Das National Institute of Mental Health, kurz NIMH, firmiert im Internet unter dem Slogan “Transforming the understanding and treatment of mental illnesses”. Unter der Rubrik “About us” und der Überschrift “NIMH Vision” heißt es: “NIMH envisions a world in which mental illnesses are prevented and cured.” Aus der Sicht des NIMH müssen also das Verständnis und die Behandlung von “psychischen Krankheiten” transformiert werden, um die Vision einer Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der diesen Krankheiten vorgebeugt und in der sie geheilt werden können.
Das NIMH, eine von 27 Einrichtungen der National Institutes of Health, ist das weltweit größte psychiatrische Forschungszentrum und es untersteht dem amerikanischen Gesundheitsministerium. Es handelt sich hier also um die offizielle psychiatrische Forschungsinstitution der US-Regierung. Sie spielt eine erhebliche Rolle bei in der Amerikanisierung psychischer Krankheiten, also der weltweiten Ausbreitung der US-Sichtweise von Lebensproblemen, über die der amerikanische Journalist Ethan Watters in der New York Times schreibt:
“Seit mehr als einer Generation haben wir im Westen unser modernes Wissen zu den psychischen Krankheiten aggressiv in der Welt verbreitet. Dies geschah im Namen der Wissenschaft und in dem Glauben, dass unsere Ansätze die biologische Basis seelischen Leidens enthüllen und die vorwissenschaftlichen Mythen und schädlichen Stigmata zerstören. Es gibt nun gute Beweise dafür, dass wir – in dem Prozess, die Welt zu lehren, so wie wir zu denken – auch unser westliches Symptom-Repertoire exportiert haben. Dies bedeutet: Wir haben nicht nur die Behandlungen verändert, sondern auch den Ausdruck psychischer Krankheiten in anderen Kulturen. In der Tat: Eine Handvoll von psychischen Störungen, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen und Anorexie unter ihnen, scheinen sich nun kulturübergreifend mit der Geschwindigkeit ansteckender Krankheiten auszubreiten. Diese Symptommuster werden zur Lingua franca menschlichen Leidens und ersetzen die angestammten Formen psychischer Krankheiten.”
Ob es sich hier wirklich nur um das Ersetzen des Ausdrucks psychischer Krankheiten handelt oder aber um einen Austausch von Erfindungen, soll im Folgenden nicht diskutiert werden; mein Grund, dieses Zitat ins Spiel zu bringen, ist ein anderer: Was im NIMH geschieht, ist keine rein amerikanische Angelegenheit; im NIMH sind die Vordenker der US-Psychiatriepolitik versammelt und die Auswirkungen ihres Nachdenkens beeinflussen, mit gewisser zeitlicher Verzögerung, die ganze Welt – also auch die Psychiatrie in Deutschland.
Das Oberhaupt der Vordenker ist zur Zeit Thomas Insel. Er ist ein vorbildlicher Repräsentant der von Watters beschriebenen Tendenz. Dass “psychische Erkrankungen” Gehirnkrankheiten seien, bezeichnet er als das “Mantra des NIMH”. Da Menschen überall in der Welt das gattungsspezifische Nervensystem besitzen, sind demzufolge die “psychischen Krankheiten” auch überall gleich. Kulturspezifische Faktoren beeinflussen also allenfalls Erscheinungsformen und Verläufe, nicht aber den Kern der Sache. Insel möchte aus der Psychiatrie eine klinische Neurowissenschaft machen. Dies werde, so meint er, dank der Durchbrüche, die mit den modernen bildgebenden Verfahren erzielt werden könnten, schon bald möglich sein.
Am Rande sei erwähnt, dass die Psychiatrie im Augenblick noch Lichtjahre von einer solchen Vision entfernt ist. Die Neurowissenschaft ist eine junge Disziplin und ihr Forschungsinstrumentarium ist so fehlerbehaftet, dass die mit bildgebenden Verfahren gewonnenen Befunde in der Regel keine Theorien komplexen Verhaltens und Erlebens zu erhärten vermögen. Dies zeigt beispielsweise eine ebenso vergnügliche wie informative Schrift von Sally Satel und Scott O. Lilienfeld (1).
Es liegt mir fern, die Neurowissenschaft zu entwerten. Auch eingedenk ihrer methodischen Schwächen, kann man doch die Augen vor den enormen Fortschritten unseres Wissens über das menschlichen Nervensystem nicht verschließen, die durch moderne bildgegebende Verfahren und Computer möglich wurden. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass wir nach wie vor kaum Handfestes über die physischen Grundlagen des Denkens und Planens, der Bildung von Erwartungen, der intelligenten Steuerung unseres Handelns oder der Analyse komplexer Situationen wissen. Es ist daher auch kein Wunder, dass bisher alle Versuche, die so genannten psychischen Krankheiten “biologisch” zu erklären, grandios gescheitert sind.
Man mag sich fragen, ob sich angesichts dieses Scheiterns nicht die ganze Forschungsrichtung als Sackgasse erweisen könnte. Von solcher Skepsis allerdings ist Thomas Insel weit entfernt. Zwar räumt er ein, dass wir noch nicht alles wissen, was wir wissen müssten, aber noch nie zuvor in der Geschichte der Psychiatrie sei es gerechtfertigter gewesen, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Dumm nur, dass gerade jetzt die Pharmaindustrie nicht mehr mitspielt. In seinem “Director’s Blog” schreibt Insel:
“Die Entwicklung von Therapien ist ins Stocken geraten. Die Pipeline der pharmazeutischen Industrie für Medikamente wurde trockengelegt, nach mehreren Jahrzehnten mit Nachahmer-Medikamenten. Für Angst, Depressionen und Psychosen gibt es nur wenige rentable Zielgebiete, wegen unseres unangemessenen Wissens zur Biologie dieser Störungen. Für Autismus, Anorexie, post-traumatische Belastungsstörungen und die kognitiven Defizite der Schizophrenie haben wir keine effektiven Medikamente.”
Auch wenn also die Pharmaindustrie, wegen fehlenden Fortschritts in der einschlägigen Forschung, wenig Hoffnung auf eine profitable Zukunft in diesem Sektor und deshalb ihr finanzielles Engagement auf Eis gelegt hat, ist Insels Enthusiasmus ungebrochen. Eine Reform der Forschung soll es richten.
Und Insel hat durchaus die Macht dazu, diese auch zu erzwingen, denn er sitzt an einem langen Hebel, dem der Forschungsförderung durch die US-Regierung nämlich. Wer nicht nach seiner Pfeife tanze, so droht er unverhohlen, der bekomme in Zukunft eben kein Geld mehr, weil schließlich er im psychiatrischen Bereich die Richtlinien der staatlichen Forschungsförderung bestimme und sonst niemand.
“Vorschläge für Studien werden ein Zielobjekt (‘target’, HUG) oder einen Vermittler identifizieren müssen; ein positives Ergebnis wird nicht nur den Nachweis erfordern, dass eine Intervention ein Symptom lindert, sondern auch, dass es einen dokumentierten Effekt auf ein Zielobjekt hat, zum Beispiel einen neuronalen Pfad, der in der Störung verwickelt ist, oder eine entscheidende kognitive Operation.”
Außerdem müssten zukünftige Studien neuen Standards für Effizienz, Transparenz und Berichterstattung genügen.
Bereits bewilligte Studien könnten noch nach den alten Kriterien abgeschlossen werden, aber für neue Forschungen werde das NIMH ausnahmslos die Daumenschraube anziehen. Denn:
“Im gegenwärtigen Klima, gekennzeichnet durch knappe Mittel und drängende klinische Bedürfnisse, werden wir uns Studien zuwenden, die sich – als ein Weg, die nächste Generation der Therapien zu definieren – auf Zielobjekte (im Gehirn, HUG) konzentrieren. Angestrebt werden bessere Resultate, gemessen an verbessertem Funktionieren in der realen Welt und an verringerten Symptomen. Wir glauben, dass bessere Ergebnisse auch ein tieferes Verständnis der Störungen erfordern.”
Fazit im Klartext: Das Füllhorn der Pharmaindustrie sprudelt nicht mehr; staatliche Mittel sind begrenzt; der alte, parawissenschaftliche Schlendrian kann nicht länger geduldet werden; nun endlich müssen alle Register der Hirnforschung gezogen werden, um jene Mechanismen zu Tage zu fördern, die effektive, d. h. kausal wirkende Therapien ermöglichen.
Gesucht werden also spezifische “Targets” im Gehirn, die eine Schlüsselrolle bei den so genannten psychischen Krankheiten spielen. “Die Idee, dass ein spezifisches Gebiet im Gehirn”, schreiben Satel und Lilienfeld, “allein dafür verantwortlich ist, eine bestimmte mentale Funktion zu ermöglichen, mag intuitiv reizvoll sein, doch in der Wirklichkeit ist dies selten der Fall. Mentale Aktivität ist nicht säuberlich in diskreten Hirnregionen kartiert.” Die meisten Hirngebiete seien für unterschiedliche Funktionen bestimmt.
Falls diese Einschätzung der Autoren zutrifft, dann hat Insel soeben eine gigantische Mogelpackung geschnürt. Es mag zwar sein, dass Studien hin und wieder zu belegen scheinen, der Effekt einer Behandlung träte vermittelt über einen neuronalen Pfad oder eine kognitive Operation ein. Doch bekanntlich ist die Wahrscheinlichkeit der Replikation solcher Befunde unter den realen Bedingungen medizinischer Forschung gering, wie John Ioannidis zeigen konnte (2).
Dies bedeutet, dass die neue Forschungsförderungspolitik des NIMH vermutlich dazu führen wird, dass in den nächsten Jahren eine Reihe von Zufallsbefunden mit validen Ergebnissen verwechselt wird, bis man dann, nach einigen gescheiterten Replikationsversuchen, einräumen muss, wieder einmal aufs falsche Pferd gesetzt zu haben.
William R. Uttal spricht abfällig von einer “neuen Phrenologie”, da er es für unmöglich hält, mentale Prozesse in bestimmten Bereichen des Gehirns zu identifizieren, da solche Prozesse schlicht und ergreifend nicht lokalisierbar seien. Vielmehr sei stets der gesamte Organismus involviert (3).
Mich beschleicht der Verdacht, dass Insels NIMH -
- angesichts des kläglichen Zustandes der psychiatrischen Wissenschaft,
- angesichts des Rückzugs der Pharmaindustrie aus der einschlägigen Forschung und
- angesichts wachsender Kritik an den zweifelhaften, mitunter erwiesenermaßen rechtswidrigen finanziellen Verstrickungen zwischen Pharmaindustrie und Psychiatern -
die Flucht nach vor angetreten hat.
Die psychiatrische Forschung soll nun bedingungslos auf den Heilsweg der streng naturwissenschaftlichen Neurowissenschaft gezwungen werden.
Es war bisher ja auch kaum zu übersehen, dass die psychiatrische Forschung – und zwar sowohl an der medikamentösen, wie auch an der psychotherapeutischen Front – zwar das Biologische gern im Munde führte, die konkrete Suche nach den mutmaßlichen Ursachen der psychischen Krankheiten jedoch eine eher untergeordnete Rolle spielte.
Bei aller Skepsis begrüße ich also Insels Vorstoß als Schritt in die richtige Richtung. Falls sich eine körperliche Ursache des einen oder anderen Phänomens durch empirische Forschung erhärten und falls sich zeigen ließe, dass durch die gezielt Beeinflussung von neuronalen Pfaden oder einzelnen kognitiven Funktionen die psychische Lage der Betroffenen verbessert werden könnte, dann müssten selbst die verstummen, denen die ganze Richtung nicht passt.
Auch Kritiker der “biologischen” Psychiatrie sind also gut beraten, den einschlägigen Projekten des NIMH wohlwollend gegenüber zu stehen. Natürlich muss man genau beobachten, ob die nun angestrebten Untersuchungen auch methodisch einwandfrei und die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen logisch gerechtfertigt sind.
Falls dies der Fall sein sollte, hätte ich keine Bedenken, meine eigenen Auffassungen entsprechend zu korrigieren. Nicht verschweigen allerdings darf man, dass dies eben noch nicht der Fall ist. Nach wie vor kennt die Psychiatrie weder die Ursachen der Krankheiten, die sie zu behandeln vorgibt, noch hat sie objektive Verfahren, um zu diagnostizieren, ob ein Patient tatsächlich an ihnen erkrankt ist, und erst recht kennt sie keine kausalen Therapien. Auch hier ist dem NIMH zu danken, dass es, durch seine Vorstöße zur Anhebung des wissenschaftlichen Niveaus der Psychiatrie, diese Sachverhalte ins Bewusstsein hebt.
Man darf durchaus damit rechnen, dass sich Psychiatrien, in den USA und anderswo, angespornt durch den Enthusiasmus des NIMH und seines Direktors, nun verstärkt in den Nimbus der kausal forschenden, exakt wissenschaftlichen Neurowissenschaft hüllen. Doch dieses schillernde Gewand ist solange nur für den Laufsteg des Marketings tauglich, wie sich nicht nachprüfbare Ergebnisse zeigen.
Im Augenblick jedenfalls kann der Psychiatriepatient nicht voraussetzen, aufgrund solider Diagnostik mit abgesicherten Verfahren behandelt zu werden. Was das wissenschaftliche Fundament betrifft, so wäre er in den Händen des Heilpraktikers nicht schlechter aufgehoben als beim Psychiater.
Zum Abschluss seiner Begründung der neuen Vergabeordnung für Forschungsförderungsmittel wendet sich Insel an den “psychisch Kranken” und an deren Angehörige:
“Wenn Sie jemand mit einer psychischen Erkrankung oder mit einem betroffenen Familienmitglied sein sollten, dann wurden diese Veränderungen für Sie gemacht. Die Industrie hat ihre Investitionen in Medikamente für psychische Störungen reduziert und die Kostenträger stellen Fragen über die Qualität der Evidenz für psychosoziale Behandlungen. Wir hoffen, dass dieser neue Ansatz für klinische Studien uns auf Kurs zu einer Wissenschaft setzen wird, die notwendig ist, um neue Therapien zu entwickeln und jene zu validieren, die wir heute haben.”
Klartext: Die Wissenschaft für neue Therapien haben wir noch nicht und die vorhandenen sind nicht validiert.
Doch brauchen wir überhaupt neue Formen der Behandlung? Das NIMH scheint dies wohl vorauszusetzen und Insel hat verschiedentlich in seinem Blog und anderswo die Unzulänglichkeit der einschlägigen Medikamente beklagt.
Doch der Erfolg liegt im Auge des Betrachters. Immerhin gelingt es der Psychiatrie im Massenmaßstab, Menschen so zu formen, dass sie sich krankheitseinsichtig zeigen (obwohl diese Krankheiten sich nicht nachweisen lassen), dass sie ihre Medikamente nehmen (obwohl deren positive Wirkungen fragwürdig, deren Schadwirkungen aber sehr real sind), dass sie sich klaglos mit Rente oder Hartz bzw. Jobs weit unter ihren Möglichkeiten abspeisen lassen, kurz: dass sie nicht mehr stören. Verlangte jemand von der Psychiatrie nachzuweisen, sie sei imstande, für die CIA mandschurische Kandidaten zu kreieren, so könnte sie, bei diesem Sachstand!, getrost und hintersinnig lächelnd mit den Achseln zucken.
Erfolgreich ist die Psychiatrie durchaus. Allein, sie versagt gemessen an den Maßstäben eines erfüllten Lebens.
Anmerkungen
(1) Satel, S. & Lilienfeld, S. O. (2013). Brainwashed. The Seductive Appeal of Mindless Neuroscience. New York, N. Y.: Basic Books.
(2) Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124
(3) Uttal, W. R. (2001). The new phrenology: the limits of localizing cognitive processes in the brain. Cambridge, MA: MIT Press