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Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
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Scientology

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Als radikaler Psychiatriekritiker werde ich gelegentlich gefragt: “Herr Gresch, was halten Sie eigentlich von Scientology.” Da Scientology die Psychiatrie kritisiert und da ich ebenfalls die Psychiatrie kritisiere, liegt es für manche, die im logischen Denken noch nicht allzu sehr geübt sind, natürlich nahe, zumindest eine gewisse Affinität zwischen mir und dieser Organisation zu vermuten.

Auf der deutschen Website von Scientology heißt es:

“Scientology umfasst Wissen, das von bestimmten grundlegenden Wahrheiten ausgeht. Vorrangig sind die folgenden:
Der Mensch ist ein unsterbliches geistiges Wesen.
Seine Erfahrung geht weit über ein einziges Leben hinaus.
Seine Fähigkeiten sind unbegrenzt, auch wenn er sie gegenwärtig nicht verwirklicht.
Des Weiteren glaubt Scientology, dass der Mensch im Grunde gut ist und dass seine Erlösung von ihm selbst und seinen Mitmenschen abhängt und davon, dass er ein brüderliches Verhältnis mit dem Universum erreicht.”

Für mich ist der Mensch kein unsterbliches Wesen. Seine Erfahrung ist auf sein einziges und einmaliges Leben beschränkt. Seine Fähigkeiten sind begrenzt (leider oftmals allzu sehr). Überdies glaube ich, dass der Mensch im Grunde weder gut, noch böse ist, sondern von seiner Umwelt und auch von seinen Erbanlagen geneigt gestimmt werden kann, Gutes oder Böses zu tun. Für unmöglich, ja für unsinnig halte ich es, ein brüderliches Verhältnis mit dem Universum anzustreben.

Hier sieht man also, dass meine persönliche Weltanschauung der Glaubenslehre von Scientology entgegengesetzt, ja, durchaus fundamental entgegengesetzt ist. Ich bin Materialist und ich habe mit Religionen gleich welcher Art nichts am Hut.

Scientology scheint mit einer “Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V.” verbunden zu sein. Zu deren Mitbegründern zählt der von mir sehr geschätzte, vor kurzem verstorbene Psychiatriekritiker Thomas Szasz. Da ich mir als Anarchist von Parteien, Kirchen, Sekten, weltanschaulichen Vereinigungen und politischen Bündnissen nicht allzu viel verspreche, bin ich weder Mitglied, noch Unterstützer dieser oder irgendeiner anderen psychiatriekritischen Vereinigung. Ich wende mich mit meinen Botschaften an Personen, an Individuen, an Gemeinschaften von Einzelnen (Familien im direkten und im übertragenen Sinn), nicht an fiktive Massen.

Meine Einstellung beinhaltet keine grundsätzlich negative Bewertung von Scientology oder dieser Kommission. Andere mögen dort ihren Lebenssinn finden; ich gehöre nicht dazu. Als Libertärer bin ich nicht nur bereit, ich bin bei Strafe des Selbstwiderspruchs dazu gezwungen, die weltanschaulichen Bindungen anderer Menschen zu achten (auch wenn mir dies fallweise schwerfällt).

Mir ist bewusst, dass mich diese Stellungnahme nicht davor bewahren wird, von interessierten Kreisen in die Scientology-Ecke gestellt zu werden. Schließlich ist es ja auch wirklich zu bequem, Psychiatriekritiker in dieser Weise zu verunglimpfen. Die Mühe des sachlichen Arguments kann man sich dann ersparen. Und man läuft auch nicht Gefahr, dass irgendwer eine inhaltliche Replik auf meine Thesen nicht (so) versteht (wie sie gemeint war).

Wenn Scientology durch einen Zauber von der Bildfläche verschwände, als hätte es diese Gruppe nie gegeben, dann würde dies an meiner Psychiatriekritik nichts ändern, denn diese beruht im Kern auf empirischen Studien, die an anerkannten Universitäten und seriösen Forschungsinstitutionen verwirklicht wurden. Von Glaubenslehren halte ich mich fern. Dies bedeutet natürlich auch, dass meine Thesen durchaus durch methodisch saubere, replizierbare Forschungen teilweise oder vollständig über den Haufen geworfen werden können. Schon allein deswegen prallen persönliche Angriffe und Unterstellungen an mir ab. Die Angemessenheit meiner Thesen ist unabhängig von meinen persönlichen Merkmalen. Ihr Prüfstein ist die empirische Wissenschaft, nicht Scientology.

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Thomas Insels bemerkenswertes Blog

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Thomas Insel

Thomas Insel (1)

Thomas Insel ist der Direktor des weltgrößten psychiatrischen Forschungszentrums, des “National Institute of Mental Health”, kurz NIMH. Der Mann ist einer der einflussreichsten Psychiater auf diesem Planeten. Entsprechend groß war das Aufsehen, das er vor geraumer Zeit mit einem Eintrag in seinem “Directors Blog” erregte: “Transforming Diagnosis“; er schrieb u. a. Folgendes über das diagnostische Handbuch der amerikanischen Psychiatrie, DSM:

“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient.“

Sauber. Die Bosse der American Psychiatric Association (APA), die das DSM herausgeben, schäumten über vor schierer Begeisterung. Allerdings stellten sie dann, nachdem der Überschwang sich legte, die bange Frage, wie sich Thomas Insel denn eine Reform des Diagnostizierens genau vorstelle. Dies erfahren wir nun im neuesten Blog-Eintrag, BITs and BYTEs. Nachdem er seiner Begeisterung für die stürmischen Entwicklungen im Bereich moderner Elektronik und Computertechnik überschwänglich Ausdruck verliehen hat, fährt er fort:

“Als dies führt uns vor Augen, wie die Technik die Diagnose und Behandlung psychischer Störungen verändern wird. Auf der diagnostischen Seite haben wir ja bereits viele Geräte mit eingebauten Sensoren – Smart Phones, Computer, Anwendungen – die fortwährend Daten über Ort, Bewegung und Kommunikation einfangen, und die uns helfen, Echt-Zeit-Bilder des funktionellen Status’ zu kreieren. Aktivitätsmonitoren, die Schlaf und Bewegung überwachen, gibt es ja schon seit Jahrzehnten. Telefon-Sensoren können Depressionen aufgrund von Veränderungen in der Stimmqualität ‘diagnostizieren’. Einige haben vorgeschlagen, dass Kreditkartenunternehmen die ersten sein könnten, die den Beginn einer manischen Episode entdecken, obwohl diese Information scheinbar weitgehend vernachlässigt wird.”

Mir verschlägt es die Sprache: Sind dies die objektiven Daten, von denen Insel in “Transforming Diagnosis” sprach? Man könnte die Idee noch weiterspinnen und mutmaßen, dass dereinst ins Hirn implantierte Chips kontinuierlich Daten zur Diagnose unseres mentalen Zustandes an zentrale Computer liefern, die dann ggf. Alarm auslösen, so dass wir Besuch von sozialpsychiatrischen Diensten erhalten, die nach dem Rechten sehen und uns eventuell gleich mitnehmen, zu unserem Besten, versteht sich.

In einem Beitrag namens Research Domain Criteria — RDoC zu einem gewaltigen Forschungsprojekt des NIMH zur Neuro-Psycho-Biologie psychischer Störungen, schreibt der Direktor:

“So wie bei Brustschmerzen und Fieber, könnten durch Hinzufügen weiterer Werkzeuge in unseren diagnostischen Werkzeugkasten die augenblicklichen Etiketten wie ‘Depression’ und ‘Schizophrenie’ präziseren Kategorien Platz machen. Diese Fortschritte könnten das Potenzial besitzen, die Art und Weise zu revolutionieren, wie wir psychische Störungen diagnostizieren und, bedeutender noch, behandeln.”

Ich empfehle mit großem Nachdruck die Lektüre des Director’s Blog. Das NIMH ist eine staatliche Institution, sie untersteht dem amerikanischen Gesundheitsministerion. Und die USA sind eine imperialistische Macht, die den Planeten durch ein Netzwerk von Kolonien, den so genannten militärischen Stützpunkten, voll im Griff hat. Niemand möge mir vorhalten, dass ich hier gerade dazu ansetze, eine Verschwörungstheorie zu entwickeln. Verschwörungstheorien beinhalten als zentrales Element stets die Geheimhaltung. Hier aber wird nichts geheim gehalten. Das “Director’s Blog’ und ähnliche Publikationen sind öffentlich, für jedermann zugänglich.

Insel fantasiert nicht,  er ist kein Utopist. Zwar kann man mit den von Insel erwähnten und mit den von mir weitergedachten Methoden keine “psychischen Krankheiten” diagnostizieren (bei diesen “Diagnosen” handelt es sich immer um Bewertungen, die nicht auf Fakten basieren),  wohl aber kann man damit Abweichungen von Normen oder anderen gesellschaftlichen Zielvorgaben detektieren. Und darauf, nicht auf ominöse “psychische Krankheiten”, kommt es interessierten Kreisen im amerikanischen Imperium offenbar an.

Dies ist keine Kritik an Insel. Der Direktor ist fraglos ein ehrenwerter Mann, er will das Gute, nein, das Beste, er schließt seinen BITs-and-BYTEs-Beitrag mit den Worten:

“But for now, it will take our best minds to figure out how to harness this second machine age to make sure we empower people with technology rather than creating more problems for human therapists to solve.”

Wir müssen die Menschen mit Technologie ermächtigen, ihnen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Klar. Guter Mann, dieser Insel. Ob die NSA das auch so sieht?

Anmerkung:

(1) Bild von Thomas Insel gefunden in Wikipedia; Public Domain, da Arbeit eines Angestellten der amerikanischen Regierung

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Medizin

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Wohlmeinende, humanistisch gesinnte Zeitgenossen, auch Ärzte, sagen mir, dass es schon zutreffe, klar, die so genannten psychisch Kranken seien in Wirklichkeit gar nicht krank, zumindest nicht im Sinne der zeitgenössischen, naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Dass mit ihnen aber etwas nicht stimme, dass sie der Hilfe bedürften, dass diese professionell gewährt werden müsse, daran könne doch selbst ich, der notorisch Verstockte, keinen Zweifel anmelden, der vor meinen eigenen moralischen Maßstäben Bestand hätte. Warum eigentlich müsse man denn, so wie ich, die Medizin, diese uralte Heilkunde, auf einen allzu engen Krankheitsbegriff beschränken? Recht bedacht, auch im Licht ihrer langen Geschichte, wolle, könne und müsse der Arzt doch allen Mühseligen und Beladenen helfen, die sich nicht selbst helfen könnten, unabhängig davon, ob man in irgendwelchen Hirnwindungen den Grund für ihre Malaise entdecken könne oder nicht.

Bei ersten Hinhören kann man da nur sagen: Ja, sicher, so bedacht…

Doch, ja, aber! Schaut man genauer hin, dann zeigt sich, dass dieser Arzt, der den Mühseligen und Beladenen helfen möchte, ganz gleich, woran sie leiden, seine Dienste zwangsläufig im Rahmen einer Struktur anbieten muss, die dem medizinischen Modell der “psychischen Krankheiten” entspricht. Aus Sicht dieses Modells ist die “psychische Krankheit” ein individueller Prozess, einer, der im Organismus des “Kranken” abläuft, sei es nun in seiner Psyche (was immer das sein mag) oder in seinem Gehirn. Aus diesem Grunde wird von den Menschen, die sich Hilfe suchend an einen Arzt wenden, erwartet, dass sie die Rolle des (potenziell) psychisch Kranken einnehmen, dass sie ihre “Symptome” vortragen, dass sie ihre Medikamente einnehmen oder dass sie sich in eine Psychotherapie begeben, die ihr Fehlverhalten korrigiert. Kurz: Ob er will oder nicht, auch der wohlmeinende Arzt ist Akteur in einem Handlungssystem, das aus Mühseligen und Beladenen grundsätzlich Kranke macht. Und was heutzutage als “krank” betrachtet wird, das können die Individuen nicht nach Gusto von Fall zu Fall festlegen, sondern das ist kulturell bestimmt – und in unserer heutigen, technisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Kultur ist die “psychische Krankheit” eben eine Krankheit wie jede andere, nur, dass sie das Gehirn betrifft und man noch nicht so genau weiß, wie.

Nüchtern betrachtet, ist der einzige tragfähige Grund, die Mühseligen und Beladenen, die Menschen, die unter Lebensproblemen leiden, die in Lebenskrisen stecken, als “psychisch Kranke” zu betrachten, darin zu sehen, dass diese Menschen, so etikettiert, dann als Objekte medizinischen Handelns aufgefasst werden können, für deren Behandlung die Krankenkassen aufkommen müssen. Es gäbe ohne diese Etikettierung keinen genuinen Grund, die Medizin als Hauptzuständige zu betrachten. Die medizinische Oberhoheit schmölze dahin in diesem Bereich, wenn das medizinische Modell der “psychischen Krankheiten” als das durchschaut würde, was es ist: ein Marketinginstrument der Medizin und Pharmawirtschaft nämlich.

Wir haben es hier mit der unheimlichen Macht des Faktischen zu tun. Für die Mühseligen und Beladenen, die der Hilfe bedürfen, gibt es kaum Alternativen zum psychiatrischen System, in das natürlich auch die Psychotherapeuten einbegriffen sind, die sich mitunter ja fälschlicherweise für etwas Besonderes halten. Seitdem die moderne Psychiatrie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als medizinische Spezialdisziplin entstand, bemühte sie sich mit wechselndem Erfolg, sich letztlich aber doch durchsetzend, den Bereich der Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen zu dominieren und diesen nach Möglichkeit auszuweiten. Daher können sich viele Menschen nichts anderes vorstellen, als dass jemand, der ausklinkt, der nicht richtig tickt, der “Probleme hat”, in die Psychiatrie muss.

Der wohlmeinende, humanistisch gesinnte Arzt mit dem erweiterten philosophischen Blick, jenes Exemplar dieser Gattung also, das in der Regel erst nach der Pensionierung zur vollen Reife gelangt, hat natürlich Recht mit seiner Behauptung, dass die heutige Einengung der Medizin auf Heiltechnik unheilvoll ist und dass nach wie vor Medizin Heilkunde, ja Heilkunst sein müsse. Allein, diese Einsicht zerschellt an den Klippen eines Systems, dass “Krankheit” zunehmend als Störfaktor definiert, der möglichst kosteneffizient repariert werden muss wie die Funktionsstörung einer Maschine, deren Fehlfunktion den Betrieb aufhält.

Es genügt nicht, nur den weißen Kittel abzulegen, es genügt auch nicht, im bunten Hemd als Bahama-Psychologe den Kumpel zu geben. Wer als Arzt oder Psychologe  in einem alternativen System der Hilfe tätig werden will, muss aufhören, Psychiater oder Psychotherapeut zu sein. Diese professionellen Rollenbilder sind heute auf ein System zugeschnitten, das Menschen mit Lebensproblemen als “psychisch Kranke” behandelt, ihnen dieses Selbstverständnis nahelegt, ja,  aufzwingt.

Daran kann eine wohlmeinende philosophische Einstellung nichts ändern; “Postpsychiatrie” ist alter (saurer) Wein in neuen Schläuchen.

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Therapie für Sexualstraftäter?

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Ein Bundestagsabgeordneter lässt sich Fotos und Videos von nackten Kindern schicken. Das kommt raus. Die Empörung ist natürlich groß. Härtere Strafen werden gefordert. Und, klar, auch Therapie. Die Pädophilen seien Kranke, so heißt es, und deswegen gehörten sie in Behandlung, die ihnen das sexuelle Interesse an Kindern austreiben solle.

In Talkshows versammeln sich Politiker und Therapeuten. Die Politiker fordern mehr Therapien und die Therapeuten mehr Geld. Ich habe in der Pflasterritzenflora wiederholt darauf hingewiesen, dass die Psychiatrie über keine objektiven Verfahren zur Diagnose der so genannten psychischen Krankheiten verfügt. Dies gilt natürlich auch für die so genannten Paraphilien. Nun wäre es ja egal, ob einschlägige Therapien Krankheiten behandeln oder nicht, wenn sie nur die Rückfallquote bei den behandelten Sexualstraftätern senken würden.

Schaut man sich die Forschungsliteratur zu diesem Thema allerdings genauer an, so muss man leider feststellen, dass sie zur Therapie von Sexualstraftätern im Allgemeinen und zur so genannten Pädophilie im Besonderen eher spärlich ist. Ein gründliche Analyse vorliegender Übersichtsarbeiten zu diesem Thema kam beispielsweise zu dem Schluss, dass die Kognitiv-behaviorale Therapie bei einigen Tätergruppen einen allerdings eher mäßigen Erfolg zu haben scheine, dass aber die Primärarbeiten, auf die sich diese Übersichtsartikel beziehen, durch eine niedrige methodische Qualität gekennzeichnet seien:  “Eight SRs met the inclusion criteria. Evidence from seven moderate-to-high quality SRs suggests that cognitive behavioural therapy (CBT) delivered within programs adhering to the risk/need/responsivity (RNR) model has the potential to reduce recidivism. These findings must be tempered as they are mostly based on poor quality primary research.” (1). (SR= systematic review)

Linda Grossman und Mitarbeiter gelangen in ihrer Übersichtarbeit zu einer vergleichbaren Einsicht: “Treatments for sex offenders do exist, and the outcome data are not uniformly discouraging. They are, however, complex, difficult to interpret, and cause for cautious optimism at best (3).

Unter dem Gesichtspunkt der mangelhaften methodischen Qualität einschlägiger Studien ist auch die Einschätzung Des Leiters der Kriminologischen Zentralstelle Wiesbaden, Rudolf Egg zu würdigen, der schreibt: “So zeigten Therapieansätze, die vor dem Jahr 1980 zum Einsatz kamen, kaum positive Effekte, während neuere Verfahren sowohl die allgemeine Rückfälligkeit wie die einschlägige Rückfälligkeit deutlich reduzierten (von 51% auf 32% bzw. 17% auf 10%). Besonders günstig schnitten dabei (bei erwachsenen Straftätern) so genannte kognitiv-behaviorale Verfahren ab (2).”

Gestern, im Fernsehen, bei Günther Jauch, sagte Familienministerin Manuela Schwesig über Pädophile mit Leidensdruck: “Wer den bei sich feststellt, kann gerne eine Therapie machen.” In einem Bericht der Süddeutschen wird diese Aussage mit den Worten kommentiert:

“Mit dieser Aussage offenbart die Ministerin, dass sie wenig weiß von der Realität in Deutschland. Einem Land, in dem Täter und Opfer auf erhebliche Hindernisse und lange Wartelisten stoßen, wenn sie Hilfe suchen. Pädophile, die auf einen Platz in dem Präventionsprogramm “Kein Täter werden” warten, dessen Finanzierung regelmäßig gefährdet und zumeist nur durch Unterstützung von privaten Stiftungen und gemeinnützigen Vereinen möglich wird. Opfer, die zumeist noch länger auf einen Platz in einer Therapieeinrichtung oder bei einem Psychotherapeuten warten und bei Krankenkassen häufig um Bewilligung und Verlängerung der Maßnahmen kämpfen müssen. Kurzum: Es fehlt Geld, viel Geld.

Das Übliche also: Geld, mehr Geld. Geld für Therapie. Geld für Projekte, von denen niemand auch nur halbwegs sicher sagen kann, ob sie überhaupt etwas nützen. Der ebenfalls in die Runde geladene Journalist Sebastian Bellwinkel mahnt: “Die Politik gibt sich sehr aktiv, doch Maßnahmen wurden bisher kaum umgesetzt, Geld nicht zur Verfügung gestellt. Das rückt das Ganze in die Ecke von hochgradigem Populismus.”

Alle, alle fordern, versprechen Geld, geben Geld aus. Wenn es um ein verteufelt brisantes, hoch emotionales Thema wie Sexualstraftaten, wie insbesondere Pädosexualität geht, dann scheint die Rationalität des Geldausgebens keine Rolle mehr zu spielen. Es wäre allerdings nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus Gründen politischer Vernunft wünschenswert, sich diesem Thema mit sachlicher Distanz zu nähern. Straftaten, schwere zumal, sind immer verwerflich, nicht nur sexuelle.

Was bleibt denn, bei nüchterner Betrachtung, anderes übrig, als Sexualstraftäter, wie andere Kriminelle auch, entsprechend der Schwere ihrer Tat zu bestrafen, sie ihre Strafe absitzen zu lassen und sie dann, manchmal mit mulmigem Gefühl, wieder freizulassen? Angesichts der arg begrenzten Möglichkeiten psychiatrischer Diagnostik, Prognostik, Therapie und Nachsorge, um es milde zu formulieren, sind medizinische Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten für Sexualstraftäter letztlich nicht zu rechtfertigen.

Solche Maßnahmen mögen das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung verstärken, aber selbst das ist fraglich. Und gerechtfertigt wäre diese Wirkung überdies keineswegs. Solche Maßnahmen mögen die Taschen von Therapeuten füllen, aber wo bleibt die Gegenleistung? Politiker sind fein raus, wenn sie Therapie fordern, denn schließlich erweist man sich so als humaner Zeitgenosse, der die schuldlos schuldig gewordenen Kranken schonen oder gar heilen und gleichzeitig den Schutz von Kindern und Frauen vor sexuellen Übergriffen gewährleisten möchte.

Die vorhandenen therapeutischen Ansätze können jedoch allenfalls als experimentell bezeichnet werden und ihre Ergebnisse wurden bisher noch nicht in einer methodisch sauberen und eindeutig interpretierbaren Form evaluiert.

Angesichts der Bedeutung dieses Problems, angesichts auch der Aufwallungen, die es periodisch auslöst, wenn wieder einmal ein Prominenter verstrickt zu sein scheint, ist es schon verwunderlich, dass die Behandlung von angeblich psychisch kranken Sexualstraftätern sich immer noch in einer experimentellen Phase befindet und bisher noch nicht methodisch einwandfrei bewertet wurde. Zyniker, zu denen auch ich mich mitunter zählen muss, könnten auf die Idee kommen, dies spräche wohl nur dafür, dass man lieber gar nicht so genau wissen wolle, was bei diesen wundersamen Therapien für Pädophile und andere Sexualstraftäter tatsächlich herauskomme. Der Zyniker vergisst hier allerdings zu erwähnen, dass es erhebliche methodische Probleme gibt, die sich der Erforschung solcher Therapien in den Weg stellen. Dies ändern allerdings auch nichts an der Tatsache, dass die Daten fehlen, mit denen man Therapie für Sexualstraftäter als Standardangebot legitimieren könnte.

Bei nüchterner Betrachtung wird man die Pädophilen wohl in Ruhe lassen müssen, solange sie sich nicht passiv (durch Betrachtung einschlägigen, verbotenen Materials) oder aktiv (durch Kinderschändung) strafbar machen. Nach Verbüßung ihrer Strafe sollte man sie ebenfalls nicht mehr behelligen. Mir ist bewusst, dass die erforderliche Gelassenheit bei diesem Thema schwer zu erreichen und durchzuhalten ist. Aber ich sehe keinen anderen gangbaren Weg in einem demokratischen Rechtsstaat.

Anmerkungen

(1)Corabian, P. et al. (2011). Treatment for convicted adult male sex offenders: an overview of systematic reviews. Sexual Offender Treatment, Volume 6, Issue 1

(2) Egg, R. (2003). Einen Königsweg zur Verhinderung gibt es nicht. Kriminalität mit sexuellem Hintergrund. Sicherheit und Kriminalität, Heft 1

(3) Grossman, L. S. (1999). Are Sex Offenders Treatable? A Research Overview. Psychiatric Services, VOL. 50, No. 3

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PEPP

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PEPP ist eine Abkürzung. Sie steht für “pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“. PEPP sorgt für Aufregung. Es geht ums Geld. Natürlich. Seit 2013 ist es den einschlägigen Einrichtungen freigestellt, sich daran zu beteiligen. Ab 2015 soll PEPP für alle gelten. Es werden nicht mehr tagesgleiche, auf die Einrichtung bezogene  Pflegesätze abgerechnet. Sie bemessen sich vielmehr an den Durchschnittskosten von Behandlungen mit vergleichbarem Aufwand. Daher kommt der Name PEPP: Es handelt sich, o Gott, um Tagespauschalen. Der Hauptkritikpunkt, den die üblichen Verdächtigen, aber auch andere Interessierte vortragen, ist die “degressive ” Gestaltung der Pauschalen. Diese sinken nämlich nach einer bestimmten Behandlungsdauer.

Viele, viele wohlmeinende Stimmen haben sich zu Wort gemeldet und beklagt, dass sich mit dem neuen System die Versorgung der psychisch Kranken verschlechtern werde. Eine Website wurde ins Netz gestellt: PEPP nicht einführen. Dort steht auf einer Seite zum Hintergrund des Widerstandes gegen PEPP:

“Degression passt nicht zu den häufig fluktuierenden Verläufen einer schweren psychischen Erkrankung, da unter anderem am Ende einer stationären Behandlung oft ein größerer Aufwand dadurch entsteht, dass die Entlassung vorbereitet und die ambulante Betreuung sichergestellt werden muss.”

Und weiter:

“Insgesamt setzt das PEPP-System Anreize in die falsche Richtung. Dass Wiederaufnahmen vor Ablauf eines Vierteljahres mit einer Absenkung der Pauschale gleichsam “bestraft” werden sollen, folgt ebenfalls einer fiskalischen Logik, die den Besonderheiten psychiatrischer Krankheitsverläufe nicht gerecht wird und mit einer angemessenen Patientenversorgung nicht zu vereinbaren ist. Wenn noch behandlungsbedürftige Patientinnen und Patienten zu früh entlassen werden und bald darauf (oftmals dann als Notfall) wieder aufgenommen werden müssen, entsteht ein erheblicher Drehtüreffekt. Wenn es schon zu einer Verkürzung der Krankenhausaufenthalte kommen soll, sind Anreize für eine intensive Behandlung außerhalb des stationären Bereichs zu fordern.”

All dies klingt ja irgendwie schön, gut und überzeugend, solange man nicht genauer hinschaut und darüber nachdenkt. Zunächst einmal gilt es zu bedenken, dass die Leute nicht etwa in eine solche Einrichtung aufgenommen werden, weil sie nachweislich dort etwas zu suchen hätten, weil sie krank sind. Im Gegenteil: Die psychiatrischen Diagnosen sind willkürlich, weil die entsprechenden diagnostischen Verfahren nicht valide sind. Die habe ich u. a. in meinem Beitrag “Die psychiatrische Diagnostik” näher erläutert.

Da die Psychiatrie also nicht in der Lage ist, irgendetwas “Krankhaftes” nachzuweisen, dass unabhängig von den so genannten Symptomen festgestellt werden könnte, ist sie erst recht nicht fähig, die Schwere dieser mutmaßlichen Erkrankungen zu bestimmen und selbstredend hat sie auch kein objektives Kriterium dafür, wann ein “Kranker” reif für die Entlassung ist. All dies entscheidet die Psychiatrie nach Gutdünken.

Auf der Seite zum Hintergrund heißt es bei den PEPP-Kritikern weiter:

“Befürchtet werden muss auch, dass es zu einer vermehrten Medikalisierung, insbesondere in Form medikamentöser Ruhigstellung der Patientinnen und Patienten, und häufigeren Aufenthalten in geschlossenen Stationen kommt, wenn aufwändige Therapiemöglichkeiten und personalintensive Begleitungen und Gespräche immer weniger angeboten werden können. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen Zeit für Gespräche mit den Patientinnen und Patienten haben.”

Man stelle sich ein typisches Mafia-Rollkommando vor:

“Wenn Sie uns das Schutzgeld nicht bezahlen, lieber Wirt, dann müssen Sie befürchten, nein, dann können sie damit rechnen, dass böse Menschen ihre wunderbare Gaststätte in eine Fischbratküche verwandeln und dass dabei kein Auge trocken bleibt.”

Es liegt bekanntlich im Ermessen der Psychiatrie, jemanden für psychisch krank zu erklären, jemanden als fremdgefährdend und  / oder suizidal einzustufen und ihn kraft Gerichtsgutachten in eine Geschlossene zu bringen.

Die Liste der Unterstützer dieser PEPP-kritischen Website ist lang; wie bereits betont, finden sich nicht nur die üblichen Verdächtigen darunter, sondern auch Gewerkschaften, Parteien, sogar Verbände und Vereine von Psychiatrie-Erfahrenen – alles ehrenwerte Leute.

Was also in den echten Krankenhäusern längst Usus ist, nämlich ein Abrechnungssystem nach Fallpauschalen, betrachtet eine Volksfront der Unwilligen als nicht geeignet für die Psychiatrie. Unter diesen Protestlern finden sich auch Leute, die ansonsten nicht müde werden zu betonen, dass die so genannten “psychischen Krankheiten” Erkrankungen wie alle anderen auch seien und dass man “Schizophrenie” und Diabetes durchaus miteinander vergleichen könne.

Dabei ist es offensichtlich, dass in diesem Bereich ein pauschalierendes Entgeltsystem darum nicht passt, weil es sich bei den Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden, gar nicht um Kranke handelt, die deswegen auch nicht behandelt werden können wie Kranke. Das springt ins Auge. Die Psychiatrie kann die Verläufe dieser mutmaßlichen Erkrankungen ebenso wenig prognostizieren wie die Wirkungen der Medikamente und anderer so genannter Therapien auf die angeblichen Patienten.  Dadurch wird die Kostenkalkulation bei diesen “Krankheiten” zu einem Spiel mit vielen Unwägbarkeiten. Da fordert man dann doch lieber mehr als weniger, schon allein darum, um, was die Kostendeckung betrifft, auf der sicheren Seite zu sein.

Der so genannte psychisch Kranke ist laut gängiger Auffassung ein Mensch, der an einem Prozess in seinem Inneren leidet und der diesen Prozess nicht oder nicht ausreichend zu kontrollieren vermag. Deswegen hat der der Verantwortung für seinen Behandlung an den Arzt zu übertragen. Er wird dadurch zu einem Objekt der Kostenkalkulation.

Aus meiner Sicht gibt es keine “psychischen Krankheiten” und keine “psychisch Kranken”. Die Phänomene, die von Ärzten als “Symptome psychischer Krankheiten” gedeutet werden, existieren natürlich durchaus. Aber die Deutung ist falsch. Menschen entscheiden sich dazu, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen, weil ihnen dies als die beste aller verfügbaren Alternativen erscheint. Die Verantwortung liegt demnach bei ihnen. Selbstverständlich räume ich ein, dass die genannte Entscheidung oftmals nachvollziehbar ist und das die Bewältigung ihrer Konsequenzen mitunter die Kräfte des Betroffenen überschreitet. Hilfe ist also anzubieten; und da darf man auch nicht knauserig sein. Allein: Warum geben wir den Betroffenen nicht ihre Verantwortung zurück?

Warum wird nicht mit einem Budget gearbeitet, das Menschen zur Verfügung gestellt wird, die mit Phänomenen zu kämpfen haben, die heute noch als “Symptome psychischer Krankheiten” gedeutet werden? Mit diesem Budget könnten sie Hilfen einkaufen – nicht medizinischer Art, versteht sich. Für die Behandlung eventueller richtiger, also nachweislich körperlicher Erkrankungen wäre nach wie vor die Krankenkasse zuständig. Wäre das Budget verbraucht, dann müssten die Betroffenen weitere Leistungen eben aus eigener Tasche bezahlen oder darauf verzichten (auch Letzteres könnte heilsam sein).

Wer sich nicht von der Fiktion “psychischer Krankheiten” zu lösen vermag, wird auf diesen Vorschlag vermutlich mit Unverständnis reagieren. Wieso sollten Leute Geld erhalten zur Lösung von Lebensproblemen, wenn diese gar nicht durch eine Krankheit verursacht wurden? Wer hätte dann Zugriff auf dieses Budget? Irgendwer wird dies ja wohl entscheiden müssen. Ja sicher.

Ich könnte mir vorstellen, dass Leute einfach, so gut sie es vermögen, vor einem Gremium oder auch einer Einzelperson ihr Problem schildern und dass dann entschieden wird, ob diese Menschen einen Geldbetrag erhalten – der für den Zeitraum eines Jahres reichen muss. Mit diesen Mitteln könnten sie aus einem Katalog von sozialen, kulturellen oder auch wirtschaftlichen Maßnahmen für sie Geeignetes auswählen. Dies sollte so unbürokratisch wie möglich ablaufen. Das wäre doch eine Lösung mit Pep.

Man würde dabei, so meine Prognose, erheblich Geld sparen, denn die aus meiner Sicht völlig unnötigen psychiatrischen Maßnahmen, die kostspielig sind, könnten gestrichen werden. Ersatzweise hätten Betroffene die Wahl unter Alternativen, die mit Sicherheit nicht schlechter, hoch wahrscheinlich aber wesentlich effektiver sind als die Psychiatrie.

Es könnte hier sogar ein freier, nicht durch Krankenkassen geregelter Markt entstehen, der Angebote hervorbringt, die von den Betroffenen auch nachgefragt würden, die ihnen nicht aufgezwungen oder die ihnen aufgeschwätzt werden müssten. Die Freiheit der Berge einmal ausgenommen, sagt, was könnte herrlicher sein?

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Esoterik

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Was habe ich nur falsch gemacht. Leute rufen mich an, schreiben mir. Sie bedanken sich überschwänglich dafür, dass ich die männliche, grausame Welt der Psychiatrie entlarve. Sie verleihen sprudelnd ihrer Freude Ausdruck, in mir einen spirituellen Weggenossen ins lichte, weibliche Reich der Esoterik gefunden zu haben.

So ist das aber nicht. Mit vorgehaltener Knarre vor die Wahl gestellt, würde ich mich – zähneknirschend – für den Psychiater entscheiden und nicht für den Esoteriker. Alles Esoterische ist mir ein Graus. Und dies vor allem aus folgenden drei Gründen.

  1. Erkenntnis sollte nicht durch Innenschau und tiefe Versenkung gewonnen werden, sondern am besten durch experimentelle Forschung.
  2. Die Ausbildung sollte nicht zu Füßen des Meisters, durch Rituale und Belehrungen erfolgen, sondern an Universitäten, durch Lehrbücher, im Labor.
  3. Die höchste Autorität sollte nicht ein Guru sein, ein Lehrer, sondern der Konsens in einer freien Gemeinschaft empirisch forschender Wissenschaftler (die natürlich nicht durch wirtschaftliche oder politische Interessen gesteuert werden darf).

Mir ist bewusst, dass ich hier die Wissenschaft idealisiere und dass deren Realität mitunter sehr weit von diesem Ideal entfernt ist. Allerdings weiß ich auch, dass sie, je weiter sie sich davon entfernt, den Guru-Systemen der Esoterik immer ähnlicher wird. Daher möchte ich den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben.

Werner “Akizur” Ruzicka ist ein tiefgründiger Rezitator von Texten der Weltliteratur, der gelegentlich auch eigene Arbeiten vorträgt. Bei Youtube fand ich vier ausgezeichnete Vorträge zum Thema “Esoteric Bullshit”:

The Rock und Light Meditation
The Wise Thing in the Cave
I Ching and the Stock Market
Massage and Body Work

An diesem Manne scheiden sich die Geister. Die einen finden ihn abscheulich, die anderen faszinierend. Neutral bleiben da nur wenige. Man könnte die Vorträge aus der Reihe “Esoteric Bullshit” also durchaus als Tests verwenden, wenn man herausfinden will, ob man es mit einem Esoteriker zu tun hat und nicht direkt danach fragen möchte.

Die Pflasterritzenflora ist klein Blog, dessen Eigentümer die böse Psychiatrie durch die gute Esoterik ersetzen möchte. Erst recht ist ihm nicht daran gelegen, die gute Psychotherapie gegen die böse Pillen-Psychiatrie auszuspielen. Meine Lebenserfahrung hat mich gelehrt, dass eine säuberliche Trennung zwischen dem Guten und dem Bösen in dieser ach so fehlbaren Welt in aller Regel nicht möglich ist. Auch ist die Wahrheit ein kostbares Gut, ein seltenes zudem, und durch höhere Weihen wird sie nicht “wahrer”; man kann “wahr” ebenso wenig steigern wie “schwanger”.

Was uns zur Orientierung bleibt, ist allenfalls eine mutmaßliche Wahrheit, von der wir solange überzeugt sein dürfen, wie sie nicht durch empirische Forschung erschüttert worden ist. Das ist nicht viel. Unsere Gewissheiten sind zerbrechlich. Doch etwas anderes gibt es nicht. Weder dogmatische Wissenschaft, noch esoterische Weisheit schaffen die Tatsache aus der Welt, uns recht eigentlich darauf verlassen zu können, dass ein erheblicher Teil unseres scheinbaren Wissens in Wirklichkeit ein Irrtum ist.

Dies gilt selbstverständlich auch für die “Wahrheiten” der Pflasterritzenflora. Ich trage sie nach bestem Wissen und Gewissen vor, sie beruhen auf gründlichen Recherchen in der empirischen Literatur, sie entsprechen meiner Lebenserfahrung, dennoch sollte sie niemand ungeprüft glauben. Sie sind vielmehr als Anregung zu verstehen, sich eigenständig mit der jeweiligen Thematik vertraut zu machen. Anders begriffen, wäre die Pflasterritzenflora “anti-psychiatric bullshit”.

Selbstverständlich gibt es Bereiche der allumfassenden Wirklichkeit, die sich der Wissenschaft, der empirischen Forschung entziehen. In diesen Bereichen gelten keine Naturgesetze, ja, nicht einmal die Logik kann eine zwingende Macht entfalten. Es gibt hier auch keine Rationalität, denn Ratio, das Verhältnis, das Berechenbare, findet keinen Fußhalt im Unwägbaren. Dieser Bereich ist unsere Innenwelt. Doch dorthin kann uns auch kein Guru folgen und erst recht kann uns kein Psychiater raten, wie wir mit den Gegebenheiten unserer Innenwelt umgehen sollen. Dies müssen wir selbst herausfinden. Wir allein haben Zutritt zu unserer Innenwelt, niemand sonst.

“Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt.”  – 1.Akt, 5. Szene, Hamlet

Sicher wahr. Nur eine Rechtfertigung der Esoterik lässt sich aus dieser banalen Wahrheit nicht ableiten. Es gibt in der Tat viele Dinge, die der Wissenschaft noch unbekannt sind oder die sie vielleicht niemals ergründen wird. Dies bedeutet aber keineswegs, dass die Meisterdenker der Esoterik es besser wüssten, geschweige denn die Westentaschen-Gurus aus dem Wochenend-Seminar.

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Statt Psychiatrie – kleine einfache Schritte

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Manche fordern die Abschaffung der Zwangspsychiatrie, andere, Mutigere, die der Psychiatrie insgesamt. Dies sind Ziele, deren Verwirklichung ich vermutlich nicht mehr erleben werde, wenn sie überhaupt jemals realisiert werden sollten (im Rahmen des herrschenden Systems kann ich mir dies kaum vorstellen). Viele Betroffene, auch solche mit beträchtlichem Hass auf die Psychiatrie, fügen sich achselzuckend in ihr Schicksal, weil sie sich sagen, Widerstand gegen die Psychiatrie bringe ja doch nichts, diese Institution sei einfach zu mächtig, zu groß, um zu scheitern (to big to fail).

Diese weit verbreitete Haltung, die über Wut oder gelegentliche rationale Kritik an den Verhältnissen nicht hinauskommt, ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Psychiatrie-Befürworter. Natürlich sei in der Psychiatrie nicht alles Gold, so heißt es, natürlich gäbe es Missstände, schlimme und schlimmste sogar, aber… Da die Unzufriedenen, die Kritiker eben auch nicht wüssten, wie man es besser machen könnte, da sie, sofern sie trotzdem Vorschläge vorbrächten, Ideen verträten, die sich nicht durchsetzen ließen (weil die Mehrheit dagegen sei), müsse man dann wohl doch mit der guten, alten Psychiatrie vorlieb nehmen, da wisse man zumindest, was man habe.

Der Charme des Alltags fasziniert mich, seitdem ich denken kann. Einer der Gründe dafür, dass ich mein Tagebuch “Pflasterritzenflora” taufte, ist darin zu sehen, dass in Pflasterritzen scheinbar nutzlose, oft unscheinbare, als hässlich, als Unkraut erachtete Pflanzen wachsen, die allerdings bei genauerer Betrachtung ein weites Feld vielfältiger und vielschichtiger Bedeutungen besiedeln. Vielleicht muss man ja auch einfach nur genauer hinschauen, um den Sinn der Phänomene zu verstehen, die von der Psychiatrie als nicht nachvollziehbar, als Ausdruck einer Pathologie des Hirns begriffen werden.

Statt Psychiatrie kann jeder mit kleinen einfachen Schritten beginnen, Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar durch:

  1. Verwendung einer angemessenen Sprache. Die Psychiatrie gaukelt uns durch Begriffe wie “Depression”, “Schizophrenie”, “Neuroleptika” oder “Kognitiv-behaviorale Therapie” ein Wissen vor, das sie gar nicht besitzt. Sie kennt weder die Ursachen der angeblichen Krankheiten, die sie behandelt, noch verfügt sie über objektive Verfahren, sie zu diagnostizieren. Weder weiß sie, wie ihre Maßnahmen auf den einzelnen wirken, bei wem sie wirken, noch ist sie in der Lage, das zukünftige Verhalten von Menschen zu prognostizieren. Man kann also das psychiatrische Vokabular ersatzlos streichen, ohne dass man dadurch Informationen preisgibt. Der Kaiser ist definitiv nackt; sein Kleid ist eine Illusion aus hochtrabenden Worten. Demgegenüber ist unsere natürliche Sprache, die Sprache des Alltags reich an Begriffen, die sich auf Verhaltensweisen und Erlebnismuster beziehen, von denen die Psychiatrie behautet, sie seien Ausdruck einer “psychischen Krankheit”. Diese Begriffe zu verwenden, ist nicht etwa weniger wissenschaftlich als das Schwelgen in der psychiatrischen Nomenklatur. Im Gegenteil: Nur wenn wir die Phänomene beschreiben, anstatt sie durch das Verdikt “psychisch krank” aus der Reflexion auszublenden, haben wir eine Chance, uns ihre Bedeutung zu erschließen.
  2. Exploration statt Konstruktion. Kritiker unterstellen, dass die psychiatrischen Diagnosen soziale Konstrukte seien. Es gäbe die so genannten psychischen Krankheiten gar nicht. Vielmehr hätten sich Psychiater in nationalen und internationalen Gremien angebliche “Krankheitsbilder” nur ausgedacht, nach denen nun Menschen beliebig in Schubladen eingeordnet werden. Dies ist zwar richtig, soweit das Argument trägt, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Denn wenn wir die “Krankheitsbilder” dekonstruieren,  so bleibt eine Fülle von Verhaltensweisen und Erlebnisformen übrig, die zwar nicht krankhaft, wohl aber für die Betroffenen und  / oder ihr Umfeld problematisch sind. Menschen leiden unter Gemütsverstimmungen, sie sehen Dinge, die sonst niemand sieht, sie hören Stimmen, die sonst niemand hört, sie glauben unverrückbar an Ideen, bei denen sich andere fassungslos an den Kopf greifen, sie fürchten sich vor Situationen, Gegenständen und Menschen, die andere für harmlos halten, sie sind “himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt”, sie handeln nach dem Motto “Ich hasse dich, verlass mich nicht!” und und und. All dies gibt es ja, durchaus. Darauf kann man sich einlassen. Man muss dies nicht durch eine psychiatrische Diagnose aus dem Bereich des Bewusstseins verbannen, in dem wir ergründen, abwägen, Hypothesen wagen und wieder verwerfen, wenn uns die Fakten dazu zwingen. Die vorschnelle Verwendung eines sozialen Konstrukts aus dem Warenhaus der psychiatrischen Diagnosen führt nicht etwa zu schnellerem und besseren Verständnis, sondern sie führt in die Irre. Eine achtsame Exploration dessen, was tatsächlich abläuft, ist zwar auch keine Garantie für höhere Einsichten, aber immerhin ist sie ein Versuch, der Sache gerecht zu werden.
  3. Aushalten des Rätsels. Menschen suchen fast zwanghaft nach Erklärungen. Dies scheint in unser Gehirn eingebaut zu sein. Im Grunde ist das ja auch nicht falsch und wir neigen vermutlich dazu, weil es unserer Gattung in grauer Vorzeit einmal einen Überlebensvorteil brachte und daher evolutionär verankert ist. Doch wie alle natürlich “programmierten” Tendenzen stößt auch diese an Grenzen und wird schädlich, wenn wir uns dann nicht zurücknehmen. Nicht jeder Erklärungsversuch nämlich, so plausibel er auch erscheinen mag, trifft auch zu. Gerade bei den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden, müssen wir lernen, das Rätsel auszuhalten. Nicht alles, was sich hartnäckig dem Rätsel lösenden Verstand widersetzt, ist deswegen auch unsinnig. Vielleicht beruht es auf einem Eigensinn, der nur dem Betroffenen zugänglich ist.
  4. Respekt vor dem Eigensinn. “Der ist ja verrückt!” Sprüche wie dieser gehen uns leicht von der Zunge. “Der soll mal zum Psychiater!” “Der hat wohl vergessen, seine Pillen zu nehmen!” Solche aus der Hüfte geschossenen Urteile lassen den Respekt vor dem Eigensinn des anderen vermissen. Der Eigensinn ist jener Sinn, den man nicht von der Stange kaufen kann. Er kann uns aus der Gemeinschaft herausreißen, aber nur dann, wenn die Gemeinschaft den Gleichsinn und damit den Gleichschritt über das Recht ihrer Mitglieder stellt, ihre Persönlichkeit frei zu entfalten. Das Recht auf Eigensinn ist aber ein Menschenrecht. Man darf es nur missachten, wenn durch seine Verwirklichung gleichrangige Rechte anderer gefährdet werden – und zwar nicht nur potenziell, sondern real.
  5. Selektion der Einflüsse. Zum Recht auf Eigensinn gehört auch das Recht, sein Bewusstsein nach Gutdünken zu verändern. Daher sollten selbstverständlich auch alle bewusstseinsverändernden Drogen legal sein. Der Kampf dafür gehört aber nicht zu den kleinen einfachen Schritten und soll deswegen hier nicht weiter thematisiert werden. Weniger problematisch als der Konsum verbotener Drogen ist der Verzicht auf Einflüsse. Das Fernsehen beispielsweise ist heute eine Bewusstseinskontrollmaschine, die sich teilweise verheerend auf unseren Seelenfrieden auswirkt. Dabei meine ich nicht nur die Propaganda der psychiatrisch-pharmawirtschaftlichen Marketing-Apparatur, die uns suggeriert, wir alle seien “psychisch krank”. Sondern hier spreche ich vor allem von den Begehrlichkeiten, die sie weckt und die wir, trotz aller Anstrengungen, niemals befriedigen können. Wer sich an den Schönen und Reichen, an diesen Phantomen der schönen, neuen Welt des TV orientiert, der programmiert sich aufs Unglücklichsein. Weg damit. Ähnliches gilt auch für viele Angebote im Internet. Alles Schrott. Niemand wird mit vorgehaltener Knarre dazu gezwungen, sich dies anzutun. Klar, man will schließlich mitreden können. Bei all dem Geschwätz büßt man aber jeden Eigensinn ein. Und das ist nicht gut. Denn der Eigensinn ist der Sinn unseres Lebens.
  6. Dickes Fell. Wer sich auf den Weg der einfachen kleinen Schritte macht, muss hart im Nehmen sein. Unvermeidlich wird man in Konflikt mit Mitmenschen geraten, die nichts mehr fürchten, als dass jemand das Selbstverständliche in Frage stellt. Man muss sich also ein dickes Fell anschaffen. Auf die Reaktionen unserer Mitmenschen haben wir wenig Einfluss. Man sollte gar nicht versuchen, sie zu verändern; man ist schließlich kein Psychiater. Großen, ja, den alleinigen Einfluss haben wir auf unsere Reaktionen auf die Reaktionen unserer Mitmenschen. Wir selbst entscheiden, ob wir uns darüber ärgern, ob wir sie ernst nehmen wollen. Obwohl diese Einsicht bereits in der Antike von den Stoikern verkündet wurde, ist sie bis auf den heutigen Tag nicht sehr weit verbreitet. Viele Menschen reagieren beinahe automatisch auf Anwürfe anderer mit Scham oder Zorn, Angriff oder Zerknirschung, und nicht mit Gleichmut.
  7. Gelassenheit. Gelassenheit kann entwaffnend sein; aber selbst wenn wir uns wehren müssen, weil der Gegner uns keine Wahl lässt, dann sollten wir gelassen bleiben. Abwarten, zuschlagen, vernichten – aber so, als wäre ein anderer es, der unter dem Zwang der Verhältnisse das Notwendige tut – präzise wie ein Schweizer Uhrwerk.

Wie alle meine Listen erhebt auch diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Den ganzen Vormittag könnte ich damit vertändeln, über die kleinen einfachen Schritt statt Psychiatrie zu fabulieren. Als Erinnerung an das Selbstverständliche, was so leicht vergessen wird, an das Einfache, was so schwierig zu machen ist, mag dies für den mitdenkenden Leser ausreichen; bei den anderen ist ohnehin Hopfen und Malz verloren. Psychiatrie heißt Entmachtung, vor allem der kleinen Leute. Die allgegenwärtige Propaganda fordert, sich möglichst rasch bei den leichtesten Anzeichen von Lebensproblemen der Psychiatrie anzuvertrauen, um deren Säckel sowie die Schatulle der Pharmaindustrie zu füllen und die Politiker in Sicherheit zu wiegen. Das muss aber nicht sein. Empowerment. Mittlerweile hat sogar schon die Psychiatrie dieses Zauberwort für sich entdeckt, um ihre “modernen, zeitgemäßen Angebote” zu verklären. Die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln will sie fördern. Ach, der Einzige, der diese Fähigkeit fördern kann, ist das Individuum selbst. Es muss sich selbst die Krone aufs Haupt drücken. Empowerment ist immer Selbstermächtigung.

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Parawissenschaft Psychiatrie

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Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften, besser bekannt unter dem Kürzel GWUP, setzt sich mit esoterischen und sonstigen fragwürdigen Lehren auseinander, die sich zwar äußerlich in die Form einer Wissenschaft kleiden, deren Prinzipien aber missachten. Auf der Website der GWUP definiert Dr. Manfred Mahner den Begriff der Parawissenschaften wie folgt:

“Eine Parawissenschaft (gr. para: neben) ist ein außerhalb der Wissenschaften (aber nicht unbedingt außerhalb des Universitätsbetriebes) angesiedelter Erkenntnisbereich, dessen Theorie und Praxis weitgehend auf illusionärem Denken beruhen. Damit kann der Anspruch eines solchen Erkenntnisunternehmens, verlässliches Wissen über Welt oder Mensch zu erlangen oder erlangt zu haben, nicht eingelöst werden.”

Bei dieser Definition denkt man spontan an Wünschenrutengänger, Homöopathen oder Ufologen. Dass sich aber auch im universitären Bereich, dass sich an nahezu jeder anerkannten wissenschaftlichen Hochschule ein Wolf im Schafspelz verbirgt, wird erst deutlich, wenn man sich die Kriterien Mahners für eine Parawissenschaft genauer anschaut:

“Mit welchen Objekten beschäftigt sich die zu untersuchende Disziplin? Mit konkreten materiellen) oder immateriellen (spirituellen)? Werden diese Gegenstände gesucht, um Erklärungen für bestimmte Beobachtungen zu gewinnen oder nur um vorgefertigte Meinungen zu stützen? Sind diese Gegenstände spezifisch genug, um die Daten zu erklären, oder würde ein beliebiges anderes Objekt die gleiche Erklärungsleistung erbringen?”

Die Psychiatrie setzt sich mit den so genannten “psychischen Krankheiten” auseinander. Dabei handelt es sich angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht um einen materiellen Gegenstand. Trotz intensiver naturwissenschaftlicher Forschung seit mehr als 150 Jahren ist es bisher noch nicht gelungen, zu irgendeiner dieser so genannten psychischen Krankheiten ein materielles Substrat zu entdecken. Die Psychiatrie vermochte es nicht, einen, wie auch immer gearteten, ursächlichen Zusammenhang zwischen Hirn- oder anderen körperlichen Prozessen und jenen Phänomenen zu identifizieren, die sie als “Symptome einer psychischen Krankheit” deutet.

Auffällig ist, dass die psychiatrische Forschung in der Regel nicht versucht, ihre angeblichen Befunde zu replizieren (und wenn doch, sie scheitern diese Versuche in aller Regel). Man hat also den Eindruck, dass diese Studien vor allem eine vorgefertigte Meinung stützen sollen, nämlich jene, dass es “psychische Krankheiten” tatsächlich gäbe.

Die einzelnen “Krankheitsbilder”, die zu den “psychischen Krankheiten” zählen, sind keineswegs sehr spezifisch, sondern sie sind erstens gegeneinander nur sehr vage abgegrenzt und zweitens gelingt auch keine überzeugende Trennung zwischen dem angeblich Kranken und dem so genannten Normalen oder Gesunden.

“Kann frei geforscht werden oder werden die Resultate von einer Autorität vorgegeben? Ist der Bereich ideologisch motiviert?”

Dank einer größeren Zahl von Veröffentlichungen aus der Feder investigativer Journalisten und kritischer Wissenschaftler kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Teile der Pharmaindustrie die Forschung (nicht nur, wenngleich verstärkt, in der Psychiatrie, sondern auch in der Medizin insgesamt) systematisch zu ihren Gunsten, also im Interesse des Gewinnstrebens verfälscht hat. Der Bereich ist auch ideologisch motiviert, da der Begriff “psychischer Krankheiten” nicht unabhängig von kulturspezifischen moralischen Bewertungen gesehen werden kann.

“Welche philosophischen Hintergrundannahmen werden vorausgesetzt? Die Annahmen, die in den Realwissenschaften vorausgesetzt werden (z.B. Gesetzmäßigkeitsprinzip, Kausalitätsprinzip, Sparsamkeitsprinzip, Fallibilismus usw.), unterscheiden sich zum Teil drastisch von denen der Parawissenschaften.”

Die philosophische Hintergrundannahme der Psychiatrie ist eine biologistische. Aus der Tatsache, dass menschliches Verhalten und Erleben eine Funktion des Nervensystems ist, wird geschlossen, dass die so genannten psychischen Krankheiten durch Hirnstörungen oder eine sonstige körperliche Pathologie verursacht sein müssten. Es wird nicht versucht, diese Annahme empirisch zu falsifizieren; vielmehr sucht man fast ausschließlich nach Bestätigungen für diese Annahme, ohne allerdings überzeugende Belege dafür finden zu können.

“Wie sieht der Wertekanon des Bereichs aus? Jede wissenschaftliche Disziplin verfügt über einen Kanon von Werten bzw. Normen, die ihrer Theorie und Praxis zugrunde liegen. Dazu gehören: a) logische Werte: Widerspruchs- und Zirkelfreiheit, b) methodologische Werte: Prüfbarkeit, Erklärungskraft, Vorhersagekraft, Fruchtbarkeit, c) Einstellungswerte: kritisches Denken (statt Leichtgläubigkeit), Objektivität.”

Von Zirkelfreiheit kann weiß Gott nicht die Rede sein. Eine psychische Krankheit X hat, wer das Verhalten Y zeigt. Und die Krankheit X ist definiert durch das Verhalten Y. Schizophren ist, wer halluziniert oder Wahnideen hat, und wer halluziniert und Wahnideen hat, ist schizophren. Es wurden noch keine von den Symptomen unabhängigen, materiellen Faktoren gefunden, die nachweislich ursächlich mit der so genannten Krankheit korrelieren, und entsprechend wurden bisher auch auch keine Biomarker entdeckt, an denen man das Vorliegen einer Krankheit erkennen könnte.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass die Vorhersagekraft solcher Diagnosen gering ist. Die Psychiatrie kann nicht prognostizieren, welcher Patient wie auf welche ihrer Maßnahmen (Pillen, Psychotherapie, Elektroschocks etc.) reagieren wird. Sie kann weder Gefährlichkeit, noch Suizidalität vorhersagen. Sie weiß ja noch nicht einmal, wer eine angebliche psychische Krankheit hat und wer sie nicht hat. Daher sind sich die Experten hinsichtlich der Diagnose eines Menschen oft nicht einig.

“Ist der Bereich wenigstens ansatzweise an Disziplinen, die wohlbestätigtes Wissen bereithalten, angebunden? Wird von Wissen aus Nachbardisziplinen Gebrauch gemacht? Bereichert er andere wissenschaftliche Disziplinen? Oder steht der Bereich isoliert da?”

Es liegt nahe, die sich biologisch und naturwissenschaftlich gebende Psychiatrie an die Neurowissenschaften anzubinden. Sie schützt auch gern einen engen Schulterschluss mit diesen Disziplinen vor. Tatsache ist jedoch, dass beispielsweise ihre diagnostischen Systeme DSM und der psychiatrische Teil der ICD etablierten neurowissenschaftlichen Befunden ebenso widersprechen wie denen der genetischen Forschung. Entsprechende Kritik, wie sie beispielsweise vom Direktor des “National Institute of Mental Health” (USA), Thomas Insel, vorgetragen wurde, wird ignoriert.

“Gibt es einen gut bestätigten und wohl formulierten Wissensbestand? Ist dieser aktuell oder veraltet und damit anachronistisch? Würde die Wahrheit der in dem betreffenden Bereich vertretenen Theorien die Falschheit eines Großteils der wissenschaftlichen Theorien zur Folge haben?”

Seit Entstehen der modernen, sich naturwissenschaftlich gebenden Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die psychiatrische Erkenntnis nicht grundsätzlich weiterentwickelt. Man stochert nach wie vor im Nebel. Wenn die unbewiesene und schwer belastete Theorie, dass psychische Krankheiten, unabhängig vom sozialen Kontext, überwiegend durch gestörte körperliche Prozesse verursacht werden, wahr sein sollte, so hätte dies die Falschheit empirisch gut belegter Theorien zur Folge, dass soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren unter den Gründen für Phänomene, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden, eine zentrale Rolle spielen.

“Wird versucht, echte Erkenntnisprobleme zu lösen oder nur selbst erfundene? Ergeben sich die Fragestellungen in dem betreffenden Bereich auf natürliche Weise aus der Forschung oder werden sie künstlich herbeigesucht, um sich selbst Beschäftigung zu verschaffen? Mit anderen Worten: Werden nur Probleme gelöst, die man ohne den Bereich gar nicht hätte?”

Die so genannten “psychischen Krankheiten” sind offenbar willkürliche Konstrukte. Sie wurden, so will mir scheinen, erfunden, um die Zuständigkeit der Medizin für die Behandlung von Menschen mit Lebensproblemen, in Lebenskrisen, zu legitimieren. Derartige Krisen und Probleme gibt es durchaus; die Psychiatrie aber löst sie nicht, sondern sie schafft durch die Schadwirkungen ihrer Behandlungen sogar Probleme, die man ohne diesen Bereich gar nicht hätte.

“Welche Methoden und Techniken werden benutzt? Sind diese in ihrer Funktion unabhängig prüfbar und erklärbar? Sind sie objektiv in dem Sinne, dass jeder kompetente Anwender in etwa die gleichen Ergebnisse damit erzielt?”

Die psychiatrischen Methoden haben in aller Regel nur Placebo-Effekte oder sie “kurieren” angebliche Erkrankungen dadurch, dass sie diese durch reale, mitunter irreversible neurologische Störungen überlagern bzw. verdrängen. Es ist keineswegs garantiert, dass jeder kompetente Anwender in etwa die gleichen Ergebnisse damit erzielt.

“Ist in dem Bereich ein Erkenntnisfortschritt, ein Wissenszuwachs, festzustellen oder stagniert er?”

Nein, definitiv nicht. Die psychiatrische Erkenntnis stagniert seit den Tagen von Griesinger und Charcot.

“Mithilfe dieser und weiterer Kriterien”, schreibt Mahner,  “lässt sich in aller Regel eine wohl begründete Entscheidung treffen, ob ein Erkenntnisbereich den Parawissenschaften zuzurechnen ist oder nicht.”

Aus meiner Sicht fällt das Urteil über die Psychiatrie eindeutig aus. Wenn es überhaupt so etwas gibt wie Parawissenschaft, dann ist die Psychiatrie ohne Wenn und Aber eine solche.

Seltsamerweise scheint der organisierte Skeptizismus dies anders zu sehen. Nach meinen Recherchen greifen Gruppen wie GWUP dieses Thema eher selten auf und wenn, dann um böse Paramediziner und gute Psychiater voneinander abzugrenzen. Und dies, obwohl der parawissenschaftliche Charakter der Psychiatrie förmlich ins Auge springt. Ein Rätsel, wahrhaftig – und ich fürchte, dass ich dessen Lösung anderen überlassen muss, die einen besseren Zugang zu den Tiefen der Skeptiker-Seele besitzen.

Hier stellt sich natürlich die Frage, ob, bei diesem Sachstand, die Wunderheiler und Heilpraktiker, die Sekten und die Psychokulte, die Homöopathen und die Komplementärmediziner nicht zumindest den Psychiatern gleichwertige Leistungen erbringen könnten. Die Antwort: Wir wissen es nicht. Bisher hat noch niemand versucht, dies differenzielle Leistungsfähigkeit von Anbietern aus diesen unterschiedlichen Lagern wissenschaftlich zu überprüfen – wenn wir einmal von den Vergleichen zwischen Professionellen und Laien in der Psychotherapie absehen. Hier zeigt sich, dass die Laien nicht schlechter abschneiden als die “gelernten” Psychotherapeuten.

Wer sich nun fragt, an wen er sich denn vertrauensvoll wenden könnte, man ihn seelische Leiden plagen, dem ist Folgendes zu raten:

  • Meiden Sie Leute, die behaupten, die Ursachen “psychischer Krankheiten” zu kennen.
  • Misstrauen Sie Leuten, die sich brüsten, eine Erfolg versprechende Behandlungsmethode anzuwenden, die besser sei als andere.
  • Machen Sie einen großen Bogen um Leute, die vorgeben, eine “psychische Krankheit” bei Ihnen diagnostizieren zu können.
  • Suchen Sie Leute, die Sie hilfreich begleiten, ihnen aber nichts vorschreiben wollen.
  • Bevorzugen sie Leute, die in der Sprache des Alltags mit ihnen sprechen und die sich inhaltlich auf ihre Probleme einlassen.
  • Entscheiden Sie sich für Leute, die Ihren Eigensinn respektieren, selbst dann, wenn sie Ihre Ideen für haarsträubend und Ihre Befindlichkeiten für unverständlich halten.

Hintergrund-Artikel

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Medizin brutal: der diskrete Charme der Psychiatrie

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Dass die Psychiatrie einen Fremdkörper im Rahmen der modernen, “evidenz-basierten”, naturwissenwissenschaftlichen Medizin darstellt, dürfe wohl den allermeisten Intellektuellen nicht verborgen geblieben sein. Nicht nur unterscheidet sie alltäglicher Zwang vom Rest der Zunft, zu offensichtlich sind auch das Fehlen einer wissenschaftlichen Basis und das unverdrossene Bemühen, diese durch meist methodisch höchst fragwürdige “Studien” vorzutäuschen. Selbst bei größtem Wohlwollen kann kein Intellektueller übersehen, dass eine psychiatrische Institution einem Umerziehungslager ähnlicher ist als einem modernen Krankenhaus für richtige, also körperlich Kranke.

Die meisten Intellektuellen schweigen heute zur Psychiatrie. Und dies, obwohl viele nicht müde werden, sich über das Schicksal von Menschen in Bereichen zu äußern, in denen die Menschenrechte in weitaus geringerem Maße bedroht sind als in der Psychiatrie. Frauen, Kinder, Ausländer, ethnische Minderheiten erfreuen sich liebevoller Zuwendung, solange sie nicht in der Psychiatrie sind.

Es gibt durchaus Ausnahmen zur Bestätigung der Regel. Manche Intellektuelle thematisieren die Psychiatrie, meist wohlwollend, und man hat den Eindruck, als bewegten sie sich mehr oder weniger unbewusst immer noch in der Geisteswelt der Freudschen Psychoanalyse, obwohl diese in der heutigen psychiatrischen Welt keine nennenswerte Rolle mehr spielt. Sehr selten hört man ein kritisches Wort, doch dies bezieht sich dann auf die so genannten Missstände, auf besonders haarsträubende Verhältnisse, die, so scheint man wohl zu glauben, beseitigt werden könnten, ohne das System insgesamt zu verändern.

Diese Reaktion der Intellektuellen kann kaum durch geistige Überforderung erklärt werden, denn die Sinnlosigkeit des psychiatrischen Procederes im Rahmen eines medizinischen Betrachtungsweise sollte doch recht eigentlich ins Auge springen. Niemand kann sich über den wahren Charakter des Verabreichens disziplinierender “Medikamente” oder des Einsperrens von Störern hinwegtäuschen. Hier muss ein Licht, ein sehr helles Licht leuchten, dass diese Sinnlosigkeit überstrahlt und dass auch das Auge des Intellektuellen blendet.

Ist’s die normative Kraft des Faktischen? Reicht es aus, nur lange genug die Rituale der Ausgrenzung und Demütigung zu vollziehen, bis sie irgendwann einmal als Recht erscheinen, weil “immer schon so verfahren wurde”? Dies ist schwer vorstellbar, denn der Intellektuelle, geübt in kritischem Denken, dürfte mit der Wirkung dieser Kraft vertraut und in der Lage sein, sie zu erkennen, wo sie sich auch zeigen mag. Es wäre ja noch nachzuvollziehen, dass bei Leuten, deren Weltbild durch Boulevardblätter und Trash-Fernsehen geformt wird, eventuell die schiere Gewöhnung an die Existenz der Psychiatrie ausreicht, sie achselzuckend als notwendig hinzunehmen.

Ein Intellektueller aber, der von seinem Goethe aufblickt und einen unter Neuroleptika emotional verflachten Menschen vor sich sieht, kann sich nicht der Illusion hingeben, hier das Ergebnis einer medizinischen Behandlung zu betrachten. Ein Intellektueller, der aus dem Opernhaus kommt, wo er Verdi lauschte, kann nicht ernsthaft glauben, dass die Ambulanz, derer er nun zufällig ansichtig wird,  den Tobenden gewaltsam einer medizinischen Behandlung im wahren Wortsinn zuführt. Ein Intellektueller, der Wittgensteins Tractatus aus der Hand legt, um sich in der Lesepause zum Zeitvertreib ein psychiatrisches Gerichtsgutachten im Internet anzuschauen, kann nicht glauben, er habe es mit medizinischer Wissenschaft zu tun.

Warum also ist der Intellektuelle, trotz mancher kritischen Töne, dennoch überwiegend des Lobes voll für die Psychiatrie? Warum empfindet er die Barbarei nicht, die darin besteht, Menschen mit Substanzen vollzustopfen, oft sogar zwangsweise, deren Heileffekt fraglich, deren Schadwirkung aber real und verheerend ist? Warum empfindet er die Barbarei nicht, die darin besteht, die mehr oder weniger absurden, rituellen Interaktionen in den Praxen von Psychotherapeuten zur Behandlung einer Krankheit zu verklären?

Wer durch Bild und Glotze verroht wurde, der hält das Tollhaus vermutlich für die Fortsetzung von “Big Brother” oder “Deutschland sucht den Superstar” in einem etwas intimeren Rahmen; der Intellektuelle aber sollte in der Lage sein zu erkennen, dass die psychiatrische Diagnose eine Kontinuität in den Beziehungen zwischen Menschen zerreißt, einen Bruch erzeugt, den die Diagnose einer körperlichen Erkrankung niemals erzeugen könnte, selbst wenn es sich um eine ansteckende Krankheit handeln sollte.

Der latente Charme, den die Psychiatrie auf den gemeinen Intellektuellen ausübt, besteht aus meiner Sicht in ihrer latenten bzw. offenen Brutalität, die sich als Hilfe, als Krankenbehandlung ausgibt. Diese Brutalität ist immer da, denn über jedem Patienten schwebt das Damoklesschwert der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung, sofern es nicht schon auf ihn niedergesaust ist. Natürlich, so mag man einwenden, müsste der Intellektuelle diese Doppelbindung (“Double Bind”) eigentlich durchschauen. Eigentlich. Wenn er denn wollte. Aber er will nicht. Weil ihn die als Hilfe getarnte Brutalität fasziniert.

Man stellte sich diese schmalbrüstigen, blutarmen Gestalten vor: Sie hocken hinter ihren Büchern, stehen hinter ihren Kathedern, sie schreiben Essays über Peter Handkes sensible Pfade oder über Thilo Sarrazins rüde Sprüche – aber sie können nicht nachts mit Schlagringen die die Straßen ziehen, um die schiere Unvernunft auf den blauen Asphalt zu schicken. Die Irrationalität der Welt widersetzt sich grausam ihren feinsinnigen Analysen, und sie haben nichts, nichts, es steht ihnen kein Mittel zu Gebote, dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten.

Scheinbar auf dem hohen Niveau der Wissenschaft, geadelt durch den Edelmut des Helfens, erledigt dies, mit gebotener Strenge, die Psychiatrie für sie. Etwas Wildes, Grausames, Bedrohliches ist in die klare geistige Ordnung eingebrochen und mit den Mitteln des Geistes wird dieser Eindringling isoliert, befriedet oder ausgemerzt. Was brutal erscheint, ist nichts weiter als Ausdruck notwendiger Entschlossenheit und Konsequenz. Durch Chemie, durch Elektrizität durch das scharfe Skalpell des Wortes wird die Unvernunft herausgeätzt, herausgebrannt, herausgeschnitten. Wäre die Psychiatrie nicht so brutal, wäre sie sanfter, zarter, verständnisvoller, unsere Intellektuellen hätten sie klammheimlich vermutlich weitaus weniger lieb.

Es liegt aber wohl in der Natur der Sache, dass unsere Intellektuellen, wenn sie Psychiater loben, bevorzugt die (angeblich) sanften, zarten und verständnisvollen zum Gegenstand ihrer Elogen erwählen.

Da stiftet der Philosoph Peter Sloterdijk, zusammen mit einem Freundeskreis, einen Preis für Edelmut, den Myschkin-Preis, benannt nach einer Romangestalt Dostojewskis. Wer zählt zu den ersten Preisträgern? Gaetano Benedetti, ein italienischer Psychiater. Warum? “Weil er mit seiner Arbeit mit schizophrenen Patienten für die Einsamsten und Verirrtesten neue Brücken zu einem Leben in menschlicher Gemeinschaft baute.” Der inzwischen verstorbene Benedetti war, wie sollte es anders sein, natürlich Psychoanalytiker.

Der von der Psychoanalyse tief beeindruckte Sloterdijk ist nicht dafür bekannt, den tatsächlichen Zustand der und die relevanten geistigen Strömungen in der Psychiatrie zu reflektieren. Es ist ja sicher löblich, einem Edelmütigen in der Psychiatrie einen Preis zu verehren, allein: des Eindrucks kann ich mich nicht entschlagen, dass sich die intellektuelle Welt nur zu gern ausschließlich auf den Inseln oder Inselchen des guten Geistes in der Psychiatrie bewegt.

Martin Walsers Roman “Muttersohn” spielt in einem Irrenhaus; der Spiegel schreibt darüber: “Doch Percy stationiert sich nicht als Patient in Scherblingen ein, und die prachtvolle Klosteranlage hat auch nichts von einer modernen Klapse. Der seltsam aus der Zeit gefallene Ort, in dem sich auch Hesses Habenichts “Knulp” (1925) zurechtfinden würde, ist idyllischen Refugium für ein wunderliches Völkchen reimender Käuze und zum Sonderlichen Begabter, das sich gemeinsam der schützend-heilsamen Kraft des Genius loci verschrieben hat und fraglos den heilenden Fähigkeiten Percys anvertraut.”

Hier also ist die Brutalität der Psychiatrie, die zu keiner Zeit ihrer Geschichte fehlte, nur noch im “defizienten Modus” anwesend. Ich fordere nicht, dass Literatur, dass der Roman gar die Wirklichkeit der zeitgenössischen Psychiatrie gleichsam fotorealistisch widerzuspiegeln habe, aber dennoch konstatiere ich mit Befremden das fast völlige Fehlen einer realistischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie in den Arbeiten unserer gegenwärtigen Intelligenzia.

Den Buchmarkt und die Talkshows beherrschen Leute wie der Doktor Manfred Lütz, die Heiterkeit ohne Ende verbreiten. Das weite Feld der Psychiatrie, angesichts der enormen Zahl von Betroffenen ein gesellschaftliches Top-Thema, wird entweder mit Schweigen bedacht oder verzerrend und meist mit positivem Touch dargestellt. Nur gelegentlich, wie im Fall des Gustl Mollath, scheinen die Verhältnisse Kopf zu stehen, aber das legt sich mehr oder schnell wieder, um macht der Routine Platz, der achselzuckenden Ignoranz.

Die Psychiatrie ist nicht nur, getarnt im Gewande der Hilfe, brutal, sondern sie ist auch,  in der Camouflage der üblichen Medizin, sehr unauffällig, fast unsichtbar. Auch dies macht ihren diskreten Charme aus. Das Millionenheer ihrer “Patienten” ist eine Geisterarmee. Die Betroffenen sind den Blicken ihrer Zeitgenossen hinter dem Schleier der Diskretion entzogen. Nicht immer läuft dies so dramatisch ab wie im Falle einer sächsischen Landtagsabgeordneten, die plötzlich wie vom Erdboden verschluckt war. Brutalität und Diskretion. Zwang und Scham.

Versagen die Intellektuellen vor einem Gegenstand, der, gleichsam wie ein schwarzes Loch, Menschen und Moneten verschlingt? Erliegen sie dem diskreten Charme der Psychiatrie, obwohl sie ihm aus eigenem Vermögen durchaus widerstehen könnten? Psychiatriekritiker bilden jedenfalls eine verschwindend kleine Schar; und dieses Häuflein ist auch noch untereinander, teilweise heftig, zerstritten. Auf tausend Beiträge in den Medien zur Psychiatrie entfällt, wenn’s hoch kommt, ein kritischer.  Es gibt keinen gesellschaftlich relevanten Bereich, der weniger Kritik auf sich zieht als dieser. Selbst im Fall Mollath, der sieben Jahre hinter psychiatrischen Gittern saß, konzentrierte sich die Schelte überwiegend auf die Justiz und die Politik.

Die progressive Elite, die moralisch nicht gerechtfertigte Machtausübung kritisiert, hatte, zumal in Deutschland, immer schon einen schweren Stand. Sie war sogar in den Klassen bzw. Parteien, denen sie sich zurechnete, stets umstritten. In Sachen Psychiatrie steht ihr eine unheilige Allianz aller Parteien gegenüber, die jeder fundamentalen Kritik an der Psychiatrie geschlossen entgegentritt. Die Machteliten sehen es nicht gern, wenn moralische Maßstäbe an sie angelegt werden. Sie erwarten vielmehr, dass man sie bedingungslos als Ausbund der Tugend betrachtet.

Wenn man vom harten Kern der Geheimdienst- und Sicherheitspolitik einmal absieht, so ist die Psychiatrie die härteste Herausforderung für die progressive Elite. Deren Mitglieder sind gerade hier häufig vereinzelt, und dies weit über das Maß hinaus, das eine Elite von Freidenkern und Individualisten ohnehin kennzeichnet. Nur verbunden durch mehr oder weniger vage Ideen des Humanismus und der persönlichen Freiheit sind sie häufig weitgehend auf sich allein gestellt.

Wenn auch nicht die Gefahr besteht, dass die progressive Elite dem diskreten Charme der Psychiatrie erliegt, weil dieser sich nur im Zustand der Verblendung entfaltet, so muss man doch befürchten, dass sie den Mut verliert, sich zurückzieht oder sich anderen brennenden Fragen zuwendet. Psychiatriekritik entflammt ja gelegentlich, wie in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, um sich dann als Strohfeuer herauszustellen.

Medizin brutal. Bis auf den heutigen Tag ist die Geschichte der Psychiatrie eine Geschichte der Gewaltanwendung. Zwar wurden die Drehstühle, der faradische Pinsel und all die anderen offensichtlichen Folterinstrumente der vergangenen Jahrhunderte abgeschafft, aber nach wie vor verschwinden Hunderttausende gegen ihren Willen hinter psychiatrischen Gittern, werden fixiert und mit Nervengiften traktiert. Intellektuelle, die sich empören, wenn der Asylbewerber aus Schwarzafrika von einem Polizisten schief angesehen wird, scheinen auf diesem Auge blind zu sein. Man nimmt es sogar klaglos hin, wenn der Schwarze, für dessen Menschenrechte man eben noch gekämpft hat, als “schizophren” diagnostiziert in der Psychiatrie verschwindet und dort rechtloser ist als irgendwo sonst in der Welt.

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Medikamente statt Unterbringung

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Der Münchener Merkur berichtet: Eine Frau wird wegen Schuldunfähigkeit vom Vorwurf der Brandstiftung freigesprochen. Der Richter verhängt eine Unterbringung auf Bewährung. Er schärft ihr ein, ihre Medikamente regelmäßig zu nehmen. Nur dann ginge es ihr gut. Die Frau, so heißt es, sei an Schizophrenie erkrankt und massive Depressionen hätten sie dazu veranlasst, Feuer zu legen.

Es wird nicht erwähnt, welche Medikamente sie erhält. Wir wissen aus Forschungen, dass Antidepressiva nicht nennenswert effektiver sind als Placebos (1), dies gilt auch für schwere Depressionen (2). Generell kann gesagt werden, dass höchstens 30 Prozent der Menschen, die an irgendeiner der wichtigsten so genannten psychischen Krankheiten leiden (Depressionen, Bipolare Störungen, Schizophrenien) eine dauerhafte Verbesserung ihres Zustandes durch psychiatrische Drogen gleich welcher Art zeigen (3).

Der Münchener Merkur schildert die Schwere ihrer Tat und schließt dann mit den Worten: “Staatsanwältin wie Verteidiger plädierten dennoch auf eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung. Nachdem die vom Gutachter angeregte Medikamentenumstellung nochmals zu einer spürbaren Verbesserung des Gesundheitszustandes geführt und die 52-Jährige nichts mehr angerichtet hatte.”

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass hier im juristischen Sinn (obzwar im faktischen durchaus) nicht von einer “Strafe” gesprochen werden kann, denn eine Unterbringung gilt ja nicht als Strafe (was sie de facto ist), sondern als “Therapie”. Wichtiger noch als dieser Gesichtspunkt ist aber der Aspekt, dass die Freilassung der Frau zwar durchaus angemessen sein könnte, diese aber mit der erfolgreichen Behandlung durch Medikamente zu begründen, halte ich angesichts des Forschungsstandes zu diesem Thema für nicht gerechtfertigt.

Es ist beängstigend, lesen zu müssen, dass ein Richter offenbar nicht in der Lage ist, sich von einem realistischen Bild der Möglichkeiten und Grenzen psychiatrischer Substanzen (die euphemistisch Medikamente genannt werden)  leiten zu lassen. Dieser Richter dürfte kein Einzelfall sein. Dass er es gut meinte, will ich nicht in Zweifel ziehen. Dass seine Entscheidung in diesem Einzelfall vielleicht sogar weise war, auch nicht. Doch darum geht es gar nicht. Was mir Sorgen macht, sind die Worte des Richters, dass es der Frau nur dann gut gehe, wenn sie ihre Medikamente nehme. Erstens ist es keineswegs sicher, dass es ihr gut geht, wenn sie ihre Medikamente nimmt und zweitens gibt es auch keine Garantie dafür, dass es ihr schlecht geht, wenn sie diese nicht schluckt. Der Richter entlässt die Frau mit diesen Worten gleichsam fast vollständig aus der Verantwortung für sich selbst. Die einzige Verantwortung, die sie noch trage, so lautet die implizite Botschaft, bestehe darin, ihre Medikamente regelmäßig einzusetzen.

Der Bericht der Zeitung verrät uns, wie bereits erwähnt, leider nicht, welche Medikamente die Frau nehmen muss. Ich vermute, dass es sich dabei um einen Medikamenten-Cocktail handelt. Falls dies der Fall sein sollte, so wäre der Sachstand noch wesentlich unübersichtlicher, denn die kombinierte Wirkung solcher Zusammenstellungen ist so gut wie noch nicht erforscht (4).

Eine Übersichtsarbeit zeigt, dass der Konsum bestimmter psychiatrische Substanzen durchaus mit einem erhöhten Aggressionspotential einhergeht (5). Auch wenn hier, wissenschaftlich betrachtet, das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, darf man doch, vor allem als Richter, vor der Gefahr, die mit diesen “Medikamenten” verbunden sein kann, nicht den Kopf in den Sand stecken.

Anmerkungen

(1) Kirsch, I (2009). The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth. London: The Bodley Head

(2) Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10

(3) Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction

(4) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(5) Moore TJ, Glenmullen J, Furberg CD (2010) Prescription Drugs Associated with Reports of Violence Towards Others. PLoS ONE 5(12): e15337. doi:10.1371/journal.pone.0015337

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Bilder einer Ausstellung

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Bild

Bild schreibt: “Vorsicht vor dieser Ausstellung!” Grund: Die Ausstellung warne angeblich vor den Gefahren der Psychiatrie, dahinter aber stecke eine gefährliche Sekte. Darum auch die Schlagzeile des Artikels: “Verzieht euch, ihr Seelenfänger!”

Die Sekte trete aber nicht offen auf, sondern sie verberge sich hinter einer Tarnorganisation, die der offizielle Ausrichter dieser Ausstellung sei. Leider erfahren wir kaum etwas über die Inhalte dieser Ausstellung. Der Artikel dreht sich vor allem um die Gefährlichkeit der Sekte. Es würden nur vordergründig Missstände angeprangert, in Wirklichkeit sollten auf diese Weise Menschen in die Organisation hineingezogen werden. Zu diesem Zwecke seien auf Flyer verteilt worden. Mutige Nachbarn aber hätten Zettel in ihre Fenster gehängt, auf denen über die Machenschaften der Sekte informiert werde. Eine Frau, die sich als Mitglied der Veranstalter-Gruppe vorstellte, habe Fotos gemacht. Viel mehr gibt es zum Text des Bild-Artikels nicht zu sagen.

Er wird durch vier Fotos garniert. Folgende Bildzeilen erklären, was auf den Fotos zu sehen ist:

  • Mit zum Teil ziemlich harten Filmen „informiert“ der Verein. Zuschauer waren entsetzt
  • Selbst vor einem Adolf Hitler-Vergleich schrecken die Organisatoren nicht zurück
  • Der Laden in der Herzogstraße in Schwabing. Hier wird die Ausstellung gezeigt
  • Auf Stellwänden wird vor der angeblichen Gefahr der Psychiatrie gewarnt

Die Information über die Ausstellung beschränkt sich also auf diese Bilder mit den entsprechenden Untertiteln. Die Ausstellung präsentiere ziemlich harte Filme, die Zuschauer seien entsetzt gewesen, man habe irgendetwas mit Hitler verglichen, die Ausstellung werde in einem Laden in der Schwabinger Herzogstraße gezeigt und auf Stellwänden werde vor der angeblichen Gefahr der Psychiatrie gewarnt.

Psychiatrie

Diese Ausstellung habe ich nicht besucht, daher kann ich mich nicht zu ihr äußern. Aber auch ich habe schon ziemlich harte Filme über die Psychiatrie gesehen. Auch ich war entsetzt. Einer beispielsweise berichtete, wie der schottisch-kanadische Psychiater Donald Ewen Cameron ahnungslose Patienten im Rahmen eines CIA-Gehirnwäsche-Forschungsprojekts mit Serien brutaler Elektroschocks traktierte, um sie angeblich von Krankheiten zu heilen, unter denen sie gar nicht litten (2). Auch ich habe schon Hitler-Vergleiche gehört. So las ich in diversen Büchern, dass die Psychiatrie während der Nazi-Zeit systematischen Massenmord an so genannten psychisch kranken Menschen verübte (3). Die Herzogstraße in München kenne ich ebenfalls, auch an dem Laden bin ich schon einmal vorbeigegangen. Vor den angeblichen Gefahren der Psychiatrie wurde ich ebenfalls bereits gewarnt, unlängst erst in einem Buch eines Mediziners, der das Nordic Cochrane Center leitet; er schreibt: “Unseren Bürgern ginge es besser, wenn wir alle Psychopharmaka vom Markt nehmen würden, weil die Ärzte unfähig sind, damit umzugehen. Es ist unausweichlich, das ihre Verfügbarkeit mehr Schaden als Nutzen schafft.” Dieser Mediziner, Prof. Peter Gøtzsche, ist kein Scientologe, sondern ein international renommierter Wissenschaftler und Mitbegründer der Cochrane Collaboration, einer weltweit tätigen, anerkannten Institution zur medizinischen Qualitätssicherung.

Die Ausstellung, vor der Bild warnt, kenne ich nicht. Aber wenn ich vor meinem inneren Auge all das Revue passieren lasse, was ich aus zuverlässigen Quellen über die Psychiatrie weiß, so würde es mir nicht schwerfallen, eine Ausstellung zusammenzustellen, bei der den Besuchern der Atem stocken würde.

Bin ich deswegen ein getarnter Sektenanhänger? Wäre, was ich in einer solchen Ausstellung präsentieren würde, nur üble Hetze, wenn ich tatsächlich ein getarnter Sektenanhänger sein sollte?

Scientology

Bei der Sekte, die Bild hier im Visier hat, handelt es sich um die so genannte Church of Scientology. Diese “Kirche” ist nicht nur durch ihre vehemente Psychiatrie-Kritik bekannt, sondern auch dadurch, dass sie eine “Technology” anbietet, mit deren Hilfe sie geistige Abirrungen kurieren will. Es liegt also nahe zu vermuten, dass die Psychiatriekritik dieser Organisation in die Rubrik “vergleichende Werbung” eingeordnet werden muss. Auf der einen Seite wird das Bild einer angeblich verbrecherischen Psychiatrie gezeichnet und auf der anderen Seite die lichte Welt des Kirchenlebens in den schönsten Farben ausgemalt.

Doch, wie uns schon die altgriechische Philosophie lehrt, ist die Wahrheit von Aussagen nicht von den Merkmalen ihrer Urheber abhängig. Auch eine böse Sekte kann Zutreffendes behaupten und eine gute, volksnahe Zeitung kann schamlos lügen. Die Wahrheit einer Aussage stellt man fest, indem man nachprüft, ob die behaupteten Sachverhalte mit der Realität übereinstimmen.

Bild zitiert eine Frau: „Dort wird mit übelsten Methoden Hetzpropaganda gegen jegliche Form von psychiatrischer Behandlung betrieben. Mit dem Ziel, labile Menschen für Scientology zu gewinnen.“

Um herauszufinden, ob diese Frau recht hat, müsste man also zunächst die Ausstellung in Schwabing besuchen und sich dann aus unabhängigen Quellen darüber informieren, ob die dort präsentierte Sichtweise den Tatsachen entspricht. Schließlich wäre dann noch die Frage zu klären, ob die Ausstellung überhaupt geeignet ist, labile Menschen ins finstere Reich der “Church” zu locken. Schenkt man dem Bild-Artikel Glauben, so waren die Zuschauer ja entsetzt und mehr noch: Schwabing wehrt sich gegen üble Hetzschau von Scientology.” So lautet jedenfalls eine rot gedruckte Oberzeile zur Überschrift des Artikels.

Die Ausstellung habe ich bisher noch nicht besucht und ich glaube auch kaum, dass ich dies nachholen werde. Scientology erzeugt bei mir immer ein leichtes Gruseln und deswegen mache ich instinktiv einen großen Bogen um solche Lokale. Dass Tom Cruise und John Travolta dort Mitglied sein sollten, verstärkt die Gänsehaut. Außerdem: Nicht auszudenken, wenn man mich beim Betreten dieser Ausstellung fotografieren würde, dann hätte ich doch gleich einen schlechten Ruf als Sympathisant der Sekte weg. Schließlich möchte ich nicht ins Visier von Ursula Caberta geraten, die laut Bild “Deutschlands bekannteste Scientology-Jägerin” ist.

Glücklicherweise kann ich meine Pflasterritzenflora ohne Material von und Unterstützung durch Scientology gestalten. Recherchen in seriösen Datenbanken, Besuche in Universitätsbibliotheken und das eine oder andere im Internet-Buchhandel bestellte eBook reichen völlig aus, um meine Thesen zur Psychiatrie wissenschaftlich zu untermauern. Wenn ich richtig informiert bin, berufen sich die Macher der ominösen Ausstellung allerdings ebenfalls auf wissenschaftliches Schrifttum. Das macht selbstredend alle verdächtig, die sich in Bibliotheken schleichen, da sie sich dort eventuell mit dem Leim für ihren “Seelenfang” versorgen.

Doch Spaß beiseite: Man kann diese Ausstellung in seriöser Weise nur kritisieren, wenn man die ihr angeblich zugrunde liegende wissenschaftliche Literatur konsultiert und prüft, ob die Botschaft der Präsentation durch sie tatsächlich untermauert wird. Weiterhin müsste man der Frage nachgehen, ob die Schlussfolgerungen der Veranstalter aus belastbaren Daten logisch zwingend sind. Die Macher dieser Ausstellung firmieren unter dem Namen “Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVMP)”. Durch Zufall fällt mein Blick auf ein Buch in meinem Regal, dessen Herausgeber dieser Kommission sehr verbunden zu sein scheinen (4). Daher vermute ich, dass die Gedanken dieses Buches dem Geist der Ausstellung nicht gerade unverwandt sind. Dieses Buch habe ich bisher noch nicht gelesen, sondern ich blättere es soeben nur durch. Was mir dabei ins Auge sticht, scheint eine falsche Schlussfolgerung aus eventuell zutreffenden Daten zu sein: “Die grausamsten Verbrechen, sprich die Vernichtungslager, die Gaskammern und die Konzentrationslager im Dritten Reich, sind nicht ohne die Psychiatrie denkbar (4, S. 329).”

Dies, mit Verlaub, halte ich für Bullshit. Hitler erklärte am 30. Januar 1939 in einer Reichstagsrede, dass die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa die Folge sei, wenn das “internationale Finanzjudentum” die Völker der Welt noch einmal in einen Weltkrieg stürzen sollte. Er selbst war es jedoch, der die Völker der Welt in einen Weltkrieg stürzte und er brauchte die Juden als Sündenbock. Er musste nicht erst durch Psychiater zum Judenmord gedrängt werden; dies lag in der Logik seines politischen Denkens, die er bereits in “Mein Kampf” entfaltete.

Selbstverständlich wären die Gaskammern auch ohne Psychiatrie denkbar gewesen, trotz der Tatsache, dass die deutsche Psychiatrie während des Dritten Reiches einen beispiellosen Massenmord an den so genannten psychisch Kranken beging. Eine Dämonisierung der Psychiatrie (im Sinne von: “Die Psychiatrie ist unser Unglück!”) ist sicher nicht gerechtfertigt. Die Psychiatrie ist ein Rädchen im Getriebe. Auch hier wedelt der Schwanz nicht mit dem Hund.

Hitler soll, laut den allerdings umstrittenen Aussagen Rauschnings, gesagt haben: „Würde es den Juden nicht geben, so müßte man ihn erfinden.“ Wenn ich nicht vor Adolf-Hitler-Vergleichen zurückschrecken würde, so könnten ich könnte ich diesen Satz durchaus auf Scientology ummünzen. Wenn jemand von der Psychiatriekritik dieser Sekte profitiert, dann fraglos die Psychiatrie. Leo Strauss erlaubte sich den Scherz, von einem “Argumentum ad Hitlerum” zu sprechen, in Anspielung an den Denkfehler des “Argumentum ad hominem”. Dieses “Argumentum ad Hitlerum” “widerlegt” eine Überzeugung mit dem Hinweis darauf, dass Hitler sie geteilt habe. Man kann kaum bestreiten, dass Psychiatriekritikern gern das “Argumentum ad Scientology” entgegenhalten. Auch der Bild-Artikel scheint sich dieses Mittels zu bedienen, denn er setzt sich inhaltlich nicht mit der kritisierten Ausstellung auseinander.

Bilder einer Ausstellung

Es ist nicht Frucht bringend, die Auseinandersetzung um die Psychiatrie auf der Ebene von Dämonisierung und Gegen-Dämonisierung zu führen. Ein mitfühlender Mensch wird vermutlich Scientology gegenüber dem Bildartikel und die Psychiatrie gegenüber der hier erwähnten Ausstellung in Schutz nehmen. Diesen Reflex mitfühlender Menschen, der sich einstellt, wenn Menschengruppen maßlos attackiert werden, kann ich nachvollziehen. Für mich sind weder die Psychiatrie, noch Scientology ein Hort von Dämonen. Beide Gruppen gehen ihren Geschäften nach. So wie ja auch die Bild-Zeitung.

Besser wäre es allerdings, sich die Dämonisierung und die Parteinahme für die Dämonisierten zu ersparen und stattdessen auf die Ebene einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie einzuschenken. Selbstverständlich weht heute in den Hallen der Psychiatrie nicht mehr der Geist Hitlers, und die “Scientology Church” unterscheidet sich – trotz oder gerade wegen ihres Geschäftssinns – nicht grundsätzlich von anderen Glaubensgemeinschaften.

Bilder einer Ausstellung. Wer mag, sollte sie sich anschauen, mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Stirn gezogenem Schlapphut, versteht sich. Es ist ratsam, das kritische Denken nicht an der Garderobe abzugeben, denn, wie bereits eingangs erwähnt, könnte es sich durchaus um eine Werbeveranstaltung handeln, um vergleichende Werbung, bei der die Kontraste nur so gern ein wenig überbetont werden.

Scientology. “Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.” Denkwürdige Worte von Karl Marx, der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie entnommen.

Psychiatrie. “Was ist es also ganz konkret, was wir ablehnen sollten? Es ist die zweifache juristische Praxis, auf der die organisierte Psychiatrie ruht: „civil commitment” und Einrede der Unzurechnungsfähigkeit. Wir sollten uns ausdrücklich dagegen wenden, erstens, dass Personen, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben als Geisteskranken eine Schuld zugewiesen wird, sowie gegen jegliche Art von unerwünschten psychiatrischen Eingriffen und zweitens dagegen, dass Menschen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben als Geisteskranke freigesprochen werden und dann ebenfalls unfreiwilligen psychiatrischen Eingriffen unterworfen sind. Zivile Verwahrung und die Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit” sind wie siamesische Zwillinge. Wenn man einen umbringt, sind beide tot. Deswegen ist es auch so hoffnungslos, zivile Verwahrung abschaffen zu wollen, ohne gleichzeitig die Auswirkungen der Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit” in den Griff zu bekommen, oder umgekehrt. Die gesellschaftlich nützlichen Fiktionen von Geisteskrankheit und psychiatrischem Fachwissen werden durch zivile Verwahrung und der Verteidigung begründet auf „Unzurechnungsfähigkeit” als „real” bestätigt. Beide schaffen und bestärken die Illusion, dass wir weise und gut mit unseren verzwickten sozialen Problemen umgehen, während wir sie in Wirklichkeit nur verworrener und schlimmer machen. Leider korrumpiert die psychiatrische Macht nicht nur die Psychiater, die über sie verfügen und die Patienten, die ihr unterworfen sind, sondern auch die Gemeinschaft, die sie befürwortet.” Dies schreibt Thomas Szasz in seiner Anklageschrift gegen den psychiatrischen Zwang.

Dass sie alles nur verworrener und schlimmer machen, trifft aus meiner Sicht gleichermaßen auf Scientology und die Psychiatrie zu. Und die Bild-Zeitung, für ihren klaren, unmissverständlichen Stil bekannt, ist da auch nicht besser, denn mehr noch als das, was sie sagt, stiften ihre Auslassungen, das also, was sie nicht sagt, Verwirrung, mitunter schlimme Verwirrung.

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(2) siehe hierzu z. B. Collins, A. (1988). In the sleep room: the story of the CIA brainwashing experiments in Canada, Lester & Orpen Dennys

(3) z. B. Klee, E. (1983). „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. S. Fischer, Frankfurt 1983

(4) Röder, T. & Kubillus, V. (Hrsg.) (1994). die Männer hinter Hitler. Wer die geheimen Drahtzieher hinter Hitler wirklich waren… … und unter welchem Deckmantel sie immer noch unter uns weilen. Malters: Pi-Verlag

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Zwei große Ideen

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In meiner Jugend in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts begeisterten mich die Vorstellungen von Karl Marx und Sigmund Freud. Zwei wirklich große Ideen, die damals eher in den Kreisen liberaler und libertärer Denker Anklang fanden, beachtete ich kaum. Heute ist das anders.

Zunächst möchte ich die beiden Ideen, stark vergröbert, skizzieren, bevor ich mich ihrem Urhebern und dem Verhältnis der beiden Denker zueinander zuwende.

Die erste Idee: Krankheiten haben stets eine körperliche Ursache. Spricht man von Krankheiten ohne solche Ursachen, so verwendet man diesen Begriff in einem metaphorischen Sinn. Für keine der so genannten psychischen Krankheiten konnte bisher eine physische Ursache entdeckt werden. Würde aber eine solche für die Phänomene, die als Symptome einer psychischen Krankheit gedeutet werden, entdeckt, so handelte es sich eindeutig nicht um eine psychische, sondern um eine körperliche Erkrankung, beispielsweise des Gehirns. “Psychische Krankheiten” kann es daher aus logischen Gründen nicht geben.

Die zweite Idee: Es ist unmöglich, wissenschaftliche Theorien zu beweisen. Theorien haben die Form allgemeiner Aussagen. Beispielsweise: Alle Schwäne sind weiß. Um diese Theorie zu beweisen, müsste man alle Schwäne des Universums durchmustern und prüfen, ob sie weiß sind oder eine andere Farbe haben. Dies aber geht allein schon darum nicht, weil die Menge der Gegenstände im Universum nicht abzählbar ist. Man weiß niemals, ob man alle in Rede stehenden Gegenstände tatsächlich erfasst hat. Wohl aber kann man Theorien widerlegen. Findet man im obigen Beispiel auch nur einen Schwan, der nicht weiß ist, so ist die Theorie gescheitert.

Die erste dieser beiden großen Ideen wurde von Thomas Szasz, die zweite von Karl Popper vorgetragen. Popper forderte, dass Wissenschaftler nicht versuchen sollten, ihre Theorien zu belegen, was unmöglich sei, sondern zu widerlegen. Dazu müssten diese Theorien in einer Form vorgetragen werden, die sie im Prinzip widerlegbar macht. Aus diesem Grunde kritisierte Popper die Theorien von Karl Marx und Sigmund Freud, weil er meinte, sie hätten diese Form nicht. Dasselbe aber kann man nicht nur über die Theorien Freuds, sondern über alle psychiatrischen Theorien sagen. Wie soll man die These, psychische Störungen hätten eine körperliche Ursache, empirisch testen? Sie wäre aus logischen Gründen immer falsch. Fände man eine Ursache, so handelte es sich nicht um eine psychische Krankheit (sondern um eine somatische); fände man keine, so müsste man annehmen, dass es sich gar nicht um eine psychische Krankheit handele (sondern um etwas nicht Pathologisches).

Eine falsifizierbare Theorie einer so genannten psychischen Krankheit hätte die folgende Form: Einem Verhaltensmuster X liegt ein Hirnschaden Y zugrunde. Fände man nun auch nur einen Menschen mit X, bei dem Y nicht festgestellt werden kann, so wäre die Theorie falsifiziert. So geht die Psychiatrie bekanntlich nicht vor. Sie flutet das Universum mit Studien, die angeblich ihre Theorien belegen, obwohl dies erstens logisch unmöglich ist und obwohl zweitens die Studien sich im Allgemeinen nicht replizieren lassen, was die Voraussetzung für die Gültigkeit von Untersuchungen ist, aus denen statistische Schlussfolgerungen gezogen werden sollen.

Szasz und Popper waren bedeutende Verteidiger des liberalen Geistes und einer offenen Gesellschaft, die dem Dogmatismus von Betonköpfen widerstrebt. Es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass sie einander wertschätzten.

Popper schrieb an Szasz:

“Thank you very much for sending me your truly admirable book, The Myth of Mental Illness. Although my eyesight makes reading difficult, I found it so fascinating that I read it at one go.

It is a most important book, and it marks a real revolution. Besides, it is written in that only too rare spirit of a man who wants to be understood rather than to impress.”

Szasz schrieb an Popper:

“I greatly appreciate the inscribed copy of your autobiography, which arrived a few days ago. I read it immediately–with the same pleasure and profit with which I have read your other books. I have for long counted you (and Hayek and Mill) as among my foremost teachers…”

Hier handelte es sich wohl nicht um den Austausch billiger Höflichkeitsfloskeln, denn beide Männer verband eine klare und konsequente Geisteshaltung sowie eine entschieden freiheitliche Gesinnung.

Während Szasz und Popper das Heil eher in einem Kapitalismus sahen, der auf den Prinzipien des klassischen Liberalismus beruhte, neige ich vielmehr dem Anarchismus zu, der dem sozialen Gedanken und der Verantwortung der Menschen füreinander größeres Gewicht beimisst. Dennoch sind mir die Überlegungen dieser beiden großen Denker heute wesentlich näher als die Thesen der Helden meiner Jugend: Karl Marx und Sigmund Freud.

Popper an Szasz: “Freedom: – yes. Psychiatry:- no!”

Auch wenn ich mich diesem Schlachtruf natürlich anschließen kann, so bedeutet dies doch nicht, dass ich die Auffassungen von Popper und Szasz in jeder Hinsicht teile. Weder wünsche ich mir eine Gesellschaft, die den Mechanismen des Marktes überlassen bleibt, noch kann ich folgender, von Szasz in seinem Buch “Grausames Mitleid” geäußerten Auffassung zustimmen: “Das SSI-Programm (vergleichbar mit Hartz bzw. Sozialhilfe, HUG)) stellte für Legionen chronischer Psychiatriepatienten geradezu eine ökonomische Unabhängigkeitserklärung dar. Existentiell gesehen ist das Dasein als stationärer Psychiatriepatient immer eine Art Beruf gewesen. Fortan wurde es auch zu einem wirtschaftlich lohnenden Beruf.”

Auch wenn ich also in vieler Hinsicht mit diesen Männern überkreuz liege, so kann ich ihren eingangs skizzierten großen Ideen doch meinen Respekt nicht versagen. Sie sind schlüssig. Alle Versuche, sie zu widerlegen, führen ganz schnell zu einem Wust von Gedanken, zu einem undurchdringlichen Gestrüpp, was ja so oft ein Anzeichen ideologischen Denkens ist.

Es bleibt mir schleierhaft, wie so kluge Leute wie Szasz und Popper übersehen konnten, dass die Idee der “Selbstheilungskräfte” des freien Marktes durch die dem Kapitalismus eingeborene und kaum zu zügelnde Tendenz zum Oligopol, zum Monopol gar, ad absurdum geführt, also falsifiziert wird. Aber das ist eine andere Frage, die nicht zum Themenkreis der Pflasterritzenflora gehört.

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Bin dann mal weg

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Bisher habe ich beinahe täglich einen Beitrag für die Pflasterritzenflora geschrieben, mitunter sogar zwei Tagebucheinträge. Dies soll auch so bleiben. Bis zum 13. März lege ich allerdings eine kurze schöpferische Pause ein.

 

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Gewalt, Frauen, Psychiatrie

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Häusliche Gewalt, so heißt es in einem einschlägigen Artikel in einer Fachzeitschrift, sei eine “verborgene Epidemie”, die psychische Krankheiten hervorbringe. Es gibt allerdings vergleichsweise wenig Studien, die sich dieses Sachverhalts annehmen (1). Dennoch regt sich kaum (offener) Widerspruch gegen diese These, obwohl sie augenscheinlich fragwürdig ist. Denn

  1. sind Fragebögen zur Erhebung häuslicher Gewalt nicht valide (die mutmaßliche Gewalterfahrung wird fast immer nur aufgrund von Erinnerungen der angeblich Betroffenen festgestellt und nicht durch objektive Daten erhärtet) und
  2. ist die Validität von Diagnosen “psychischer Krankheiten” zweifelhaft (da es bisher noch nicht gelungen ist, derartige Diagnosen mit objektiven Verfahren abzusichern).

Wir können den vorliegenden Studien also allenfalls entnehmen, dass die Diagnose einer “psychischen Krankheit” mit mutmaßlicher (oder, in selteneren Fällen) auch tatsächlicher häuslicher Gewalterfahrung assoziiert ist.

Dabei ist zu bedenken, dass mutmaßliche oder tatsächliche Gewalterfahrungen mit einer Vielzahl von Phänomenen korrelieren: mit diversen “psychischen Krankheiten”, mit Gewalt und anderer Kriminalität, mit Viktimisierung, mit Drogenkonsum und Alkoholismus, Prostitution, mit einer Fülle chronischer Erkrankungen (2). Allein also kann (häusliche) Gewalt die Diagnose einer “psychischen Krankheit” nicht erklären, denn manche mutmaßlich oder tatsächlich Betroffenen werden eben nicht “psychisch krank”, sondern kriminell, chronisch krank oder – wer hätte das gedacht – normale erwachsene Menschen.

Die Forschung und auch das öffentliche Augenmerk konzentrieren sich in erster Linie auf Frauen als Opfer von Gewalterfahrungen. Zwar sind auch Männer von weiblicher oder männlicher Gewalt betroffen; aber wer will die Sache unnötig verkomplizieren. Dass Frauen weltweit Opfer von männlicher Gewalt sind, kann nicht ernsthaft bestritten werden; also liegt es nahe, hier eine spezifisch weibliche Ursache für “psychische Krankheiten” zu vermuten.

In ihren Buch über “Multiple Persönlichkeiten” benennt die Diplom-Psychologin Michaela Huber vier Voraussetzungen (3) für die Entstehung einer “Multiplen Persönlichkeitsstörung, nämlich

  1. weibliches Geschlecht
  2. gut dissoziieren können
  3. Schwerste Kindheitstraumata
  4. Niemand hilft

Zitate wie die folgenden sprechen für sich:

“Frauen sind das gequälte Geschlecht. Männer das quälende. Ausnahmen bestätigen die Regel.”

“Multiplizität stellt also… eine extreme Form des Selbsterhaltungstriebs dar. Offenbar besteht das psychische Äquivalent zum ‘Kämpfen oder Flüchten’ für viele missbrauchte Kinder, die zu beidem noch zu klein sind, in einer Dissoziation, die bewirkt, dass die originäre Persönlichkeit zeitweilig ‘nicht da’ und damit gegen Angst und Schmerz abgeschottet ist.”

“Es gehört zu den größten Tabus in unserer Gesellschaft, dass der Großteil der Kindesmisshandlungen von Müttern ausgeübt wird. Auch wenn die sexuelle Gewalt oft eine Männerdomäne ist, so misshandeln Mütter doch auch.”

Fazit: Multiple Persönlichkeiten sind überwiegend Frauen, die von Männern (u. U. mit Assistenz von Frauen) sexuell missbraucht und misshandelt wurden und die sich in mindestens zwei Persönlichkeiten spalten, um die Gewalterfahrung zu verarbeiten. Die klingt überraschend simpel und plausibel, hat nur einen kleinen Nachteil: Nichts davon konnte bisher durch methodisch saubere empirische Forschungen erhärtet werden.

Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging (4).”

Dies gilt natürlich auch für die so genannte Multiple Persönlichkeitsstörung bzw. Dissoziative Identitätsstörung. Es gibt zwar neuerdings eine Handvoll von Studien mit bildgebenden Verfahren, die Unterschiede im Gehirn zwischen Multiplen und Nicht-Multiplen festgestellt haben wollen; allein, diese Untersuchungen harren erstens noch der Replikation durch unabhängige Forschergruppen und sie ermitteln zweitens Korrelationen zwischen Diagnose und Hirnparametern, die bekanntlich keinen Rückschluss auf Kausalbeziehungen zulassen. Nebenbei bemerkt: Nicht replizierte Studien sind mit erheblich höherer Wahrscheinlichkeit falsch als zutreffend, wie John Joannidis gezeigt hat (5).

Michaela Hubers Buch ist nach wie vor noch sehr einflussreich, es hat viele meist weibliche Psychiater und Psychotherapeuten nachhaltig geprägt. Es mag für derartig ausgerichtete Experten nahezuliegen, bei einer Frau, die mit einschlägigen Beschwerden in die Praxis kommt, zu unterstellen, dass sie gut dissoziieren könne, schwerste Gewalterfahrungen erlitten habe und dass ihr niemand helfe.

Nun scheint sich all dies in ärztlichen oder therapeutischen Gesprächen zu bestätigen. Die Patienten ist oft von einem Buch so absorbiert, dass sie alles um sich herum vergisst. Leute sagen ihr mitunter, sie hätte Dinge getan, an die sie sich nicht erinnern kann. Sie schauspielert manchmal so gut, dass sie selbst daran glaubt. Derartige “Symptome” können viele Ursachen haben, aber sie stehen nun einmal in der “Adolescent Dissociative Experience Scale” und gelten als Anzeichen einer dissoziativen Störung (6).

Nachdem erst einmal der Patienten ein Verdacht auf eine Multiple Persönlichkeitsstörung” eröffnet wurde, quellen erst tropfend, dann flüssiger, schließlich sprudelnd Erinnerungen an sexuellen Missbrauch durch den Vater aus ihr hervor. Die Therapeutin hat dies, einschlägig geschult, auch nicht anders erwartet. Im weiteren Verlauf der Psychotherapie gilt der Missbrauch nunmehr als “narrative Wahrheit”, an die Patienten und Therapeutin fest glauben, aus der “frau” allerdings keine rechtlichen Konsequenzen zu ziehen sich entschlossen hat. So etwas nennt man anderswo “Selbstimmunisierung”.

Gewalt, Frauen, Psychiatrie. Die Psychiatrie wird nicht besser, wenn sie die Gewalt an Frauen thematisiert. Wenn ich Richter wäre, so würde ich dazu tendieren, den Gesetzesrahmen voll und gnadenlos auszuschöpfen, aber ich bestünde auch auf Beweisen, bevor ich mein Urteil fällte. Auch wenn es um die Frauen-Thematik geht, erweisen sich die Psychiatrie und die “Klinische Psychologie” als Parawissenschaften.

Gewalt, Psychiatrie, Frauen: Manche Psychiatriekritiker – meist weibliche – fordern, das “medizinische Modell psychischer Krankheiten” durch ein “Trauma-Modell” zu ersetzen. Sie begreifen nicht, dass dieses “Trauma-Modell” nichts anderes ist als ein “medizinisches Modell” mit feministischer Lackierung (vermutlich violett). Beide Modelle beruhen im Übrigen auf einem hierarchischen Schema der Arzt-Patient-Beziehung: Hier der wissende, aktive, richtungsweisende Arzt, dort der unwissende, passive, sich fügende Patient. Wie auch immer man diese Hierarchie zu kaschieren versucht, sie wird sich im Rahmen unseres Gesundheitssystems dennoch stets herausbilden, u. a. weil dies eine der Voraussetzungen dafür ist, dass die Kassen und auch die Privatversicherungen derartige Veranstaltungen finanzieren.

Anmerkungen

(1) Hegarty, K. (2011). Domestic violence: the hidden epidemic associated with mental illness. The British Journal of Psychiatry (2011) 198: 169-170 doi: 10.1192/bjp.bp.110.083758

(2) Centers for Disease Control and Prevention: Adverse Childhood Experiences (ACE) Study

(3) Huber, M. (1995). Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Ein Handbuch. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, Seite 35 ff.

(4) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(5) Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124

(6) Gharaibeh, N. (2009). Dissociative identity disorder:Time to remove it from DSM-V? Current Psychiatry, Vol. 8, No. 9 / September

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Julia Bonk

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Mit Freude und Erleichterung habe ich soeben der Bildzeitung entnommen, dass die Abgeordnete des Sächsischen Landtags, Julia Bonk gestern wieder an einer Sitzung dieses Parlaments teilnahm. Ebenfalls nach einem Bericht der Bildzeitung war sie vor rund einem halben Jahr (evtl. vorübergehend) gegen ihren Willen in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden; seither war in den Medien nichts mehr über ihr Schicksal zu hören und zu lesen – bis heute.

In mehreren Beiträgen der Pflasterritzenflora habe ich während ihrer Abwesenheit die Frage thematisiert, aus welchem tatsächlichen Grund sie ihrer parlamentarischen Tätigkeit fernblieb. Denn mangels Validität der einschlägigen Diagnosen bezweifele ich, natürlich auch in diesem Falle, die Existenz “psychischer Krankheiten”. Mein Motiv für diese Frage war ein politisches und nicht mit einem Interesse an den Privatangelegenheiten der Abgeordneten verbunden.

Diese Frage stellt sich mir nun nicht mehr. Vielmehr vertraue ich darauf, dass sich die Abgeordnete selbst dazu erklären wird – und ich verbinde mit dieser Erwartung die Hoffnung, dass sie ihren Fall in die Psychiatrie-Politik ihrer Partei, der Linken, einzuordnen weiß. Denn diese Einordnung, dies muss ich gestehen, fiel mir bisher, auch unter dem Gesichtspunkt der Glaubwürdigkeit, überaus schwer.

Selbst wenn ich es menschlich verstünde, schwiege die Abgeordnete zu dieser Angelegenheit, so bin ich doch der festen Überzeugung, dass Julia Bonk der Öffentlichkeit im Allgemeinen und ihren Wählern im Besonderen eine Erklärung schuldet. Professoren, Rechtsanwälte und Aktivisten der Betroffenenverbände haben ein Bündnis gegen Folter in der Psychiatrie gegründet, um u. a. das Bewusstsein dafür zu schärfen,

“dass der Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez, in der 22. Sitzung des “Human Rights Council” am 4. März 2013 Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu Folter bzw. grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erklärt hat.”

Wer denn, wenn nicht diese Abgeordnete, hätte nicht nur jedes Recht der Welt, sondern auch die politische Pflicht, ihren eigenen Fall in diesen Zusammenhang einzuordnen?

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PEPP und die Linke

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Sie wollen Geld, Geld und noch mehr Geld für die Behandlung von “Krankheiten”, die mit objektiven Verfahren nicht nachweisbar sind – für eine Behandlung zudem, deren Effektivität bisher noch nicht methodisch sauber belegt werden konnte. Die Psychiatrie ist deswegen natürlich gegen PEPP. Denn dieses neue Entgeltsystem, das 2015 in allen psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen verbindlich eingeführt werden soll, sieht u. a. eine verweildauerabhängige degressive Vergütung vor.

Die diagnostischen Verfahren der Psychiatrie sind nicht valide; es ließ sich bisher nicht nachweisen, dass sie tatsächlich das diagnostizieren, was sie zu diagnostizieren vorgeben, “psychische Krankheiten” nämlich. Auch konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass Psychotherapien effektiver sind als Placebo-Behandlungen. Die medikamentöse Therapie heilt nicht, sondern sie verdrängt bestenfalls eine mutmaßliche psychische Krankheit durch eine echte neurologische Störung, oder aber sie hat ebenfalls nur Placebo-Wirkung. Die Krankenkassen jedoch müssen all dies dennoch bezahlen – und, machen wir uns da nichts vor, wir alle, die Solidargemeinschaft der Versicherten, werden zur Kasse gebeten.

PEPP könnte sich als ein kleiner Fortschritt in die richtige Richtung auswirken, denn für tagesgleiche Pflegesätze gibt es nur eine für mich nachvollziehbare Rechtfertigung: die finanziellen Interessen der Betreiber solcher Einrichtungen. PEPP könnte dazu führen, dass sinnlose Maßnahmen, die den “Patienten” nicht helfen, nicht wirklich, früher beendet werden. Alle, alle würden davon profitieren, mit Ausnahme der Psychiatrie und der Pharmaindustrie, versteht sich.

Am 19.02.2014 brachte die Partei “Die Linke” einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein. Sein Titel: “Einführung des neuen Entgeltsystems in der Psychiatrie stoppen“. Gleich im ersten Absatz kommt man zur Sache: Es geht vor allem um die degressive Vergütung:

“Künftig soll sich die Höhe der Tagespauschalen an Durchschnittskosten für die Behandlung von Fällen mit vergleichbarem Aufwand bemessen, die in Kalkulationskrankenhäusern ermittelt werden. Liegen die realen Kosten in einem Krankenhaus höher, ist das Entgelt nicht kostendeckend. Diese Klinik muss also die Kosten senken oder kann die entsprechenden Leistungen nicht mehr anbieten.”

Nicht ein Gedanke im gesamten Antrag wird darauf verschwendet, die Möglichkeit auch nur zu erwähnen, dass eine Senkung der Kosten sich eventuell gar nicht auf die Qualität der Leistungen auswirken oder dass diese vielmehr nach dem Motto “Weniger ist mehr!” sogar steigen könnte. Die Maßnahmen psychiatrischer und psychosomatischer Einrichtungen werden unkritisch, unhinterfragt als segensreich angenommen. Offenbar hat sich auch die Linke in diesem Bereich dem Prinzip: “Mehr desselben!” verschrieben (siehe Watzlawicks “Anleitung zum Unglücklichsein“).

“Gegen die Einführung des PEPP hagelt es von vielen Seiten Kritik. In seltener Einigkeit lehnen viele Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Ärzteschaft, Patientenschaft, Pflegeberufen, Gewerkschaften und Klinikleitungen das PEPP ab. Umfragen ergeben z. B. unter rund 90 Prozent der leitenden Ärztinnen und Ärzte eine Ablehnung des geltenden PEPP-Katalogs. Die heftigste Kritik bezieht sich auf die degressive Ausgestaltung der Tagespauschalen.”

Da möchte die Linke natürlich nicht abseits stehen. Ob es sich bei dieser Allianz vielleicht um eine unheilige mit offenkundigen Interessen handelt, wird nicht einmal erwogen. Von einer linken Partei erwarte ich, dass sie die ökonomischen Mechanismen durchschaut. Dies scheint hier allerdings nicht der Fall zu sein. Die von der “Allianz” vorgetragenen Argumente sind allenfalls, oberflächlich betrachtet, plausibel, aber es fehlen vollständig die empirischen Beweise für die Effizienz des psychiatrischen Systems einerseits und für die angeblich schädlichen Auswirkungen der degressiven Vergütung andererseits.

Die Argumente der “Allianz” haben also fraglos die Form einer Marketing-Kampagne. Sie wollen Geld, Geld und noch mehr Geld für die Behandlung von “Krankheiten”, die mit objektiven Verfahren nicht nachweisbar sind – für eine Behandlung zudem, deren Effektivität bisher methodisch sauber noch nicht nachgewiesen werden konnte.

“Die Initiative ‘Weg mit PEPP’ wurde von ver.di, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, medico international, attac, dem Paritätischen Gesamtverband sowie der Soltauer Initiative für Sozialpolitik und Ethik ins Leben gerufen. In einem Aufruf an die Fachöffentlichkeit fordert sie zu Recht ‘vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit den DRGs (Fallpauschalen in allgemeinen Kliniken) [...] die kommende Bundesregierung auf, das Pauschalierende Entgeltsystem in Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) nicht einzuführen’. Es werde ‘weder der Tatsache gerecht, dass jede psychische Erkrankung höchst individuell verläuft, noch dass die jeweils besonderen Lebensumstände von Patientinnen und Patienten, deren Familien sowie deren Arbeitsbedingungen mit einbezogen werden müssen’”

Hier wird allerdings übersehen, dass man von individuellen Verläufen “psychischer Krankheiten” sinnvollerweise nur sprechen kann, wenn diese “Krankheiten” tatsächlich existieren. Dies konnte bisher, trotz mehr als 150jähriger Suche durch die moderne Psychiatrie, nicht mit objektiven Methoden nachgewiesen werden. Handelt es sich bei den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome psychischer Krankheiten” gedeutet werden, aber gar nicht um Krankheiten, sondern um nicht-pathologische, wenngleich mitunter hoch problematische und riskante, Lebensäußerungen, dann ist auch die Medizin zu ihrer “Behandlung” nicht zuständig und dann könnte man über andere, angemessenere und eventuell kostengünstigere Hilfen nachdenken.

Und so schließt der Antrag von Dr. Gregor Gysi und Fraktion:

“Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
a) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Umstellung weiterer Krankenhäuser auf das PEPP bis auf weiteres verhindert;
b) eine Expertenkommission einzurichten und dabei mindestens Fachorganisationen aus Medizin und Pflege, Vertreterinnen und Vertreter der großen Patientenorganisationen sowie explizit von Psychiatrie-Erfahrenen und deren Angehörigen, Gewerkschaften, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der gesetzlichen Krankenkassen sowie Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft sowie der Zivilgesellschaft einzubeziehen. Die Expertenkommission soll Vorschläge für ein Honorarsystem für die stationäre psychiatrische und psychosomatische Behandlung entwickeln, das die in Abschnitt I genannte Kritik aufgreift sowie den dort im letzten Abschnitt genannten Kriterien genügt.”

Was wäre von einer Expertenkommission, die überwiegend aus Personen mit eindeutigen finanziellen Interessen besteht, denn anderes zu erwarten als Lösungen, die dem Prinzip “Mehr desselben!” folgen? Wäre es nicht besser, eine Expertenkommission zu berufen, die in der Lage und willens ist, die vorliegende empirische Literatur zur Effizienz der Psychiatrie zu sichten, die von der Pharma-Industrie verfälschten Studien auszusondern, den Rest methodenkritisch zu prüfen und dann wertfrei und ergebnisoffen die notwendigen Schlüsse aus den Resultaten zu ziehen?

Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich fordere keineswegs, zu Lasten der Ärmsten der Armen zu sparen. Es geht um Kosteneffizienz, das Gegenteil von Verschwendung. Wenn die teuren medizinischen Maßnahmen für die Ärmsten der Armen gar nicht erforderlich, wenn sie womöglich kontraproduktiv sind, dann muss man sie weglassen. So einfach ist das.

Hintergrund (Auswahl):

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Verschwörungstheorie

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So wie man früher unliebsame Kritiker als “jüdisch” brandmarkte (was heute zum Glück nicht mehr akzeptabel ist), so bezeichnen interessierte Kreise sie heute als “Verschwörungstheoretiker” (und implizieren dabei meist auch noch einen geheimen oder offenen Hang zum Antisemitismus). Dabei spielt es keine Rolle, ob der unliebsame Kritiker eine Theorie propagiert, die eine Verschwörung zum Thema hat, oder ob Verschwörungen in seinem Denken keine Rolle spielen – allein die Tatsache, dass seine Kritik die “Wahrheit” des felsenfest für wahr Gehaltenen in Frage stellt, qualifiziert ihn zum Verschwörungstheoretiker.

Es ist daher kein Wunder, dass auch ich hin und wieder als “Verschwörungstheoretiker” herhalten muss, weil ich die Psychiatrie kritisiere. Zwar ist die Psychiatrie keine Verschwörerbande und Zwangseinweisungen, Zwangsbehandlungen und Zwangsdiagnosen sind keine Verschwörungen – aber wer wird schon auf solche Feinheiten achten, wenn es ums Große und Ganze geht?

Es sei in meinem Fall dieser übertrieben rationale, zynische, emotionslose Ton, der mich zum Verschwörungstheoretiker mache, so heißt es. Auch dieses bedingungslose Beharren auf Tatsachen spräche eindeutig dafür. Ein Brunnenvergifter sei ich und ein Nestbeschmutzer. Mit kaltem Materialismus leugne ich die Wirklichkeit des Seelischen und seiner Erkrankungen und sei deswegen mit meinen “wirren Theorien” nicht ernst zu nehmen.

Ja, sicher, es ist schon wahr, dass ich mit dem verschwommenen Begriff der Psyche nichts anfangen kann und erst recht nichts mit der romantischen Vorstellung einer gequälten, einer “kranken Seele”. Wenn Psychiater von “psychischen Krankheiten” sprechen, aber mutmaßlich Hirnkrankheiten meinen, ist dies eindeutig zu viel der romantischen Mehrdeutigkeit für mich. Mein Bild moderner Medizin ist das einer evidenz-basierten Disziplin und nicht das einer Parawissenschaft vergangener Jahrhunderte. Dass die Psychiatrie in dieses Bild nicht passt, versteht sich von selbst.

Wir wissen nicht, warum sich bei manchen Menschen Phänomene zeigen, die von Psychiatern als Phänomene psychischer Krankheiten missdeutet werden. Dies gehört – zur Zeit noch, zumindest – zu den Rätseln dieser Welt. Als Skeptiker neige ich nicht zum Spekulieren. Dies Rätsel müssen wir solange aushalten, ertragen, mit ihnen leben, bis wir sie gelöst haben, sofern uns dies jemals gelingen sollte.

Es ist keine Verschwörungstheorie, wenn ich der Psychiatrie unterstelle, sie kenne die Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten nicht und sie wisse auch nicht, bei wem und ob überhaupt ihre “Behandlungen” wirkten und wenn ja, warum und wieso. Sondern dies ist ein nüchterner Befund, der sich aus der Auswertung der vorliegenden seriösen empirischen Literatur ergibt.

Natürlich gibt es Leute, die von einer Verschwörung der Psychiatrie fabulieren. Überall hätten, hinter den Fassade der Demokratie genauso wie in den verborgenen Gängen und Verliesen der Diktatur, Psychiater ihre Hände im Spiel. Sie wüschen unsere Gehirne, sie manipulierten die Politiker, sie kommandierten die Generäle, kurz: die Psychiater seien unser Unglück.

Selbstredend distanziere ich mich von den Idioten, die an solche Fabeln glauben. Mag mag eine Zwangsbehandlung zwar als Gehirnwäsche betrachten, aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass diese in unserem Land den Gesetzen entspricht – auch wenn der – ich zitiere – Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E. Méndez, in der 22. Sitzung des “Human Rights Council” am 4. März 2013 Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu Folter, bzw. grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erklärt hat.

Es gibt keine gesetzeskonformen Verschwörungen. Die Psychisch-Kranken-Gesetze sind nicht die “Protokolle der Weisen von Zion”. Sie sind eine Grundlage unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung; sie können auf demokratischem Wege verändert oder abgeschafft werden; der Maßregelvollzug findet nicht in Geheimgefängnissen statt, und darum ist es absurd, von einer großen Psychiater-Verschwörung zu sprechen.

Als unlängst eine Abgeordnete eines deutschen Landtags vorübergehend hinter psychiatrischen Gittern verschwand und sich die Medien über Monate zu diesem Fall ausschwiegen, liefen die Verschwörungstheoretiker natürlich zu großer Form auf, vermuteten Machenschaften der Schattenpolitik auf dem Weg zur psychiatrischen Weltherrschaft.

Selbstverständlich fehlte solchen Spekulationen jeder Fußhalt im Reich der Tatsachen; gesichert war allein der Fakt, dass die Abgeordnete (zumindest vorübergehend) gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Einrichtung interniert war. Allein, dies genügte unseren Verschwörungstheoretikern nicht. Dabei ist dies der entscheidende Punkt. Die Kritik der Psychiatrie ist die Voraussetzung aller Kritik, solange Kritik nach Gutdünken, ohne objektive Beweise, von der Psychiatrie für “psychotisch” erklärt werden kann.

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Schwarze Hüte

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In den alten Western konnte man die Bösen an ihren schwarzen Hüten erkennen. Allein die Wirklichkeit ist leider etwas komplizierter. Zu kompliziert für manche Psychiatriekritiker. Doch auch wenn man es gern übersichtlicher hätte, ist in der Psychiatrie nicht jeder Weißkittel ein Teufel und nicht jeder Insasse ein unschuldiges Opfer.

Auch wenn die Psychiatrie sich, gemessen an den Maßstäben der Medizin, auf dem Niveau einer Parawissenschaft bewegt, so widerspricht dies nicht der Tatsache, dass sie ihre realen gesellschaftlichen Aufgaben hoch professionell und zur Zufriedenheit derjenigen erfüllt, die objektiv von ihren Leistungen profitieren.

Die Psychiatrie macht fraglos einen guten Job im Bereich der Repression und der Anpassung von Menschen an gesellschaftliche Anforderungen. Es gelingt ihr, diese Maßnahmen sehr überzeugend als eine medizinische Tätigkeit zu tarnen. Alternative Formen der Hilfe hat sie an den Rand gedrängt oder gar eliminiert. Sie ist weitgehend konkurrenzlos. Sie sitzt, trotz eklatanter Fehlleistungen im finanziellen Zusammenspiel mit der Pharmaindustrie, unangefochten fest im Sattel. Sehr effektiv kehrt sie die gesellschaftlichen Bedingungen der realen Probleme, die ihrer Tätigkeit zugrunde liegen, unter den Teppich und viele, viele sind hoch zufrieden damit.

In autoritär strukturierten, hierarchischen Systemen sind repressive Maßnahmen zwingend erforderlich und nicht nur Randerscheinungen wie in egalitären Stammesgesellschaften. Kein Mensch, der noch bei Trost ist, wird dafür plädieren, seine Mitmenschen nach Gusto gewähren zu lassen.

Aus dieser allgemeinen Zustimmung für repressive Maßnahmen schöpft die Psychiatrie ihre Legitimität. Auch wenn viele Leute (insgeheim) Zweifel an ihrer Heilkraft haben, so fühlen sie sich doch einfach sicherer in der Gewissheit, dass sich die Psychiatrie kujonierend um die gefährlichen Irren und um sonstige unsichere Kantonisten kümmert, die den Betrieb aufhalten und Unruhe stiften.

In den alten Western standen sich zum Schluss der noch übrig gebliebene Gute in einer braunen Lederjacke mit Fransen und die Leute mit den schwarzen Hüten im flirrend-heißen Licht der Mittagssonne auf der Hauptstraße vor dem Saloon gegenüber. Unbeteiligte lugten aus den Fenstern mit einen Spalt breit geöffneten Läden. Der Gute erschoss zunächst die Helfershelfer des Bösen und erwies sich dann, nicht ohne eigene Blessuren, nach einem langen, brutalen Kampf, dem Mann mit dem schwärzesten Hut überlegen, der schlussendlich reuelos verröchelte. Die Wirklichkeit der Psychiatrie sieht anders aus.

Die Psychiatrie verfügt über ein effizientes Instrumentarium, um jenseits allen medizinischen Schwindels ihre wahren Aufgaben zu bewältigen. Und deswegen, nein, sie lieben sie nicht, aber die Leute schätzen sie, dulden sie zumindest. Wer die Augen davor verschließt, ist kein Psychiatrie-Kritiker, sondern ein Narr.

In den Western, in denen den Leuten mit den schwarzen Hüten am Ende der Garaus gemacht wird, wartet die Schöne von Tombstone auf den Helden, der dennoch, dem Ruf der Pflicht folgend, in die Abendsonne reitet. Die Wirklichkeit der Psychiatrie sieht anders aus. Närrische Psychiatriekritiker werden ignoriert oder sie bekommen, wenn sie Fehler machen, die nächste Zwangseinweisung verpasst. Die Schöne von Tombstone wälzt sich derweil mit einem smarten Psychiater im Bett.

Wer die Kritik der Psychiatrie als ein ernsthaftes Anliegen betrachtet, muss zunächst einmal bereits sein, seine Affekte im Zaum zu halten und dies, wenn er es noch nicht kann, ggf. lernen. Denn nur mit gezügelten, gemeisterten Affekten ist man in der Lage, die Wirklichkeit als das zu betrachten, was sie ist. Sie ist kein Schwarz-Weiß-Foto.

Die Psychiatrie macht nicht alles falsch, machte sie dies, dann gäbe es sie längst nicht mehr. Und nicht alle, die sich in psychiatrischer Behandlung befinden, sind arme unschuldige Opfer, die ohne eigene Verantwortung in die Fänge eines teuflischen Systems geraten sind.

Die Psychiatrie ist ein Bestandteil des Procederes, mit dem unsere Gesellschaft Störungen ihrer Abläufe bewältigt. Das Spektrum der dabei ergriffenen Maßnahmen oszilliert in einem Kontinuum zwischen Softcore und Hardcore.

Die Sachwalter des Systems sind schlauer als närrische Psychiatriekritiker; sie inszenieren dieses Procedere nicht als Kampf zwischen den Guten und den Bösen, sondern als notwendige medizinische Maßnahme im Interesse aller Beteiligten (Win-Win-Strategie). Psychiatriekritik auf dem Niveau alter Western löst da allenfalls Achselzucken, häufig planes Unverständnis hervor.

Kluge Psychiatriekritik ist sachlich.

  • Sie zeigt erstens, dass die Psychiatrie, im Licht der empirischen Forschung betrachtet, weder “psychische Krankheiten” zu erkennen, noch zu heilen oder auch nur zu lindern vermag.
  • Sie zeigt zweitens, dass medizinische Maßnahmen für die tatsächlichen Probleme, die sie angeblich zu bewältigen sich vornimmt, denkbar ungeeignet sind.
  • Sie zeigt drittens, dass die psychiatrische Repression, die sich hinter der Fassade medizinische Hilfe verbirgt, zwar halbwegs effektiv, aber viel zu teuer ist.
  • Und sie zeigt viertens, dass es nicht nur kosteneffizientere, sondern auch menschengerechtere Lösungen für die realen Probleme gibt, mit denen sich die Psychiatrie zweifellos beschäftigt.

Närrischer Psychiatriekritik ist all dies selbstredend viel zu kompliziert. Man hätte es gern auf dem Niveau von Boulevard-Zeitungen. Natürlich kann man das Thema auf diesem Level abhandeln, sofern man gern ein nützlicher Idiot der Psychiatrie sein möchte. Da seht ihr doch, ruft die Psychiatrie angesichts solcher Kritik, was für Narren unsere Kritiker sind. Haben wir denn da nicht recht, wenn wir sie so behandeln, wie sie es verdienen?

Die Psychiatrie ist eine gut geölte Maschine. Sie läuft und läuft. Auch das Psychiatrie-Marketing, getarnt als Wissenschaft, ist eine gut geölte Maschine, die stampft und dröhnt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sich diese vorgetäuschte Wissenschaft bei näherer Betrachtung als Schwindel erweist. Es gilt zu zeigen, dass die wirtschaftlichen und die sozialen Betriebskosten dieser Maschinerie zu hoch sind.

Die Psychiatrie ist durchaus effektiv, nur nicht gemessen an medizinischen Maßstäben. Und die Probleme der Psychiatrie-Patienten sind durchaus real, mit medizinischen Maßnahmen kann man sie allerdings nicht meistern. Durch Repression kann man die designierten Störer zwar ruhigstellen, aber es wäre nicht nur menschengerechter, sondern auch kosteneffizienter, die sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen dieser Störungen vorbeugend zu modifizieren.

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NIMH – Vision und Wirklichkeit

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Das National Institute of Mental Health, kurz NIMH, firmiert im Internet unter dem Slogan “Transforming the understanding and treatment of mental illnesses”. Unter der Rubrik “About us” und der Überschrift “NIMH Vision” heißt es: “NIMH envisions a world in which mental illnesses are prevented and cured.” Aus der Sicht des NIMH müssen also das Verständnis und die Behandlung von “psychischen Krankheiten” transformiert werden, um die Vision einer Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der diesen Krankheiten vorgebeugt und in der sie geheilt werden können.

Das NIMH, eine von 27 Einrichtungen der National Institutes of Health, ist das weltweit größte psychiatrische Forschungszentrum und es untersteht dem amerikanischen Gesundheitsministerium. Es handelt sich hier also um die offizielle psychiatrische Forschungsinstitution der US-Regierung. Sie spielt eine erhebliche Rolle bei in der Amerikanisierung psychischer Krankheiten, also der weltweiten Ausbreitung der US-Sichtweise von Lebensproblemen, über die der amerikanische Journalist Ethan Watters in der New York Times schreibt:

“Seit mehr als einer Generation haben wir im Westen unser modernes Wissen zu den psychischen Krankheiten aggressiv in der Welt verbreitet. Dies geschah im Namen der Wissenschaft und in dem Glauben, dass unsere Ansätze die biologische Basis seelischen Leidens enthüllen und die vorwissenschaftlichen Mythen und schädlichen Stigmata zerstören. Es gibt nun gute Beweise dafür, dass wir – in dem Prozess, die Welt zu lehren, so wie wir zu denken – auch unser westliches Symptom-Repertoire exportiert haben. Dies bedeutet: Wir haben nicht nur die Behandlungen verändert, sondern auch den Ausdruck psychischer Krankheiten in anderen Kulturen. In der Tat: Eine Handvoll von psychischen Störungen, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Anorexie unter ihnen, scheinen sich nun kulturübergreifend mit der Geschwindigkeit ansteckender Krankheiten auszubreiten. Diese Symptommuster werden zur Lingua franca menschlichen Leidens und ersetzen die angestammten Formen psychischer Krankheiten.”

Ob es sich hier wirklich nur um das Ersetzen des Ausdrucks psychischer Krankheiten handelt oder aber um einen Austausch von Erfindungen, soll im Folgenden nicht diskutiert werden; mein Grund, dieses Zitat ins Spiel zu bringen, ist ein anderer: Was im NIMH geschieht, ist keine rein amerikanische Angelegenheit; im NIMH sind die Vordenker der US-Psychiatriepolitik versammelt und die Auswirkungen ihres Nachdenkens beeinflussen, mit gewisser zeitlicher Verzögerung, die ganze Welt – also auch die Psychiatrie in Deutschland.

Das Oberhaupt der Vordenker ist zur Zeit Thomas Insel. Er ist ein vorbildlicher Repräsentant der von Watters beschriebenen Tendenz. Dass “psychische Erkrankungen” Gehirnkrankheiten seien, bezeichnet er als das “Mantra des NIMH”. Da Menschen überall in der Welt das gattungsspezifische Nervensystem besitzen, sind demzufolge die “psychischen Krankheiten” auch überall gleich. Kulturspezifische Faktoren beeinflussen also allenfalls Erscheinungsformen und Verläufe, nicht aber den Kern der Sache. Insel möchte aus der Psychiatrie eine klinische Neurowissenschaft machen. Dies werde, so meint er, dank der Durchbrüche, die mit den modernen bildgebenden Verfahren erzielt werden könnten, schon bald möglich sein.

Am Rande sei erwähnt, dass die Psychiatrie im Augenblick noch Lichtjahre von einer solchen Vision entfernt ist. Die Neurowissenschaft ist eine junge Disziplin und ihr Forschungsinstrumentarium ist so fehlerbehaftet, dass die mit bildgebenden Verfahren gewonnenen Befunde in der Regel keine Theorien komplexen Verhaltens und Erlebens zu erhärten vermögen. Dies zeigt beispielsweise eine ebenso vergnügliche wie informative Schrift von Sally Satel und Scott O. Lilienfeld (1).

Es liegt mir fern, die Neurowissenschaft zu entwerten. Auch eingedenk ihrer methodischen Schwächen, kann man doch die Augen vor den enormen Fortschritten unseres Wissens über das menschlichen Nervensystem nicht verschließen, die durch moderne bildgegebende Verfahren und Computer möglich wurden. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass wir nach wie vor kaum Handfestes über die physischen Grundlagen des Denkens und Planens, der Bildung von Erwartungen, der intelligenten Steuerung unseres Handelns oder der Analyse komplexer Situationen wissen. Es ist daher auch kein Wunder, dass bisher alle Versuche, die so genannten psychischen Krankheiten “biologisch” zu erklären, grandios gescheitert sind.

Man mag sich fragen, ob sich angesichts dieses Scheiterns nicht die ganze Forschungsrichtung als Sackgasse erweisen könnte. Von solcher Skepsis allerdings ist Thomas Insel weit entfernt. Zwar räumt er ein, dass wir noch nicht alles wissen, was wir wissen müssten, aber noch nie zuvor in der Geschichte der Psychiatrie sei es gerechtfertigter gewesen, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Dumm nur, dass gerade jetzt die Pharmaindustrie nicht mehr mitspielt. In seinem “Director’s Blog” schreibt Insel:

“Die Entwicklung von Therapien ist ins Stocken geraten. Die Pipeline der pharmazeutischen Industrie für Medikamente wurde trockengelegt, nach mehreren Jahrzehnten mit Nachahmer-Medikamenten. Für Angst, Depressionen und Psychosen gibt es nur wenige rentable Zielgebiete, wegen unseres unangemessenen Wissens zur Biologie dieser Störungen. Für Autismus, Anorexie, post-traumatische Belastungsstörungen und die kognitiven Defizite der Schizophrenie haben wir keine effektiven Medikamente.”

Auch wenn also die Pharmaindustrie, wegen fehlenden Fortschritts in der einschlägigen Forschung, wenig Hoffnung auf eine profitable Zukunft in diesem Sektor und deshalb ihr finanzielles Engagement auf Eis gelegt hat, ist Insels Enthusiasmus ungebrochen. Eine Reform der Forschung soll es richten.

Und Insel hat durchaus die Macht dazu, diese auch zu erzwingen, denn er sitzt an einem langen Hebel, dem der Forschungsförderung durch die US-Regierung nämlich. Wer nicht nach seiner Pfeife tanze, so droht er unverhohlen, der bekomme in Zukunft eben kein Geld mehr, weil schließlich er im psychiatrischen Bereich die Richtlinien der staatlichen Forschungsförderung bestimme und sonst niemand.

“Vorschläge für Studien werden ein Zielobjekt (‘target’, HUG) oder einen Vermittler identifizieren müssen; ein positives Ergebnis wird nicht nur den Nachweis erfordern, dass eine Intervention ein Symptom lindert, sondern auch, dass es einen dokumentierten Effekt auf ein Zielobjekt hat, zum Beispiel einen neuronalen Pfad, der in der Störung verwickelt ist, oder eine entscheidende kognitive Operation.”

Außerdem müssten zukünftige Studien neuen Standards für Effizienz, Transparenz und Berichterstattung genügen.

Bereits bewilligte Studien könnten noch nach den alten Kriterien abgeschlossen werden, aber für neue Forschungen werde das NIMH ausnahmslos die Daumenschraube anziehen. Denn:

“Im gegenwärtigen Klima, gekennzeichnet durch knappe Mittel und drängende klinische Bedürfnisse, werden wir uns Studien zuwenden, die sich – als ein Weg, die nächste Generation der Therapien zu definieren – auf Zielobjekte (im Gehirn, HUG) konzentrieren. Angestrebt werden bessere Resultate, gemessen an verbessertem Funktionieren in der realen Welt und an verringerten Symptomen. Wir glauben, dass bessere Ergebnisse auch ein tieferes Verständnis der Störungen erfordern.”

Fazit im Klartext: Das Füllhorn der Pharmaindustrie sprudelt nicht mehr; staatliche Mittel sind begrenzt; der alte, parawissenschaftliche Schlendrian kann nicht länger geduldet werden; nun endlich müssen alle Register der Hirnforschung gezogen werden, um  jene Mechanismen zu Tage zu fördern, die effektive, d. h. kausal wirkende Therapien ermöglichen.

Gesucht werden also spezifische “Targets” im Gehirn, die eine Schlüsselrolle bei den so genannten psychischen Krankheiten spielen. “Die Idee, dass ein spezifisches Gebiet im Gehirn”, schreiben Satel und Lilienfeld, “allein dafür verantwortlich ist, eine bestimmte mentale Funktion zu ermöglichen, mag intuitiv reizvoll sein, doch in der Wirklichkeit ist dies selten der Fall. Mentale Aktivität ist nicht säuberlich in diskreten Hirnregionen kartiert.” Die meisten Hirngebiete seien für unterschiedliche Funktionen bestimmt.

Falls diese Einschätzung der Autoren zutrifft, dann hat Insel soeben eine gigantische Mogelpackung geschnürt. Es mag zwar sein, dass Studien hin und wieder zu belegen scheinen, der Effekt einer Behandlung träte vermittelt über einen neuronalen Pfad oder eine kognitive Operation ein. Doch bekanntlich ist die Wahrscheinlichkeit der Replikation solcher Befunde unter den realen Bedingungen medizinischer Forschung gering, wie John Ioannidis zeigen konnte (2).

Dies bedeutet, dass die neue Forschungsförderungspolitik des NIMH vermutlich dazu führen wird, dass in den nächsten Jahren eine Reihe von Zufallsbefunden mit validen Ergebnissen verwechselt wird, bis man dann, nach einigen gescheiterten Replikationsversuchen, einräumen muss, wieder einmal aufs falsche Pferd gesetzt zu haben.

William R. Uttal spricht abfällig von einer “neuen Phrenologie”, da er es für unmöglich hält, mentale Prozesse in bestimmten Bereichen des Gehirns zu identifizieren, da solche Prozesse schlicht und ergreifend nicht lokalisierbar seien. Vielmehr sei stets der gesamte Organismus involviert (3).

Mich beschleicht der Verdacht, dass Insels NIMH -

  • angesichts des kläglichen Zustandes der psychiatrischen Wissenschaft,
  • angesichts des Rückzugs der Pharmaindustrie aus der einschlägigen Forschung und
  • angesichts wachsender Kritik an den zweifelhaften, mitunter erwiesenermaßen rechtswidrigen finanziellen Verstrickungen zwischen Pharmaindustrie und Psychiatern -

die Flucht nach vor angetreten hat.

Die psychiatrische Forschung soll nun bedingungslos auf den Heilsweg der streng naturwissenschaftlichen Neurowissenschaft gezwungen werden.

Es war bisher ja auch kaum zu übersehen, dass die psychiatrische Forschung – und zwar sowohl an der medikamentösen, wie auch an der psychotherapeutischen Front – zwar das Biologische gern im Munde führte, die konkrete Suche nach den mutmaßlichen Ursachen der psychischen Krankheiten jedoch eine eher untergeordnete Rolle spielte.

Bei aller Skepsis begrüße ich also Insels Vorstoß als Schritt in die richtige Richtung. Falls sich eine körperliche Ursache des einen oder anderen Phänomens durch empirische Forschung erhärten und falls sich zeigen ließe, dass durch die gezielt Beeinflussung von neuronalen Pfaden oder einzelnen kognitiven Funktionen die psychische Lage der Betroffenen verbessert werden könnte, dann müssten selbst die verstummen, denen die ganze Richtung nicht passt.

Auch Kritiker der “biologischen” Psychiatrie sind also gut beraten, den einschlägigen Projekten des NIMH wohlwollend gegenüber zu stehen. Natürlich muss man genau beobachten, ob die nun angestrebten Untersuchungen auch methodisch einwandfrei und die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen logisch gerechtfertigt sind.

Falls dies der Fall sein sollte, hätte ich keine Bedenken, meine eigenen Auffassungen entsprechend zu korrigieren. Nicht verschweigen allerdings darf man, dass dies eben noch nicht der Fall ist. Nach wie vor kennt die Psychiatrie weder die Ursachen der Krankheiten, die sie zu behandeln vorgibt, noch hat sie objektive Verfahren, um zu diagnostizieren, ob ein Patient tatsächlich an ihnen erkrankt ist, und erst recht kennt sie keine kausalen Therapien. Auch hier ist dem NIMH zu danken, dass es, durch seine Vorstöße zur Anhebung des wissenschaftlichen Niveaus der Psychiatrie, diese Sachverhalte ins Bewusstsein hebt.

Man darf durchaus damit rechnen, dass sich Psychiatrien, in den USA und anderswo, angespornt durch den Enthusiasmus des NIMH und seines Direktors, nun verstärkt in den Nimbus der kausal forschenden, exakt wissenschaftlichen Neurowissenschaft hüllen. Doch dieses schillernde Gewand ist solange nur für den Laufsteg des Marketings tauglich, wie sich nicht nachprüfbare Ergebnisse zeigen.

Im Augenblick jedenfalls kann der Psychiatriepatient nicht voraussetzen, aufgrund solider Diagnostik mit abgesicherten Verfahren behandelt zu werden. Was das wissenschaftliche Fundament betrifft, so wäre er in den Händen des Heilpraktikers nicht schlechter aufgehoben als beim Psychiater.

Zum Abschluss seiner Begründung der neuen Vergabeordnung für Forschungsförderungsmittel wendet sich Insel an den “psychisch Kranken” und an deren Angehörige:

“Wenn Sie jemand mit einer psychischen Erkrankung oder mit einem betroffenen Familienmitglied sein sollten, dann wurden diese Veränderungen für Sie gemacht. Die Industrie hat ihre Investitionen in Medikamente für psychische Störungen reduziert und die Kostenträger stellen Fragen über die Qualität der Evidenz für psychosoziale Behandlungen. Wir hoffen, dass dieser neue Ansatz für klinische Studien uns auf Kurs zu einer Wissenschaft setzen wird, die notwendig ist, um neue Therapien zu entwickeln und jene zu validieren, die wir heute haben.”

Klartext: Die Wissenschaft für neue Therapien haben wir noch nicht und die vorhandenen sind nicht validiert.

Doch brauchen wir überhaupt neue Formen der Behandlung? Das NIMH scheint dies wohl vorauszusetzen und Insel hat verschiedentlich in seinem Blog und anderswo die Unzulänglichkeit der einschlägigen Medikamente beklagt.

Doch der Erfolg liegt im Auge des Betrachters. Immerhin gelingt es der Psychiatrie im Massenmaßstab, Menschen so zu formen, dass sie sich krankheitseinsichtig zeigen (obwohl diese Krankheiten sich nicht nachweisen lassen), dass sie ihre Medikamente nehmen (obwohl deren positive Wirkungen fragwürdig, deren Schadwirkungen aber sehr real sind), dass sie sich klaglos mit Rente oder Hartz bzw. Jobs weit unter ihren Möglichkeiten abspeisen lassen, kurz: dass sie nicht mehr stören. Verlangte jemand von der Psychiatrie nachzuweisen, sie sei imstande, für die CIA mandschurische Kandidaten zu kreieren, so könnte sie, bei diesem Sachstand!, getrost und hintersinnig lächelnd mit den Achseln zucken.

Erfolgreich ist die Psychiatrie durchaus. Allein, sie versagt gemessen an den Maßstäben eines erfüllten Lebens.

Anmerkungen

(1) Satel, S. & Lilienfeld, S. O. (2013). Brainwashed. The Seductive Appeal of Mindless Neuroscience. New York, N. Y.: Basic Books.

(2) Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124

(3) Uttal, W. R. (2001). The new phrenology: the limits of localizing cognitive processes in the brain. Cambridge, MA: MIT Press

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Sind Psychiater böse?

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In den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten werden Menschen gegen ihren Willen festgehalten und mit so genannten Medikamenten behandelt, die erwiesenermaßen die Lebenszeit verkürzen und schwere körperliche Schädigungen hervorrufen können. Im Grunde impliziert jede psychiatrische Behandlung, auch außerhalb eines geschlossenen Rahmens, die Drohung mit einer Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung. Sind Psychiater böse?

Psychiater rechtfertigen die Zwangspsychiatrie im Allgemeinen damit, dass sie dadurch Menschen vor Schaden bewahren. Kritiker halten ihnen entgegen, dass die Psychiatrie “psychische Krankheit” nicht valide diagnostizieren und Gefährlichkeit bzw. Suizidalität nicht treffsicher prognostizieren könne und dass sie außerdem bisher den Beweis dafür schuldig geblieben sei, durch ihre Maßnahmen Menschen vor Schaden zu bewahren, da durchaus nicht ausgeschlossen werden könne, dass psychiatrische Zwangsmaßnahmen die Gefährlichkeit und Suizidalität der Betroffenen sogar steigerten. Sind Psychiater also böse?

Ein psychiatrische Diagnose ist stets ein entschuldigendes moralisches Urteil. Ein Mensch verstößt gegen berechtigte Erwartungen seiner Mitmenschen, aber er ist nicht (uneingeschränkt) schuldig, weil er durch eine “psychische Krankheit” dazu getrieben oder zumindest verleitet wurde. Würden also Psychiater durch eine “psychische Krankheit” zu ihren Taten veranlasst, so könnte man sie auch nicht als böse bezeichnen. Für einen Psychiatriekritiker, der die Existenz psychischer Krankheiten bestreitet, scheidet diese Interpretation psychiatrischen Handelns jedoch aus.

Allerdings gibt es nicht nur innere, sondern auch äußere Zwänge. Wir werden einen Menschen nicht als böse verurteilen, wenn er gar nicht anders handeln konnte, weil ihn die Verhältnisse dazu zwangen. Die Freiheit der Berufswahl spricht allerdings gegen diese Erklärung.

Als böse wird auch nicht gelten, wer zwar Verwerfliches tut, dies aber in der Zuversicht, Gutes zu verrichten. Um Psychiater durch diese Sichtweise zu exkulpieren, müsste man voraussetzen, dass sie an ihre Lehren und die segensreichen Wirkungen ihrer Maßnahmen tatsächlich glauben. Allein, wovon einer aus tiefstem Empfinden überzeugt ist – das wissen wir nicht. Der Wohlwollende wird allerdings geneigt sein, die Bekundung einer Überzeugung für glaubwürdig zu halten, solange keine gewichtigen Gründe dagegen erkennbar sind.

Überzeugungen speisen sich aus vielen Quellen, und so kann eine Überzeugung auch dann genuin sein, wenn die Tatsachen gegen sie sprechen. Fakten vermögen Zweifel an der Echtheit psychiatrischer Überzeugung also nicht zu begründen. Man könnte Psychiatern natürlich unterstellen, nicht der Glaube an die segensreichen Wirkungen ihres Handelns motiviere sie zu ihren Taten, sondern weniger ehrenvolle Motive wie Gewinnsicht, Machtgier oder Eitelkeit. Allein, auch für derartige Unterstellungen müssten wir die Beweise letztlich schuldig bleiben.

Sind Psychiater böse? Was für eine Frage! Für einen großen, vielleicht für den größten Teil der Psychiatriekritiker stellt sich diese Frage gar nicht, weil die Antwort darauf bereits die Voraussetzung ihres Meinens ist: Die Psychiater, so denkt man, sind unsere Feinde und weil sie unsere Feinde sind, weil wir die Guten sind, müssen sie zwangsläufig die Bösen sein. Das ist die Grundlage jeder Politik, das ist ihr offenbares Geheimnis.

Neben der politischen gibt es allerdings auch noch die wissenschaftliche Psychiatriekritik. Wissenschaft ist, dem Anspruch nach, wertfrei, der Objektivität verpflichtet. Nicht immer wird sie diesem Anspruch gerecht, aber dies bedeutet nicht, dass der Anspruch verfehlt wäre. Nur in dem Maße, wie sie objektiv ist, kann Wissenschaft beanspruchen, die überlegene Form des Denkens zu sein. Wissenschaft maßt sich nicht an, beantworten zu können, ob Psychiater böse seien, denn es gibt keine objektiven Maßstäbe für das Böse.

Wenn nicht die Wissenschaft, wer dann könnte die Frage beantworten, ob Psychiater böse seien? Die Philosophen? Laut Kant ist das Böse eine anthropologische Konstante, nämlich die dem Menschen innewohnende Neigung, dem Sittengesetz zuwiderzuhandeln. Das Sittengesetz allerdings ist Ausdruck dessen, was die Allgemeinheit für sittlich bzw. anstößig hält – und das Verwahren und Behandeln von “psychisch Kranken” in Anstalten wird nun einmal von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass damit die Frage, ob Psychiater böse seien, aus Sicht der Philosophie schon beantwortet wäre. Denker, die dem Menschen ein natürliches Recht einräumen, sich seiner Freiheit zu erfreuen, werden den Psychiater nicht leichten Herzens exkulpieren. Wie in den anderen Bereichen des Daseins ja auch, dürfen wir bei dieser Frage von Philosophen keine eindeutigen Antworten erwarten.

Es gibt Theologen, die Schwerter zu Pflugscharen umschmieden wollen und solche, die Waffen segnen. Auch was die Frage betrifft, ob Psychiater böse seien, werden wir sie diesseits und jenseits der Front antreffen. Sie sind also in dieser Hinsicht keine Hilfe.

Letztlich bleiben nur die so genannten Betroffenen selbst, also jene, die psychiatrisch behandelt wurden. Unter diesen Menschen finden sich solche, die voll des Lobes sind und solche, die von Höllenqualen sprechen. Zwischen diesen Extremen siedeln jede Menge gemischte Gefühle.

Nur Hugo weiß, ob Psychiater böse sind. Doch wo steckt Hugo?

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