. Doch das stimmt nicht. Wir können den Affen auch abschütteln, wenn es sein muss. Wir können Gewohnheiten auch überwinden. Kein Automat könnte seine Programmierung aus eigener Kraft verändern. Wir sind daher keine Automaten.

Freud wird von manchen seiner Anhänger in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin gestellt. Seine Entdeckung der unbewussten Antriebe des Seelenlebens sei vergleichbar mit der Erkenntnis, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls und der Einsicht, dass der Mensch aus dem Reich der Tiere hervorgegangen sei. Dabei handele es sich um die drei großen Kränkungen der Menschheit, die ihr narzisstisches Selbstbild in Frage stellten.

Aus meiner Sicht war Freud weniger der große Aufklärer, als ein großer “Mystifikator”. Es ist zwar richtig, dass in realen, alltäglichen Lebenssituationen sehr viele Prozesse unseres Lebens unbewusst ablaufen. Dies ist auch gar nicht anders möglich, da die Kapazität unseres Bewusstseins begrenzt ist. Nur fünf bis neun Sinneinheiten, so sagt man, passen dort zur gleichen Zeit hinein.

Es stehen aber häufig wesentlich mehr Fragen zur Entscheidung an, als unser Bewusstsein zu fassen vermag. Außerdem ist es viel zu langsam, da es ein Element nach dem anderen abarbeiten muss. Zum Glück können wir viele Routine-Aufgaben erledigen, ohne dass für ihnen allzu viel Aufmerksamkeit schenken müssten, solange alles glatt läuft, versteht sich.

Manches wird nach einer Zeit der Übung sehr Gewohnheit. Aber all diese mehr oder weniger unbewussten Prozesse sind eingebettet in eine Lebensplanung, die auf bewussten Entscheidungen beruht. Diese Entscheidungen sind vielleicht nicht immer vernünftig, sie sind oftmals noch nicht einmal widerspruchsfrei, aber es sind Entscheidungen, keine Automatismen, keine unveränderlichen Programme. Wir bedürfen auch des Psychoanalytikers nicht, um sie zu analysieren und ggf. zu revidieren.

Wir können uns selbst beherrschen, wenn wir wollen; und wenn wir keine Selbstbeherrschung üben, dann wollen wir es auch nicht. Dies ist sicher eine These, für die der endgültige Beweis fehlt; diese These steht aber im Einklang mit all dem, was wir bisher über das menschliche Gehirn und die menschliche Psyche wissen. So wie der Mann mit dem Affen üben wir ja auch immer wieder Selbstbeherrschung, wenn uns die Not dazu zwingt. Die Möglichkeit zur freien Entscheidung ist gleichsam in unser Gehirn eingebaut, wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” gezeigt hat.

Natürlich kann man lange darüber streiten, ob das menschliche Verhalten nicht doch determiniert sei und ob manche Menschen nicht doch dazu gezwungen seien, die “Symptome einer psychischen Krankheit” auszuprägen. Auch ich kann das Gegenteil nicht abschließend klären, darf aber mir Recht sehr wohl behaupten, dass die Forschung keineswegs so eindeutig für die Determination des menschlichen Verhaltens spricht, wie dies von manchen Neurowissenschaftlern und Psychiatern behauptet wird.

Die Welt ist ein großes Rätsel, doch der menschliche Geist, ach, welch ein großes Rätsel er ist! Warum sollten wir uns in einer verrätselten Welt die Fessel des Glaubens daran anlegen, wir hätten keine Kontrolle über uns selbst? Jeder kleine oder auch große Sieg über eine leidige, lästige Gewohnheit spricht doch eigentlich für das Gegenteil. Und, ehrlich, wenn wir es trotz intensiver Bemühungen nicht schaffen, beispielsweise das Rauchen aufzugeben, dann wird doch die Frage erlaubt sein, ob wir es auch wirklich schaffen wollten.

Selbstbeherrschung ist aus meiner Sicht keine Gnade, auch kein angeborenes Talent, sie ist eine Frage der Übung und des Willens. Wer “psychisch krank” ist, der will “psychisch krank” sein, wer meint, seinen Affen nicht kontrollieren zu können, der will ihn nicht kontrollieren. Man fängt sich eine “psychische Krankheit” nicht wie einen Schnupfen ein. Niemand zwingt uns mit vorgehaltener Knarre, “psychisch krank” zu werden. Die Betroffenen entscheiden sich dazu aus Gründen, die ihnen vielleicht nicht immer einsichtig sind, die ihnen aber bewusst werden könnten, dächten sie einmal ernsthaft darüber nach.

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Sprache

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Manche fragen mich, warum ich, obwohl ich es als Psychologe doch besser wissen müsste, wenn ich selbst simple Sachverhalte zu beschreiben trachte, mich stets einer gewundenen, verschachtelte Sprache befleißige, obwohl inzwischen sogar experimentell erwiesen und unbestritten sei, dass einfache, klare Hauptsätze, die allenfalls durch einen kurzen Nebensatz ergänzt würden, viel glaubwürdiger wirkten als Sätze der Art, wie ich sie in der Pflasterritzenflora bevorzugt zu präsentieren geruhte.

Die Antwort ist, und es wird Sie vielleicht überraschen, dies von mir zu hören, vielleicht aber auch nicht, denn Sie haben ja schon manch Seltsames von mir zu lesen bekommen – da ich jetzt den Faden verloren habe, erlaube ich mir, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, noch einmal anzusetzen: Meine Antwort darauf lautet, dass ich nicht das allergeringste Interesse daran habe, durch eine gefällige Verpackung meiner Gedanken glaubwürdig zu erscheinen.

Der Leser soll Mühe haben, mich zu verstehen. Er muss mich ja nicht lesen, wenn er die Anstrengung scheut. Er soll mich nicht für glaubwürdig halten. Vielmehr will ich ihn provozieren, meine Gedanken in Frage zu stellen. Meine Wahrheit soll nicht eingängig sein; sie soll dem Leser quer im Maul und schwer verdaulich im Magen liegen. Gäbe ich mir Mühe, dann könnte ich auch Texte mit Sätzen so kurz wie in den Artikeln der Bildzeitung schreiben. Ich bin aber weder Missionar, noch Politiker und ich habe auch nichts zu verkaufen. Zudem liegt mir nichts daran, die Massen zu bekehren, sondern ich suche, in einer Minderheit von Individuen, Leser, die gewundene Sätze nicht scheuen, wenn sie der Verdacht beschleicht, es könnte sich Wahrheit in ihnen verbergen.

Aus diesem Grunde verwende ich auch gerne Fachbegriffe und hier bevorzugt solche, die selbst in den einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen kaum (noch) gebraucht werden, weil sie veraltet sind oder ohnehin nie eine große Verbreitung gefunden haben. Mitunter erfinde ich solche Termini auch und wundere mich darüber, dass sie niemand in den Kommentaren zum Text in Frage stellt. Oft zitiere ich aus dem Englischen in der Hoffnung, dass meine Leser diese Sprache nicht so gut beherrschen und sich mit der Übersetzung quälen müssen.

Wenn Sie Webseiten der Psychiatrie und der Pharma-Wirtschaft besuchen, dann werden Sie oft feststellen, dass hier Marketingfirmen und Werbetexter nach allen Regeln der Kunst versuchen, Ihnen ihre Botschaften nahezubringen. Dort finden Sie Entspannung, wohlige Leichtigkeit umfängt Sie und mühelos verstehen Sie, was man Ihnen sagen möchte. Warum also sollten Sie sich mühsam den Weg zum Verständnis durch die Pflasterritzenflora bahnen, wenn Ihnen doch anderswo die Feigen in den Schoß und die gebratenen Tauben in den Mund fliegen?

Was hat Ihnen die Pflasterritzenflora denn schon zu bieten? Wenn Sie sich durch diesen Wust gewühlt haben, finden Sie, sofern Sie überhaupt etwas verstehen, Kritik, Kritik und sonst nichts als Kritik. Wo bleibt die Unterhaltung? Wo die Lebensbejahung, trotz alledem? Man muss doch auch das Positive sehen. Wer will sich denn schon den Blick durch überzogene Kritik verdüstern lassen? Wer immer nur Negatives erwartet, der wird das Schöne gar nicht mehr wahrnehmen. Weg damit. Im Netz gibt es wirklich bessere Angebote. Die den Menschen aufrichten. Die ihn nicht niedermachen wie die Pflasterritzenflora.

Denken Sie auch daran, wie viel Negatives man über den Autor lesen muss. Ist von einem solchen Menschen Erbauliches zu erwarten? Oder gar die Wahrheit? Ist die Wahrheit nicht eine Schwester des Guten und Schönen. Gutes und Schönes finden Sie in der Pflasterritzenflora mit Sicherheit nicht. Allein schon der Name! Unkraut, Unkraut, nichts als Unkraut. Vergleichen Sie damit den Zierrat und Zauber psychiatrischer Angebote im Internet. Und dann erst die Seiten der Pharmaindustrie… lächelnde Gesichter, blauer Himmel, bunte Pillen. Welche Augenweide.

Manche meinen, dass man, auch wenn man die von mir mitgeteilten Informationen nicht in Bausch und Bogen verwerfen wolle, mit solchen Gedanken und Erwägungen die eigentliche Zielgruppe, nämlich die psychisch Kranken oder von psychischer Krankheit bedrohten Menschen eindeutig überfordere und ihnen deshalb nicht helfe, sondern sie sogar womöglich gefährde. Schließlich bestünde die Aufgabe einschlägiger Angebote im Internet darin, betroffene Menschen vom Lesen der Beipackzettel ihrer Medikamente, in denen die Risiken und Nebenwirkungen benannt werden, abzuhalten und nicht etwa darin, sie dazu zu ermutigen, ihnen gar anzuraten, sich darüber hinaus mit kritischen Informationen zu versorgen.

Zum Glück muss ich mich mit all diesen Erwägungen nicht herumschlagen. Denn ich habe nichts zu verkaufen. Weder produziere ich Propaganda gegen die Psychiatrie, noch für ihre Gegner. Aber, keine Regel ohne Ausnahme: Auch ich treibe Werbung in der Pflasterritzenflora, nämlich für die Soul&BodyTools nach Dr. Pinta.

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Wer ist schuld?

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Solange Menschen sich ihrer Rolle entsprechend verhalten, machen wir uns in der Regel keine Gedanken über ihre Gründe bzw. Motive. Fallen sie jedoch aus der Rolle, dann neigen wir dazu, die Einfluss dispositioneller Faktoren (Persönlichkeitseigenschaften, individuelle Störungen, Meinungen, Absichten) zu über- und den Einfluss situativer Faktoren (äußere Zwangslagen) zu unterschätzen.

Dies gilt aber nur für Verhalten, das wir bei anderen beobachten. Bei uns selbst ist dies gerade umgekehrt. Hier tendieren wir dazu, den Umständen oder anderen die Schuld an eigenem Fehlverhalten zu geben. Dies gilt natürlich auch für das Verhalten der so genannten “psychisch Kranken”.

Wer einen Menschen beobachtet, der beispielsweise jede Nacht im Treppenhaus lautstark die Außerirdischen verflucht, die ihn angeblich mit elektromagnetischen Strahlen besenden, der hält einen solchen Menschen in aller Regel für “psychisch krank”, weil es für dieses Verhalten keinen vernünftigen oder nachvollziehbaren Grund gibt bzw. zu geben scheint.

Menschen neigen dazu, interne Gründe des Verhaltens anderer zu überschätzen, zuungunsten möglicher externer Gründe. Sie tendieren ebenso dazu, eigenes Verhalten eher durch “die Verhältnisse” zu erklären und eigene Dispositionen nicht zu berücksichtigen.

Um im Beispiel zu bleiben: Selbst wenn wir die reale Existenz von Außerirdischen in diesem Fall in Zweifel ziehen wollen, so kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht bestritten werden, dass der Begriff der “psychischen Krankheit” rein spekulativ ist. Bisher ist es der Psychiatrie trotz mehr als 150jähriger Forschung noch nicht gelungen, gestörte Hirnprozesse als Ursache von “psychischen Krankheiten” zu identifizieren.

Es ist daher keineswegs gerechtfertigt, die Erklärung des beschriebenen Verhaltens durch eine “psychische Krankheit” als gesichert und selbstverständlich zu betrachten. Es ist durchaus denkbar, dass dieser Mensch ein völlig intaktes Gehirn besitzt, das nach dem Prinzip von “garbage in – garbage out” auf problematische äußere Einflüsse mit einem schwer verständlichen (aber dennoch erklärbaren) Verhalten reagiert.

Es ist beispielsweise theoretisch möglich (wenn auch nicht sehr wahrscheinlich), dass es sich bei diesem Menschen um ein gut hypnotisierbares Individuum handelt, das den posthypnotischen Befehl erhalten hat, jede nach im Treppenhaus gegen die Außerirdischen zu wettern.

Wenn man ein solches Individuum von sein hypnotischen “Bann” befreit, so wird es keinerlei Anzeichen einer “psychischen Krankheit” mehr zu erkennen geben. Genau aber diese “Symptome” (das Randalieren im Treppenhaus) hatten uns zuvor zu der Diagnose einer “psychischen Krankheit” veranlasst.

In Wirklichkeit nämlich stand der Mensch unter dem Einfluss eines Hypnotiseurs, randalierte also  im Treppenhaus nicht aus eigenem Antrieb, sondern um einen porthypnotischen Befehl zu befolgen. Natürlich kann man einwenden, dass dazu eine innere Bereitschaft, sich hypnotisieren zu lassen und dem Hypnotiseur zu gehorchen, erforderlich sei.

Dies will ich nicht bestreiten, aber wenn ihm der Hypnotiseur befohlen hätte, sich nachts im Treppenhaus leise und unauffällig zu verhalten, dann hätte er das auch getan und wir hätten keinen Anlass gehabt, diesen Menschen als “psychisch krank” zu diagnostizieren.

Ein Mensch fühlt sich beständig traurig und leer, hat keinen Antrieb, verkriecht sich tagelang im Bett, muss immerzu an die Sinnlosigkeit seines Daseins denken und erwägt den Freitod. Hier drängt sich förmlich die Diagnose “Depression” auf. Aber auch in diesem Fall unterliegen wir mit dieser Diagnose einem fundamentalen Denkfehler.

Die Serontonin-These der Depression hat sich als Marketing-Schwindel der Pharmaindustrie herausgestellt und andere Erklärungen, die das skizzierte Phänomen eindeutig als “Symptom einer Krankheit” beschreiben könnten, sind nicht in Sicht. Es handelt sich hier um ein rätselhaftes Phänomen, bei dem ein Mensch aus der Rolle fällt, sich nicht so verhält, wie man es von ihm erwartet. Und genau dies provoziert den beschriebenen Denkfehler.

Der Verdacht eines fundamentalen Denkfehlers ist bei einer psychiatrischen Diagnose grundsätzlich gerechtfertigt, da sich solche Diagnosen nicht mit objektiven Verfahren erhärten lassen. Es gibt keine Brainscans, keine Biomarker, keine Laborbefunde gleich welcher Art, die das Vorliegen einer so genannten psychischen Krankheit beweisen könnten. Es handelt sich bei derartigen Diagnosen um Mutmaßungen, um Unterstellungen, die situative Faktoren ausblenden oder für zweitrangig erklären, ohne dass dies durch Fakten begründbar wäre.

Im Falle der psychiatrischen Diagnosen wird der fundamentale Denkfehler durch die Tatsache verstärkt, dass der Glaube an die Existenz psychischer Krankheiten eine herrschende Ideologie ist. Dies bedeutet, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt ist, ohne sich auch nur einen Deut darum zu scheren, ob sich “psychische Krankheiten” objektiv nachweisen lassen. Daher werden Versuche, nicht rollenkonformes Verhalten durch eine psychische Krankheit zu erklären, meist ohne größeres Nachdenken akzeptiert.

Ebenso spekulativ, aber nicht minder akzeptabel wäre die Hypothese, dass als psychisch krank bezeichnetes Verhalten in Wirklichkeit vollständig unter der Kontrolle situativer Einflüsse steht. So könnte beispielsweise der geschilderte “Depressive” sein charakteristisches Verhalten zeigen, weil sich dies für ihn auszahlt: Er wird krankgeschrieben, seine Frau kümmert sich aufopfernd um ihn, seine Kinder  schlagen nicht mehr so viel Lärm wie sonst und der einzige Preis, den er für all diese Vorteile zu bezahlen hat, besteht darin, sich elend zu fühlen oder dies zumindest zu bekunden. Das kann u. U. ein gutes Geschäft sein. Man braucht kein krankes Gehirn, um sich auf ein solches Geschäft einzulassen.

Vielleicht würde man sich so oder so elend fühlen, aber nur, wenn man sich als “depressiv” diagnostizieren lässt, erhält man auch den Lohn dafür. Ohne diesen Lohn, also ohne die beschriebenen Umweltfaktoren, würde sich der Mensch anders verhalten. Sein Verhalten steht nach diesem Erklärungsmodell also unter der Kontrolle situativer Faktoren und ist daher kein Ausdruck einer “psychischen Krankheit”.

In der modernen Psychologie hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die menschliches Verhalten als eine Funktion der Interaktion von personalen und situativen Faktoren betrachtet, wobei diese Faktoren von Fall zu Fall unterschiedlich zu gewichten seien. Diese Sichtweise hat die lange vorherrschende behavioristische Position verdrängt, nach der menschliches Verhalten vollständig durch Einflüsse (Verstärkungen, Strafen) aus der Umwelt determiniert wird.

Das behavoristische Modell vertrug sich nicht mit der psychiatrischen Krankheitslehre und manche meinen, dass es wohl deswegen weichen musste. Das interaktionistische Modell stellt gleichsam einen Kompromiss zwischen den Interessen der Pillen-Psychiater und der eher “kognitiv-behavioral” eingestellten psychologischen Psychotherapeuten dar. Wissenschaftlich erwiesen ist es nicht, ebenso wenig wie jedes andere.

Der Prüfstein jeder Theorie menschlichen Verhaltens ist ihre Fähigkeit, es vorherzusagen – und zwar nicht unter den eingeschränkten, experimentellen Bedingungen eines Labors, sondern im realen Leben. Wir alle bilden uns ein, gute “Psychologen” zu sein, die ihre Pappenheimer kennen und daher ziemlich genau wissen, was andere, es bekannte und manchmal auch unbekannte Leute anstellen oder unterlassen werden.

Treffen unsere Hypothesen einmal nicht zu, dann zeigen wir uns angenehm oder unangenehm überrascht und sprechen von den Ausnahmen, die bekanntlich die Regel bestätigen. Zum Glück müssen wir unsere Vorhersagefähigkeit niemals unter Beweis stellen. Denn dies könnte unsere Selbstachtung gefährden.

Unsere Vorhersagen beruhen nämlich stets auf zwei wesentlichen Voraussetzungen, nämlich erstens,

  • dass sich die relevanten Umwelteinflüsse auf das Verhalten nicht oder vorhersehbar ändern werden und
  • zweitens, dass der Mensch, auf den sich unsere Prognose bezieht, nicht spontan aus der Rolle fällt.

Ob diese Voraussetzungen gegeben sein werden oder nicht, das wissen wir nicht. Ob sich menschliches Verhalten überhaupt zuverlässig prognostizieren ließe, hätten wir volle Kenntnis aller relevanten personalen und situativen Einflussgrößen, ist überdies eine offene Frage.

Wenn Menschen nämlich einen freien Willen besitzen sollten, dann könnten sie sich auch dazu entscheiden, im Widerspruch zu ihren personalen Dispositionen (genetische Prägung, Lerngeschichte) und zu den äußeren Determinanten des Verhaltens (Verstärkungen, Strafen) zu handeln.

Wie also entgeht man fundamentalen Denkfehlern bei der Beurteilung menschlichen Verhaltens? Das ist gar nicht so einfach. Selbst ich, der ich größte Zweifel an der Existenz “psychischer Krankheiten” hege, ertappe mich, angesichts des Verhaltens mancher Leute, mitunter dabei, mir insgeheim zu sagen:

“Der tickt doch nicht richtig, der hat doch ein Rad ab, den haben die wohl in seiner Kindheit zu heiß gebadet, der ist ja irre, Mann!”

Natürlich schäme ich deswegen sofort, aber mich entschuldigt natürlich die allgemeine menschliche Tendenz, nach Erklärungen zu suchen, die fest in unserem Hirn verdrahtet zu sein scheint, ebenso wie die Neigung, uns vorschnell mit plausibel scheinenden Erklärungsversuchen zufrieden zu geben. Wir fühlen uns mit solchen Pseudo-Erklärungen sicherer, weil sie uns die Illusion vermitteln, zukünftige Ereignisse, beispielsweise menschliches Verhalten, besser prognostizieren zu können.

Gegen diese Neigungen hilft ein probates Hausmittel: das Nachdenken. Natürlich hat auch die Gedankenlosigkeit Vorzüge, wer wollte dies bestreiten, was kann es Schöneres geben, als unter blauem Himmel in der Hängematte zu liegen und die Seele baumeln zu lassen. Dennoch empfiehlt es sich hin und wieder, von der dem Menschen ureigenen Fähigkeit des Nachdenkens wohl dosierten Gebrauch zu machen, weil sich vorschnelle Pseudo-Erklärungen durchaus auch einmal als Schuss in den Ofen herausstellen können.

Fundamentale Denkfehler unterlaufen natürlich auch den so genannten psychisch Kranken. Wir haben ja bereits erfahren, dass Beobachter fremdes Verhalten eher dispositional erklären, bei eigenem aber situative Faktoren im Vordergrund sehen.

Die Vorherrschaft der Ideologie der “psychischen Krankheit” bringt es mit sich, dass mehrheitlich auch die so genannten “psychisch Kranken” davon überzeugt sind. Sie tendieren in dieser Hinsicht zu einem Selbstwiderspruch.

Einerseits glauben sie, “psychisch krank” zu sein; manche sind sogar davon überzeugt, dass ihr Hirn einen Schaden habe. Andererseits aber neigen sie dazu, für ihre Zustände andere oder ihre Lebenslage verantwortlich zu machen. Es heißt dann, sie seien von dem oder dem in den Wahnsinn getrieben worden, der Chef oder die mobbenden Kollegen seien für die Depression verantwortlich u. s. w.

Trotz ihres Glaubens an die herrschende Ideologie der “psychischen Krankheit” setzt sich dennoch bei vielen der Betroffenen die Überzeugung durch, dass nicht ihre “Psyche” oder ihr Gehirn, sondern die Verhältnisse schuld an ihrer Malaise seien. Dass sie dennoch nicht von ihrem Glauben an eine “psychische Krankheit” lassen wollen, zeigt eindrücklich, wie verrückt sie recht eigentlich tatsächlich sind.

Es mag Bedingungen geben, unter denen wir nach menschlichem Ermessen ziemlich genau sagen können, warum ein Mensch dieses oder jenes getan oder unterlassen hat. Auf die meisten Phänomene unseres komplexen Alltags trifft dies aber nicht zu. Wir können es einfach so genau nicht wissen – und dies betrifft eigenes wie fremdes Verhalten gleichermaßen.

Die Fülle der Einflüsse, die theoretisch eine Rolle gespielt haben könnten, ist einfach zu groß und uns fehlt eine umfassende Lehre vom menschlichen Verhalten, die uns erlauben würde, aus den theoretisch die praktisch relevanten Faktoren herauszufischen.

Ganz zu schweigen davon, dass wir viele dieser Faktoren auch nicht beurteilen könnten, selbst wenn wir wüssten, um welche es sich handelt, weil entweder die Wissenschaft noch nicht so weit ist (Genetik etc.) oder weil sie irgendwann einmal vor langer Zeit gewirkt haben (Kindheitserfahrungen etc.) und daher heute nicht mehr nachgeprüft werden können.

Wer ist also schuld an seltsamem Verhalten? Haben die Psychiater recht, die es als “Symptom einer psychischen Krankheit” deuten? Haben die behavioristischen Psychologen recht, die es als kontrolliert durch die Umwelt begreifen? Oder die Interaktionisten?

Es wird hart gerungen um diese Fragen, in “Fachkreisen”, unter Betroffenen, zwischen Betroffenen und Profis. Ein Hauen und Stechen. „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“, sagte Ludwig Wittgenstein.

Psychiatrische Behandlungen gleichen Regentänzen. Die Eingeborenen glauben daran, dass sie wirken. Mitunter regnet es dann ja auch. Welch beeindruckender Beweis für den Sinn des Tanzes. Und wenn es nicht regnet? Dann wird sich schon ein Schuldiger finden.

PS: Es gibt einer Reihe sozialpsychologischer Theorien und Experimente zu den beschriebenen Sachverhalten. Wer sich dafür interessiert, sollte zur schnellen Information die Wikipedia Artikel über den “Fundamental Attribution Error” und den “Actor-Observer-Bias” lesen.

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Sind “psychisch Kranke” behindert?

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Manche argumentieren mit der Behindertenrechtskonvention gegen die Zwangspsychiatrie. Kurz: Da die Behindertenkonvention Zwang untersage, dürften auch die “psychisch Kranken” aufgrund ihrer Behinderung nicht zur Behandlung gezwungen werden.

Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass es sich bei den “psychisch Kranken” um Behinderte handelt. Bekanntlich verfügt die Psychiatrie über keine objektiven Verfahren zu Diagnose von “psychischen Krankheiten”. Selbst also wenn derartige Krankheiten existieren sollten, so handelte es sich bei den entsprechend Diagnostizierten  um mutmaßlich Kranke.

Und da es sich um Menschen handelt, die verdächtigt werden, “psychisch krank” zu sein, haben wir es hier auch mit Leuten zu tun, die aufgrund eines Verdachts als behindert gelten. Das Argument mit der Behindertenrechtskonvention steht dementsprechend auf tönernen Füßen.

Dies gilt verschärft dann, wenn man die Existenz psychischer Krankheiten grundsätzlich bestreitet. Dafür gibt es gute Gründe.

Thomas Szasz beispielsweise leitet seine Ablehnung dieses Begriffs wie folgt her: Symptome von Krankheiten werden durch körperliche Prozesse verursacht. Spricht man von “Krankheit” ohne solche ursächlichen körperlichen Abläufe, dann verwendet man den Begriff metaphorisch und nicht medizinisch. Dies drückt sich beispielsweise in dem Begriff “kranker Witz” aus.

Im medizinischen Sinne wäre eine Weise des Verhaltens und Erlebens also allenfalls dann als pathologisch zu deuten, wenn ihr ein ursächlicher Prozess im Körper, also beispielsweise im Gehirn zugrunde läge. Wäre dies aber der Fall, dann handelte es sich nicht im eine psychische Krankheit im medizinischen Sinne, sondern um eine körperliche, beispielsweise um eine neurologische Erkrankung. Um eine solche diagnostizieren zu können, müsste man allerdings auch in der Lage sein, ihr Vorliegen mit objektiven Methoden festzustellen.

Wer also die Existenz “psychischer Krankheiten” bestreitet, muss gleichermaßen das Konzept einer Behinderung aufgrund einer “psychischen Erkrankung” ablehnen. Daran führt kein Weg vorbei. Auch juristische Windungen und Wendungen und Begriffsakrobatik können an diesem grundlegenden Sachverhalt nichts ändern, denn Logik ist keine Ermessensfrage.

Nun könnte man behaupten, dass Menschen zwar nicht aufgrund einer fiktiven psychischen Krankheit behindert sein könnten, wohl aber durch eine entsprechende Diagnose. Menschen mit einer “Psychisch-krank-Diagnose” dürften also nicht zwangsbehandelt werden, da für sie die Behindertenrechtskonvention gelte. Nun will ich gern einräumen, dass sich psychiatrische Diagnosen behindernd auswirken können, vor allem dann, wenn man aufgrund einer solchen, verbunden mit mutmaßlicher Gefährlichkeit bzw. Suizidalität, in einer Geschlossenen sitzt. So wird man beispielsweise durch eine Fixierung nachhaltig an der Bewegung gehindert. Und das ist schon eine “Behinderung”, durchaus.

In diesem Sinne wäre jedoch auch der Insasse eines Gefängnisses behindert. Allerdings glaube ich kaum, dass die Protagonisten des Arguments mit der Behindertenrechtskonvention diese auch auf Gefängnisinsassen angewendet wissen wollen. Man muss also die Gruppe der durch staatlichen Zwang Behinderten unterteilen in solche Menschen, bei denen dies aufgrund der Behindertenrechtskonvention nicht zulässig sei, und  in Leute, für die diese Konvention nicht gelte.

Als Kriterium bleibt hier nur die psychiatrische Diagnose, die eine Behinderung nach sich zieht, vor allem wenn sie mit einer Prognose der Gefährlichkeit bzw. Suizidalität verbunden ist. Wäre es dann aber nicht klüger, statt die Zwangsbehandlung dieser Leute verbieten zu wollen, lieber gleich das Verbot der Behinderung durch eine psychiatrische Diagnose zu fordern?

Manche wohlmeinende Kritiker der Zwangspsychiatrie sprechen von “psychischer Behinderung”. So Wolf-Dieter Narr hier:

“Psychisch Behinderte dürfen zu keinem Verhalten gezwungen werden. Ihre wie immer als Erwachsene geäußerte Selbstbestimmung bildet die Prämisse, die conditio sine qua non, aller ihrem Wohl gewidmeten Hilfs- und Heilakte.”

Narr setzt also die Existenz eines Personenkreises voraus, dem aufgrund einer “psychischen Behinderung” Hilfs- und Heilakte zu widmen seien, sofern dies gewünscht werde. Heilakte sind in Deutschland aber nur Menschen gestattet, die, aufgrund einer Approbation als Arzt, Zahnarzt, psychologischer Psychotherapeut oder einer Zulassung als Heilpraktiker, dazu berechtigt sind. Es zeigt sich also, wie schnell man mit dem Begriff der “psychischen Behinderung” im Fahrwasser des medizinisch-psychiatrischen Systems landet.

Wenn der Staat geruht, bestimmte Menschen als “psychisch krank” einzustufen, dann darf man natürlich von ihm erwarten, dass er sich beim Umgang mit den so Diagnostizierten zumindest an seine eigenen Gesetze hält. Daher ist der Verweis auf die Behindertenrechtskonvention sicher nicht völlig abwegig. Er ist aber ein zweischneidiges Schwert. Er unterliegt der Gefahr einer klammheimlichen, unreflektierten Anerkennung der psychiatrischen Diagnostik unter anderem Namen.

Selbstverständlich bedürfen viele Leute, die von der Psychiatrie als “psychisch krank” diagnostiziert wurden, vielfältiger und teilweise aufwändiger Hilfe.  Diese Hilfsbedürftigkeit ist Ausdruck von Lebensproblemen, die analysiert und interpretiert werden können, ohne dass man deswegen medizinisch-psychiatrische Begriffe und Modelle zu Hilfe nehmen müsste. Man kann in der Alltagssprache beschreiben, was zur Hilfe Anlass gibt, wie sie auszusehen hat und welche Ziele damit angestrebt werden. Auch der Begriff einer “Behinderung” ist hier nicht sinnvoll, denn eine Barriere, die sich uns in den Weg stellt, macht uns noch lange nicht zum Behinderten.

Natürlich kann ich es gut verstehen, wenn psychiatriekritische Juristen dem Charme der Behindertenrechtskonvention erliegen. Da hat man immerhin einen rechtsverbindlichen Text, den es zugunsten von Mandanten auszuschlachten gilt. Der Anwalt darf schließlich alles ins Feld führen, was für seinen Schützling spricht oder zu sprechen scheint. Da ich kein Jurist bin, kann ich auch nicht beurteilen, ob sich die Behindertenrechtskonvention in der Rechtspraxis für die so genannten psychisch Kranken tatsächlich als hilfreich erweist.

Meine Spezialisierung ist die empirische Psychologie und aus dieser Sicht handelt es sich bei den Begriffen “psychische Krankheit” und “psychische Behinderung” um außerwissenschaftliche, ideologische Konstrukte. Es sind, um einen Begriff von Thomas Szasz zu gebrauchen, “strategische Etiketten”. Sie hören nicht auf, “strategische Etiketten” zu sein, wenn sie von wohlmeinenden Juristen im Sinne ihrer Mandanten gebraucht werden. Da geht es ja nur darum, die Strategie zu verändern, die sich mit diesen Etiketten verbindet. Kurz: Die Strategie soll nicht mehr Zwangsbehandlung, sondern Selbstbestimmung bei Hilfs- und Heilakten lauten. Wie in anderen Bereichen der Medizin auch, soll der Patient über seine Behandlung selbst entscheiden können, aber Patient und im medizinischen System soll er bleiben.

Menschen werden aufgrund von willkürlich herausgegriffenen Merkmalskombinationen selektiert. Die entsprechenden Merkmale können teilweise beobachtet werden, müssen größtenteils jedoch aus den Äußerungen der Betroffenen oder Dritter erschlossen werden. Sie sind zudem meist sehr vage bestimmt. Dies ist psychiatrische Diagnostik.

Die Beliebigkeit eines solchen Vorgehens zur Unterteilung unseres Volkes in psychisch Kranke bzw. Gesunde springt ins Auge. Sie gibt den Ärzten aber eine enorme Definitionsmacht, de facto sogar die Macht, einen Menschen weitgehend aus unserer Rechtsordnung herauszukatapultieren und ihn der Willkür in den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten oder im Maßregelvollzug auszuliefern.

Alle Versuche, den Spielraum ärztlicher Definitionsmacht in diesem Bereich durch Verweise auf die Behindertenrechtskonvention einzuschränken, sind bisher letztlich gescheitert. Wenn ich mich nicht sehr täusche, so besteht die einzige greifbare, dauerhafte Wirkung auf die Psychiatrie darin, dass diese ihre Rechtfertigungsrhetorik verfeinerte und nunmehr nicht müde wird, ihre Zwangsmaßnahmen als “ultima ratio” zu verklären.

Wann eine Maßnahme als “ultima ratio” ergriffen werden muss, bestimmt natürlich nach wie vor das psychiatrisch-juristische System allein. Korrekturen durch das System der empirischen Forschung sind nicht möglich, weil die Begriffe der psychiatrischen Diagnostik und Prognostik nicht valide sind (ja, oft noch nicht einmal eine validierbare Form besitzen)  und ihre mutmaßlichen Gegenstände sich daher der seriösen wissenschaftlichen Forschung entziehen.

Sind Einhörner behindert, weil ihnen das bei Hornträgern sonst übliche zweite Horn fehlt? Vielleicht. Man kann sich entsprechende Geschichten ausdenken. Ich habe solche Geschichten satt.

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Gibt es zufriedene Psychiatrie-Patienten?

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Schenkt man den Ergebnissen der berühmten Consumer-Reports-Befragung (1) Glauben, so ist die überwältigende Mehrheit der Psychiatrie-Patienten, die sich einer Psychotherapie unterzogen haben, mit den Ergebnissen zufrieden – und dies unabhängig von der Art des psychotherapeutischen Angebots.

Diese Studie wurde aus methodischen Gründen häufig kritisiert: Sie sei nicht repräsentativ und nur retrospektiv (rückblickend). Diese Einwände sind natürlich nicht aus der Luft gegriffen, dennoch kann ich keinen vernünftigen Grund erkennen, an der generellen Tendenz zu zweifeln.

Die Zufriedenheit mit medikamentöser Behandlung ist nicht so einfach zu beurteilen, da einige dieser Psychopharmaka äußerst unangenehme Wirkungen haben können. Dies gilt insbesondere für die so genannten Antipsychotika (Neuroleptika). Doch selbst bei diesen Substanzen scheint weitgehende Zufriedenheit zu herrschen, wie sich beispielsweise in einer Studie von Gray und Mitarbeitern zeigt (2).

Auch diese und vergleichbare Studien kann man aus methodischen Gründen kritisch betrachten; aber angesichts der großen Zahl freiwilliger Konsumenten von Psychopharmaka aller Arten, die zudem beständig steigt, will ich auch in diesem Bereich an der überwiegenden Zufriedenheit der Psychiatrie-Patienten nicht zweifeln.

Unter den Gründen meiner Psychiatriekritik spielen die unzufriedenen Patienten auch keine herausgehobene Rolle. Diese gibt es zwar auch, natürlich, in den letzten Jahren hatte ich mit Hunderten Kontakt, die sich bitter über die Psychiatrie, über Psychopharmaka, über verständnislose Psychiater, kalte Schwestern und brutale Pfleger beschwerten.

Allerdings bin ich nicht vermessen genug, diese subjektiven Erfahrungen für repräsentativ zu halten. Sie sind naturgemäß selektiv, denn ich bin als Psychiatriekritiker bekannt. Also wenden sich überwiegend Menschen an mich, die sich geschädigt fühlen, wohingegen die dankbaren Patienten mir die kalte Schulter zeigen.

Wenn ich ehrlich sein soll, so erschrecken mich die Berichte der unzufriedenen weitaus weniger als die große, die überwältigende Zahl der zufriedenen Patienten. Wissen wir doch, dass die Effizienz von Psychotherapien vor allem auf dem gemeinsamen Glauben von Therapeuten und Patienten an den Erfolg der Maßnahme beruht und dass die Wirkung der Psychopharmaka entweder überwiegend ein Placeboeffekt ist oder darin besteht, eine mutmaßliche psychische Krankheit durch eine handfeste, reale neurologische Störung zu ersetzen.

Wie kann man damit zufrieden sein? Die Psychiatrie-Patienten bekunden zwar mehrheitlich, dass sie sich, dank der Pillen und der Psychotherapie, besser fühlten, aber an objektiven Maßstäben gemessen lässt sich diese Selbsteinschätzung empirisch nicht erhärten.

Patienten, die dauerhaft mit Neuroleptika therapiert wurden, geht es laut einer neueren Studie mehrheitlich, anhand nachprüfbarer Kriterien beurteilt, sogar schlechter als vergleichbaren Personen, die nicht und nur vorübergehend mit diesen Substanzen behandelt wurden (3).

Es stellt sich also die Frage, wie man die offensichtliche Diskrepanz – zwischen der Zufriedenheit der Psychiatrie-Patienten einerseits und den mageren Befunden der empirischen Forschung zur Effizienz psychiatrischer Leistungen andererseits – beurteilen will.

Nehmen wir einmal an, ein Patient glaube, dank einer Behandlung weniger an seinen “Symptomen” zu leiden als vor Therapiebeginn und zeige sich deswegen zufrieden. Welche Bedeutung hätte diese Zufriedenheit, wenn er nach wie vor arbeitslos, ohne Beziehung, vereinsamt in seiner Absteige sitzen und den ganzen Tag Fernsehen schauen würde? Welche Bedeutung hat die allumfassende Zufriedenheit der Patienten angesichts der Tatsache, dass trotz psychiatrischer Behandlungen mit Psychopharmaka und Psychotherapien die Zahl der angeblich psychisch Kranken beständig steigt?

Es stellt sich also die Frage nach der Validität des Konstrukts der “Zufriedenheit”. Welche Aspekte der Lebensrealität bildet die bekundete Zufriedenheit eigentlich ab? Gibt es objektiv messbare Unterschiede im Leben der eher Unzufrieden, verglichen mit den eher Zufriedenen, die auf die Behandlung zurückgeführt werden könnten. Untersuchungen, die sich mit derartigen Fragen beschäftigen, habe ich bisher vergeblich gesucht.

Die Abschwächung einer “Symptomatik” und die empfundene Verminderung des Leidens sind sicher Werte an sich. Doch genügt das?

Nehmen wir beispielsweise einen Alkoholiker, der nach “erfolgreicher” Therapie abstinent lebt. Er sagt, er sei zufrieden mit seiner Therapie und er leide nicht mehr unter dem Zwang, gleich morgens nach dem Aufstehen schon die Flasche an den Hals zu setzen. Dieser Mensch ist jedoch völlig vereinsamt, weil er seine alten Saufkumpane meiden muss und sich in eine “Trockenleiche” verwandelt hat, der es kaum gelingen will, neue Freunde zu gewinnen. Aber er ist mit seiner Therapie zufrieden; sie ist sogar zu einer Art Religion geworden, mit dem Therapeuten als verehrtem Oberpriester im Mittelpunkt.

Zufriedenheit mit einer misslichen Lage kann durchaus ein Anzeichen stoischer Weisheit sein, sofern sich die Situation nicht ändern lässt, wenn aber eine Chance dazu besteht, dann wäre eine konstruktive Unzufriedenheit vermutlich die angemessenere Gemütsverfassung. Selbst wenn wir einmal voraussetzen wollen, dass psychiatrische Maßnahmen den Behandelten etwas bringen, so wird doch niemand ernsthaft behaupten wollen, sie seien perfekt, und so wäre dann doch wohl eine konstruktive Unzufriedenheit mit ihnen eher ein Qualitätsmerkmal als Zufriedenheit.

Manche meinen, Zufriedenheitsbefragungen würden durch die Tendenz zu sozial erwünschten Antworten verfälscht. Damit wäre eine Diskrepanz zwischen bekundeter und tatsächlicher Zufriedenheit verbunden. Die Leute würden sich also zufriedener geben, als sie in Wirklichkeit sind. Die Ergebnisse zu diesem Thema, auch was die Zufriedenheit mit psychiatrischen Leistungen betrifft, sind uneinheitlich. Eine durch die Tendenz zur sozialen Erwünschtheit hervorgerufene Zufriedenheitsbekundung würde mich jedenfalls weniger beunruhigen als eine dadurch nicht verfälschte.

Am 21. Oktober 1949 schrieb Aldous Huxley (Brave New World) an George Orwell (1984) a. u.:

“Within the next generation I believe that the world’s rulers will discover that infant conditioning and narco-hypnosis are more efficient, as instruments of government, than clubs and prisons, and that the lust for power can be just as completely satisfied by suggesting people into loving their servitude as by flogging and kicking them into obedience.”

Huxley mag sich hinsichtlich der Methoden (Konditionierung von Kleinkindern und Narko-Hypnose) zwar geirrt haben, aber dass die Mächtigen den Ohnmächtigen mit immer perfekteren Mitteln zu suggerieren versuchen, ihre Sklaverei zu lieben, daran kann aus meiner Sicht kaum ein Zweifel bestehen.

Und mich beschleicht der Verdacht, dass die Psychiatrie zu jenen Kräften zählen könnte, denen die Verwirklichung dieses Versuchs obliegt. Dafür spricht die Tatsache, dass die Psychiatrie ihre vorgeblichen Ziele, “psychische Krankheiten” zu diagnostizieren und zu heilen oder zu lindern, zwar nicht zu erreichen vermag, sehr wohl aber in großem Maßstab zufriedene Patienten hervorbringt.

Anmerkungen

(1) Consumer Reports. (1995, November). Mental health: Does therapy help? pp. 734-739

(2) Gray, R . et al. (2005). A survey of patient satisfaction with and subjective experiences of treatment with antipsychotic medication. Journal of Advanced Nursing 52(1), 31–37

(3) Wunderink L. et al. (2013). Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry. 2013 Sep;70(9):913-20

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Vernunft

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Harrow, Jobe und Faull untersuchten “Schizophrene” über einen Zeitraum von 20 Jahren. Die Einstufungen erfolgten zu sechs Untersuchungszeitpunkten. 70 Prozent der Untersuchten beschrieben “psychotische” Aktivitäten zu vier oder mehr der sechs Untersuchungszeitpunkte. Versuchsteilnehmer, die keine Neuroleptika erhielten, zeigten statistisch signifikant weniger psychotische Aktivität als Versuchsteilnehmer, denen Neuroleptika verschrieben wurden.

Die Schlussfolgerung der Autoren lautet:

The 20-year data indicate that, longitudinally, after the first few years, antipsychotic medications do not eliminate or reduce the frequency of psychosis in schizophrenia, or reduce the severity of post-acute psychosis, although it is difficult to reach unambiguous conclusions about the efficacy of treatment in purely naturalistic or observational research (1).

Es ist zwar richtig, dass naturalistische Studien keine zwingenden Schlüsse dieser Art zulassen; allerdings gelangt eine nicht-naturalistische, sondern randomisierte Studie von Wunderink und Mitarbeitern zu vergleichbaren Ergebnissen (2). Daher drängen sich berechtigte Zweifel daran auf, auf eine Langzeitbehandlung von “Schizophrenen” mit Neuroleptika tatsächlich sinnvoll oder gar unausweichlich ist.

Diesen Gesichtspunkt möchte ich allerdings hier nicht weiter vertiefen; er dient mir nur als Einstieg ins eigentliche Thema meines heutigen Beitrags. Er wird sich mit meinem Motiv beschäftigen, die Pflasterritzenflora ins Internet zu stellen. Schon oft habe ich betont, dass ich kein Missionar und auch kein Politiker sei. Es ginge mir weder darum, Menschen zum “wahren”, antipsychiatrischen Glauben zu bekehren, noch darum, politisch für eine Bewegung zur Abschaffung der Zwangspsychiatrie Partei zu ergreifen. Vielmehr sei mein Blog als Auseinandersetzung mit der empirischen Literatur zu psychiatrischer Problematik und als Versuch einer vorsichtigen philosophischen Interpretation der Befunde zu begreifen. Außerdem mache es mir Spaß, die Kräfte der Repression zu ärgern.

Doch bei einer genaueren Reflexion meiner Motivlage und von einer Aufwallung der Ehrlichkeit ergriffen, fühle ich mich gedrängt zu bekennen, dass auch mir missionarischer Eifer nicht ganz fremd ist. Mein Anliegen, den Leser, sofern erforderlich, zur Vernunft zu bekehren, springt ja aus jeder Zeile direkt ins Auge. Da die Vernunft aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern ein Bekenntnis zu ihr erfordert, habe und verfolge auch ich eine Mission. Mir ist bewusst, dass nicht jeder unter “Vernunft” dasselbe versteht und dass der eine für vernünftig hält, was der andere als unvernünftig betrachtet. Und so möchte ich skizzieren, was aus meiner Sicht vernünftig ist:

  1. Es ist vernünftig, unsere spontanen, intuitiven Einschätzungen kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen – nicht immer, aber doch immer wieder.
  2. Es ist vernünftig, unsere persönlichen Erfahrungen nicht zu verallgemeinern.
  3. Es ist vernünftig, sich an methodisch sauberen empirischen Studien zu orientieren.
  4. Es ist vernünftig, sich bei der Interpretation von Studien möglicher Bedrohungen der experimentellen Validität bewusst zu sein und diese bei seinen Schlussfolgerungen einschränkend zu berücksichtigen.
  5. Es ist vernünftig, Tatsachen und Hypothesen auseinanderzuhalten.
  6. Es ist vernünftig, Hypothesen nicht als Tatsachen zu kaschieren, um mit ihnen Maßnahmen zu begründen.
  7. Es ist vernünftig, sich der Worst-Case-Method zu bedienen, also für den schlimmsten Fall gerüstet zu sein.

Wie alle meine Listen beansprucht auch diese keine Vollständigkeit.

Zurück zur einleitenden Studie. Es ist unvernünftig, die Zwangsbehandlung von so genannten Schizophrenen mit Neuroleptika damit zu rechtfertigen, dass diese Substanzen ein wirksames Mittel zur Unterdrückung psychotischer Zustände seien. Daran gibt es im Licht der aktuellen Forschung erhebliche Zweifel.

Den Leser möchte ich nachdrücklich zur Vernunft ermahnen. Das starke Bedürfnis, angesichts einer Bedrohung irgendetwas zu unternehmen, rechtfertigt kein Agieren: Maßnahmen mit ungewissem Ausgang zu ergreifen, ist ein Akt der Verzweiflung, wenn nicht Dummheit, und darf nicht zur Regel werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Maßnahmen aus guten Gründen in Verdacht stehen, mehr Schaden anzurichten, als Nutzen zu stiften.

Es ist vernünftig, die Worst-Case-Method anzuwenden. Nehmen wir einen Menschen, den wir verdächtigen, zu sinnloser Gewalt fähig zu sein. Wäre es bei diesem Menschen nicht vernünftig, ihn als “psychisch Kranken” zu betrachten und ihn ggf. auch gegen seinen Willen mit Neuroleptika zu behandeln. Wäre das nicht der Worst Case, auf den man sich einzustellen hätte?

Nein, definitiv nicht. Der Wort Case ist vielmehr: Wir wissen nicht, ob dieser Mensch gefährlich ist, wir wissen nicht, warum er, sofern er dies sein sollte, gefährlich ist und wir wissen auch nicht, mit welchen Methoden wir am besten die Gefahr bannen könnten. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, so ist dieser Worst Case die exakte Beschreibung der Situation, in der sich das psychiatrisch-juristische System zur Zeit befindet. Man kann natürlich den Kopf in den Sand stecken und “Business as usual” betreiben. Allein, vernünftig wäre das nicht.

Meine Mission ist keine antipsychiatrische oder auch nur psychiatriekritische, wohl aber eine für die Vernunft, so wie ich sie verstehe. Die Pflasterritzenflora hat sich die Psychiatrie als Beispiel für flagrante Unvernunft ausgewählt, aber Vergleichbares gibt es auch in anderen Bereichen. Aktionismus angesichts des Rätselhaften, institutionalisierte Panik, die mit bürokratischer Kälte exekutiert wird. Glaubenssysteme, die sich als Wissenschaft tarnen. All dies ist ein guter Nährboden für das Wuchern der Gier nach Macht und Geld. Wenn schon nichts Vernünftiges dabei herauskommt, dann wenigsten soll etwas auf dem Konto übrigbleiben.

Es ist vernünftig, sich an empirischen Studien zu orientieren. In einer komplexen Welt – und wahrlich, in einer solchen Leben wir! – reichen persönliche Erfahrungen niemals aus, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Allein, dies gilt nur, wenn es sich um saubere Studien handelt. Wie u. a. Gøtzsche (3) und Goldacre (4) gezeigt haben, wurde aber die psychopharmakologische und psychiatrische Forschung von Teilen der Pharmaindustrie massiv zu ihren Gunsten verfälscht. Wenn wir also, was vernünftig ist, die Worst-Case-Method in diesem Bereich anwenden, so müssen wir allen psychopharmakologischen und psychiatrischen Forschungen mit Misstrauen begegnen und dürfen uns allenfalls auf solche Studien verlassen, bei denen eine unabhängige Finanzierung und die Unabhängigkeit der Forscher nach menschlichem Ermessen sichergestellt ist.

Menschen neigen, beinahe automatisch und unreflektiert dazu, statt einer schwierigen lieber eine einfache Frage zu beantworten und sie bemerken diese Substitution häufig noch nicht einmal (5). Fragt man manche Leute nach einem probaten Mittel gegen die Zwangspsychiatrie, so nennen sie die Behindertenrechtskonvention. Dies ist eine einfache Antwort, nur nicht auf die gestellte Frage. Die Behindertenrechtskonvention schützt zwar Behinderte vor Zwang; aber die Psychiatrie wendet keinen Zwang gegen Behinderte an, weil die so genannten psychisch Kranken nicht wirklich krank oder medizinisch gehandicapt und daher im Sinne der Behindertenrechtskonvention auch nicht behindert sind. Unvernunft findet sich also nicht nur bei den Protagonisten der Zwangspsychiatrie, sondern auch bei ihren Gegnern (sofern sie die Existenz psychischer Krankheiten bestreiten).

Menschen sind nicht von Natur aus vernünftig, sondern denkfaul. Sie geben sich nur zu gern ihren spontanen Impressionen hin. Aber sie können vernünftig sein, vor allem, wenn sie Not und Gefahr dazu zwingen. Die Psychiatrie bringt uns alle in große Gefahr; es spielt dabei keine Rolle, ob sie dies beabsichtigt oder nicht. Denn da es keine objektiven Verfahren zur Feststellung einer “psychischen Krankheit” gibt, kann im Prinzip jeder ein solches Etikett angeheftet bekommen. Da es auch keine objektiven Methoden zur treffsicheren Prognose von Gefährlichkeit bzw. Suizidalität gibt, kann im Prinzip jeder mit der Zwangspsychiatrie Bekanntschaft machen. Unsere Gesellschaft leistet sich einen “feudalistischen” Bereich, in dem Menschen nach Gutdünken zu Leibeigenen von Ärzten werden können. Das ist nicht vernünftig.

Anmerkungen

(1) Harrow, M. et al. (2014). Does treatment of schizophrenia with antipsychotic
medications eliminate or reduce psychosis? A 20-year
multi-follow-up study. Psychological Medicine, Page 1 of 10

(2) Wunderink L. et al. (2013). Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry. 2013 Sep;70(9):913-20

(3) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare: Radcliffe

(4) Goldacre, B. (2013). Bad Pharma: How Drug Companies Mislead Doctors and Harm Patients: Harpercollins

(5) Kahneman, D. (2011) Thinking, Fast and Slow: Farrar, Straus and Giroux

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Das Rätsel aushalten

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Mitunter komme ich mit Angehörigen der so genannten psychisch Kranken ins Gespräch. Typisches Beispiel: Unlängst rief der Vater eines autistischen Sohnes an. Sein Kind habe der Mutter, als dies altersgemäß gewesen wäre,  nicht die Arme entgegengestreckt, um hochgenommen zu werden, habe sie nicht angelächelt, habe keinen Blickkontakt gesucht, sein Interesse sei schon früh auf bestimmte Gegenstände fixiert gewesen, wie beispielsweise Türklinken, seine Sprachentwicklung sei verzögert gewesen, er habe neue Begriffe geprägt, die außer ihm niemand verstand, er gerate heute noch in Panik, wenn die Gegenstände in seinem Zimmer sich nicht exakt an einer festgelegten Stelle befänden, kurz: er sei mit normalen Kindern nicht im Geringsten zu vergleichen und ich könne doch nicht allen Ernstes behaupten, dass er nicht psychisch krank sei.

Ob denn irgendetwas Auffälliges im Gehirn des Kindes festgestellt worden sei, fragte ich. Nein, das nicht, war die Antwort, aber dennoch könne daran ja wohl kein Zweifel bestehen, das sage ja auch die Wissenschaft, wie sonst wohl sollten solche merkwürdigen Verhaltensweisen zustand kommen. Das wisse niemand, trug ich vor, auch die Wissenschaft nicht. Da habe er aber anderes gehört. Der Direktor des “National Institute of Mental Health” (NIMH), der weltgrößten psychiatrischen Forschungsinstitution und ein anerkannter Autismus-Experte, versetzte ich, schrieb unlängst in seinem Blog:

“Im Jahr 2014 bleibt das Geheimnis des Autismus weitgehend ungelöst. Wir beschreiben den Autismus als eine neuronale Entwicklungsstörung, doch sogar mit dem oben erwähnten neue Bericht (über Anomalien im Gehirn von Autisten, HUG) wissen wir nicht genau, wie wir definieren sollen, was diese Hirnstörung ist und wann sie auftritt. Wir erkennen, dass immerhin 30 Prozent der Kinder mit Autismus spontane genetische Mutationen aufweisen, die es konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass die umfassenden genetischen Mutationen die Störung verursachen, da andere Kinder mit einigen dieser Veränderungen keinen Autismus haben.”

Wer denn dieser Insel schon sei, wurde ich gefragt. Einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten, sagte ich, und vermutlich auch einer der tonangebenden einschlägig forschenden Wissenschaftler auf diesem Planeten. Der Direktor des NIMH, einer US-Behörde mit einem Milliarden-Etat, könne sich wohl kaum leisten, so etwas zu behaupten, wenn es nicht der Wahrheit entspräche.

Ja, wenn der Autismus keine Hirnstörung sei, wer sei dann dafür verantwortlich?, frage der Vater. Ob ich seiner Frau oder ihm wohl unterstellen wolle, ihr Kind falsch behandelt zu haben, fragte er mit einem sehr gereizten Unterton. Diesen Verdacht müsse ich entschieden von mir weisen, nichts läge mir ferner. Auch ich wisse nicht, warum sein Sohn diese rätselhaften Phänomene zeige.

Eine Mutter rief an; ihr Sohn sei schizophren. Sie könne mich nicht ernst nehmen. Wie ich als Psychologe behaupten könne, dass die Schizophrenie keine Krankheit sei! Ich hätte wohl noch nie einen Schizophrenen von Nahem gesehen. Doch, durchaus, antwortete ich. So habe ich beispielsweise vor Jahrzehnten lange Jahre die Wohnung mit einer Frau geteilt, die als “paranoid schizophren” diagnostiziert wurde. Dann hätte ich wohl alles wieder vergessen. So etwas könne man nicht vergessen, und wenn sie glaube, dass man dies vergessen könne, dann habe sie wohl noch nie einen “richtigen Schizophrenen” von Nahem gesehen.

Wenn ich persönliche Erfahrungen hätte, dann könne sie erst recht nicht verstehen, warum ich daran zweifele, dass die Schizophrenie eine Krankheit sei. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London, antwortete ich, stellen unmissverständlich fest:

“Mehr als drei Jahrzehnte nach Johnstones erster axialer Computer-Tomographie des Gehirns von Individuen mit Schizophrenie, konnten keine konsistenten oder reliablen anatomischen oder funktionellen Veränderungen eindeutig mit irgendeiner psychischen Störung assoziiert und keine neurobiologischen Veränderungen konnten endgültig durch bildgebende Verfahren bestätigt werden (1).”

Die Wissenschaft wisse auch nicht alles, meinte die Frau, aber die praktische Erfahrung zeige doch, dass die Schizophrenie eine Krankheit sei. Nein, gab ich zu bedenken, die praktische Erfahrungen zeige nur, dass sich Menschen rätselhaft verhalten und Dinge zu erleben scheinen, der Sinn sich uns nicht so ohne Weiteres erschließt. Dass dies auf eine Krankheit zurückzuführen sei, könnten wir zwar vermuten, aber sicher sei dies keineswegs.

Und warum ihr Sohn behaupte, sie habe magische Kräfte und könne den Mülleimer in den Hof bringen und ausleeren, ohne sich aus ihrem Sessel zu erheben, fragte die Mutter. Wenn das nicht krank sei, was dann? Was sie denn unter “krank” in diesem Fall verstünde, fragte ich. Das ihr Sohn völlig unverständliche Sachen mache und Dinge behaupte, für die es keine reale Grundlage gäbe, antwortete sie. So etwas könne sie natürlich “krank” nennen, wenn sie wolle, versetzte ich, aber das sei dann auch nur so ein Wort. Sie könne das Verhalten genauso gut als rätselhaft bezeichnen; dies würde auch nicht mehr oder weniger aussagen.

Sie verlasse sich auf die Ärzte. Die hätten das Fach studiert, die hätten Erfahrung und die würden sagen, dass die Schizophrenie ihres Sohnes durch eine Hirnstörung verursacht werde. Ob sie Ärzten grundsätzlich vertraue oder nur im Falle ihres Sohnes, erlaubte ich mir nachzuhaken. Sie schwieg eine Weile und dann brach eine lange und immer lauter werdende Anklage gegen Ärzte aus ihr hervor, die Rede war von einer unsinnigen Hüft-Operation, von Schmerzen, Schmerzen und noch einmal Schmerzen, von Geldgier, Unfähigkeit und schierer Verzweiflung war die Rede.

Ob ihr Sohn mit seinen Ärzten ebenso unzufrieden sei wie sie mit dem Chirurgen, der ihr ein künstliches Hüftgelenk einbaute. Er sei schon zufrieden, sagte sie, nur wolle er seine Medikamente nicht nehmen, aber dies sei eben durch die Krankheit verursacht, dass man sich nicht helfen lassen wolle. Ich schütze einen Termin vor und beendete das Gespräch mit einigen unverbindlichen Floskeln.

Auch wenn es schwerfällt, so führt wohl doch kein Weg daran vorbei zu lernen, das Rätsel auszuhalten, wenn niemand definitiv weiß, warum sich manche Leute seltsam verhalten und Dinge bekunden, die uns erschrecken oder sinnlos erscheinen. Von Nasreddin, der legendären Gestalt humoristischer Geschichten aus dem islamischen Raum (2), wird berichtet, er habe einmal seinen verlorenen Schlüssel unter einer Straßenlaterne gesucht und als man ihn fragte, ob er sicher sei, ihn dort verloren zu haben, geantwortet: “Nein, vermutlich war es dort an der Hausecke, aber hier ist es heller.”

Wir suchen die Antwort auf das Rätsel menschlicher Abwege in den hellen Fluchten psychiatrischer Wissenschaft und wundern uns, wenn es dort nichts zu entdecken gibt. Seit mehr als 150 Jahren bemüht sich die moderne Psychiatrie vergeblich, die biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten zu identifizieren. Trotz aller Misserfolge setzt sie ihre Suche unverdrossen fort, denn solange man noch sucht, muss man sich das Scheitern nicht eingestehen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht Nasreddin immer noch unter der Straßenlaterne nach seinem Schlüssel.

Anmerkungen

(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(2) Shah, I. (1988). Denker des Ostens. Reinbek: Rowohlt

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Neuroleptika

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Dass Neuroleptika schwerwiegende Nebenwirkungen haben, ist seit langem bekannt und wird von Psychiatern auch nicht bestritten. Das Argument, sie dennoch einzusetzen, besteht üblicherweise darin, ihre Effektivität zur Verminderung “psychotischer” Phänomene zu betonen.

Inzwischen wissen wir aber, dass “Schizophrene”, die mit Neuroleptika behandelt werden, langfristig mit größerer Wahrscheinlichkeit in psychotische Zustände geraten, als solche, die keine derartigen “Medikamente” erhalten.

Angesichts dieses Forschungsstandes ist es also nicht gerechtfertigt, Menschen zur Einnahme dieser Substanzen zu zwingen.  Eine Zusammenfassung der relevanten empirischen Studien durch den amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Robert Whitaker im Blog “Mad in America” (1) lässt keinen Zweifel daran, dass es sich hier nicht um eine von vielen möglichen Sichtweisen handelt. Die Sprache der Daten ist eindeutig.

Wer Neuroleptika aus freien Stücken nehmen möchte, hat natürlich das Recht dazu, aber die gewaltsame Verabreichung dieser “Medikamente” kann nicht rechtmäßig sein, auch wenn ihr ein richterlicher Beschluss zugrunde liegt. Die erwiesenermaßen hohe Wahrscheinlichkeit erheblicher Schadwirkungen und der höchst zweifelhafte Nutzen entziehen dieser Maßnahme unterm Strich jeden Anschein der Legitimität.

Es spielt dabei keine Rolle, ob man “psychotische” Phänomene für Symptome einer Krankheit hält oder nicht: Es ist nicht redlich, Menschen “Medikamente” mit einer derart miserablen Bilanz von Vor- und Nachteilen gegen ihren Willen zu verabreichen, selbst wenn man sie für geistesgestörte Kranke hält.

In seinem Buch “Deadly Medicines and Organised Crime” schreibt der Mediziner und Leiter des Nordic Cochrane Center, Peter Gøtzsche über Neuroleptika:

“Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2009, die 150 Studien und 21533 Patienten einbezog, zeigt, dass Psychiater über 20 Jahre hinters Licht geführt wurden. Die Pharmaindustrie erfand eingängige, aber vollständig irreführende Begriffe wie “atypische Neuroleptika”, doch an diesen Medikamenten ist nichts Besonderes, und sie sind sehr heterogen, es ist falsch, sie in zwei Klassen zu unterteilen.”

Dies erwähne ich in Erwartung des Arguments, dass die neuen, die guten, die modernen Neuroleptika ja eine positivere Leistungsbilanz hätten als die alten und dass sich die von Whitaker zitierten Studien vermutlich auf die alten bezögen, daher also die heutige Situation nicht angemessen widerspiegeln würden.

Es ist jedoch völlig unerheblich, welche Art von Neuroleptika eingesetzt werden – ob alt, ob neu: Sie sind gleich gut bzw. gleich schlecht.

Wie beispielsweise Peter Gøtzsche und Ben Goldacre (Bad Pharma) zeigen, haben Teile der Pharmaindustrie die Forschung massiv zu ihren Gunsten verfälscht und die Verschreibungspraxis (nicht nur) in der Psychiatrie mit teilweise unlauteren, sogar gesetzwidrigen Mitteln beeinflusst.

Neuroleptika sind nicht etwa, wie manche meinen, keine besonders guten Medikamente gegen “Psychosen”, aber die besten, die wir hätten. Sie sind in Wirklichkeit gar keine Medikamente, weder gegen Psychosen, noch gegen sonst irgendetwas. Sie rufen “bestenfalls” abnorme Hirnzustände hervor, die “psychotische” Phänomene vorübergehend verdrängen, wobei sie gleichzeitig in Verdacht stehen, diese bei Entzug bzw. langfristig auszulösen oder zu verstärken. Diese Substanzen sind schwere Nervengifte.

In einem Eintrag in sein “Director’s Blog” aus dem Jahre 2010 beklagt der Leiter des “National Institute of Mental Health”, Thomas Insel den Rückzug der Pharmaindustrie aus der psychopharmakologischen Forschung. Angesichts der Art des gut dokumentierten Einflusses, den die Pharmaindustrie auf diesen Sektor ausübte, bin ich mir keineswegs sicher, dass es sich hier um einen beklagenswerten Vorgang handelt.

Jedenfalls mehren sich in den letzten Jahren die kritischen Stimmen zum Einsatz von Neuroleptika im Besonderen und von Psychopharmaka im Allgemeinen aus den Reihen der einschlägig forschenden Wissenschaft. Wäre ich Verschwörungstheoretiker, so würde ich hier Zusammenhänge behaupten; doch da ich kein Verschwörungstheoretiker bin, mache ich mir nur im Stillen meine Gedanken.

Psychiater erwarten von ihren Patienten “Krankheitseinsicht”. Allerdings verfügen sie über keine objektiven Verfahren, mit denen sie ihre Diagnosen erhärten könnten. Insbesondere bei Menschen mit “Psychosen” betrachten sie es als ein Symptom mangelnder “Krankheitseinsicht”, wenn sich diese Menschen weigern, ihre Medikamente zu nehmen. Offensichtlich aber sind Neuroleptika keine Heilmittel, und auch die “psychotischen” Symptome vermögen sie allenfalls vorübergehend zu verdrängen. Warum also sollten “Psychotiker” krankheitseinsichtig sein und ihre Medikamente nehmen?

Und was ist mit den “Krankheitseinsichtigen”, die brav ihre Pillen schlucken? Der kritische amerikanische Psychiater Peter Breggin hält es für möglich, dass diese “Medikamente” eine Anosognosie auslösen, also eine durch die Vergiftung hervorgerufene Tendenz zur Verleugnung der Schadwirkungen psychiatrischer Substanzen (2). Der entsprechende Effekt sei mit dem des Alkohols vergleichbar; Alkoholiker neigten auch dazu, die Beeinträchtigungen durch diese Droge zu verleugnen oder zu unterschätzen.

Wer dies für übertrieben hält, sollte bedenken, dass Neuroleptika und andere psychiatrische Substanzen schwere neurologische Störungen verursachen können. In ihrem Buch “The Myth of The Chemical Cure” wirft die britische Psychiaterin Joanna Moncrieff ihren Kollegen daher vor, eine Epidemie iatrogener, also ärztlich erzeugter Hirnschäden zu riskieren.

Es gebe keinen Beweis dafür, dass diese “Medikamente” tatsächlich auf die “psychotischen Symptome” (Paranoia, Halluzinationen etc.) einwirkten. Es sei nichts Antipsychotisches an den “Antipsychotika”.

Unter diesen Bedingungen hat man schon Mühe, die “Krankheitseinsicht” mancher Konsumenten dieser Drogen anders zu erklären als durch Breggins These.

Wenn Neuroleptika überhaupt wirken, so machen sie ihre Konsumenten indifferent gegenüber ihren realen Problemen, apathisch und rufen in extremeren Fällen einen offensichtlichen Zombie-Effekt hervor. Dies gilt für alle Arten von Neuroleptika, für die klassischen, wie auch für die so genannten atypischen.

Es mag zwar sein, dass Neuroleptika Aggressivität und Suizidalität reduzieren, wenn sie im beschriebenen Sinne wirken, nämlich apathisch machen; aber es ist keineswegs sicher, dass der gewünschte Effekt tatsächlich eintritt und von Dauer ist.

Aggressivität und Suizidalität sind aber die Gründe, die eine Zwangsbehandlung angeblich psychisch Kranker mit Neuroleptika legitimieren sollen. Wenn man Neuroleptika als chemische Zwangsjacke, unabhängig von ihrer zweifelhaften antipsychotischen Potenz, zur Verhinderung von Selbst- bzw. Fremdschädigung empfiehlt, so müsste man den Nachweis führen, dass sie zu diesem Zweck überhaupt tauglich und angesichts ihrer Schadwirkungen verhältnismäßig sind. Mir sind keine Langzeitstudien bekannt, die dieser Frage nachgehen, und die Kurzzeitstudien sind uneinheitlich. In einer neueren Studie (3) heißt es:

“More broadly, the multiple predictors of violence in people with schizophrenia are not well understood, and it is unknown whether antipsychotic medication can reduce violent behaviour in general, or only when such behaviour is associated directly with psychosis.”

Wir wissen aber, dass gewalttätiges Verhalten bei Psychotikern häufig nicht direkt mit der “Psychose”, sondern vielmehr mit dem Missbrauch von Drogen und Alkohol zusammenhängt. Und selbst in jenen Fällen, bei denen die Neigung zu Gewalttaten direkt mit dem “psychotischen” Erleben assoziiert ist, wäre die Gewalt vermindernde Wirkung der Neuroleptika ebenso zweifelhaft wie deren antipsychotische Wirkung, zumindest langfristig.

In einem Artikel, der in der Psychiatric Times erschien, heißt es:

“Yet, both typical and atypical antipsychotics (the latter of which have been considered to have a better profile for reducing the risk of suicide than the former) have not been shown to have a net positive effect on suicidality (4).”

Selbst bei Clozapin, der Substanz mit der angeblich besten suizidpräventiven Wirkung, sei ein abschließendes Urteil aufgrund methodischer Schwächen der einschlägigen Studien nicht möglich.

Zusammengefasst: Im Licht der empirischen Forschung können weder die antipsychotische, noch die antiaggressive bzw. antisuizidale Wirkung der Neuroleptika als gesichert betrachtet werden. Sicher aber sind die gesundheitlichen Schäden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch diese Substanzen hervorgerufen werden. Die bisherigen Langzeitstudien sprechen dafür, dass die durch Neuroleptika verursachten Schäden ihre Vorteile bei weitem überwiegen.

Yet, both typical and atypical antipsychotics (the latter of which have been considered to have a better profile for reducing the risk of suicide than the former) have not been shown to have a net positive effect on suicidality.5,6 – See more at: http://www.psychiatrictimes.com/articles/can-atypical-antipsychotics-reduce-suicide-risk-patients-schizophrenia#sthash.hU7MsbZx.dpuf
Yet, both typical and atypical antipsychotics (the latter of which have been considered to have a better profile for reducing the risk of suicide than the former) have not been shown to have a net positive effect on suicidality.5,6 – See more at: http://www.psychiatrictimes.com/articles/can-atypical-antipsychotics-reduce-suicide-risk-patients-schizophrenia#sthash.hU7MsbZx.dpuf

Anmerkungen

(1) Whitaker, R. (2014). The Fat Lady Has Sung. Mad in America, 30. 04.

(2) Breggin, P. R. (2006). Intoxication Anosognosia: The Spellbinding Effect of Psychiatric Drugs, Ethical Human Psychology and Psychiatry, 8, 201-15

(3) Swanson, J. W. et al. (2008). Comparison of antipsychotic medication effects on reducing violence in people with schizophrenia. The British Journal of Psychiatry, 193, 37–43

(4) Aguilar, E. J. (2008). Can Atypical Antipsychotics Reduce Suicide Risk in Patients With Schizophrenia? Psychiatric Times, April 15

Can Atypical Antipsychotics Reduce Suicide Risk in Patients With Schizophrenia? – See more at: http://www.psychiatrictimes.com/articles/can-atypical-antipsychotics-reduce-suicide-risk-patients-schizophrenia#sthash.hU7MsbZx.dpuf

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Die Besten

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Personalauswahl ist ein schwieriges Geschäft. Offiziell geht es darum, die Besten für eine Position herauszufinden. Wer wird sich im Job bewähren, wer wird scheitern? Wenn einer seiner Aufgabe nicht gewachsen ist und deswegen ausgewechselt werden muss, so entstehen erhebliche Kosten. Und nur mit sehr guten Mitarbeitern kann ein Unternehmen dauerhaft Spitzenleistungen erbringen.

Nach wie vor erfreut sich das unstrukturierte Bewerbungsgespräch der allergrößten Beliebtheit weltweit.

“Aus diesem Grunde”, schreibt Ansfried B.Weinert in  seiner “Organisationspsychologie”, “ist das Auswahlgespräch auch vielfach auf seine Aussagekraft, Validität und Reliabilität hin untersucht worden. Übereinstimmende Befunde dieser Studien sprechen nicht dafür, dass man dieser Methode den Wert beimessen sollte, den sie häufig besitzt (1).”

Die Vorhersagekraft eines Bewerbungsgesprächs für die zukünftige Bewährung im Job ist selbst unter günstigsten Bedingungen überaus schwach. Folgendes Beispiel soll zeigen, was dies in der Praxis bedeutet: Nehmen wir den optimistischen Koeffizienten der prognostischen Validität aus einer Meta-Studie von Schmidt und Hunter (2). Er beträgt für dieses Selektionsinstrument r=.38.

Zieht man die Tafeln von Taylor & Russell zum Zusammenhang zwischen Validität und Trefferquote zu Rate, so bedeutet dies zum Beispiel: Wenn sich ein Betrieb 100 Bewerber anschaut, um 10 Leute einzustellen, und wenn nach Erfahrungswerten 20 von 100 prinzipiell geeignet wären, dann würden bei diesem Validitätskoeffizienten (r=.38) vier zu Recht und sechs zu Unrecht ausgewählt, wohingegen 74 zu Recht und 16 zu Unrecht nicht ausgewählt würden. Die Trefferquote beträgt bei dieser Konstellation 42,6 Prozent.

Das gewöhnliche unstrukturierte Vorstellungsgespräch, auf dem heute die allermeisten Einstellungsentscheidungen beruhen, ist im Vergleich zu allen anderen Methoden (Tests, Fragebögen, Assessment Center) eindeutig die ineffizienteste Methode. Mit ihm kann es unter halbwegs realistischen Bedingungen nicht gelingen, die Besten herauszupicken. Es liefert nur dann zufriedenstellende Ergebnisse, wenn die meisten Bewerber für die jeweilige Stelle geeignet wären, so dass man selbst mit einem Losverfahren nicht allzu viel falsch machen könnte.

Diese Aussage gilt natürlich nur für den Fall, dass man jene Mitarbeiter mit den schönsten Aussichten auf Bewährung im Job auch für die besten hält. Legt man andere Kriterien zugrunde, dann sind u. U. andere die Besten. Zyniker meinen, dass die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft bei der Personalauswahl eine eher untergeordnete Rolle spielten. Doch wenn es darauf nicht ankommt, welche Kriterien sind dann ausschlaggebend.

Nehmen wir einmal an, die Zyniker hätten Recht. In diesem Fall dürften die Kriterien von Fall zu Fall unterschiedlich sein; sie hätten ja nichts mit dem Job zu tun, sondern mit außerbetrieblichen Faktoren, die vielfältig sein können. Beispielhaft möchte ich mir die Ebene der gehobenen Aufgaben, den Bereich der zukünftigen Führungskräfte etwas genauer anschauen.

Nach den Befunden des Eliteforschers Michael Hartmann zeigt sich, dass Führungspositionen in der deutschen Wirtschaft (und, weniger ausgeprägt auch anderswo) überwiegend von Menschen besetzt werden, deren Eltern aus dem Großbürgertum bzw. dem gehobenen Bürgertum stammen (3). Er schreibt:

“Richtet man den Blick zunächst auf die Wirtschaft als den entscheidenden Bereich – immerhin sind über zwei Drittel der zur Elite zählenden Promovierten in diesem Sektor tätig –, so zeigt sich ganz klar, dass der wichtigste Grund für die wesentlich höhere Erfolgsquote der Bürgerkinder in ihrem klassenspezifischen Habitus zu suchen ist. Wer in die Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen gelangen will, der muss nämlich vor allem eines besitzen: habituelle Ähnlichkeit mit den Personen, die dort schon sitzen. Da die Besetzung von Spitzenpositionen in großen Unternehmen von einem sehr kleinen Kreis von Personen entschieden wird und das Verfahren nur wenig formalisiert ist, spielt die Übereinstimmung mit den so genannten „Entscheidern“, der „gleiche Stallgeruch“, die ausschlaggebende Rolle. Es wird sehr viel weniger nach rationalen Kriterien entschieden, als man gemeinhin vermutet.”

Um zu erschnüffeln, ob ein junger Mann (um dieses Geschlecht handelt es sich zumeist) auch den richtigen Stallgeruch hat, um zu den schönsten Hoffnungen im Unternehmen zu berechtigen, eignet sich das klassische, unstrukturierte, wenig formalisierte Auswahlverfahren auf Grundlage von Bewerbungsgesprächen ganz hervorragend. Objektivere Methoden, bei denen eventuell ein Mensch aus der mittleren Mittelschicht auch eine Chance hätte, wären demgegenüber weniger geeignet. Hätten die Zyniker also Recht, so wäre die Masse der Forschungen zur differenziellen Leistungsfähigkeit von Auswahlverfahren – zumindest in diesem Bereich – irrelevant, weil sie von falschen Voraussetzungen ausgeht.

Was für die gehobenen Positionen gilt, darf man vermutlich auch auf die unteren Ränge übertragen (wenngleich hier auch noch andere Faktoren außerhalb des Leistungsbereichs eine stärkere Rolle spielen könnten; Beispiel: Mitarbeiterkinder). Tendenziell aber gilt vermutlich überall: Je niedriger der sozioökonomische Status der Eltern, desto geringere Karriereaussichten hat man, ganz gleich wo. Die “Besten” sorgen schon dafür, dass sie unter sich bleiben. Diese Tendenz zeigt sich weltweit, wenngleich nicht überall so brutal wie in Deutschland. Wir sind keine Leistungsgesellschaft, sondern eine Gesellschaft der “Besten”, gemessen an fragwürdigen Kriterien, über die selten offen diskutiert wird.

Neben der Bewerberauswahl für Positionen in der Arbeitswelt gibt es natürlich eine Vielzahl weiterer Selektionsprozesse, bei denen heimliche Kriterien eine größere Rolle spielen könnten als die offiziellen. So ist beispielsweise die Selektion der Insassen psychiatrischer Anstalten, beruhend auf der psychiatrischen Diagnose, noch deutlich weniger valide als das unstrukturierte Bewerbungsgespräch. Je weniger valide aber ein Selektionsverfahren ist, desto mehr Spielraum haben Einflüsse, die nichts mit den offiziellen Kriterien der Auswahl zu tun haben. Es lässt sich allerdings nicht nachweisen, dass Psychiater tendenziell davor zurückschrecken, einem Menschen aus gutem Hause eine psychiatrische Diagnose zu verpassen und sie stattdessen lieber solchen Leuten anhängen, die aus einem schlechten Milieu stammen.

Zyniker behaupten, die Art der Diagnose und ob eine solche überhaupt gestellt werde, hinge in entscheidendem Maße von den sozialen Netzwerken des Betroffenen ab, also vom Gegenwind, mit dem ein Psychiater unter Umständen zu rechnen habe. Es kann andererseits natürlich sein, dass ein Psychiater einem Menschen aus der Oberschicht ebenfalls die Diagnose “Schizophrenie” und “gefährlich” geben, sofern er die entsprechenden mutmaßlichen Kriterien an ihm entdecken würde.

Es existieren nur wenige Untersuchungen zu diesem Fragenkomplex, so dass ich weit davon entfernt bin, mir hier ein abschließendes Urteil zur Gültigkeit der Auffassung der Zyniker zu erlauben. Immerhin weist eine Studie von Judd darauf hin, dass arm zu sein die Wahrscheinlichkeit steigert, als “psychotisch” diagnostiziert, wohingegen die Zugehörigkeit zur Mittelklasse eher dazu führt, als “neurotisch” eingestuft und psychotherapeutisch behandelt zu werden (4). Kurz: Die “Besten” kommen auf die Couch des Psychoanalytikers, die “Mittelmäßigen” erhalten eine Verhaltenstherapie und die “Schlechten” müssen mit der Pille Vorlieb nehmen.

Obwohl ich weit davon entfernt bin, mit solchen groben Parolen hausieren zu gehen, bin ich dennoch davon überzeugt, dass wir in einer Klassengesellschaft leben und dass sich diese Tatsache auch auf Selektionsprozesse in der Gesellschaft auswirkt, wenngleich zumeist in eher subtiler Form. Dies schließt nicht aus, dass der klassengesellschaftliche Einfluss mitunter holzhammerartig deutlich wird, wenn beispielsweise Nieten in Nadelstreifen, die aus bestem Hause stammen, ein Unternehmen zu Grunde richten oder wenn sich Leute, ohne andere Auffälligkeiten außer den Malen der Armut, sich hinter psychiatrischen Gittern wiederfinden.

Warum werden Selektionsverfahren mit offensichtlichen Validitätsmängeln so selten problematisiert? Etwa weil die “Besten”, die sie erfolgreich in Frage stellen könnten, unter sich bleiben und die “Schlechten” ausgrenzen wollen? Ein Verdacht drängt sich auf: Wenn Selektionsverfahren die Aufgabe hätten, die vorhandene sozioökonomische Struktur zu zementieren, dann könnte man sich kaum bessere vorstellen als die heute praktizierten.

Anmerkungen

(1) Weinert, A. B. (1998). Organisationspsychologie. Weinheim: Psychologie Verlags Union, 292 ff.

(2) Schmidt, F. & Hunter, J. (1998). The validity and utility of selection methods in personnel psychology: Practical and Theoretical Implications of 85 years of research findings. Psychological Bulletin, 124 (2), 262 – 274

(3) Hartmann, M. (2004). Eliten in Deutschland. Rekrutierungswege und Karrierepfade. Aus Politik und Zeitgeschichte, B 10, 17 – 24

(4) Judd, P. (1986). The mentally ill poor in America. The anatomy of abuse. Journal of Applied Social Science, 10, 40-50

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Lob der empirischen Psychologie

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Viele Menschen verabscheuen die empirische Psychologie. Persönlichkeits-, Intelligenz- und Leistungstests beispielsweise sind ihnen ein Gräuel. Sie würden den Menschen nicht gerecht. Dessen Seele könne und dürfe man nicht vermessen. Viel besser seien Entscheidungen, die auf Fingerspitzengefühl, Intuition und persönlicher Erfahrung beruhten.

Es hilft meist wenig, wenn man solchen Leuten sagt, dass Entscheidungen, die auf Fingerspitzengefühl, Intuition und persönlicher Erfahrung beruhen, meist erheblich schlechter sind als Entscheidungen, die auf Grundlage von Tests und mathematischen Modellen gefällt werden (1). Diese Menschen sind beseelt von der Reinheit ihres Gefühls; sie leben in einer zahlenlosen Welt; sie können verdammt zornig, zumindest aber sehr störrisch werden, wenn man sie mit den Fakten konfrontiert.

Und so möchte ich ein sehr drastisches Beispiel wählen, in der Hoffnung, damit ein auch das bekanntlich sehr dicke Fell der dünnhäutigen, dem Feinstofflichen zugewandten Menschen zu durchdringen. Nehmen wir einmal an, es würden Freiwillige für ein sehr riskantes Abenteuer gesucht. Aus Erfahrung mit Projekten dieser Art weiß man, dass nur zwanzig von hundert Kandidaten ein solches Unterfangen überleben werden. Es gilt also, durch ein geeignetes Selektionsverfahren jene Wagemutigen herauszufinden, die dieses Abenteuer mit der höchsten Wahrscheinlichkeit lebend überstehen können. In unserem Beispiel wollen wir ein Team aus zehn Personen für dieses Projekt auswählen.

Die Korrelation zwischen dem Ergebnis des Selektionsverfahrens und dem erfolgreichen Überstehen des Abenteuers bezeichnen wir als die Validität des Instruments.

  • Ein Verfahren besteht darin, die Teilnehmer auszulosen. Jeder hat die gleiche Chance, ausgewählt zu werden. Damit liegt die Validität bei null. Dies bedeutet: Von den zehn Mitgliedern des Teams kehren zwei lebend zurück.
  • Die Validität eines zweiten Selektionsinstruments beziffere sich auch .35. Dies bedeutet, dass vier von zehn Personen das Abenteuer lebend überstehen.
  • Ein drittes Verfahren zeichnet sich nunmehr durch eine Validität von .65 aus. Dann dürfen wir sechs von zehn Personen lebend zurückerwarten (1).

Es macht schon einen Unterschied, ob wir acht oder vier Personen in den Tod schicken. Man möge mich nicht falsch verstehen: Ich wünsche mir weder, dass Menschen sich solchen Risiken aussetzen und erst recht nicht, dass wissenschaftlich erforscht werden muss, wie die Überlebensraten in Abhängigkeit von den Selektionskriterien aussehen. Dieses Beispiel habe ich gewählt, um zu demonstrieren, dass Rationalität bei Entscheidungen Leben retten und dass die maximal mögliche Rationalität nicht ohne Mathematik und empirische Forschung verwirklicht werden kann.

Wenden wir uns der Psychotherapie zu. Für manche handelt es sich hier nicht nur um eine heilende, sondern gleichsam um eine heilige Begegnung zwischen zwei Menschen. Jedes Individuum sei einmalig und jeder Fall sei einzigartig. Ob eine Psychotherapie hilfreich gewesen sei, könne man nicht mit schnöder Statistik und seelenlosen Tests beurteilen. Hier gehe es schließlich um subtile, um feinstoffliche Effekte, die sich der groben Messung entzögen.

Als zur Nüchternheit tendierender Mensch erlaube ich mir dennoch, darauf hinzuweisen, dass auch Feinstoffliches Geld kostet. Geld ist eine Ressource, mit der man pfleglich umgehen soll, was auch viele Feinstoffliche gern beherzigen. Daher wird man wohl nicht umhinkommen, sich einmal etwas genauer anzuschauen, welche Form der Psychotherapie ihre feinstofflichen Wirkungen am kostengünstigsten hervorbringt. Die empirische Psychologie hat sich dankenswerterweise auch dieser Frage angenommen. Die Befunde wurden beispielsweise von Robyn Dawes zusammengetragen. Es zeigte sich, dass psychotherapeutische Laien keine schlechteren Ergebnisse erzielen als Profis (3).

Da also der Erfolg einer Psychotherapie nicht von der Art des Studiums und der Therapieausbildung abhängt, könnte man durchaus darauf verzichten, von Psychotherapeuten zu verlangen, dass sie zuvor kostspielige Studiengänge und Trainings durchlaufen, bevor sie in diesem Beruf tätig werden dürfen. Das bringt ja doch nichts, verschlingt aber Unsummen. Weniger “qualifizierte” Leute könnten und würden auf einem freien Markt ihre Dienstleistungen auch billiger anbieten.

Dass Krankenkassen trotz eindeutiger Befundlage hier stillhalten, ist allerdings vielleicht doch nicht jenes gewaltige Rätsel, das es auf den ersten Blick zu sein scheint. Die große Masse der Menschen, die in der Solidargemeinschaft der Versicherten zusammengefasst sind, weiß von all dem nichts: Und was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.

Es ist nicht unmenschlich, kalt und seelenlos, mit quantitativen Methoden Licht in menschliche Verhältnisse zu bringen. Erstaunliches kommt zum Vorschein, und mit diesen Erkenntnissen kann man zum Wohl der Menschen wirken. Methodisch einwandfreie Studien der empirischen Psychologie sind nichts Böses, sondern sie sind Voraussetzung des Guten. Allerdings, dies räume ich ein, kann man die Ergebnisse solcher Studien auch missbrauchen, wenn man Schlüsse aus ihnen zieht, die angesichts des Untersuchungsdesigns und der Daten nicht gerechtfertigt sind.

So ist es beispielsweise abwegig, aus Unterschieden der durchschnittlichen Intelligenzquotienten zu folgern, dass es kluge und dumme “Rassen” gäbe. Ebenso bizarr ist es, aus Korrelationen zwischen Verhaltensmustern und Hirnparametern abzuleiten, die so genannten psychischen Krankheiten würden durch Hirnanomalien verursacht. Absurd ist es auch zu behaupten, die so genannten bipolaren Störungen teilweise angeboren seien, weil die Konkordanzraten bei eineiigen Zwillingen höher ausfielen als bei zweieiigen.

Nicht ungerechtfertigt ist es aber, von zwei Selektionsverfahren jenes auszuwählen, dass die beste prognostische Validität besitzt und berechtigt ist es auch, sich für die kostengünstigste Variante von Psychotherapie zu entscheiden. Von der empirischen Psychologie darf man, jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt, keine überwältigenden Einsichten in das Wesen des Menschen erwarten, wohl aber bietet sie pragmatische Orientierungen für die Wechselfälle des praktischen Lebens.

Es gibt guten Grund, jene Experten, die sich auf ihre Intuition, auf ihr Fingerspitzengefühl, auf Erkenntnisse höherer Ebenen berufen, zum Teufel zu jagen, wenn sie sonst nichts Handfestes zu bieten haben. Dies gilt natürlich auch für all die Hokuspokus-Psychologen, die sich aufs esoterische Pferd geschwungen haben und sich über Wirksamkeitsnachweise ihrer Verfahren erhaben wähnen. Und dies trifft auch auf jene angeblich wissenschaftlich arbeitenden Psychologen zu, die “methodenkritisch” quantitative Methoden verschmähen, aber über keine nachweislich besseren Alternativen verfügen.

Die Schwächen der empirisch psychologischen Forschungsmethoden sind bekannt; man könnte Bücher mit ihnen füllen. Sie würden wesentlich besser funktionieren, wenn Menschen Naturgegenstände wie Moleküle oder Automaten wie Computer wären… und nicht so schrecklich unberechenbar, wie sie es manchmal tatsächlich sind.

Doch wenn man stattdessen wortreiche Bücher schreibt, in denen über das Wesen des Menschen spekuliert wird, dann setzt sich letztendlich jener durch, der das ausgefeilteste rhetorische Geschick besitzt (auf Deutsch: der am besten labern kann); und das ist für mich keine wünschenswerte Alternative zur sicher fehlbaren (und missbrauchbaren) empirischen Forschung.

Was zählt, sind die Zahlen. Das sagt ja schon ihr Name. Nicht die “Vermessung der Seele” ist unmenschlich; inhuman aber können die Zwecke sein, die damit angestrebt werden. Die Welt ist rätselhaft, daran kann auch die empirische Psychologie nichts ändern. Aber immerhin kann sie uns mitunter vor falschen Entscheidungen bewahren. Mag nämlich die Welt auch rätselhaft sein, so ist sie dennoch kein reines Chaos, sondern sie unterliegt Regelmäßigkeiten, die enthüllt werden können, zumindest teilweise.

Die empirische Psychologie ist, wie jede empirische Wissenschaft, ausgesprochen antiautoritär. Im Lichte der Forschung betrachtet zählen die Lehrmeinungen der Gelehrte nämlich nicht. Es kommt auf Fakten an. Natürlich sind auch in der empirischen Psychologie autoritäre Muster nur zu gut bekannt; doch diese beruhen auf außerwissenschaftlichen Einflüssen.

Je weiter eine Wissenschaft sich jedoch vom Richterstuhl der Fakten entfernt, desto klarer tritt Autorität als innerwissenschaftliches Kriterium hervor. Welchen anderen Maßstab beispielsweise für die Stimmigkeit einer Interpretation von Goethes Faust könnte es denn geben als die Autorität des Interpreten?

Wenn es um Goethes Faust geht, mag man das hinnehmen. Wenn aber zum Beispiel die menschliche Freiheit auf dem Spiel steht, dann reicht mir die Autorität eines Psychiaters nicht, der einen Menschen zum “psychisch Kranken” und für “gefährlich” erklärt. Auch geisteswissenschaftliche Psychologen, die jeden Einzelfall in seiner Besonderheit würdigen möchten und das quantitative Vorgehen als amerikanische Abirrung verschmähen, möchte ich nicht am Werke sehen, wenn menschliche Schicksale ernsthaft betroffen sind.

Sagen wir es deutlich: Die überwiegende Mehrheit der Psychiater und der Psychologen stehen heute de facto der Esoterik näher als der Wissenschaft. Empirische Methoden werden zwar angewendet, aber nicht selten nur – bewusst oder unbewusst verfälschend -, um Vorurteile zu bestätigen, und nicht, um sie zu falsifizieren. Die Forschung soll die Autorität erhöhen und nicht so weit wie möglich ersetzen.

Wer aber so arbeitet, begründet keine echte Autorität, er maßt sie sich nur an. Weit davon entfernt, die natürliche Autorität des Könners zu bestreiten, bekämpfe ich doch mit aller Entschiedenheit die falsche Autorität der rhetorisch Gewitzten (auf Deutsch: der Schwätzer).

Anmerkungen

(1) Hastie, R; Dawes, R. (2010). Rational Choice in an Uncertain World: The Psychology of Judgment and Decision Making. Thousand Oaks, CA: Sage Publications, Inc.

(2) Die Berechnungen beruhen auf einer Formel, die erstmals von in folgendem Aufsatz vorgeschlagen wurde:
Taylor, H. C. & Russell, J. F. (1939). The realtionship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. Journal of Applied Psychology, 1939, 23, 565-578.

(3) Dawes, Robyn (1996). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press

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Anarchismus und Psychologie

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Der Anarchismus zeichnet sich gegenüber anderen politischen Bewegungen dadurch aus, dass er sich nicht in ein geistiges Korsett pressen lässt. Es fragt sich sogar, ob er als politische Bewegung definiert werden kann, denn wenn Politik Herrschaft des Menschen über den Menschen ist oder damit beginnt, die Menschen in Freund und Feind zu unterteilen, dann ist Anarchismus keine Politik.

Wer sich als Anarchist bezeichnet, fühlt sich allerdings zumeist einer Reihe grundlegender Ideen verpflichtet. Diese Ideen lassen sich am besten als Polaritäten darstellen, wobei der Anarchist jeweils dem zuerst genannten Pol zuneigt (wenngleich es dem Wesen des Anarchismus entspricht, dass dies nicht für jeden Anarchisten bei jedem Punkt zutrifft):

  • selbstbestimmte kleine Einheiten – staatliche bzw. megastaatliche Organisation
  • Heterarchie – Hierarchie
  • natürliche Autorität – institutionalisierte, formale Autorität
  • soziale, verantwortete Freiheit -  individuelle, schrankenlose Freiheit
  • gegenseitige Hilfe – allseitige Konkurrenz
  • Freiwilligkeit – Befehl und Gehorsam (1)

Die anarchistische Botschaft richtet sich nicht an die Massen, und daher ist sie auch nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den Horizont der Massen und auf den Massengeschmack zugeschnitten. Ihr Adressat ist vielmehr das Individuum, das sich, gleichberechtigt und ggf. in Kooperation mit anderen selbst verwirklichen möchte. Die Mission des Anarchismus lautet: Kritik und Überwindung jeder sachlich nicht gerechtfertigten Herrschaft des Menschen über den Menschen und beständiger Kampf zur Vergrößerung des Spielraums, der dem freien Willen des Einzelnen zu seiner Entfaltung eingeräumt wird.

Um die anarchistische Utopie zu verwirklichen, müssen allerdings nicht nur die äußeren Verhältnisse umgewälzt werden (2). Denn dieser Traum kann nur mit innerlich freien Menschen Realität werden. Und hier kommt die Psychologie ins Spiel. Das Verhältnis zwischen Anarchismus und Psychologie ist von unterschiedlichen anarchistischen Autoren in unterschiedlichster Weise bestimmt worden; und, der anarchistischen Grundhaltung entsprechend, beanspruche ich für meine folgenden Überlegungen keine Allgemeinverbindlichkeit.

Es gilt, den Staat im Kopf zu überwinden. Damit meine ich nicht in erster Linie den Glauben an die unbedingte Notwendigkeit des Staates, den es natürlich ebenso abzustreifen gilt. Damit meine ich die staatsartige Struktur unseres mentalen Lebens. Dass der Staat nicht naturgegeben ist, lässt sich den meisten Menschen relativ leicht vermitteln, wenn man sie darauf hinweist, dass die Menschheit im “Urzustand” keine Staaten kannte, sondern in Kleingruppen umherstreifte. Schwieriger ist es, den Menschen klarzumachen, dass sie Fremdherrschaft auch dort dulden, wo sie im Prinzip einfach abzustreifen wäre, nämlich in ihrer Innenwelt.

Das Gewissen ist naturgegeben. Das Ich fragt nach dem Du, fragt danach, wie seine Handlungen sich auf andere auswirken und ist geneigt, schädigende Effekte nach Möglichkeit zu vermindern. Ohne diese Tendenz gäbe es die Menschheit nicht. Mit der Entwicklung äußerer Herrschaft des Menschen über den Menschen denaturierte das Gewissen jedoch zur Moral. Die Moral gibt sich den Anschein, Gewissen zu sein, ist in Wirklichkeit aber etwas ganz anderes, nämlich der verinnerlichte Widerschein des Prinzips von Befehl und Gehorsam, das die hierarchischen Gesellschaften prägt.

Ebenso wie der Befehlsgeber in der Außenwelt bedingungslosen Gehorsam erwartet, so dürfen die Gebote und Verbote der Moral nicht in Frage gestellt werden. Selbstredend sprechen Befehlsgeber in demokratischen Gesellschaften davon, dass der mündige Bürger Befehle auf Angemessenheit prüfen solle und die sie flankierenden Wissenschaftler betrachten es als moralische Reife, wenn man ihren Geboten und Verboten aus Einsicht folgt. Dennoch, es bleibt dabei, jenseits der Verklärung geht es schlicht und ergreifend darum, Automatismen durchzusetzen, in der Außenwelt, wie in der Innenwelt. Befehl und Gehorsam. Das war’s.

Es versteht sich von selbst, dass die Moral unterm Strich überwiegend den Interessen der Herrschenden dient. Zwar schützt sie durchaus auch, wie das Gewissen, den Mitmenschen ohne Ansehen der Person; aber letztlich steht das, was sich gehört und was sich nicht gehört, stets im Einklang mit den Erfordernissen zur Aufrechterhaltung einer ausbeuterischen gesellschaftlichen Ordnung.

  • Wir sollen ehrlich sein, klar, aber diese Ehrlichkeit schützt auch den Unternehmer, der seine Mitarbeiter auspresst.
  • Wir sollen wahrhaftig sein, aber von dieser Wahrhaftigkeit profitieren auch die Leute, die uns schamlos belügen.
  • Wir sollen gerecht sein, doch diese Gerechtigkeit wird auch Leuten zuteil, die sie mit Füßen treten.
  • Wir sollen Toleranz üben, aber dies heißt auch, Intoleranz zu tolerieren.
  • Wir sollen hilfsbereit sein, auch gegenüber Leuten, die anderen keinerlei Hilfe gewähren.
  • Wir sollen patriotisch sein, obwohl das Vaterland von Leuten beherrscht wird, die ihr Volk vergessen haben.

Man könnte diese Liste beliebig verlängern und würde feststellen, dass die Bedingungslosigkeit der Moral sich letztlich für am meisten bezahlt macht, die in einer hierarchischen Gesellschaft am längeren Hebel sitzen.

Die Moral ist der generalisierte Herrscher im Kopf, der internalisierte Staatsapparat. Während das Gewissen konkret nach dem Du fragt, gießt die Moral ihre Segnungen nach dem Gießkannenprinzip aus; und dies führt dazu, dass die ohnehin Begünstigten am besten gedeihen.

Viele meinen, das Ich sei eine Art Diplomat, der zwischen den Anforderungen der Realität, den Forderungen der Moral und den anarchischen Trieben des Es zu vermitteln habe. Sie glauben, dass dies der naturgegebenen Ordnung in unserer Innenwelt entspräche.

Dies halte ich für falsch. Aus meiner Sicht stand in den frühen Stammesgesellschaften, in denen der Einzelne auf Gedeih und Verderb auf die Solidarität seiner Stammesgeschwister angewiesen war, das Wir an der Stelle des Ichs. Da sich die Moral noch nicht an die Stelle des Gewissens gedrängt hatte, mussten ihre Forderungen auch nicht beachtet werden; und die Gleichrangigkeit von Ich und Du ist im Wir aufgehoben. Die anarchischen Triebe mussten nicht gefürchtet werden, weil die Organisation des Gemeinschaftslebens anarchisch war.

Unser Gewissen gebietet es uns, natürliche Autorität anzuerkennen, wohingegen die Moral verlangt, uns formaler Autorität zu unterwerfen.

  • Letzterer beugt man sich aus moralischen Gründen, weil dies die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung gebietet.
  • Ersterer unterstellt man sich, um nicht durch unbedachtes Handeln andere (bzw. sich selbst) zu schädigen.

Die Bedingungslosigkeit der Moral zwingt uns dazu, uns auch dann institutionalisierter Autorität zu unterwerfen, wenn diese ihre Vorrangigkeit nicht sachlich zu rechtfertigen vermag.

In der hierarchischen Gesellschaft darf sich, in gewissen, mehr oder weniger weiten Grenzen, das Individuum auch auf Kosten anderer entfalten. Davon profitieren die ohnehin schon Begünstigten, weil im Konkurrenzkampf jener die stärkere Postion hat, der über die meisten Ressourcen verfügt.

In den Köpfen der meisten Menschen hat sich die Überzeugung festgesetzt, dass die Erfolgreichen die natürlich Begabten seien und dass es deswegen ungerecht und kontraproduktiv sei, den Talentierten übermäßige Beschränkungen aufzuerlegen. Viele meinen, dass es ein Naturrecht des Stärkeren, des Leistungsfähigeren, des Kreativieren gäbe, sich gegen die Schwächeren, weniger Leistungsfähigen und Dumpfen durchzusetzen.

Es handelt sich bei diesem Glauben aber keineswegs um eine Haltung, die von der Natur in unsere Hirne eingesenkt wurde. Sie war den frühen Stammesgesellschaften fremd, wie sich auch an den Einstellungen von Menschen, die bis tief ins 20. Jahrhundert hinein noch auf steinzeitlichem Niveau lebten, zeigte.

Freiheit, die Einzelnen ermöglicht, anderen ihre Freiheit zu rauben, führt sich selbst ad absurdum. Diese schrankenlose Freiheit ist nicht etwa der Garant einer natürlichen, sondern sie führt im Gegenteil zu einer widernatürlichen Ordnung, zur Klassengesellschaft, die der Mensch in seinem “Urzustand” nicht kannte.

Bereits betont habe ich, dass sich in Klassengesellschaften die Vorstellung durchgesetzt hat, das mentale Leben würde durch ein diplomatisches Ich reguliert, das widerstrebende Interessen auszugleichen habe. Dies ist jedoch eine unvollständige Beschreibung. Hinzu kommt, dass dieses Ich auf seinen Vorteil bedacht sein müsse, was dazu führt, dass Heuchelei und Scheinmoral in Grenzen toleriert werden.

Diese Vorstellung ruft den Eindruck hervor, dass der Konkurrenzkampf unter den Menschen ein Charakteristikum des Naturzustandes sei. Dieser war jedoch im Gegenteil durch die Vorherrschaft des Wir und des Gewissens gekennzeichnet. Darum spielte die gegenseitige Hilfe in den Stammesgesellschaften die ausschlaggebende Rolle.

Die letzte Bastion von Menschen, die Staatlichkeit anthropologisieren, ist die Rolle des Häuptlings in den frühen Stammesgesellschaften. Anführer, die das Sagen haben, hätte es schon immer gegeben, und der Staat sei nichts weiter als eine natürliche Weiterentwicklung des Prinzips von Befehl und Gehorsam.

Weit gefehlt. Die Autorität des Häuptlings war eine natürliche, keine formale. Er musste seine Überlegenheit, seine Stärke und Weisheit, im tagtäglichen Überlebenskampf des Stammes unter Beweis stellen. Seine Gefolgsleute folgten ihm freiwillig, er hatte keine Leibgarde, die ihn vor Absetzung schützte.

Die vorangestellten Überlegungen erheben nicht den Anspruch ewiger Wahrheit; vielmehr sind sie als Skizze eines Forschungsprogramms der anarchistischen Psychologie zu verstehen. Ich bin schon zu alt und nicht mit den Mitteln und Gaben ausgestattet, um ein solches Forschungsprogramm voranzutreiben. Wenn einmal die Zeit kommen sollte, dass begabte mutige Frauen und Männer es mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen können, dann wünschte ich mir eine stringente empirische Ausrichtung dieses Unterfangens. Die empirische Wissenschaft ist antiautoritär: Es zählen die Fakten, nicht die Lehrmeinungen.

Vielleicht täusche ich mich ja, vielleicht ist es unausweichlich, dass immer irgendwelche Eliten über die Massen herrschen. Doch ich glaube nicht daran. Meine Hoffnung nährt sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Autonomie des Menschen, die uns bereits vorliegen. Die Forschungen zur Irrationalität menschlicher Entscheidungen beispielsweise zeigen immer auch, dass der Mensch diese Neigung unter bestimmten Voraussetzungen durchbrechen kann. Warum versuchen wir nicht, diese Voraussetzungen zu schaffen?

PS: Es wird dem Leser vermutlich aufgefallen sein, dass ich bisher dem Eigentum keine Zeile gewidmet habe. Dies liegt daran, dass diese Frage für den Anarchisten eine eher untergeordnete Rolle spielt. Während Marxisten und Kapitalisten von der Eigentumsfrage nachgerade besessen sind, habe Anarchisten dazu eine pragmatische Einstellung. Eigentum ist zweifellos eine Voraussetzung der Freiheit, aber nicht jedes Eigentum macht frei. Dass selbst genutzte Produktionsmittel ihren Anwendern gehören sollten, steht außer Frage. Wenn mehrere Menschen miteinander kooperieren, liegt es nahe, die dazu benötigten Produktionsmittel als Eigentum des produzierenden Kollektivs aufzufassen. Einrichtungen wie beispielsweise Straßen oder die Häuser der Räte, die allen dienen, sollten auch Gemeinschaftseigentum sein. Es sind immer Ausnahmen von der Regel denkbar, und darüber zu befinden, obliegt den unmittelbar und teilweise auch den mittelbar Betroffenen, die dazu einen Konsens anstreben sollten.

Anmerkungen

(1) Diese Liste erhebt, wie alle meine Listen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

(2) Ein Anarchist wird die Anwendung von Gewalt nur im äußersten Notfall (Widerstandsrecht) akzeptieren, weil ihm die Herrschaft des Menschen über den Menschen ein Gräuel ist.

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Moral

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Unter den Geißeln der Menschheit wie Krebs, AIDS, Krieg und Hungersnöte, findet sich eine, eine emotionale Pest, die von den meisten Menschen gar nicht als das erkannt wird, was sie in Wirklichkeit ist, nämlich die Moral. Auch ich verwende den Begriff in uneigentlichem Sinn mitunter positiv als Synonym für eine Regung des Gewissens. Doch diese Begriffsverwendung ist, streng betrachtet, nicht statthaft, denn es ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen Moral und Gewissen.

Ein Beispiel: Die Moral gebietet zu arbeiten, gern und fleißig. Zahllose Menschen, die ihre Arbeit verlieren und keine neue finden, sind verzweifelt, werden depressiv, ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück oder nehmen Jobs an, deren Bezahlung geringer ist als die Sozialleistung, auf die sie Anspruch hätten. Die sich bei diesen Menschen einstellenden moralischen Gefühle sind rational betrachtet natürlich nicht gerechtfertigt. Unser Wirtschaftssystem produziert, als Kollateralschaden, regelhaft Arbeitslose; und angesichts der Revolution im Bereich der Roboter wird die Quote der Arbeitslosen in Zukunft noch erheblich steigen. Es ist also den Glücklichen, die einen Arbeitsplatz besitzen, durchaus zuzumuten, dass sie für den angemessenen Unterhalt derjenigen aufkommen, die dieses Glück nicht hatten.

Das Gewissen ist die dem Menschen eigentümliche Tendenz, sich bei jeder Handlung zu fragen, ob sich daraus unzumutbare und vermeidbare Auswirkungen für andere ergeben. Das Gewissen kennt keine abstrakten, allgemein verbindlichen Prinzipien, sondern es würdigt jeden Einzelfall in seiner Besonderheit. Darum war es auch schon immer da. Als der Mensch zum Menschen wurde, als er seine überragende Symbolisierungsfähigkeit, die menschliche Sprache entwickelte, als er lernte, sein Verhalten zu planen und dessen Resultate vorherzusehen, da wurde auch das Gewissen in sein Erbgut eingesenkt. Damals aber, in dieser Frühzeit unseres Geschlechts, war das Bewusstsein noch bewusstes Sein, Dasein und sonst nichts; die Abstraktionen der Ideologien waren ihm fremd, und daher gab es auch noch keine Moral. Diese emotionale Pest entsteht erst in den Klassengesellschaften.

Die Moral gebietet, sich den Genuss zu verdienen. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen, heißt der entsprechende Sinnspruch. Es gibt durchaus eine genuine psychologische Verknüpfung zwischen Leistungsbereitschaft bzw. -fähigkeit auf der einen und dem Spaß, der Freude am Leben auf der anderen Seite. Doch die gestaltet sich anders als die Moral suggeriert. Eine freudlose Arbeit ist nicht die Legitimation dafür, hinterher Spaß haben zu dürfen. Vielmehr bilden Spaß und Ernst, Anstrengung und Überschwang in sinnvoller Tätigkeit eine untrennbare Einheit. Der Sozialanthropologe Leo Kofler spricht daher von den dionysischen und den apollinischen Tendenzen, die heute nur noch im Spiel vereint seien, wohingegen deren Verschränkung in der Frühzeit die gesamte menschliche Tätigkeit kennzeichnete. Die Moral mag den Menschen, der über die Strenge schlägt, ohne sich dafür durch Leistung zu rechtfertigen, zwar verdammen; Tatsache aber ist, dass er sich dadurch nur schadlos hält für etwas, was ihm in unserer kapitalistisch-ausbeuterischen Welt vorenthalten wird, nämlich die Erfüllung in unentfremdeter, sinnhafter Tätigkeit.

Man könnte Beispiele für den Pestcharakter der Moral nicht nur in der Arbeitswelt, sondern in allen Bereichen des menschlichen Daseins finden, zum Beispiel im sexuellen; ich überlasse es der Fantasie des Lesers, sich diese Exempel selbst auszumalen. Es geht immer darum, ein abstraktes, angeblich allgemein verbindliches Prinzip an die Stelle der konkreten, auf die Situation bezogenen Gewissensregung zu setzen. Von dieser Substitution profitieren aber vor allem die Reichen und Mächtigen, die selbst allerdings zumeist nicht durch besonders aufgeprägte Moralität auffallen. Denn die Moral substituiert nicht nur das Gewissen, sondern sie beeinträchtigt auch den Verstand, indem sie das kritische Denken unterdrückt. Wer sich beispielsweise unter Wert verdingt, obwohl sein Lohn, wenn überhaupt, kaum Hartz-4 übersteigt, der handelt nicht nur unwirtschaftlich, sondern er betrügt sich selbst, weil er aufgrund seiner Moral nicht mehr in der Lage ist, sein absurdes Verhalten rational zu reflektieren.

Manche Leute sind dem Arbeitsleben vorübergehend oder dauerhaft nicht gewachsen. Sie werden “psychisch krank”. Die einen simulieren die “psychische Krankheit”, um der Tortur zu entkommen, die anderen übernehmen diese Rolle in dem festen Glauben, tatsächlich “psychisch krank” zu sein. Meine volle Sympathie gehört den Simulanten. Zu den ehrlich “Kranken” will ich mich nicht äußern. Nebenbei bemerkt: Da es keine objektiven Methoden gibt, um eine “psychische Krankheit” festzustellen, ist “psychisch krank”, wer von einem Arzt entsprechend diagnostiziert wurde. Mit dieser Diagnose ist also niemand ein Sozialbetrüger, auch wenn er simuliert.

Nun mag man mir vorhalten, die Säuglingsforschung zeige doch, dass die Moral angeboren sei. Sie sei also keine Fehlhaltung, die in Klassengesellschaften erworben werde. Selbst die Allerkleinsten hätten bereits einen Sinn dafür, dass anderen zu helfen gut und sie zu behindern böse sei. Sie nähmen es mit Begeisterung auf, wenn die Guten belohnt und die Bösen bestraft würden. Außerdem wünschten sich sich eine Gleichverteilung von Ressourcen und verabscheuten eine Begünstigung des einen auf Kosten des anderen. Auch seien ihnen moralische Gefühle wie Mitleid, Empathie und Scham nicht fremd (1).

So ist es. Doch all diese Phänomene sind frühe Manifestationen des Gewissens, nicht der Moral. Die frühen Menschen lebten in kleinen Gemeinschaften, sie waren auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, nur das Überleben des Stammes konnte die Existenz des Einzelnen garantieren, das Wir war wichtiger als das Ich. Ohne Gewissen wäre die Menschheit bereits damals untergegangen. Dass die Menschheit an der moralischen Pest noch nicht zugrunde gegangen ist, liegt daran, dass die Moral einige Funktionen des Gewissens in mehr oder weniger rudimentärer Form imitiert. Sie reduziert die Moral beispielsweise die Abneigung vor einer Ungleichverteilung von Ressourcen auf das Verhältnis von Gleichrangigen. So gebietet es auch die Moral, dass Menschen mit gleicher Tätigkeitsmerkmalen und vergleichbarer Leistung in derselben Firma auch in etwa dasselbe verdienen sollten. Zugleich aber schützt die Moral jene, die maßlosen Reichtum anhäufen, aber auf einer anderen Hierarchieebene stehen, indem sie Kritik daran beispielweise als Ausdruck verwerflichen Neides verdammt.

Die genetischen “Programme” das Menschen entstanden in einer Zeit, als unser Geschlecht in weitgehend egalitären Gemeinschaften zusammenlebte. Die Tätigkeiten des Einzelnen waren ebenso vergleichbar wie seine Leistungen und Bedürfnisse. Die Gewissensregungen, die sich in der Säuglingsforschung offenbaren, entsprechen exakt dieser Lebenssituation. Sie versagen bereits dort, wo beispielsweise ein Mensch aufgrund eines kranken Kindes trotz gleicher Leistung und Tätigkeit mehr benötigt als vergleichbare Referenzpersonen. In einer Stammesgesellschaft, in denen der Stamm Verantwortung für alle Kinder trägt, ist dies allerdings nicht problematisch.

Eine Gesellschaft ohne Moral, in der wieder das Gewissen dominiert, müsste Strukturen aufweisen, die denen der ursprünglichen Stammesgesellschaften entsprechen. In einer solchen Gesellschaft würde es sich “bezahlt” machen, anderen uneigennützig, also unbedingt zu helfen, solche Hilfe zu belohnen und deren Verweigerung zu bestrafen, Ressourcen gleich zu verteilen und sich in die Lage der anderen hineinzuversetzen.

Ich weiß, dass sich nicht nur Babys eine solche Welt wünschen. In uns allen, auch in uns Erwachsenen ist eine Urerinnerung an solche Zustände lebendig, als die Menschen einander stützten und ihr Dasein spielerisch gestalteten. Nur glauben die meisten von uns, dass diese Zeit unwiederbringlich verloren sei. Ob dies der Fall ist oder nicht, hängt ausschließlich von uns ab, der Menschheit. Wir tragen das Potenzial in uns, sie wiederauferstehen zu lassen.

Anmerkung

(1) Bloom, P. (2013). Just Babies. The Origins of Good and Evil. New York: Crown (Random House)

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“Psychisch Kranke”; Moral, Gewissen

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Die folgenden Überlegungen sind spekulativ; mir sind keine empirischen Studien bekannt, die sie erhärten; man möge also den folgenden Eintrag als “Thesenpapier” auffassen.

***

Ein Beispiel: Fritz Meyer verliert seinen Job, findet keinen neuen; er macht sich Vorwürfe, bezweifelt, fleißig, engagiert, clever genug gewesen zu sein, glaubt schließlich, er sei gerechtfertigten Ansprüchen im Beruf aus eigenem Verschulden nicht gerecht geworden; er wird “depressiv”; sein Arzt verschreibt ihm Medikamente, die nicht helfen; er leidet fürchterlich; von seiner Frau und seinen Kindern, vor allem von seinen Kindern, verlangt er Rücksichtnahme auf seine Krankheit, was diese heillos überfordert.

Die Moral lastet schwer auf vielen jener Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, die Rolle des “psychisch Kranken” übernehmen. Viele dieser Menschen nehmen die moralischen Gebote und Verbote wesentlich ernster als das Gros ihrer Mitmenschen. Sie empfinden sich als moralische Versager und flüchten sich in die “Krankheit”.

Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um eine “Depression” handeln, um eine Störung, die häufig mit offenen Schuldgefühlen verbunden ist; es kann sich beispielsweise auch eine “Schizophrenie” entwickeln, die mit der Verleugnung der Realität und eine fantastisch-paranoide Umdeutung des Scheiterns einhergeht.

Die Moral fragt nach Normen, nach den Erwartungen generalisierter Anderer, nach dem, was man tut und dem was man nicht tut. Sie fragt nicht danach, wie sich das, was ich tue, in der aktuellen Situation auf mein Gegenüber, auf meinen konkreten Mitmenschen auswirkt. Dafür ist das Gewissen zuständig.

Das Gewissen fragt, ob ich den anderen hier und jetzt ohne Not über Gebühr einschränke, ob ich ihn bei seinen momentanen Aufgaben nach Möglichkeit und Kräften unterstütze, ob er einen gerechten Anteil an den Gütern hat, die in einer Gemeinschaft augenblicklich zur Verfügung stehen etc.

Das Gewissen wurzelt im Biologischen, ist eine anthropologische Konstante, die als eine Voraussetzung der Menschwerdung betrachtet werden darf.

Die Moral ist, gattungsgeschichtlich betrachtet, eine Spätentwicklung; sie ist ein Auswuchs des Ideologischen, also in einer Umdeutung der Wirklichkeitserfahrung im Sinne von Partialinteressen.

Das Gewissen von Menschen, die freiwillig die Rolle des “psychisch Kranken” spielen, ist häufig überaus schwach ausgeprägt. Fritz Meyer trägt schwer an der Last der Moral, aber er kommt nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, ob die von ihm wegen seiner Krankheit geforderte Rücksichtnahme fair ist gegenüber seiner Frau und vor allem seinen Kindern. Von ihnen verlangt er, ihre natürlichen Impulse zu unterdrücken, weil er schließlich schwer leide und jedes Geräusch ihm wie Messer ins Gehirn fahre.

Das Gefühl moralischen Versagens lastet schwer auf seiner Seele, aber etwaige Gewissensbisse wegen der konkreten Belastungen, die er seiner Frau und seinen Kindern durch sein Verhalten aufbürdet, beschwichtigt er mit dem Gedanken, dass er schließlich krank und für seine Zustände nicht verantwortlich sei.

Bei dieser Lebenslüge hilft ihm das Märchen vom Serotoninmangel, der angeblich seine “Depression” verursache. Diese “Theorie” ist zwar längst als Marketingschwindel der Pharmaindustrie entlarvt, aber da sie als Legende zur Gewissensentlastung taugt, erfreut sie sich auch bei Betroffenen ungebrochener Beliebtheit.

Dieser Widerspruch zwischen Moral und Gewissen wird verständlich, wenn man bedenkt, dass die Moral dazu tendiert, sich an die Stelle des Gewissens zu setzen, es zu verdrängen. Die Moral knüpft an das Gewissen an, verselbständigt sich ihm gegenüber aber, und zwar in der Regel unbemerkt.

Die Moral ist ein Prozess der Anpassung der Welt des Sollens an die Interessen der Herrschenden, der sich durch die Jahrhunderte zieht. Dieser Prozess wird teilweise auch durch die Ideologen beeinflusst, derer sich die Herrschenden bedienen, um ihre Herrschaft zu verklären; aber im Wesentlichen verläuft er naturwüchsig. Die Imperative des Handelns passen sich, jenseits des Bewusstseins der Menschen, den Herrschaftsstrukturen an.

Da die Moral das Gewissen zu substituieren vermag, fühlt sich Fritz Meyer zwar als Versager, weil seine Arbeitsmoral zu wünschen übrig ließ, nicht aber fühlt er sich als Versager gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, die er mit seinen Ansprüchen traktiert. Sein Schuldgefühl gegenüber Frau und Kindern beschwichtigt der Gedanke an seine “Krankheit”; dies gelingt ihm aber nicht in Sachen Arbeitstätigkeit, denn wenn er sich nicht als Versager gegenüber den Forderungen der Arbeitsmoral fühlen würde, dann wäre er ja auch nicht “depressiv”.

Die Psychiatrie ist natürlich eine Komplizin der herrschenden Klasse in diesem Spannungsfeld zwischen Moral und Gewissen.

Natürlich kann man die Regungen des Gewissens auch als Ausdruck einer Moral bezeichnen, als Äußerung einer natürlichen, nicht klassengesellschaftlich deformierten Form der Moral. Um der klareren Abgrenzung willen ziehe ich es aber vor, den Begriff der Moral für Verhaltensregulationen zu reservieren, die sich an abstrakten Werten orientieren, wohingegen das Gewissen sich auf das konkrete Miteinander von Ich und Du bezieht.

Obwohl er keine Abgrenzung zwischen Moral und Gewissen vornimmt, drückt Elisée Reclus in folgenden Zeilen ziemlich genau das aus, was auch ich sagen möchte:

Die offizielle Moral besteht darin, sich vor dem Oberen zu verneigen und sich vor dem Untergebenen stolz aufzurichten. Jeder Mensch muss wie Janus über zwei Gesichter, über zweierlei Arten von Lächeln verfügen: das eine schmeichlerisch, zuvorkommend, manchmal servil, das andere hochmütig und von herablassendem Stolz. Das Prinzip der Autorität – so nennt sich das Ding – erfordert, dass der Obere niemals so aussieht, als ob er Unrecht habe, und dass er bei jedem Wortwechsel das letzte Wort hat. Vor allem aber müssen seine Befehle befolgt werden. Das vereinfacht alles: Es bedarf keiner Erwägungen, keiner Erklärungen, keines Zögerns, keiner Debatten, keiner Bedenken. Die Dinge gehen dann ganz von selbst, schlecht oder gut. Und wenn kein Herr zum Befehlen da ist, hat man für diesen Fall nicht schon fertige Formeln, Verordnungen, Erlasse oder Gesetze, die ebenfalls von unumschränkten Herren oder von Gesetzgebern ausgehen? Diese Formeln ersetzen die unmittelbaren Befehle, und man beobachtet sie, ohne zu untersuchen, ob sie auch der inneren Stimme des Gewissens entsprechen.

Unter Gleichen ist die Aufgabe schwieriger, aber auch vornehmer: Man muss streng die Wahrheit suchen, die persönliche Pflicht entdecken, sich selbst kennenlernen, fortwährend an seiner eigenen Erziehung arbeiten, sich so verhalten, dass die Rechte und Interessen der Genossen respektiert werden. Nur dann wird man ein wirklich moralischer Mensch, gelangt man zum Gefühl seiner Verantwortlichkeit. Die Moral ist nicht ein Befehl, dem man sich unterwirft, eine Parole, die man wiederholt, eine für das Individuum rein äußerliche Sache; sie ist ein Teil des Wesens, ein Produkt des Lebens selbst. So verstehen wir die Moral, wir Anarchisten. Haben wir nicht das Recht, sie mit Genugtuung mit der zu vergleichen, die uns die Vorfahren hinterlassen haben?”

Die Moral der Anarchisten ist das, was ich als Gewissen bezeichne und die “offizielle Moral” gilt mir als Moral schlechthin. Das “Gefühl der Verantwortlichkeit”, das nach Reclus die anarchistische Moral kennzeichnet, ist der dem Moralischen im offiziellen Sinn völlig fremd. Der moralgesteuerte Mensch ist der Verantwortung nämlich de facto enthoben, indem ihm die Moral vorgibt, was zu tun und zu lassen sei. Diese Verantwortungslosigkeit des Moralischen zeigt sich in krasser Ausprägung bei vielen der Menschen, die freiwillig die Rolle des “psychisch Kranken” spielen.

Das Janus-Gesicht vieler dieser Menschen offenbart sich darin, dass sie trotz ihrer “Krankheit” darunter leiden, gegen die Moral der Mächtigen verstoßen zu haben; wohingegen sie ihre Gewissensbisse gegenüber Gleichrangigen bzw. Untergordneten mit Verweis auf ihr pathologisches Leiden die Schärfe nehmen.

Der Mensch, der freiwillig die Rolle des “psychisch Kranken” spielt, ist somit ein vorbildlicher Bürger des Staates. Zwar ist er nicht mehr oder nur noch eingeschränkt produktiv im Wirtschaftsleben, als aktives Subjekt – aber er ist produktiv als passives Objekt der wirtschaftlichen Aktivität von Psychiatrie und Pharmaindustrie und mehrt deren Reichtum. Solche Menschen verdienen es, von der Psychiatrie umsorgt zu werden. Wer allerdings, obwohl dazu ausersehen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen sich weigert, den trifft die volle Härte des Systems.

Es gibt natürlich auch Menschen, die zwar den Begriff der “psychischen Krankheit” ablehnen, die aber dennoch jedes Gefühl ihrer Verantwortlichkeit vermissen lassen. Sie spielen die Rolle des “psychisch Kranken”, der kein “psychisch Kranker” sein will.

Die Psychiatrie liebt dieser Menschen gleichermaßen wie die Krankheitseinsichtigen, auch wenn sie, naturgemäß, den entsprechenden Typus mit besonderer, aber “liebender” Strenge behandelt (die erbarmungslos sein kann).

Denn die mit ihrer Verantwortungslosigkeit verbundene Gewissensarmut bringt ihre Mitmenschen gegen diesen Typus auf; und aufgebrachte Mitmenschen werden nur zu gern von der Psychiatrie zur Rechtfertigung ihrer repressiven Maßnahmen instrumentalisiert. Diese “krankheitsuneinsichtigen” Menschen, die in Wirklichkeit nichts begriffen haben, sind ein gefundenes Fressen für die Psychiatrie.

Was die Psychiatrie wirklich schmerzt, sind kritische Psychiatrieerfahrene, die ihren Gemeinschaftssinn vorbildlich in entsprechenden Verbänden oder Vereinigungen, Selbsthilfegruppen oder als streitbare, dem Menschen zugewandte Einzelpersonen entfalten. Sie sind tatsächlich eine Bedrohung für die Psychiatrie, weil ihr Verhalten keinerlei Ähnlichkeiten mehr aufweist mit den Eskapaden von Menschen, die sich als “psychisch Kranke” gerieren. Sie sind die leibhaftige Widerlegung des “medizinischen Modells psychischer Krankheiten”.

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Ad hominem

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Ein beliebtes Schachzug in Diskussionen ist das “argumentum ad hominem”. Das Schema wird in folgendem Beispiel deutlich:

Fritz: “Die psychiatrischen Diagnosen sind nicht valide.”

Paul: “Es ist doch klar, dass du als Scientologe so etwas sagst.”

Paul könnte mit seinem Argument zwar die Glaubwürdigkeit von Fritz erschüttern (sofern man Scientologen für Leute hält, die es mit der Wahrheit in Sachen Psychiatrie nicht so genau nehmen), aber selbst wenn Fritz tatsächlich Mitglied dieser Sekte und unglaubwürdig wäre, könnte er natürlich dennoch recht haben. Die Wahrheit einer Äußerung ist nämlich logisch unabhängig von ihrem Urheber. Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit dem ihr entsprechenden Sachverhalt übereinstimmt.

Und diese Übereinstimmung muss man eben nicht abhängig, sondern unabhängig von ihrem Urheber überprüfen. Es spielt keine Rolle, ob Fritz Scientologe, ein notorischer Lügner, dumm, verschlagen oder sonst etwas ist. Seine Aussage kann dennoch den Tatsachen entsprechen.

Tatsache ist, was aus sinnlicher Wahrnehmung gefolgert werden kann. Betrachten wir ein diagnostisches Verfahren als valide, wenn wiederholt Übereinstimmungen zwischen den Einstufungen und körperlichen Prozessen beobachtet wurden, und zwar in kontrollierten Studien von unabhängigen Beobachtern, so können wir aus dem Fehlen solcher Beobachtungen schließen, dass die psychiatrische Diagnostik in diesem Sinn zur Zeit noch nicht valide ist. Die Validität psychiatrischer Diagnostik ist keine Tatsache, sondern allenfalls eine Mutmaßung.

Zu diesem Urteil gelangen wir unabhängig von den Charaktermerkmalen Fritzens. Die Ungültigkeit des “argumentums ad hominem” sollte eigentlich ab einem IQ > 70 selbsterklärend sein. Menschen neigen aber dazu, aus den vorliegenden Informationen eine stimmige Geschichte zu konstruieren und diese dann für wahr zu halten, auch wenn uns wichtige, zur Beurteilung eines Sachverhalts entscheidende Informationen nicht vorliegen: What you see is all there is (1).

Dies gilt nicht nur für reale, sondern auch für suggerierte Wahrnehmungen: Wenn uns suggeriert wird, Fritz sei ein Scientologe, dann neigen wir zu der Überzeugung, seine Aussage zur Validität psychiatrischer Diagnosen sei eine entsprechend motivierte Lüge,auch wenn uns die Informationen zur Beurteilung der Wahrheit seiner Aussage gar nicht vorliegen.

Manche “sehen” in solchen Fällen sogar die angeblich charakteristischen Merkmale des Scientologen, wie beispielsweise den starren Blick, und daher erübrigt sich dann auch ein weiteres Nachdenken über die Aussage dieses Menschen. Das “argumentum ad hominem” hat seine Funktion erfüllt.

Dennoch ist das Ad-hominem-Argument natürlich ein Denkfehler. Es ist in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen verpönt, aber es schleicht sich auch dort immer wieder ein, weil es einfach zu schön ist – allerdings zu schön, um wahr zu sein.

Natürlich lieben nicht nur die Protagonisten der Psychiatrie dieses Argument, sondern auch deren Gegner. Auch hierfür ein Beispiel:

Psychiater: “Das Medikament hat eine eindeutig von seinen sedierenden Eingenschaften unabhängige antipsychotische Wirkung.”

Antipsychiater: “Wie viel zahlt Ihnen denn die Pharmaindustrie dafür, dass Sie dies behaupten?”

Selbst wenn die Pharmaindustrie ihm das U-Boot für seinen Swimmingpool finanziert hätte, könnte dieser Psychiater mit seiner Aussage durchaus recht haben. Ohne eine gründliche Analyse der vorliegenden empirischen Literatur zu diesem Thema können wir uns noch nicht einmal ein vorläufiges Urteil zum Wahrheitsgehalt seiner Behauptung erlauben. Und selbst die Tatsache, dass Kreise der Pharmaindustrie nachweislich die pharmakologische Forschung im Sinne ihrer Geschäftsinteressen verfälscht haben, ändert daran nichts.

Auch ich werde gelegentlich mit Ad-hominem-Argumenten attackiert. Das bisher dreisteste lautete, ich hätte bis 62 in der Zwangspsychiatrie gearbeitet und dort eine gute Rente verdient, demgemäß sei ich ein Arschloch und meine Behauptungen in der Pflasterritzenflora seien daher nur Gerede.

Zwar habe ich niemals in der Zwangspsychiatrie gearbeitet, sondern in der Medizinischen Rehabilitation so genannter Suchtkranker und dies auch nicht bis 62 (über die Rente lasst uns schweigen), aber dies ficht die Urheberin derartiger Verleundungen nicht an. Es versteht sich von selbst, dass ich ihr im Kommentarbereich der Pflasterritzenflora keine Plattform für schlechtes Benehmen einräume.

Es gibt andere, die nicht müde werden, mir ihre Dankbarkeit für mein “mutiges Aufklärungswerk” zu bekunden. Kommentare dieses Sinnes lasse ich stehen, aber nicht aus Eitelkeit (jedenfalls nicht in erster Linie), sondern aus Respekt. Es mag für manche eine Erleichterung sein, wenn ein Psychologe einräumt, dass psychiatrische Diagnostik und Therapie bzw. Psychotherapie überaus fragwürdig sind; das entsprechende Lob nehme ich nicht persönlich.

Dennoch wird durch derartige Anerkennung der Wahrheitsgehalt meiner Aussagen keineswegs gesteigert. Wäre ich ein schlimmer Finger, so änderte auch dies nichts an ihrer Beweiskraft. Meine Aussagen müssen schlicht und ergreifend unabhängig von meiner Person überprüft werden.

Das aufwertende “argumentum ad hominem” ist genauso unzulässig wie das abwertende. Es trifft zwar durchaus zu, dass nicht selten das Ad-hominem-Argument und der Wahrheitsgehalt einer Aussage übereinstimmen. Es kommt durchaus häufig vor, dass der notorische Lügner tatsächlich lügt und die ehrlich Haut realiter die Wahrheit sagt. Daher scheint das “argumentum ad hominem” als Ausdruck schnellen Denkens praktisch bedeutsam zu sein. Doch dies erinnert mich an den Ausspruch eines Unternehmers: “Die Hälfte meiner Werbeausgaben sind herausgeworfenes Geld; ich weiß nur nicht, welche Hälfte.”

Eigentlich ist die Verwendung eines Ad-hominem-Arguments” ein Schuss ins eigene Knie. Denn wer die Person wegen einer Aussage angreift, räumt damit implizit ja ein, dass ihm die sachlichen Argumente ausgegangen sind oder er niemals welche besessen hat, die schlagkräftiger sind als jene des Angegriffenen.

Wenn ich einen Gegner im Streit mit sachlichen Argumenten widerlegen kann, dann habe ich es doch gar nicht nötig, ihn persönlich zu diskreditieren. Man könnte natürlich behaupten, sachliche Argumente zu besitzen, aber das Publikum sei zu dumm, diese zu begreifen (allein man ist wohl gut beraten, derartige Erwägungen für sich zu behalten).

Leider verfängt das “argumentum-ad-hominem” trotz seiner offenkundigen Schwächen nicht nur bei geistig minderbemittelten, leichtgläubigen Menschen. Auf einer Ebene unseres mentalen Systems denken wir alle schnell, automatisch und oftmals kurzschlüssig. Klug ist, wer dies weiß und mit dem Verstand gegensteuert.

Anmerkung

(1) Kahneman, D. (2011) Thinking, Fast and Slow: Farrar, Straus and Giroux

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