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Schizophrenie oder Besendung

Akustische Halluzinationen

Wer Stimmen hört, die sonst niemand hört, ist gut beraten, zu schweigen. Man sollte auch nicht mit Leuten, denen man vertraut, darüber sprechen. Denn solche Stimmen zu hören, gilt als charakteristisches Symptom schwerer psychischer Störungen, vor allem der so genannten Schizophrenie. Dieses Vorurteil ist weit verbreitet. Auch allgemein vertrauenswürdige Leute sind nicht frei von Vorurteilen. Das thematische Feld der so genannten psychischen Krankheiten ist mit Vorurteilen gepflastert. Dies liegt daran, dass hier das kritische Denken schwerfällt. Dafür sorgen Emotionalisierung und Tabus. Diese mentale Gemengelage aus Emotionalisierung und Tabus führt dazu, dass beim Thema “Stimmenhören” sofort die Alarmglocken läuten und die roten Lampen aufleuchten.

Wer Stimmen hört, die sonst niemand hört und sich deswegen Sorgen macht, sollte also nur dann zum Psychiater gehen und ihm dies erzählen, wenn er gern einmal einen Reaktionsautomaten bei der Arbeit beobachten möchte. Um in diesem Fall ganz sicher zu gehen, ist es ratsam, dem Psychiater zu berichten, dass sich mehrere Stimmen miteinander unterhalten und das Verhalten des Stimmenhörers kommentieren.

Wer zeitgemäß sein möchte, äußert die Vermutung, nein, besser, die Gewissheit, dass diese Stimmen absichtlich von bösen Nachbarn, einem Geheimdienst oder Außerirdischen hervorgerufen würden. Nachdem man mit einer solchen Geschichte an der großen Kurbel gedreht hat, rasselt der Automat und wirft eine Hülse aus. Beim Öffnen dieser Hülse kommt, wie aus einem Glückskeks, ein Zettelchen hervor, und auf diesem steht (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit:) F20. Das ist der psychiatrische Kosename für “Schizophrenie”.

Menschen, so heißt es, die solche geisterhaften Stimmen hören, seien gefährlich, besonders dann, wenn ihnen diese Stimmen Befehle erteilen. Psychiater, die nach einem arbeitsamen Tag oder am Wochenende noch die Muße finden, die Abstracts von Studien in ihren Vereinsblättchen zu lesen, werden auf Untersuchungen hinweisen, mit denen sich angeblich die besondere Gefährlichkeit von Menschen belegen lässt, die solche “halluzinierten Kommandos” wahrnehmen.

Braham, Trower und Birchwood haben sich den Stand der Erkenntnis zu diesem Thema allerdings etwas genauer angeschaut und ihr Urteil ist ernüchternd. Die einschlägige Forschung, so schreiben sie, steckt noch in den Kinderschuhen und hat mit massiven methodologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Alles in allem habe sich aber gezeigt, dass “command halluzinations” für sich genommen nicht in der Lage seien, entsprechende Aktionen auszulösen. Falls sie in die Tat umgesetzt würden, so seien zusätzliche, vermittelnde psychologische Prozesse dafür verantwortlich (1, 2).

Aaaaargh! Wer hätte das gedacht? Wenn Menschen ein Kommando erhalten, dann führen sie es niemals aus wie ein Roboter (weil sie ein menschliches Gehirn unter ihrer Schädeldecke haben und keine “central processing unit”), sondern vermittelnde psychologische Prozesse entscheiden über Gehorsam oder Ungehorsam. Dass dies auch für Kommandos gilt, die sonst niemand hört, kann daher nicht überraschen, nicht wirklich.

Woher stammen die Stimmen, die sonst niemand hört? Sind sie Produkte der Innenwelt, die irrtümlicherweise in die Außenwelt projiziert werden? Oder gelangen sie tatsächlich aus der Außenwelt unter Umgehung des Gehörs ins Bewusstsein? Für Psychiater und die meisten Mitmenschen ist die Antwort klar: Diese Stimmen werden von einer kranken Psyche und von einem gestörten Gehirn produziert. Daher gilt es, sie mit Pillen oder guten Worten zum Schweigen zu bringen.

Denn, so denkt die Mehrheit, wer Stimmen hört, die sonst niemand hört, der ist schizophren und gefährlich, und wenn dem Stimmenhörer von den Stimmen Kommandos erteilt werden, dann ist er besonders gefährlich. Viele Stimmenhörer fügen sich angesichts dieser Mehrheitsmeinung, die ja auch von den “Experten” geteilt wird, brav in ihr Schicksal, schlucken Pillen, und schließlich gehen ihnen die Stimmen, sofern die “Medikamente” wirken, am Arsch vorbei. Sie hören sie zwar immer noch, aber sie kümmern sich nicht mehr so recht darum, weil schließlich ohnehin alles Wurst ist.

Interpretationen

Allein, manche Aufmüpfige wollen sich nicht mit psychiatrischen Spekulationen über den Ursprung ihrer Stimmen abfinden und gefährliche Nervengifte schlucken. Sie stimmen ihre Psychiater sorgenvoll, und manch einer, der soviel Undank erntet, mag dann auch aus der Haut fahren. Die Aufmüpfigen werden darob aufsässig; es kommt, wie es kommen muss: Ein Wort gibt das andere – und schließlich ist das Vertrauensverhältnis zerrüttet. Manche, die dann nach Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung wieder aus dem psychiatrischen Kerker entlassen wurden, surfen, allein in ihrer Behausung, im Internet auf der Suche nach verständnisvolleren “Experten”.

Nicht wenige finden dabei meinen Namen, rufen bei mir an oder schreiben mir eMails. In aller Regel erzählen sie mir, dass ihre Stimmen durch elektromagnetische Strahlung absichtlich von bösen Menschen in ihr Gehirn gesendet würden. Sie können diese Sachverhaltsbehauptung zwar ebenso wenig beweisen wie die Psychiater ihre Unterstellung einer gestörten Hirnchemie, aber sie glauben dennoch ungebrochen und unkorrigierbar daran, ähnlich wie ja auch die Psychiater an ihrer durch und durch unbewiesene “Wissenschaft” festhalten, und dies unbelehrbar.

Wenn ich ehrlich sein darf, so finde ich diese These von der “Besendung” ebenso bescheuert wie die Lehren der Psychiatrie. Zwar kann ich gut verstehen, dass sich die Betroffenen nicht von der Psychiatrie eine Schizophrenie andichten lassen wollen, nur weil sie Stimmen hören, die sonst niemand hört; aber deswegen muss man ja nicht unbedingt ins offene Messer rennen. Die meisten Menschen nämlich, denen solche Besendungsfantasien mitgeteilt werden, bilden sich blitzschnell das entsprechende Urteil: Durchgeknallt!

Ich bezweifele im Übrigen nicht, dass Geheimdienste oder Militärs solche Besendungsgeräte gerne hätten und dass eventuell sogar geheime Forschungslabors versuchen, sie zu entwickeln; die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein Mensch, der bei mir anruft, tatsächlich Opfer solcher Machenschaften wurde, ist aus meiner Sicht erschreckend gering. Vielmehr handelt es sich, so denke ich, um eine aus der Verzweiflung geborene Fantasie. Diese wurde bei diesen Menschen nicht zuletzt auch durch eine verständnislose und an allem Menschlichen uninteressierte Psychiatrie angeheizt.

Dies aber ist nur meine Meinung, ebenfalls eine Fantasie, die allerdings auf einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung beruht. Auch ich weiß nicht, ob nicht doch im Einzelfall Geheimdienste oder wer auch immer mit technischen Gerätschaften Zugriff auf das Bewusstsein des Betroffenen zu erhalten versucht. Man möge mir aber nachsehen, dass ich diesbezüglich dennoch eher skeptisch bin.

Woher diese Stimmen kommen, weiß ich mit Sicherheit in keinem Fall, grundsätzlich nicht. Aber ich weiß, dass es sich dabei um ein weltweites und uraltes Phänomen handelt. Mit anderen Worten: Es ist ganz normal, Stimmen zu hören. Und es ist heute leider notwendig, darüber mit niemandem zu sprechen, vor allem aber nicht mit Psychiatern. Denn diese sind, im Einklang mit der Pharmaindustrie, gerade dabei, auch den allerletzten Winkel der Normalität zu pathologisieren – da ist ein Stimmenhörer natürlich leichte Beute und da fällt schnell der Hammer: Schizophrenie.

Was nun den Umgang mit diesen Stimmen betrifft, so wird ein Betroffener schnell feststellen, dass dieser erheblich leichter fällt, wenn man sie als normal betrachtet. Selbstverständlich können Stimmen lästig sein, bedrohlich, fordernd. Dies gilt aber auch für jene Stimmen, die man tatsächlich mit den Ohren wahrnimmt und die auch andere hören. Also sollte man den Stimmen, die sonst niemand hört, mit derselben Haltung begegnen, in der man sich auch mit allen von anderen hörbaren Stimmen auseinandersetzt.

Denn alle Stimmen, ganz gleich, wo sie herkommen, gehören unterschiedslos zu unserer Wirklichkeit. Natürlich kann man seine Ohren verstopfen, wenn man von den für alle hörbaren Stimmen genug hat. Ohrenstöpsel kann man sich ebenso in der Apotheke besorgen wie, mit entsprechendem Rezept, jene Pillen, die gegen die nicht für alle hörbaren Stimmen (mehr schlecht als recht) helfen. Dies löst allerdings das zugrunde liegende Problem in keinem Fall.

Selbstverständlich können Stimmen Furcht erregend sein, unwiderstehlich fordernd. Dies gilt für alle Stimmen. Für alle Stimmen gilt auch: Wir hören einen akustischen Reiz (A), dieser wird bewertet (B) und die Bewertung, nicht der Reiz selbst, entscheidet darüber, wie wir reagieren (C). Der psychologisch Bewanderte wird erkennen, dass ich hier die ABC-Theorie von Albert Ellis ins Spiel bringe. Die Bewertung kann bewusst und reflektiert oder unbewusst und automatisch ablaufen. Es ist klug, gelegentlich eingeschliffene Automatismen zu durchbrechen (und dies nicht nur, was Stimmen betrifft).

Erfahrungsberichte

Hierzu zwei Erfahrungsberichte:

Dieser Tagebucheintrag stellt beispielsweise nur die wortwörtliche Niederschrift einer Stimme dar, der Stimme O’Dor Bahs, eines Raumschiffkommandanten, die dieser mir mit Hilfe seiner hochentwickelten Strahlungsmethodik direkt ins Hirn sendet. Mitlesenden Psychiatern sei versichert, dass ich einen Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich ihre freundliche Unterstützung beim Umgang mit Aliens dankend und rechtsverbindlich ablehne.

Doch nicht nur Stimmen von Außerirdischen höre ich, nein, nicht genug damit, mitunter höre ich auch – Leser, lass alle Hoffnung fahren, wenn du nun weiterliest – die so genannte Stimme des Gewissens. Sie sagt: “Wie kannst du nur durch Spott und unerwünschte Fakten arme, verwirrte Menschen noch mehr verunsichern? Schäme dich!” Angesichts solcher Stimmen, in der Tat, muss ich einräumen, dass Stimmenhören nicht immer eine reine Freude ist. Die so genannte Stimme des Gewissens ist das Ergebnis der Dressur in Klassengesellschaften. Ihre Hauptfunktion besteht darin, immer dann zu intervenieren, wenn jemand die herrschende Ordnung in Frage stellt. So eine Stimme ist natürlich behandlungsbedürftig – aber nicht durch die Psychiatrie, denn dies hieße ja, den Bock zum Gärtner zu machen.

Es finden sich nicht nur unter den Sprechern, deren Stimmen alle hören können, Stimmenimitatoren. Mitunter beispielsweise tarnt sich auch die Stimme des bürgerlichen Überichs (des so genannten Gewissens) als Stimme des “Operators” einer Besendungsmaschine. Wer Stimmen hört, muss höllisch aufpassen, damit er nicht durch Imitatoren hereingelegt wird. Aber so ist es im “realen Leben” (3) ja auch. Der Psychiater spricht warmherzig und verständnisvoll mit der Stimme des gütigen, selbstlosen Arztes, obwohl er in Wirklichkeit doch nichts anderes ist als ein Agent sozialer Kontrolle und ökonomischer Interessen. Wohl dem, der hier zu unterscheiden weiß.

Sacks

Der britische Neurologe Oliver Sacks ist einem größeren Publikum durch Bestseller wie “Zeit des Erwachens” und “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” bekannt geworden. In seinem neuesten Buch beschäftigt er sich mit Halluzinationen (5). In diesem Werk meint er, dass Menschen mit der Diagnose “Schizophrenie” zwar gelegentlich Stimmen hörten, dass aber die meisten Stimmenhörer diese Diagnose nicht hätten. Rund 10 Prozent der Bevölkerung hörten Stimmen, aber die wenigsten aus diesem Kreis hätten eine psychiatrische Diagnose gleich welcher Art.

Wer also nicht das Risiko eingehen möchte, sich in einer psychiatrischen Praxis das F20-Virus einzufangen und womöglich ein Leben lang darunter zu leiden, sollte im Falle des Stimmenhörens zuvor das neue Buch von Oliver Sacks konsultieren.

Stirner

Nur zu leicht wird die Stimme des bürgerlichen Überichs mit Stimmen verwechselt, die von Außerirdischen, Geheimdiensten oder dem bösen Nachbarn stammen. Dies ist das Heimtückische an der Stimme des bürgerlichen Überichs.  Sie kritisiert, schmäht, verunglimpft den Stimmenhörer unter einem Tarnmäntelchen. Was kann da noch helfen, wenn die eigene Gabe zur Unterscheidung nicht ausreicht? Vielleicht die Lektüre von Max Stirners Schrift: “Der Einzige und sein Eigentum”.

Ich zitiere hier nur eine Passage:

“Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; du hast einen Sparren zu viel! Du bildest dir große Dinge ein und malst dir eine ganze Götterwelt aus, die für dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem du berufen seist, ein Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee!
Denke nicht, dass ich scherze oder bildlich rede, wenn ich die am Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat. Erkennt Ihr an einer solchen fixen Idee, dass sie eine Narrheit sei, so sperrt ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt. Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z. B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe Ideen«?
Ist nicht alles dumme Geschwätz, z. B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, dass sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muss die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muss den Philister sprechen hören, um die grässliche Überzeugung zu gewinnen, dass man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst Deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.«
Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen.
Gleich wie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen.
Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf festem Fuße, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an! Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!”

Vor dem Heiligen, heißt es bei Stirner, verliere man alle Macht und allen Mut; das Heilige ist also genau das, was von Freud das Überich genannt wird. Vor dem Heiligen, so Stirner, empfinde man keine Furcht, sondern Ehrfurcht. Man hat sich also mit seinem Überich identifiziert. Aber man fürchtet sich vor dem, was das Heilige, das Überich als unheilig verdammt.

Wenn nun, warum auch immer, die Macht des Überichs nicht groß genug ist, Ehrfurcht einflößend sich durchzusetzen, in dieser oder jener Angelegenheit, so ist es durchaus möglich, dass dann das Überich die Gestalt von Menschen oder Wesen annimmt, vor denen der Betroffene, wenn er den keine Ehrfurcht empfinden mag, sich immerhin fürchtet: Geheimdienste, Außerirdische oder der böse Nachbar kommen hier beispielsweise in Frage. Das ist natürlich eine subtile Form des Selbstbetrugs.

Ein Stimmengewirr herrscht in unserem Kopf. Welch ein Lärm! Wer weiß schon so genau, wer die Urheber dieser Stimmen sind? Wir können lange grübeln, darüber nachsinnen, wer uns wohl das eine oder andere, woran wir glauben, eingegeben haben mag; wir werden es nie ergründen, denn wir stehen in einem Strom des Geredes, der über diesen Planeten flutet, seitdem es Menschen gibt. Wohl dem, der begreift, dass er, und nur er der Herr seiner Innenwelt ist und der es versteht, dem Geschwätz Einhalt zu gebieten, um endlich, endlich mit eigener Stimme zu sprechen.

Ich weiß nicht, woher all diese Stimmen kommen, die manche hören, obwohl sie sonst niemand hört. Meine Arbeitshypothese lautet, dass es sich dabei nicht selten um die verkappten Stimmen des Überichs handelt. Selbst wenn die Stimmen Böses befehlen, können sie Ausdruck einer archaischen Moral sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dies sind, so will mir scheinen, Stimmen aus einer abtrünnigen Provinz der Innenwelt.

Was tun gegen lästige Stimmen?

Nach dem Transtheoretischen Modell menschlicher Veränderung lässt sich dieser Prozess in eine Abfolge von Stufen unterteilen. Dieses Modell wurde von James O. Prochaska und seinen Mitarbeitern auf Basis empirischer Studien an der Universität von Rhode Island erstmals zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgeschlagen und inzwischen von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt. (6, 7, 8)

  1. Auf der präkontemplativen Stufe sind sich die Menschen nicht bewusst, dass ihr Verhalten problematisch ist. Sie sehen daher auch keinen Grund, sich zu verändern.
  2. Auf der kontemplativen Stufe bemerken die Menschen an Misserfolgen oder den Reaktionen ihrer Mitmenschen, dass ihr Verhalten nicht zum Ziel führt oder mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden ist. Sie entwickeln mehr oder weniger starke Gefühle der Unzufriedenheit und denken evtl. über die Vor- bzw. Nachteile von Verhaltensänderungen nach.
  3. Auf der Vorbereitungsstufe beabsichtigen die nun Veränderungswilligen, in naher Zukunft aktiv zu werden und beginnen u. U. bereits mit ersten Schritten in die angestrebte Richtung.
  4. Die Aktionsstufe ist durch absichtliche, erwartungsgesteuerte und zielgerichtete Veränderungen des kritischen Verhaltensmusters gekennzeichnet.
  5. Auf der Erhaltungsstufe versuchen die Menschen, das Erreichte zu sichern, auszubauen und Rückfälle zu vermeiden.
  6. Auf der Endstufe hat das problematische Verhalten für die Menschen keinen Reiz mehr und sie sind sich sicher, dass sie nie mehr auf dieses Niveau problematischer Lebensbewältigung zurückfallen werden.

Wer sich beispielsweise erfolgreich das Rauchen abgewöhnt hat und seit einigen Jahren ohne Zigarettenkonsum sich seines Lebens erfreut, wird sich unschwer in diesem Schema wiedererkennen. Es dürfte sich hier tatsächlich um das Grundmuster menschlicher Veränderung handeln. Leider erreichen viele Menschen, trotz ernsthafter Bemühungen und ehrlicher Absicht, die Endstufe nicht. Mitunter sind sie selbst daran schuld. Häufig aber werden sie von Mitmenschen daran gehindert. Zu diesen Mitmenschen zählen bedauerlicherweise auch Psychiater.

Fridolin ist ein IT-Spezialisten, der als 28-jähriger bereits Führungsverantwortung in seinem Unternehmen trägt, ständig überarbeitet ist und allein in einem 3-Zimmer-Apartment lebt. Seit einiger Zeit schläft er schlecht und entsprechend hat er Mühe, morgens in die Gänge zu kommen. Seine Leistung leidet nicht merklich darunter, aber er fürchtet sich davor, zu versagen. Er sucht nach Erklärungen für seine Schlafstörung und kommt schließlich auf den Gedanken, sein Nachbar besende ihn mit einer Strahlenwaffe. Er bildet sich ein, dieser heimtückische Nachbar sei ein Vertrauter seines ärgsten Konkurrenten in seinem Unternehmen, der schon lange an seinem Stuhl zu sägen scheint.

Die Dinge nehmen ihren Lauf. Fridolin beginnt, erste, kleinere Fehler zu machen, die sich zwar nicht dramatisch auswirken, von Kollegen aber durchaus mit ernsten Mienen und Achselzucken quittiert werden. Fridolin wird in betrieblichen Auseinandersetzungen zunehmend unbeherrschter, schließlich rastet er aus und schüttet seinem ärgsten Konkurrenten bei einem Streit ein Glas mit einem Energy-Drink übers blütenweiße Hemd.

Es kommt, wie es kommen muss: Sein direkter Vorgesetzter zeigt Verständnis für Fridolins Lage, lobt seine ausgezeichneten Leistungen, anerkennt den Druck, der auf ihm laste, betont, dass wir alle ja nur Menschen seien und rät ihm, sich der Hilfe von Experten zu versichern. Der junge Mann erwägt daraufhin, sich einer Psychotherapie zu unterziehen, verwirft diesen Gedanken aber wenig später wieder. Denn erstens ist er sich ziemlich sicher, dass seine Schlaflosigkeit nicht daher rührt, als Kind zu heiß gebadet worden zu sein, sondern dass sie die Folge der Besendung durch den Nachbarn sei.

Inzwischen beschränkt sich der Nachbar nicht mehr nur darauf, ihm den Schlaf zu rauben. Er projiziert mit seiner Besendungsapparatur eine Stimme in Fridolins Gehirn, die ihn in übelster Weise beschimpft. Offenbar kann das Gerät nicht nur Stimmen senden, sondern auch Fridolins Gedanken lesen. Denn die Stimme spricht von Dingen, die außer dem Besendeten niemand wissen kann und sie kommentiert seine Handlungen, auch wenn er allein in seiner Wohnung ist und von niemandem beobachtet wird.

Fridolin recherchiert im Internet und findet die Telefonnummer eines Spezialisten für Besendungen. Er hat Glück. Dieser Mann ist nicht so durchgeknallt, wie man befürchten muss, sondern er sagt ihm, dass er wenig Chancen habe, wenn er seinen Nachbarn bei der Polizei anzeige. Dort würde man ihm vermutlich nicht glauben und für verrückt halten. Sollte er nach einer solchen Anzeige noch einmal ausrasten, dann drohe ihm u. U. die Zwangseinweisung und das Ende seiner hoffnungsvollen Karriere.

Ein alter Schulfreund, der zu den wenigen Menschen gehört, denen Fridolin noch vertraut, gesteht ihm, dass er selbst einmal ähnliche Phänomene erlebte, darüber aber weder mit Fridolin, noch mit Kollegen gesprochen habe. Vielmehr sei er in Behandlung bei einer vertrauenswürdigen Psychiaterin. Diese habe ihm geraten, Stress zu reduzieren. Daher habe er seine nervenaufreibende Stellung aufgegeben und sei zum Staat gegangen, wo er eine vergleichsweise ruhige Kugel schieben könne und demnächst verbeamtet werde. Zur Sicherheit nehme er ein leichtes Neuroleptikum, dass ihm die Ärztin verschrieben habe.

Fridolin ist zwar skeptisch, ob dies der richtige Weg für ihn sei. Er sieht aber ein, dass es nicht so weitergehen kann und darf wie bisher. Er lässt sich noch einmal alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen und gelangt zu der Erkenntnis, dass eine Pille, sofern sie denn die Schlaflosigkeit trotz Besendung beende, vermutlich die einfachste Lösung sei, die ihm am wenigsten Zeit koste. Um fünf Uhr nachts fällt er in einen Erschöpfungsschlaf. Er unternimmt den ersten Schritt und ruft die Psychiaterin an, die ihm sein Schulfreund empfohlen hat.

Die Psychiaterin stellt ihm eine Diagnose. Er leide an einer psychischen Krankheit. Er habe eine Psychose. Dies sei heute aber keine hoffnungslose Störung mehr, wie früher einmal. Heute gebe es gute Medikamente. Die Psychose beruhe auf einer angeborenen Störung des Gehirns. Daher müsse er die Medikamente lebenslang einnehmen. Die modernen Präparate seien aber sehr schonend, so dass er von schlimmeren Nebenwirkungen mit hoher Wahrscheinlichkeit verschont bleibe, sofern er kooperativ sei und sich regelmäßig untersuchen lasse. Er könne selbstverständlich weiterarbeiten und werde unter Umständen mehr Erfolg haben als je zuvor. Kurz: Die Ärztin hält ihn in bester Absicht davon ab, in die Aktionsphase des Prozesses der Selbstveränderung einzutreten.

Alles, aber auch wirklich alles, was die Psychiaterin hier behauptet, ist entweder unbewiesen oder nachweislich falsch. Wenn Fridolin das Buch “Anatomy of an Epidemic” (9) des amerikanischen investigativen Medizinjournalisten Robert Whitaker gelesen und verstanden hätte, dann wäre sein Veränderungsprozess hier nicht zu Ende. Aber Fridolin glaubt seiner Ärztin. Sie ist ungefähr 50 Jahre alt, perfekt gepflegt, eine Schönheit der reifen Art, hat Witz, weiß mit jungen Männern umzugehen. Sie haut Fridolin um. In seinem IT-Studium hat man ihm nicht beigebracht, sich gegen mentale Viren zu wappnen. Er glaubt ihr.

Nunmehr fühlt sich Fridolin als psychisch krank. Zwar ist er sich immer noch sicher, todsicher sogar, dass er von seinem Nachbarn besendet wird, aber er hat auch das Gefühl, darauf nicht in angemessener Weise, sondern höchst ungesund zu reagieren. Nun weiß er ja auch, woran das liegt. Sein Gehirn ist defekt. Das ist angeboren. Dafür kann er nichts. Sein Denken ist in hohem Grade widersprüchlich, und dies hat er auch vermerkt, aber darüber will er nicht weiter nachdenken.

Nach einigen Wochen regelmäßiger Einnahme seiner Medikamente, von deren Wirkung er zutiefst überzeugt ist, denn seine Psychiaterin hat ihm einfühlend erklärt, wie sie wirken (sie hat fabuliert, denn dies weiß niemand), nach einigen Wochen und ein paar Tagen also keimt in Fridolin schließlich die “Krankheitseinsicht” auf, dass er gar nicht besendet werde, sondern dass er sich dies – wegen seiner Psychose – nur eingebildet habe.

Dank der Medikamente kann er jetzt auch wieder schlafen, wenngleich er sich morgens eher ausgelaugt, als ausgeruht fühlt. Es gibt nun auch keinen Grund mehr, sich mit Kollegen zu streiten. Sogar die Tatsache, dass sein ärgster Konkurrent vom Chef wegen vorbildlicher Arbeitsauffassung vor versammelter Mannschaft ausdrücklich belobigt wurde, ist kein Anlass zur Aufregung mehr. Inzwischen hat er auch wieder Kontakt mit einer ehemaligen Freundin aufgenommen, die er zwei Jahre zuvor im Streit verließ. Da könnte sich durchaus wieder etwas anbahnen. Wenngleich Fridolins Interesse an Sex zur Zeit eher eingeschränkt ist, so sehnt er sich doch nach weiblicher Umsorgung.

Schließlich wacht Fridolin nach seinem kurzen Erschöpfungsschlaf schweißgebadet auf. Er hat den Besuch bei der Psychiaterin und dessen katastrophale Folgen nur geträumt. Es war ein Alptraum! Gott sei Dank. Zum ersten Mal im Verlauf seines bisherigen Berufslebens meldet er sich krank. Er geht zu seinem Hausarzt. Dieser Arzt ist ein echter Doktor mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Er erkennt, dass auch eingebildete Krankheiten mitunter eine Schonzeit erfordern und attestiert ihm, mit besorgter Miene, augenzwinkernd, für ein paar Tage Arbeitsunfähigkeit.

Fridolin macht einem Termin beim Anwalt. Der Jurist hört sich seine Geschichte an und kommt zu dem Schluss, dass er Fridolin keine Hoffnung auf eine gerichtliche Lösung seines Problems machen könne. Verwirrt und wütend verlässt der junge Mann die Kanzlei. Erneut recherchiert er im Internet und stößt auf meinen Namen. Da ich ein Buch zur Bewusstseinskontrolle veröffentlicht habe, rufen viele Leute bei mir an, weil sie glauben und hoffen, dass ich ihnen helfen könne. Dies ist eine schwere Verantwortung, die auf meinen Schultern lastet, der ich aber ganz und gar nicht gerecht werden kann. Er erklärt mir sein Problem und erzählt mir seinen Traum.

Ich sage: “Sie sind heute schon der Dritte, der mich wegen solcher Geschichten anruft. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich den anderen auch gesagt habe, dass ich keinen blassen Schimmer habe, was bei ihnen vorliegt.”

Fridolin: “Aber sie sind doch Psychologe.”

Ich: “Ja eben!”

Er lacht. Dann weint er.

Ich: “Es gibt Probleme, die löst man nicht mit der Brechstange.”

Fridolin: “Wie dann?”

Ich: “Am besten gar nicht.”

Fridolin: “Wie bitte? Wollen Sie mich verarschen?”

Ich: “Nein. Sie verarschen mich. Wenn Sie besendet werden, warum rufen Sie dann einen Psychologen an und keinen Ingenieur oder Physiker. Gehen Sie zum Schuster, wenn sie Brötchen brauchen?”

Fridolin: “Aber im Internet habe ich gelesen, dass Sie sich auskennen…”

Ich: “Ja, mit einigen Sachen kenne ich mich aus. Mit solchen nämlich, die was mit Psychologie zu tun haben.”

Fridolin: “Ich verstehe. Irgendwie war meine Handlung unlogisch, aber, aber, ich…”

Ich: “Sie können von Pontius bis Pilatus rennen mit ihrem Problem, glauben Sie mir, Sie werden keine Hilfe finden, die Sie zufrieden stellt.”

Fridolin: “Ich gehe auf dem Zahnfleisch!”

Ich: “dann gehen Sie zum Zahnarzt!”

Fridolin: “Aber, jetzt hören Sie…”

Ich: “Sie haben mich angerufen, nicht ich Sie!”

Fridolin: “Darf ich Sie noch etwas fragen?”

Ich: “Aber nur, wenn es etwas mit Psychologie zu tun hat!”

Fridolin schluckt und überlegt eine Weile. Sein Problem hat recht eigentlich nichts mit Psychologie zu tun, das weiß er nun. Und dennoch hat er das Gefühl, das starke Gefühl, es ist beinahe wie ein Zwang, mit einem Psychologen darüber sprechen zu müssen.

Schließlich sagt er: “Mein Traum, äh, mein Traum, können Sie den deuten.”

Ich: “Mir geht Ihr Traum am Arsch vorbei.”

Ich weiß, dass ich nun ein wenig warten muss, aber nicht zu lange, denn sonst legt er auf. Das Timing ist wieder einmal perfekt. (Ein wenig Eitelkeit muss sein.)

Ich: “Ihnen aber darf er nicht am Arsch vorbeigehen. Ihr Traum muss Ihnen heilig sein. Ziehen Sie die Lehren daraus. Sie liegen auf der Hand!”

Fridolin: “Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen!”

Ich: “Das müssen Sie auch nicht!”

Fridolin: “Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter: Sie wissen doch was, nun sagen Sie schon!”

Ich: “Ich weiß nichts, was Sie nicht schon selber wissen!”

Fridolin: “Ach so meinen Sie das: Ich soll mich nicht so anstellen!”

Ich: “Das habe ich nicht gesagt!”

Fridolin: “Aber gemeint!”

Ich: “Was ich meine, bestimme ich selbst. Außerdem spielt es in diesem Fall keine Rolle!”

Fridolin: “Aber ich kann doch nicht…”

Ich: Warum nicht? Was geht Sie das Geschwätz des Nachbarn an?”

Fridolin: “Aber er lässt mich mit seinem Geschwätz nicht schlafen!”

Ich: “Ich habe als Student in einem sehr lauten Mietshaus gewohnt, anfangs hat mir das den Schlaf geraubt, aber dann…”

Fridolin schluchzt heftig. Dann fasst er sich.

Fridolin: “Herzlichen Dank für Ihren Rat!”

Ich weiß nicht, was Fridolin als Rat verstanden hat. Vielleicht hat er ja begonnen, das kritische Verhalten, nämlich seine Reaktion auf die nachbarliche Stimme zu verändern. Vielleicht hat er bereits die Aktionsstufe erreicht. Möglicherweise hat er sich dazu durchgerungen, seine Interpretation der Stimme zu verändern. Möglicherweise betrachtet er sie heute nicht mehr als eine emotional hoch bedeutsame Ansprache, sondern als ein zwar lästiges, aber bedeutungsloses Hintergrundgeräusch. Eventuell befindet er sich sogar schon in einer Phase, in der er sie nur noch selten oder gar nicht mehr wahrnimmt. Vielleicht sitzt der Nachbar immer noch am Mikrofon seines Besendungsgeräts, aber Fridolin hört ihm einfach nicht mehr zu.

Über die Wellen des Raumes verfügen

Ein weiteres Beispiel: Peter K. hört Stimmen, die sonst niemand hört. Sie geben ihm Anweisungen. Sie verhöhnen ihn, sie bedrohen ihn, sie wissen genau, was er tut und denkt. Sein Psychiater, Dr. Cyriakus P. sagt, Peter K. leide an “Schizophrenie”. Diese werde durch ein chemisches Ungleichgewicht in seinem Gehirn ausgelöst. Peter K. glaubt seinem Psychiater kein Wort. Er meint vielmehr, die Stimmen würden durch Besendung mit Mikrowellen hervorgerufen.

Sein Psychiater fragt ihn, ob er denn schon jemals Leute mit einem Besendungsgerät auf frischer Tat ertappt hätte. Kleinlaut muss Peter K. einräumen, dass dies nicht der Fall sei, dennoch sei er sich ganz sicher. Diese Sicherheit, antwortet ihm der Psychiater, sei ein Symptom seiner Krankheit. Peter K. lässt sich nicht einschüchtern. Er fragt den Psychiater, ob er denn schon jemals beobachtet hätte, wie ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn Stimmen hervorgerufen hätte.

Nehmen wir einmal an, dieser Psychiater wäre ein ehrlicher Mensch. Dann müsste er einräumen, dass die Theorie des chemischen Ungleichgewichts als Ursache der “Schizophrenie” eine unbewiesene Hypothese sei, dass Psychiater de facto nicht wüssten, warum Peter K. Stimmen höre.

So weit liegen die beiden also gar nicht auseinander. Der eine hat eine chemische, der andere eine elektromagnetische Theorie der “Schizophrenie”-Ursachen. Sie hängen also gleichermaßen einer rein naturwissenschaftlichen Sichtweise an, die allerdings der spekulativen Züge nicht entbehrt. Peter K. und Cyriakus P. erkennen einander trotzdem nicht als verwandte Seelen, als Brüder im Geiste an. Wieder einmal bestätigt sich die alte Weisheit, dass Leute um zu furioser auf ihrer Meinung beharren, je weniger sie tatsächlich wissen. Cyriakus P. hält Peter K. für krankeitsuneinsichtig. Peter K. sieht in Cyriakus P. einen Ignoranten, der nichts von Mind Control, von elektronischer Bewusstseinskontrolle verstehe und vermutlich mit den Tätern, die ihn besenden, im Bunde stünde.

Als Peter K. diesen letzten Gesichtspunkt seinem Psychiater ins Gesicht sagt, antwortet dieser, dass solche Verdächtigungen typisch seien für Leute wie ihn, für Paranoiker. Sie seien ein klassisches Symptom. Wir wissen natürlich, wie diese Geschichte ausgeht. So wie immer, wenn Dogmatiker aufeinanderprallen. Es setzt sich durch, wer mehr Macht hat.

Es war einmal ein Postbote. Der wurde gleich zweimal zur psychiatrischen Autorität, obwohl er das Fach nicht studiert hatte. Zunächst machte er unter dem falschen Namen Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy als Amtsarzt Karriere, wurde allerdings nach einiger Zeit enttarnt. Deswegen versuchte er es unter seinem richtigen Namen, Gert Postel, erneut, wieder mit Erfolg. Er wurde Leitender Oberarzt in einer psychiatrischen Anstalt. Als er schließlich Chef einer Klinik und Psychiatrieprofessor werden sollte, flog er auf. In beiden Fällen wurde er aber nicht wegen fachlicher Mängel  seiner Arbeit, sondern durch Zufall enttarnt. Und wenn er sich heute wieder einmal unter falschem Namen bei Cyriakus P. bewerben sollte: er hätte die allerbesten Chancen auf Einstellung und eine verantwortliche Position. Denn Cyriakus P. ist eine Autorität, und Autoritäten erkennen und wertschätzen einander sofort.

Peter K. ist inzwischen, nach Klinikaufenthalten, ebenfalls zur Autorität avanciert: im Internet, wo er eine Website über elektronische Bewusstseinskontrolle betreibt. Im dazugehörigen Forum wird er von seinen Jüngern wie ein Heiliger verehrt. Der Leser möge nicht danach suchen, denn Peter K. habe ich zur Veranschaulichung dieses Grundgedankens ebenso erfunden wie Cyriakus P. und Fridolin aus dem vorherigen Beispiel. Nur der Postel ist real, sehr zum Leidwesen der Psychiaterzunft. Ob aber Fridolin, Peter K. und Cyriakus P. realen Personen nachempfunden sein könnten, möge jeder für sich selbst entscheiden.

Unlängst rief Peter K. an. Er sagte, er habe mein Buch über Bewusstseinskontrolle gelesen. Ich hätte also Ahnung, das stehe fest. (Um Himmels willen!) Wie ich mich denn gegen Besendung wehre, wollte er wissen. Dazu habe er leider in dieser Schrift nichts gefunden. Da ist natürlich guter Rat teuer. Aber ich wollte ihm nicht gleich meine Honorarforderung unterbreiten. So etwas tut man nicht. Schließlich wollte ich ja meinen Nimbus des selbstlosen Helfers nicht gefährden, der sich für die Opfer der bösen Welt uneigennützig den Arsch aufreißt.

“Wir alle sind doch”, sagte ich also nach kurzen Bedenken, “Priesterkönige im eigenen Reiche, in unserer Innenwelt.”

“Sie vielleicht, aber ich schon lange nicht mehr”, sagte Peter K. “Wo ich auch bin, was ich auch tue, von morgens bis abends werde ich besendet.”

“Von wem, von der Psychiatrie?”

“Ich weiß nicht, wer mich besendet, da habe ich so meine Vermutungen, weil nämlich…”

Da ich die üblichen Verdächtigen schon kenne und ja doch nicht verhaften kann, versuche ich ihn abzulenken.

“Sind sie sicher, dass es nicht die Psychiatrie ist?”

“Ja, die haben mich als psychotisch bezeichnet und ich soll…”

“Die bombardieren Sie also nur mit Pillen und nicht mit Strahlen.”

Peter K. lacht. “Sie wollen mich wohl verarschen?”

“Nicht im Traum. Sie haben mich gefragt, wie ich mich gegen Besendung wehre. Aber Sie lassen mich ja nicht zu Wort kommen”, sage ich.

“Also gut, wie?”

“Es herrscht Krieg”, antworte ich, “ein Krieg zwischen den Welten.”

“Sciencefiction!”

“Nein, es ist ein Krieg zwischen den Innenwelten. Wer auch immer uns bombardiert, mit was auch immer, ist unser Feind, selbst wenn er vorschützt, es gut mit uns zu meinen. Souverän ist der, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, sagte eins der Rechtsphilosoph Carl Schmitt.”

“War das nicht ein alter Nazi?”

“Mag sein. Interessant ist aber etwas anderes.”

“So?”

“Ja, Schmitt glaubte, er werde besendet. Jahrzehnte lang fürchtete er sich davor. Gegen Ende seines Lebens sagte er:

Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ‘Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet’. Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ‘Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.’” (Siehe Wikipedia)

“Faszinierend!”

“Eindeutig”, sagte ich. Und schwieg eine Weile.

“In seiner 1942 veröffentlichten Schrift haben Wellen und Raum noch eine für andere greifbare Form; es geht scheinbar um Weltmacht, Ozean und Großbritannien; doch tief in der Seele brodelt’s schon.”

“Und wie schützen Sie sich? Bitte!”

“Wovor?”, sagte ich.

“Vor Besendung, natürlich.”

“Aber ich werde doch gar nicht besendet!”

“Woher wollen Sie das denn wissen?”

“Ich habe keine Symptome!”

“Vielleicht dissimulieren Sie!”

Ja, in der Tat: Peter K. und sein Psychiater Cyriakus P. sind Brüder im Geiste. Für mich gilt nach wie vor die Version, die nach dem Ersten Weltkrieg zutraf: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. In meiner Innenwelt bin ich der Souverän. Und wenn O’Dor Bah mich besendet, dann nur, weil ich ihm dies zu Demonstrationszwecken gestatte.

 Fazit

Es gibt Menschen, die zutiefst von der Überzeugung durchdrungen sind, dass ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Stimmungen und sogar ihr Verhalten von außen kontrolliert werden. Als Mittel der Kontrolle werden häufig Hypnose, Telepathie oder zunehmend elektromagnetische Strahlung genannt. Die mutmaßlichen Täter sind bösartige Nachbarn, Kriminelle, Sekten, Geheimdienste, Geheimbünde oder gar Außerirdische.

Aufgeklärte Zeitgenossen sind häufig zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass es sich bei diesen Menschen um Spinner, Paranoide, Psychotiker oder Schizophrene handele oder einfach nur um geltungssüchtige Aufschneider, und dass diese Phänomene die Folge unkritischer Lektüre von Büchern, Filmen oder Zeitschriftenartikeln zum Thema “Mind Control” seien.

Dabei ist das Phänomen keineswegs neu. Zu allen Zeiten gab es Berichte über dämonische Besessenheit und Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschrieb der russische Psychiater Victor Kandinsky auf Basis eigener Erfahrungen ein entsprechendes Syndrom, nämlich das Gefühl, andere könnten die eigenen Gedanken lesen, würden Gedanken in die eigene Psyche senden, könnten Handlungen erzwingen. Der aufgeklärte Zeitgenosse kann sich also beruhigt zurücklehnen. Nun hat er gleich drei und nicht nur die eine Schublade mit dem Etikett “Verschwörungstheorie”. Die beiden anderen Schubladen kann er beschriften mit “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” (Clerambault war ein Franzose, der Ähnliches beobachtete) bzw. “religiöser Wahn”.

Doch wenn sich aufgeklärte Zeitgenossen entspannt im Sessel zurücklehnen, dann kann es mitunter geschehen, dass sie nicht einschlummern und sich dem Reich der Phantasie und des Traumes anvertrauen, sondern dass sie die Logik wie ein Stachel im Fleisch an empfindlichen Stellen quält. Zwar haben wir die Diagnosen, aber wo sind die Beweise? Es mag ja sein, dass in dem einen oder anderen Fall religiöser Wahn, das “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” oder die Suggestionen der Verschwörungstheoretiker für die beschriebenen Phänomene verantwortlich waren. Aber dies bedeutet doch nicht, dass es in jedem Fall so ist.

Der aufgeklärte Zeitgenosse glaubt bekanntlich nicht an die Seele und an den immateriellen Geist, sondern er ist tief im naturwissenschaftlichen Denken verankert. Für ihn ist die Psyche ein Effekt des Nervensystems. Selbstverständlich werden unsere Gedanken und Gefühle vom Gehirn produziert und unser Verhalten durch das Nervensystem kontrolliert. Klar, die genannten Verrücktheiten sind also Störungen des Nervensystems.  Doch was sind die Ursachen?

Der aufgeklärte Zeitgenosse wird mitunter von religiösen Schwärmern inquisitorisch befragt, ob er seine Position, die Seele sei ein Nervengeflecht, denn auch beweisen könne. Dann lächelt der aufgeklärte Zeitgenosse milde und sagt: “Na, dann trink einfach einmal ein paar Bier zu viel, dann merkst du, dass deine grauen Zellen die Grundlage deines seelischen Lebens sind!”

Aha, lieber aufgeklärter Zeitgenosse: Hier räumst du also ein, dass seelisches Leben von außen gesteuert werden kann. Könnte es dann nicht auch sein, dass Militärs und Geheimdienste die primitive Phase der Manipulation des Geistes durch Alkohol und Drogen hinter sich ließen. Dass sie im Geheimen High-Tech-Methoden entwickelt haben, um menschliches Verhalten und Erleben durch elektromagnetische Strahlung zu steuern?

Verschwörungstheorie? Klar. Die Logik wird aber wie ein Stachel im Fleische weiterbohren.  Dem Verhalten und Erleben liegen nun einmal neurologische Prozesse zugrunde. Können neurologische Prozesse vielleicht doch durch elektromagnetische Strahlung beeinflusst werden? Wird gar das “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” mitunter durch elektromagnetische Strahlung induziert?

Zum Glück ist kein aufgeklärter Zeitgenosse gezwungen, sich stets dem Diktat der Logik zu unterwerfen und sich durch fruchtlose Fragen quälen zu lassen. Es gibt schließlich wichtigere Dinge. Warum soll man seine Zeit mit diesem verschwörungstheoretischen Quatsch verplempern? Schließlich bekennt man sich nicht dazu, ein aufgeklärter Zeitgenosse zu sein, um sich wegen unvorsichtiger Bedenken dann doch als Spinner titulieren lassen zu müssen, sondern um sich an den Ufern des geistigen Mainstreams zu sonnen.

Persönliches Fazit

Nach meiner persönlichen Meinung befragt, antworte ich: “Ich glaube nicht an Besendung und all diesen Quark. Die Stimmen kommen aus dem Inneren und werden nach außen projiziert, warum auch immer. Befragt jedoch nach meinem Wissen, muss ich passen. Wieder einmal habe ich keine Ahnung. Ob ich denn Besendung und “synthetische Telepathie” grundsätzlich für möglich hielte, will einer wissen. Nein, nein!, rufe ich entsetzt, nie, um Himmels willen, hoffen wir, dass mich die Tatsachen nicht eines Tages dazu zwingen, mich anders zu besinnen. Etwas Grauenvolleres ist kaum vorstellbar; und sicher ist dies auch der entscheidende Grund dafür, dass ich nicht so gern darüber nachdenke.

Aus pragmatischer Sicht ist es allerdings unerheblich zu wissen, woher die Stimmen kommen, da es allein darauf ankommt, mit ihnen angemessen umzugehen. Wenn sie uns etwas Sinnvolles zu sagen haben, ist es gut, ihnen zuzuhören. Wenn sie uns nur herunterziehen, dann gilt es zu lernen, ihnen die Aufmerksamkeit möglichst vollständig zu entziehen.

Anmerkungen

(1) Braham, L.G., Trower, P. & Birchwood, M. (2004). Acting on command hallucinations and dangerous behavior: A critique of the major findings in the last decade. Clinical Psychology Review, Volume 24, Issue 5, September 2004, Pages 513–528

(2) Hier zeigt sich wieder einmal eindrucksvoll, dass es nicht genügt, nur die Abstracts von Studien durchzulesen, die einem mehr oder weniger zufällig in die Hände fallen. Vielmehr kann man sich ein vernünftiges Urteil allein auf Basis einer gründlichen Analyse aller einschlägigen Publikationen zu einer Forschungsfrage bilden.

(3) “Reales Leben” = kleinster gemeinsamer Nenner der Fantasien aller Zeitgenossen

(4) Anmerkung für Psychiater und Richter: Ich habe eine Patientenverfügung ausgefertigt, mit der ich vor Ihnen schütze. Ich dulde bei mir keinerlei psychiatrische Diagnose oder Behandlung, ganz gleich, welcher Art.

(5) Sacks, O. (2012). Hallucinations. New York, N. Y.: Knopf

p>(6) Prochaska, J. O. & DiClemente, C. C. : Transtheoretical Therapy : Toward a more integrative model of change. Psychotherapy: Theory, Research, and Practice, 19, 276-288. 1982

(7) Prochaska, JO; Norcross, JC; DiClemente, CC. Changing for good: the revolutionary program that explains the six stages of change and teaches you how to free yourself from bad habits. New York: W. Morrow; 1994.

(8) Prochaska, JO; Velicer, WF. The transtheoretical model of health behavior change. Am J Health Promot 1997 Sep–Oct;12(1):38–48

(9) Whitaker, R. (2010). Anatomy of an Epidemic. New York: Broadway Paperbacks

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Erziehung, Pädagogik, ADHS, Pillen

“Unwissenheit ist Stärke”, lautete eine der Parolen der allmächtigen Einheitspartei in George Orwells Roman “1984″. Folgende Zeilen könnten Sie schwächen. Bedenken Sie dies, bevor sie weiterlesen, liebe Mutter, lieber Vater, sofern sie Ihrem Kind ein Stimulanz wegen ADHS geben.

Faul oder krank?

SPIEGEL: … In the 1960s, mental disorders were virtually unknown among children. Today, official sources claim that one child in eight in the United States is mentally ill.
(In den 60er Jahren waren psychische Störungen unter Kindern so gut wie unbekannt. Heute behaupten offizielle Quellen, dass ein Achtel der Kinder in den Vereinigten Staaten psychisch krank sei.)

Kagan: That’s true, but it is primarily due to fuzzy diagnostic practices. Let’s go back 50 years. We have a 7-year-old child who is bored in school and disrupts classes. Back then, he was called lazy. Today, he is said to suffer from ADHD (Attention Deficit Hyperactivity Disorder). That’s why the numbers have soared.”
(Das ist wahr, aber dafür sind in erster Linie unscharfe diagnostische Praktiken verantwortlich. Schauen wir fünfzig Jahre zurück. Wir haben ein siebenjähriges Kind, das sich in der Schule langweilt und den Unterricht stört. Damals hätten wir es faul genannt. Heute wird gesagt, es leide unter ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung). Deswegen sind die Zahlen gestiegen.)

Jerome Kagan hat sich während seiner gesamten Laufbahn als Forscher mit Kindern auseinandergesetzt; er ist einer der Pioniere der modernen Entwicklungspsychologie. Der inzwischen 84-jährige, aber immer noch wissenschaftlich tätige Kagan gilt als einer der bedeutendsten Gelehrten seines Fachs. Aber auch ein solcher Mann, dessen intellektuelle Redlichkeit außer Frage steht, hat lange, sehr lange gebraucht, um sich nun auch öffentlich zu einem Sachverhalt zu äußern, der eigentlich jedem Älteren sofort ins Auge springen sollte: Kinder, die wir vor fünfzig Jahren faul genannt hätten, werden heute als “psychisch krank” bezeichnet, man unterstellt ihnen eine Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Und diese Kinder werden nun auch entsprechend therapiert; so nehmen beispielsweise rund 3,5 Millionen amerikanische Kinder ein Stimulanz zur Behandlung dieser angeblichen Krankheit. Fast immer wird die Diagnose ADHS nach Beschwerden von Lehrern gestellt; nur selten zeigen die betroffenen Kinder beim normalen Arztbesuch diese “Symptome” (1).

Eine Mutter berichtet, wie so was läuft. Ihr Sohn kasperte in der Klasse herum, war undiszipliniert. Die Lehrerin sagte zu ihr: “Ein wenig Medizin könnte das Steuer für Will herumreißen.” Die Mutter war entsetzt, doch die Lehrerin fuhr fort: “Wir haben gesehen, dass es Wunder wirkt. Seine Lehrer tadeln ihren Sohn. Wenn sich sein Verhalten verbessert, werden sie ihn loben. Er wird ein besseres Verhältnis zu sich selbst und zur Schule entwickeln.”

Die Mutter antwortete, dass sie mit einer medikamentösen Behandlung ihres Kindes nicht einverstanden sei. Daraufhin sagte die Lehrerin (bitte zweimal lesen): “Wir würden Ihnen das auch niemals empfehlen. Uns ist es noch nicht einmal erlaubt, dies zu tun. Lassen Sie ihn einfach nur untersuchen (2).”

Da die Eltern ihren Sohn nicht in Schwierigkeiten bringen wollten, vereinbarten sie einen Termin bei einem Psychiater.

  • Sie wussten damals noch nicht, dass es keinen objektiven Test gibt, mit dem man ADHS feststellen könnte.
  • Sie wussten auch nicht, dass die Behauptung, ADHS beruhe auf einer Hirnstörung, nur eine unbewiesene Hypothese ist.

Und so wurde ihr Sohn Will letztlich, aufgrund psychiatrischer Diagnose, zu einem der unzähligen Kinder auf diesem Planeten, die unter einer Wahrnehmungsstörung leiden: allerdings nicht unter ihrer eigenen, sondern unter der ihrer Mitmenschen.

Wie funktioniert das?

Dalmatiner

Ich erinnere mich an ein Lehrbuch der Wahrnehmungspsychologie, mit dem ich mich in jener Zeit beschäftigen musste, als ich während meines Psychologie-Studiums zum ersten Mal den Namen Jerome Kagan hörte. Darin war ein Bild, auf dem beim ersten Anschauen nur schwarze und weiße Flecken zu sehen waren. Man sollte erkennen, welches Objekt sich auf diesem Bild befand. Die Antwort stand auf der nächsten Seite. Die meisten Leute, denen ich dieses Bild zeigte, konnten die Aufgabe ebenso wenig lösen wie ich. Doch wenn man dann die Seite umschlug und an der angegebenen Stelle das Wort “Hund” las, dann sah man sofort einen Dalmatiner. Dort waren zwar immer noch nur schwarze und weiße Flecken auf dem Bild, aber nun “sah” man einen Dalmatiner, und nichts anderes mehr, nur noch den Dalmatiner.

So funktioniert das auch mit der ADHS-Diagnose. Zunächst sieht man nur ein Kind, das sich in der Schule langweilt und den Unterricht stört. Dann fällt das Zauberwort: ADHS. Und schon sieht man einen psychisch Kranken, dessen Hirn gestört ist und ein Medikament braucht, um den schulischen Alltag zu meistern.

Es handelt sich bei dieser Sichtweise keineswegs um eine Erkenntnis, um neue Einsichten. Das Kind langweilt sich und stört den Unterricht. Das wusste man schon vorher. Nun wähnt man den Grund dafür zu kennen: eine Hirnstörung. Doch das ist ein Irrtum. Das amerikanische National Institute of Mental Health (NIMH) stellte bereits 1998 resigniert fest, dass unsere Kenntnis der Gründe für ADHS spekulativ geblieben sei (3).

Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Auf einer Webseite des NIMH heißt es:

“Scientists are not sure what causes ADHD, although many studies suggest that genes play a large role. Like many other illnesses, ADHD probably results from a combination of factors. In addition to genetics, researchers are looking at possible environmental factors, and are studying how brain injuries, nutrition, and the social environment might contribute to ADHD.”
(Wissenschaftler sind sich nicht sicher, was ADHS verursacht, obwohl viele Studien nahelegen, dass Gene eine große Rolle spielen. Wie viele andere Krankheiten resultiert ADHS wahrscheinlich aus einer Kombination von Faktoren. Zusätzlich zur Genetik, achten Forscher auf mögliche Umweltfaktoren und untersuchen, wie Gehirnschäden, Ernährung und das soziale Umfeld zu ADHS beitragen könnten.)

Auf Deutsch: Nichts Genaues weiß man nicht! Wissenschaftler sind sich nicht sicher, auf welchen Ursachen ADHS beruht, aber sie suchen eifrig danach und spekulieren recht schön.

Wird die Diagnose ADHS gestellt, so bedeutet dies also nicht, dass wir nun Genaueres wüssten über ein Kind. Es handelt sich hier vielmehr nur um ein Etikett, um ein Etikett der Sorte, die der kritische amerikanische Psychiater Thomas Szasz “strategisch” nennt. Dieses strategische Etikett verweist auf ein Bündel von Leitlinien, die uns sagen, wie mit dem Störer in Zukunft umgegangen, präziser, wie er diszipliniert werden soll.

Aber es hilf doch!

Manche Mutter, die ihrem Kind Stimulanzien gibt, wird ausrufen: “Aber es hilft doch, ich kann es doch sehen, das Kind ist schließlich jetzt so brav, wie es sein sollte!”

Kurzfristig stimmt die Optik vielleicht. Langfristig aber sieht die Sache schon anders aus. Die amerikanischen “Consumer Reports” analysierten die wenigen Langzeitstudien, die es zu diesem Thema gibt. Es zeigte sich u. a.: Acht Jahre nach der Erstdiagnose hatten siebzig Prozent der untersuchten Kinder kein ADHS mehr, ganz gleich, ob sie zuvor mit Medikamenten oder anders behandelt wurden. Die “Consumer Reports” stufen daher den langfristigen Nutzen von ADHS-Medikamenten als unsicher ein (4).

Der Nutzen ist, zumindest langfristig, also zweifelhaft; wenden wir uns nun den Kosten zu. Was tun Eltern ihren Kindern an, wenn sie ihnen ADHS-Medikamente geben?

Kinder, die mit Stimulanzien behandelt werden, stufen sich selbst als weniger glücklich und weniger zufrieden mit sich selbst ein als andere Kinder. Sie sind häufig niedergeschlagen, ihre Stimmung ist getrübt. Es gelingt ihnen schlechter, Freunde zu finden und Freundschaften aufrecht zu erhalten (5).

Wo es Verlierer gibt, da muss es auch Gewinner geben, sonst wäre das Ganze ja kein Geschäft. In einem Artikel aus der Mitgliederzeitschrift der GEW Berlin heißt es über Unterrichtsstörer:

“Ein solcher Schüler reicht häufig, um eine ganze Klasse aufzumischen und jeden Unterricht zu sabotieren. Kein Wunder, dass Lehrer von diesem Verhalten überfordert und Mitschüler davon genervt sind. Ganz zu schweigen von den Eltern, die angesichts ständiger Elterngespräche, Schulstrafen oder schlechter Noten verzweifeln. Seit Jahren schlagen sich alle Beteiligten mit der Frage herum, wie man mit solchen Kindern umgehen kann. Neuerdings scheint Abhilfe für diese Problemfälle geschaffen zu sein. Sie besteht in einer kleinen Pille (6).”

Über die Gewinnentwicklung der Pharma-Firmen, die ADHS-Medikamente auf den Markt werfen, kann man sich jeweils aktuell im Internet informieren, indem man beispielsweise die Suchbegriffe “ADHD” und “profits” eintippt. Man erhält dann Resultate wie dieses.

Alle meinen es natürlich gut. Welcher Lehrer hätte nicht gern ein beruhigtes Klassenzimmer? Welcher Pharma-Vorstand möchte nicht gern in die zufriedenen Mienen seiner Aktionäre blicken? Welche Mutter, welcher Vater freut sich denn nicht, wenn Lehrer den fleißigen und braven Sprössling loben und sein Zeugnis mit besten Noten zieren? Für all diese Menschen habe ich selbstverständlich volles Verständnis.

Scham

Es gibt da allerdings auch noch eine andere Seite in mir. Ich kann es nicht ertragen, wenn Kinder malträtiert werden – für die meist, bei Licht betrachtet, sehr egoistischen und kurzfristigen Interessen von Erwachsenen.

SPIEGEL: Do you sometimes feel ashamed of belonging to a profession that you think wrongly declares large parts of society to be mentally ill?
(Schämen Sie sich manchmal, weil sie zu einer Profession gehören, die, wie Sie glauben, fälschlicherweise große Teile der Gesellschaft für psychisch krank erklärt?)

Kagan: I feel sad, not ashamed … but maybe a little ashamed, too.”
(Ich fühle mich traurig, nicht beschämt… vielleicht auch ein bisschen beschämt.)

Wahrscheinlich schämen sich viele insgeheim. Viele denken sich dabei wohl auch, dass sie sich lieber dafür schämen, Stimulanzien zu verabreichen, als nichts zu tun. Mittlerweile ist unsere Welt ja so fantasielos geworden, dass uns nichts Besseres mehr einfällt. Psychopharmaka für ADHSler scheinen alternativlos zu sein.

Wenn wir aber für einen Moment innehalten und die nutzlose Vokabel ADHS aus unserem Bewusstsein verbannen, dann sehen wir wieder den gelangweilten Schüler vor uns, der stört.

Heureka: Die Ursache des störenden Verhaltens ist Langeweile. Was tut man nicht alles, um der Langeweile zu entkommen? Sehr quälend, sehr quälend kann die Langeweile sein.

Also gilt es, die Ursachen der Langeweile zu bekämpfen. Es liegt nahe zu vermuten, dass die Umwelt des Kindes (Schule und Freizeit) ihm nicht genug Freiräume gewährt und Anregungen für Tätigkeiten gibt, die ihm Freude machen, die spannend sind und die zugleich Lernprozesse fördern.

Ja, sicher, es ist schon wahr, dass nicht alle Kinder auf eine vergleichbar langweilige Umwelt in Schule und Freizeit mit “ADHS-Symptomen” reagieren. Liegt dies an kranken Hirnstrukturen bei den Störern? Oder liegt dies daran, dass Kinder Individuen sind, Wesen mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen, Vorlieben und Abneigungen? Könnte es dann nicht sein, dass beispielsweise unsere Schulen für manche Kinder aufgrund ihrer Individualität und Persönlichkeit absolut unzumutbar sind und dass ihr Verhalten uns genau dies sagen will?

Ein Nachweis für angeborene Defekte als Ursache von ADHS konnte bisher nicht erbracht werden, obwohl manche Genetiker behaupten, sie hätten die Ursachen in den Erbanlagen entdeckt. Dies ist jedoch eine Spekulation, die keineswegs empirisch erhärtet ist. Die methodischen Schwächen der entsprechenden Studien sind offensichtlich, wenn man genauer hinschaut (9).

Man möge mich nicht falsch verstehen. Unterschiede zwischen Kindern kann man mit Sicherheit u. a. auch auf ihre Gehirnstruktur zurückführen. Das Gehirn ist nämlich ein lebendes Organ, keine Maschine vom Fließband. Unterschiede des Gehirns sind Grundlage der Individualität. Aber, Himmel!, Individualität ist keine Krankheit.

Es gilt also, viel stärker als bisher, Kinder individuell zu fördern und zu fordern. Dazu braucht man Wissen, Kreativität, Fantasie und natürlich auch mehr Geld. Wer am falschen Ende spart, den bestraft das Leben.

Kindermund

“Kindermund tut Wahrheit kund!” In dem PBS-Feature “The Medicated Child” (8. 1. 2008) sagt ein Dreizehnjähriger, der einen Cocktail von Psychopharmaka erhält, er nehme diese, weil sie ihn mehr zu dem machten, was er sein solle (“make me more like I’m supposed to be”). Ein einsichtiges Kind. Es hat Verständnis dafür, dass seine Eltern es auch mit Psychopharmaka erziehen.

Erziehung hat zwei Hauptaufgaben. Sie soll Kinder in die Gesellschaft einfügen (Sozialisation) und sie soll ihnen helfen, eine Persönlichkeit zu werden (Individuation).

  • Sozialisation bedeutet: Anpassung durch Verinnerlichung sozialer Normen
  • Individuation heißt: Entwicklung eines charakteristischen Inventars von Verhaltensmustern und Erlebnisweisen

Die Übernahme einer Krankenrolle hat zweifellos einen entscheidenden Einfluss auf beide Prozesse. Sie  ist mit spezifischen Rechten und Pflichten verbunden:

  • Dem Kranken wird erlaubt, bestimmte, sonst obligatorische soziale Rollen nicht wahrzunehmen (er darf z. B. krankheitsbedingt der Arbeit oder dem Schulunterricht fernbleiben).
  • Der Kranke muss sich nicht für sein krankheitsbedingtes Verhalten verantwortlich fühlen.
  • Dafür muss er aber alles tun, um seine Krankheit zu überwinden. Dies bedeutet natürlich auch, dass er sich selbst als krank begreift, also “Krankheitseinsicht” zeigt.
  • Dazu zählt, dass er sich von Ärzten und anderen zuständigen Fachleuten behandeln lässt.

Nach der entwicklungspsychologischen Theorie von Eric Erikson ist die menschliche Identitätsentwicklung ein lebenslanger Prozess, der sich über acht Phasen erstreckt. Nach dieser Theorie befindet sich der oben erwähnte Junge aus dem PBS-Feature gerade im Stadium der Adoleszenz. Die existenzielle Frage lautet: “Wer bin ich und was kann aus mir werden?”

Jede Phase der Identitätsentwicklung kennt Identitätskrisen, doch die Adoleszenz ist durch besonders heftige gekennzeichnet. Erikson sieht hier einen entscheidenden Wendepunkt. Zum ersten Mal macht sich der junge Mensch den Widerspruch klar zwischen dem, was man bisher geworden ist, und dem, was die Gesellschaft von ihm erwartet.

Der Dreizehnjährige aus dem Feature antwortet also altersgemäß. Seine Eltern, seine Ärzte haben ihm die schnelle Lösung der Probleme nachgelegt, die für diese Entwicklungsphase und die entsprechende Identitätskrise typisch sind. Also akzeptiert er psychiatrische Medikamente als Mittel, die Differenz zwischen seinem Zustand und den Anforderungen der Gesellschaft zu verjüngen.

Zu viele Pillen?

Eine amerikanische Studie kommt zu dem Schluss, dass Kindern in den USA viel zu häufig Psychopharmaka verschrieben werden (7). Auch in Deutschland bekommen Kinder immer häufiger psychiatrische Substanzen, wie die Zeit am 19. 10. 2011 berichtete.

Die schädlichen Nebenwirkungen dieser Medikamente wurden nachgewiesen und häufig beklagt. Meines Erachtens wird aber immer noch viel zu wenig bedacht, dass diese Präparate sich auch dann verhängnisvoll auswirken könnten, wenn sie keinerlei chemisch bedingten Schäden hervorrufen würden.

  • Wenn ein Kind beispielsweise im Alter von fünf bis zwölf Jahren Psychopharmaka erhält, dann ringt es gerade mit der Frage: Kann ich mit den Personen und Dingen in der Welt zurecht kommen? Die psychiatrische Antwort: “Du kannst, aber nur dank unserer Medikamente.”
  • Das Kind ab 13 setzt sich mit der Frage auseinander, wieweit es sich den Erwartungen der Gesellschaft anpassen muss, um voranzukommen. Die psychiatrische Antwort: “Nur wenn du mit unseren Substanzen deine Ecken und Kanten abschleifst, hast du eine Chance im Leben.”

Im bereits erwähnten Interview mit dem Spiegel sagt Jerome Kagan:

“Describing every child who is depressed or anxious as being mentally ill is ridiculous. Adolescents are anxious, that’s normal. They don’t know what college to go to. Their boyfriend or girlfriend just stood them up. Being sad or anxious is just as much a part of life as anger or sexual frustration.”
(Jedes Kind, dass niedergedrückt oder ängstlich ist, als psychisch krank zu beschreiben, ist lächerlich. Heranwachsende sind ängstlich, das ist normal. Sie wissen nicht, auf welche weiterführende Schule sie gehen sollen. Ihr Freund oder ihre Freundin hat ihnen die Stirn geboten. Traurig zu sein oder ängstlich ist genauso sehr ein Teil des Lebens wie Zorn und sexuelle Frustration.)

Der Spiegel fragt Kagan, warum Millionen von amerikanischen Kindern fälschlicherweise als psychisch krank diagnostiziert würden. Dies bedeute, so sagt er, mehr Geld für die Pharmaindustrie, für die Psychiatrie und für die Leute in der Forschung.

Amerikaner können so herzerfrischend direkt sein.

Ursachen und Folgen

Anders als Kagan mache ich allerdings für diese Besorgnis erregende Entwicklung nicht allein die ökonomischen Interessen von Pharmaindustrie und Psychiatrie verantwortlich, sondern unsere Gesellschaft insgesamt. Aus meiner Sicht beherrschen immer weniger junge Eltern die Grundbegriffe des Kunsthandwerks der Erziehung – und dies häufig auch darum, weil schon ihre Eltern nicht mehr wussten, wie man mit Kindern umgehen sollte und was es unbedingt zu vermeiden gilt. Dass dafür auch die Auflösung der Kernfamilie, die zunehmende Berufstätigkeit von Müttern kleiner und kleinster Kinder sowie das Übermaß an Zerstreuung durch Fernsehen, Diskos usw. verantwortlich sind, steht meines Erachtens außer Frage. Die Grundlage dieser Erscheinungen sind natürlich die globalisierten, turbokapitalistischen Verhältnisse. Da Eltern immer weniger zu erziehen in der Lage sind und da sich daher die Kinder eben unerzogen verhalten, greifen sie immer lieber und häufiger zum Erziehungsinstrument des Psychopharmakons. Sie können ihr Gewissen damit beruhigen, dass die Kinder ja angeblich “psychisch krank” wären. Diese Gewissensberuhigung passt natürlich wunderbar zum Geschäftsmodell von Psychiatrie und Pharmaindustrie.

Für die Kinder sind die Auswirkungen mehr oder weniger verheerend, weil sich ja ihr Selbstbild durch diese Erziehung mit der Pille formt. Es wird ihnen nahegelegt, sich für ihr Verhalten und Erleben nicht verantwortlich zu fühlen und es wird ihnen suggeriert, dass mit ihrem Gehirn etwas nicht stimme, dass sie mental behindert seien.

Tränen

Was soll denn nur aus solchen Kindern werden? Es ist zum Weinen. Wirklich. Es ist zum Weinen. Und damit Sie, lieber Leser, das Weinen auch tatsächlich nicht vergessen, zitiere ich einen Absatz aus dem Buch “Deadly Medicines and Organized Crime” von Peter C. Gøtzsche:

“Die Medikamente für ADHS sind gefährlich. Wir wissen nicht sehr viel über ihre Langzeitschäden, doch wir wissen, dass sie das Herz in derselben Weise wie Kokain schädigen und dass sie sogar bei Kindern zum Tode führen können. Wir wissen auch, dass ADHS-Medikamente eine bipolare Störung bei 10 Prozent der Kinder verursachen…”

Gøtzsche ist kein Psychiatriekritiker und auch kein Scientologe. Dieser Mann ist vielmehr ein hoch angesehener Medizinprofessor, ein Mitbegründer der Cochrane Collaboration, eine der weltweit wichtigsten Institutionen zur medizinischen Qualitätssicherung. Zur Zeit leitet der das Nordic Cochrane Center. Sein Buch ist eine harsche Abrechnung mit den Machenschaften der Pharmaindustrie in der Medizin generell. Die Psychiatrie, so schreibt er, sein das eigentliche Paradies der Pharmaindustrie.

Anmerkungen

(1) Mayes, R. (2008). ADHS and the rise in stimulant use among children. Harvard Review of Psychiatry, 16, 151-166

(2) Hruska, B. (2012). Raising the Ritalin Generation. The New York Times, Sunday Review, 18. August

(3) NIH Consensus Development Conference Statement, “Diagnosis and Treatment of Attention Deficit Hyperactivity Disorder, Nov. 16-18, 1998

(4) Die Consumer Reports sind mit der “Stiftung Warentest” vergleichbar.

(5) Jacobvitz, D. (1990). “Treatment of attentional and hyperactivity problems in children with sympathomimetic drugs. Journal of the American Academy of Child & Adoleszent Psychiatry 29, 677 – 688

(6) Kretschmer, K. (2000). Das beruhigte Klassenzimmer, blz 10/00 Archiv Zeitschrift der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Berlin

(7) James Morris, George Stone. Children and Psychotropic Medication: A Cautionary Note. Journal of Marital and Family Therapy, 2009 (Published Online: October 29)

(8) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(9) Joseph, J. (2009). ADHD and Genetics. A Consensus Reconsidered. In S. Timini & J. Leo (Eds.), Rethinking ADHD: From Brain to Culture (pp. 58-91). London: Dalgrave MacMillan

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Zur gesellschaftlichen Funktion der psychiatrischen Diagnose

Ismen

Nur eine Minderheit, zum Glück, nur eine verschwindend kleine Minderheit bekennt sich in unserer Gesellschaft offen zum Rassismus oder zum Antisemitismus. Diesen und ähnlichen Ismen ist gemeinsam, dass ihre Anhänger (fast) alle Mitglieder einer gering geschätzten oder gar verhassten Gruppe pauschal negativ bewerten, nur weil sie Angehörige dieser Gruppe sind. Vorausgesetzt wird dabei, dass (fast) allen Gruppenzugehörigen bestimmte negative Merkmale zukommen und dass deswegen Unzulängliches oder Böses von ihnen zu erwarten ist.

Es gilt als politisch nicht korrekt, derartige Ismen zu propagieren. Dazu zählen natürlich auch verwandte Geisteshaltungen, deren Bezeichnung ein “Ismus” am Ende fehlt, wie beispielsweise Ausländerfeindlichkeit, Schwulenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit etc. Allerdings sind einige Ismen ausgenommen, obwohl sie sich hinsichtlich des diskriminierenden Pauschalurteils von den politisch inkorrekten nicht unterscheiden. Dazu gehören beispielsweise bestimmte Spielarten des Feminismus, die eindeutig sexistisch sind. So wie es für den Antisemiten immer auch Ausnahme-Juden und für den Rassisten Ausnahme-Neger gibt, so weiß auch die Brutal-Feministin Ausnahme-Männer zu loben. Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Einstellung. Die Ausnahmen, die ja bekanntlich die Regel bestätigen, werden geschickt eingeräumt, um so dem Vorwurf des Denkfehlers der unzulässigen Verallgemeinerung zu entgehen.

Wir sehen also, das bestimmte Interessengruppen ihre Ismen durchaus pflegen dürfen, ohne Missfallen auf sich zu ziehen, weil hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Dies hat mitunter emotionale Gründe: Man sieht den Fundamental-Feministinnen Männerfeindlichkeit nach, weil Frauen ja selbst Opfer von männlicher Diskriminierung sind und weil man diese oft sehr aggressiven und skrupellosen Frauen fürchtet. Man sieht manchen Leuten auch Antimoslemismus nach, weil Angehörigen ihrer Bezugsgruppe von fanatischen Moslems Leid angetan wurde.

Der Psychodiagnostizismus

Es gibt aber auch einen Ismus, der darum keinen Anstoß erregt, weil er gar nicht als ein solcher erkannt wird; dabei handelt es sich um den psychiatrischen Diagnostizismus. Menschen, die mit einer psychiatrischen Diagnose etikettiert wurden, wird unterstellt, sie seien psychisch krank. Da es sich dabei um eine negative Unterstellung handelt, steht der Psychodiagnostizismus logisch auf derselben Stufe wie der Rassismus, der Antisemitismus oder der Sexismus. Negativ ist die Unterstellung einer psychischen Krankheit, weil eine Krankheit ein Zustand ist, den es zu beseitigen gilt. Es wird als moralisch fragwürdig betrachtet, wenn man sich nicht nach Kräften bemüht, eine derartige, normabweichende, ungesunde Verfassung zu überwinden. In Not- und anderen Extremfällen hält man es für berechtigt, den “psychisch Kranken” wegzusperren und zur Behandlung zu zwingen.

Warum aber fällt die enge Verwandtschaft zwischen dem Psychodiagnostizismus und Ismen, die als verwerflich gelten, nicht auf, obwohl sie doch ins Auge springt? Es lässt sich nicht nachweisen, dass alle Juden, alle Fremdrassigen, alle Ausländer etc. gemeinsame, negative Merkmale aufweisen. Dies lässt sich ebenso wenig für die so genannten psychisch Kranken nachweisen – es lässt sich ja noch nicht einmal mit objektiven Methoden belegen, dass sie im medizinischen Sinn tatsächlich krank sind. Dennoch glaubt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung unverbrüchlich daran, dass sich die “psychisch Kranken” ändern müssten. Man mutet ihnen zu, nicht allein nur ihr Verhalten zu modifizieren, nein, mehr, man will, dass sie die Welt anders erleben und betrachten als bisher, ja, dass sie auch ihre Persönlichkeit insgesamt ummodeln.

In einer Hinsicht unterscheidet sich allerdings der Psychodiagnostizismus von vielen anderen Ismen: Meist sind die charakteristischen Merkmale der Gruppenzugehörigkeit unveränderlich (Hautfarbe, ethnische Herkunft, Erbanlagen) oder gelten als nicht wandelbar (“Einmal Moslem, immer Moslem!). Bei den so genannten psychisch Kranken jedoch scheint mitunter noch Hoffnung zu bestehen (heilbar). Vielfach allerdings hat man auch alle Hoffnung fahren lassen, unterstellt den Betroffenen eine chronische Erkrankung sowie die Notwendigkeit zur lebenslangen, meist medikamentösen Behandlung.

Es gilt, noch einmal sehr entschieden hervorzuheben, dass der Psychodiagnostizismus ebenso wenig durch empirische Erkenntnisse erhärtet ist wie der Rassismus oder der Antisemitismus. Zwar wird bei allen Ismen und so auch beim Psychodiagnostizismus nicht selten eine “wissenschaftliche Fundierung” versucht; allein, ebenso wenig, wie die Rassebiologie der Nazis die Minderwertigkeit der Neger zu beweisen vermag, ebenso wenig gelingt es der pseudo-biologischen Psychiatrie, ihre Annahmen über “psychisch Kranke” durch Theorien einer Hirnstörung oder Erblichkeit zu untermauern. Wenn Sie, lieber Leser, dies nicht glauben wollen, dann kann ich Ihnen nur empfehlen, ein wenig in meinem Tagebuch zu blättern. In der Pflasterritzenflora finden Sie zahllose Hinweise auf empirische Studien, die keinen Zweifel daran lassen, dass die Psychiatrie auf einer völlig unzulänglichen wissenschaftlichen Basis beruht.

Den Faden verloren

Da ich nun, nach einer kurzen, Unaussprechlichem gewidmeten Pause, den Faden verloren habe, muss ich Sie um Erlaubnis bitten, noch einmal ansetzen zu dürfen: Warum aber fällt die enge Verwandtschaft zwischen dem Psychodiagnostizismus und Ismen, die als verwerflich gelten, nicht auf, obwohl sie doch ins Auge springt? Wenn Offensichtliches scheinbar nicht wahrgenommen wird, falls gar Hinweise auf Offensichtliches Missfallen, wenn nicht Zorn erregen, dann liegt es nahe, psychodynamische Prozesse dafür verantwortlich zu machen. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob dieses Offensichtliche aus unbewussten Motiven abgewehrt wird. Solche Motive werden ja auch bei anderen Ismen vermutet. Beispielsweise glauben manche, dass die Abneigung, die manche weiße Männer gegenüber schwarzen Geschlechtsgenossen empfinden, auf einem unbewussten, einem verdrängten Neid beruhe, der sich auf die Größe des schwarzen Geschlechtsteils beziehe.

Man mag über solcherart Motivforschung lächeln. Auch ich nehme diese “Erkenntnisse” nicht übermäßig ernst. Aber es ist wohl nicht zu bestreiten, dass sie eine heuristische Funktion erfüllen. Im Falle des Psychodiagnostizismus liegt es natürlich nahe, einen inneren Konflikt als Ursache für die Blindheit gegenüber dem Offensichtlichen zu vermuten. Folgende typische Situation erhellt den Sachverhalt. Ein Mensch erregt durch bestimmte Verhaltensweisen Missfallen. Seinen Mitmenschen sind diese Verhaltensweisen rätselhaft. Dieser Mensch ist ein Außenseiter, niemand mag ihn und will etwas mit ihm zu tun haben. Sein Verhalten wirkt bedrohlich, vor allem, weil man nicht weiß, was er eigentlich vorhat und warum. Er ist unberechenbar. Man möchte ihn aus dem Weg haben. Aber wie? Schließlich hat er nichts verbrochen, er stört nur und macht Angst. Reinen Gewissens kann man gegen ihn keine Maßnahmen ergreifen, denn er verstößt nicht gegen Gesetze oder andere verbindliche Regeln. Wie also kann man ihn loswerden, ohne hinterher unter Gewissensbissen leiden zu müssen? Wie kann man ihn unschädlich machen, ohne dass man danach in moralische Erklärungsnöte geriete?

Die psychiatrische Diagnose eignet sich hervorragend zu diesem Zweck. Sie schiebt dem Störer den schwarzen Peter zu, er ist krank, muss sich ändern. Im Extremfall muss er vielleicht sogar – zu seinem Besten, versteht sich – zwangseingewiesen und zwangsbehandelt werden. Diese Maßnahmen sind dann nicht mehr als das, was sie sind, nämlich Freiheitsberaubung und Körperverletzung, zu betrachten, sondern als medizinische Behandlung zum Wohle des “psychisch kranken” Patienten. Es versteht sich von selbst, dass man die wahren Motive hinter diesen Manövern nur zu gern verdrängt, denn nur dann können sie ihr Ziel erreichen, ohne das Gewissen zu beunruhigen.

Ein Kompromiss

Der Psychodiagnostizismus ist mit Abstand der am weitesten verbreitete Ismus in unserer Gesellschaft. Er stellt sogar den Rabiat-Feminismus in den Schatten. Die Objekte der Verachtung, die so genannten psychisch Kranken, finden sich in allen Schichten der Gesellschaft, zu ihnen zählen Erwachsene und Kinder, Frauen und Männer, vom Säugling bis zum Greis kann jeder betroffen sein. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, Ziel des Psychodiagnostizismus’ zu werden, nicht gleichmäßig über alle Bewohner unseres Planeten verteilt. Besonders häufig trifft es Menschen aus der unteren Unterschicht; nur sehr selten sind Angehörige der Oberschicht betroffen (es sei denn, sie wären bei ihrer Familie in Ungnade gefallen oder ähnliches). Frauen werden häufiger Gegenstand des Psychodiagnostizismus als Männer, zunehmend werden auch Menschen mit Migrationshintergrund psychodiagnostisch etikettiert (und damit doppelt stigmatisiert).

Aus psychoanalytischer Sicht könnte man den Psychodiagnostizismus also als einen Kompromiss zwischen Destruktionstrieb und Gewissen interpretieren. Auf diese Weise erhalten viele Leute ihren Seelenfrieden aufrecht. Sie klammern sich an den Psychodiagnostizismus, weil sie sich sonst nicht mehr aus vollem Herzen als Gutmenschen empfinden könnten.

Die Kämpfer gegen die Zwangspsychiatrie sollten sich mit wasserfester Tinte hinter die Ohren schreiben, dass sie es massiv mit mental derart gestrickten Gutmenschen zu tun bekommen, wenn sie die Psychiatrie angreifen. Selbst wenn eine gute Fee käme und mit einem Schlag die Zwangspsychiatrie hinwegzauberte, so bliebe der Psychodiagnostizismus immer noch virulent. Wer dies bezweifelt, möge sich einmal vor Augen halten, welche bedeutende Rolle er inzwischen in Rosenkriegen spielt.

Psychodiagnostizismus ist die Neigung, Menschen eine “psychische Krankheit” anzudichten und ihnen, weil sie zur Gruppe der “psychisch Kranken” gehören, negative Merkmale zu unterstellen. Falls Sie, lieber Leser, es noch nicht selbst bemerkt haben sollten, für diesen unwahrscheinlichen Fall füge ich hinzu, dass Psychodiagnostizierte nicht selten selbst Psychodiagnostizisten sind. Auch in diesen Fällen darf man unbewusste Motive vermuten. Häufig dürfte es sich um einen Ausdruck des Self-handicappings handeln. So könnte man sich beispielsweise als psychisch krank empfinden, um vor einer Aufgabe auszuweichen, bei der man zu scheitern erwartet. Man ist also lieber krank, als ein Versager, ein Faulpelz oder gar ein Asozialer. Für eine Krankheit kann man schließlich nichts. So etwas erwischt einen. (Die Stigmatisierung “psychisch Kranker” ist eine  meist unreflektierte Reaktion auf diese sonderbare “Logik”).

Wenden wir uns also den Objekten der psychodiagnostizistischen Diskriminierung zu, den so genannten psychisch Kranken.

Morbus Szasz

Eine der häufigsten Krankheiten in modernen Industriegesellschaften wird in der Regel falsch diagnostiziert. Dadurch entstehen enorme Kosten für Therapien und Medikamente, die vermeidbar wären. Es handelt sich hier um eine iatrogene, also um eine von Ärzten erzeugte Krankheit. Sie ist keine Krankheit im engen, medizinischen Sinn, sondern eine schwerwiegende geistige und emotionale Verwirrung mit metaphorischem Krankheitswert. Sie wird nach ihrem Erstbeschreiber, dem Psychiater Thomas Szasz, auch Morbus Szasz genannt.

Die Psychiatrische Identitätsstörung (PIS), so die offizielle Bezeichnung, zeichnet sich durch das folgende “Krankheitsbild” aus:

A. Charakteristische Symptome. Folgende Symptome bestehen für mindestens einen Monat:

  • Wahn. Der Patient glaubt, an einer angeblich psychischen Krankheit zu leiden. Er wähnt, dass diese eingebildete Krankheit auf einer Hirnstörung beruhe. Er hält unverbrüchlich an seiner Überzeugung fest, obwohl eine solche Hirnstörung mit den objektiven, naturwissenschaftlichen Methoden der Medizin nicht nachgewiesen werden kann. Häufig glaubt der Erkrankte auch, seine fantasierte psychische Krankheit habe genetische Ursachen, obwohl es auch dafür keinerlei wissenschaftliche Beweise gibt. In einigen Fällen wird die These der Hirnstörung aber auch durch den Glauben an ein frühkindliches Trauma als Ursache der angeblichen psychischen Krankheit ersetzt oder ergänzt.
  • Illusionen. Der Patient missdeutet Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten als Experten für seine angebliche, in Wirklichkeit aber nur auf o. g. Wahn beruhende psychische Krankheit. Er ist extrem empfänglich für die Suggestionen dieser illusionären “Fachleute”.
  • Desorganisierte Sprechweise. Der Patient hat seine Fähigkeit verloren, über seine seelischen Zustände zusammenhängend in einer allgemein verständlichen Alltagssprache zu sprechen. Er vermischt Begriffe der Umgangssprache beständig mit Termen aus einer pseudomedizinischen Fachsprache, denen er eine wahnhafte Bedeutung beimisst.
  • Grob desorganisiertes Verhalten. Der Patient weicht der Auseinandersetzung mit seinen alltäglichen Lebensproblemen aus und sucht zunehmend Kontakt zu Menschen, die er als Experten zur Lösung seiner Schwierigkeiten missdeutet. Diese Fehldeutung ist auch nicht korrigierbar, beispielsweise durch die offensichtlichen Misserfolge dieser scheinbaren “Experten”. Er gehorcht den Anweisungen dieser “Fachleute; dies führt zu bizarren Verhaltensmustern.
  • Negative Symptome. Der Patient neigt dazu, durch Missbrauch einer bestimmten Art von Drogen (der so genannten Psychopharmaka) Symptome wie beispielsweise flache Affekte, Alogie und Willensschwäche hervorzurufen.

B. Soziale, berufliche Leistungseinbußen. Die o. g. charakteristischen Symptome führen häufig zur Gefährdung oder zum Verlust des Arbeitsplatzes, zu Problemen in Partnerschaft und Ehe, zu Ehescheidungen und sozialer Isolation. Die Fähigkeit, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern, ist durch den übermäßigen Kontakt mit den bereits erwähnten falschen Experten deutlich eingeschränkt.

C. Dauer. Die Zeichen dieses Störungsbildes halten für mindestens sechs Monate an. Dabei müssen die unter A genannten Symptome mindestens einen Monat lang gezeigt werden. Die sechsmonatige Periode kann aber auch prodromale Abschnitte beinhalten (beispielsweise auffälliges, zwanghaftes Interesse an psychiatrischen Themen).

D. Ausschluss einer Compliance-Störung. Die Symptomatik ist nicht die Folge einer freiwilligen, der Not gehorchenden Anpassung an eine Unterbringung oder Behandlung gegen den Willen des Patienten (Zwangspsychiatrisierung). Die Symptomatik ist nicht die Folge einer erzwungenen Anpassung durch Folter und Gehirnwäsche zur Durchsetzung der so genannten “Krankheitseinsicht”.

E. Ausschluss von Substanzeinfluss / medizinischem Krankheitsfaktor. Die Symptomatik wird nicht zwecks Erfüllung der Bedingungen einer verlorenen Wette unter volltrunkenen Stammtischbrüdern vorgetäuscht. Sie ist auch keine Nebenwirkung einer Hirnschädigung durch Elektroschocks oder psychochirurgische Eingriffe.

F. Beziehung zu einer tief greifenden Entwicklungsstörung. Bei einer Vorgeschichte mit Psychiatrisierungen in Kindheit und Jugend wird die zusätzliche Diagnose einer Psychiatrischen Identitätsstörung (PIS, Morbus Szasz) nur dann gestellt, wenn mindestens einen Monat lang besonders ausgeprägte einschlägige Wahnsymptome bestehen.

Behandlung des Morbus Szasz

Zur Behandlung der Psychiatrischen Identitätsstörung haben sich folgende Heilmittel bewährt:

  • Schocktherapie. Beim Auftreten von Symptomen sofort unter die eiskalte Dusche. Nachher gut abfrottieren und anschließend ins Bett.
  • Lektüre der Bücher von Thomas Szasz. Am besten im Zustand größtmöglicher geistiger Klarheit und Wachheit.
  • Business as usual. In nicht-akuten Phasen widmet sich der Gefährdete am besten seinen alltäglichen Obliegenheiten und meidet die müßige gedankliche Auseinandersetzung mit psychiatrischen oder psychologischen Themen.
  • Patientenverfügung. Um sich vor Krankheitserregern abzuschirmen, muss unbedingt eine entsprechende Patientenverfügung ausgefertigt werden.
  • Stimmenhören. Zur Kunst alltäglicher Seelenpflege gehört das Stimmenhören wie das Zähneputzen zur Zahnpflege. Es gilt, sein inneres Ohr vor allem für Stimmen zu öffnen, die uns vor den Folgen einer Psychiatrischen Identitätsstörung warnen.
  • Gedankenstopp. Akute Phasen einer Psychiatrischen Identitätsstörung deuten sich vor allem dadurch an, dass der Betroffene zunehmend und zwanghaft seelische Zustände mit dem Krankheitsbegriff assoziiert. Solche Gedanken sind sofort zu stoppen, indem man am besten laut “PIS Stopp!” sagt. Falls dies laut nicht möglich ist, kann man ersatzweise auch die innere Stimme mit besonderem Nachdruck “PIS Stopp!” ausrufen lassen.
  • Unsinn. Diese Methode stammt aus dem Spektrum des homöopathischen Denkens: Gleiches heilt Gleiches. Wen Psychiatrisches anwandelt, der kann dies mit vergleichbarem Unfug übertrumpfen (beispielsweise mit Esoterischem). Doch hier ist natürlich Vorsicht geboten, um bleibende Schäden oder größere finanzielle Verluste zu vermeiden.
  • Aversionstherapie. Es kann für Menschen mit Tendenz zur Psychiatrischen Identitätsstörung sehr heilsam sein, sich die Folgen einer Behandlung mit Psychopharmaka vor Augen zu führen. Hilfreich sind da beispielsweise Bücher wie Peter Breggins “Giftige Psychiatrie” oder Robert Whitakers “Anatomy of an Epidemic”.
  • Statistik und empirische Methodenlehre. Wer in diesen Disziplinen firm ist, hat immer etwas zu lachen. Er muss nur einen Blick auf die psychiatrische Forschungsliteratur werfen, und schon ist alles wieder gut. Lachen ist bekanntlich gesund.
  • Umdeuten. Falls alle Stricke reißen, kann man auch versuchen, die Psychiatrische Identitätsstörung positiv zu sehen. Zu diesem Zwecke ist es am besten, den Beruf zu wechseln und sich ein Betätigungsfeld in der Psychiatrie oder bei Herstellern von Psychopharmaka zu suchen. Dann sieht plötzlich alles ganz, ganz anders aus. Man wechselt die Fronten, zahlt nicht mehr drauf, sondern kassiert selbst.

Ursachen des Morbus Szasz

Über die Ursachen der Psychiatrischen Identitätsstörung kann man trefflich streiten. Auf empirische Studien kann man sich leider nicht stützen, da die Ursachen bisher noch nicht systematisch erforscht wurden. Dass es sich hier um eine iatrogene Erkrankung handelt, dürfte auf wohl außer Frage stehen, allein: Warum erkranken nicht alle Menschen daran, die in den Sog der einschlägigen wirtschaftlichen und politischen Interessen geraten? Ist’s Dummheit, die anfällig macht? Oder Knechtseligkeit? Ins Extrem gesteigerte Suggestibilität?

Hier liegt ein breites Forschungsfeld brach, das niemand, der sein Geld vom Staat oder aus der Wirtschaft bekommt, urbar machen möchte. Mich beschleicht allerdings der Verdacht, dass auch sonst niemand so genau wissen will, was sich hinter der PIS verbirgt.

Dass die Betroffenen an ihrem Wahn festhalten, erstaunt zwar nicht, denn das Unkorrigierbare ist ja gerade ein definitionsgemäßes Charakteristikum der Paranoia. Dass aber auch nicht betroffene Steuerzahler und Mitglieder der Solidargemeinschaft der Versicherten angesichts gewaltiger Kosten nicht einmal skeptisch ihre Augenbrauen heben, ist schon verblüffend. Dabei ist es doch offenkundig, dass die Kosten auf der einen den Gewinnen auf anderen Seite entsprechen und dass genau diese Gewinne wesentliche Noxen der PIS hervorbringen. Dies liegt auch ohne empirische Forschung klar auf der Hand.

Psychiatrische Diagnosen stigmatisieren. Jeder weiß das. Mit einer solchen Diagnose steigt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass man seine Freunde, seinen Ehepartner, seinen Arbeitsplatz verliert, kurz: dass man sozial vernichtet wird. Psychiatrische Diagnosen stigmatisieren. Dies ist ab einem IQ > 70 selbsterklärend. Dennoch wehren sich viele Menschen nicht gegen eine solche Diagnose, schlimmer, sie lassen nichts unversucht, bis ihnen endlich das ersehnte Etikett angeheftet wird, erst von den lieben Mitmenschen (“Geh’ doch mal zum Psychiater!”) und dann endlich offiziell vom Experten.

Die folgende Liste von Motiven ist natürlich spekulativ. Zumindest sind mir keine wissenschaftlichen Studien bekannt, die diese Überlegungen empirisch erhärten. Meine Liste ist also als Anregung zum Nachdenken zu verstehen.

  1. Manche Menschen leiden unter seelischen Problemen, die sie nicht verstehen. Sie glauben, dringend Hilfe von Fachleuten zu benötigen. Sie wissen zwar, dass psychiatrische Diagnosen stigmatisieren, aber sie nehmen dies in Kauf, weil sie keine Alternative dazu sehen. In Gesprächen mit solchen Menschen habe ich fast immer festgestellt, dass ihnen sehr wohl bewusst ist, wie irrational ihr Verhalten ist. Sie wissen, dass unser Leben ein Auf und Ab ist, dass seelische Probleme sich oft von allein in Luft auflösen, dass Psychotherapien auch nicht viel mehr als schöne Worte und dass Pillen auf Dauer keine Lösung sind. Alternativlosigkeit ist also keine hinlängliche Erklärung für das in Rede stehende Verhalten.
  2. Manche Menschen glauben, dass sie ihren Mitmenschen, der Gesellschaft allgemein oder gar dem lieben Gott Leistung schulden. Sie fürchten, einer Aufgabe nicht gewachsen zu sein, sie fürchten sich vor dem Versagen und den damit verbundenen Schuldgefühlen. Um das befürchtete Scheitern zu vermeiden, werden sie “psychisch krank”. Da heutzutage “psychische Krankheiten” als Gehirnstörungen begriffen werden, sind sie nicht etwa faul oder gar asozial, sondern Opfer pathologischer Prozesse, die sich auch bei bestem Willen ihrer Kontrolle entziehen. Sie sind also, so lautet diese Logik, über die sie sich natürlich keine Rechenschaft ablegen, als “psychisch Kranke” unschuldig und ihre Verweigerung der Aufgabenbewältigung kann ihnen nicht als mutwillige Leistungszurückhaltung angelastet werden.
  3. Manche Menschen leiden unter einem Mangel an Zuwendung. Sie simulieren körperliche Erkrankungen. Der Arzt deutet diese als psychosomatische Störungen und behandelt sie entsprechend, nämlich durch Zuwendung. Manche dieser Menschen wählen den kürzeren Weg, verzichten auf die Simulation physischer Leiden und präsentieren dem Arzt sogleich eine Reihe von einschlägigen Symptomen der so genannten psychischen Erkrankungen. Die Stigmatisierung durch die psychiatrische Diagnose wird in diesen Fällen mitunter sogar als Argument gebraucht, um noch mehr Zuwendung einfordern zu können.
  4. Manche Menschen leiden unter seelischen Problemen, fühlen sich wegen der damit verbundenen Leistungsminderung schuldig und betrachten die Stigmatisierung durch eine psychiatrische Diagnose als verdiente Strafe, die sie bußfertig auf sich zu nehmen gewillt sind.
  5. Manche Menschen tragen die Stigmatisierung, die sie sich selbst durch die Konsultation des entsprechenden Experten eingebrockt haben, wie ein Fanal vor sich her, weisen unermüdlich auf die Diskriminierung hin, die sie unschuldig zu erdulden hätten, um eigene Schuldgefühle wegen unzulänglicher Leistungen auf andere zu projizieren.
  6. Manche Menschen produzieren die einschlägigen Symptome “psychischer Krankheiten”, um sich an jenen zu rächen, die angeblich dafür verantwortlich sind. In diese Kategorie gehören manche “Traumaopfer”. Über das tatsächliche Motiv ihres Verhaltens legen sich diese Menschen keine Rechenschaft ab.
  7. Manche Menschen übernehmen die Rolle des “psychisch Kranken”, weil ihnen diese in ihrem sozialen System zugeschrieben wurde und weil sie nicht den Mut und die Kraft hatten, sich dagegen zu wehren.
  8. Manche Menschen langweilen sich. Sie betrachten die “psychische Krankheit” als Eintrittskarte ins Disneyland der Psychiatrie. Dort, so glauben sie, könnten sie dem grauen Alltag für eine Weile entkommen. Dass eventuell eine Horrorshow auf sie wartet, wollen sie nicht wahrhaben.
  9. Manche Menschen möchten gern gegängelt werden. Sie leiden unter der Freiheit. Es ist ihnen zu mühsam, zu aufreibend, für sich selbst zu entscheiden. Sie scheuen die Verantwortung für ihr eigenes Leben. Der Arzt soll ihnen sagen, was zu tun ist.
  10. Manche Menschen sind hoffnungslos verliebt in Helfer. Diese “Gekränkten” sind ja ach so empfindlich und verletzlich. Der rücksichtsvollste, der feinfühligste Helfer unter der Sonne ist der Prinz ihres Herzens. Und wehe, er enttäuscht sie. Dann kommt der nächste “Superhelfer” an die Reihe.

Mutmaßlich

Die Abgründe der menschlichen Seele sind unermesslich und daher ist diese Liste natürlich unvollständig. Mir ging es hier allerdings auch nur darum, und dazu reichen wenige Beispiele, die Grundidee zu vermitteln: Es gibt keinen vernünftigen und ehrenwerten Grund, “psychisch krank” zu sein. Auch wenn man seelisch leidet, muss man sich nicht zum Narren machen. Wer sich selbst zum Narren macht, möchte sich schlecht benehmen, ohne die volle Wucht der Verachtung dafür ertragen zu müssen. Die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen, ist fast immer ein Zeichen dafür, dass man zu sich selbst und anderen nicht ehrlich ist.

Manche werden mich für dieses Statement hassen. Und ich will gern einräumen, dass ich diesen Hass als seelisches Badewasser betrachte, dass ich ablasse, nachdem ich mich in ihm entspannt und gereinigt habe. Für Leute mit einer Disposition zu derartigem Hass habe ich einen Rat. Fügen Sie immer dann, wenn sie an “psychische Krankheiten” oder “psychisch Kranke” denken oder von ihnen sprechen, diesen Begriffen ein “Mutmaßlich” hinzu. Denn trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung (heute auf Hightech-Niveau) ist es den einschlägigen Wissenschaften bisher noch nicht gelungen, die biologische Grundlage auch nur einer dieser angeblichen Krankheiten zu entdecken. Sie sind also nach wie vor hypothetische Entitäten. Und nur über diese spreche ich. Wer an einer neurologischen oder sonstigen körperlichen Krankheit mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben leidet, ist über meine Kritik erhaben und hat mein volles Mitgefühl.

Natürlich räume ich ein, dass man zur “psychischen Krankheit” auch verführt werden kann. Die einschlägigen Verführer werden ja immer raffinierter. Hier meine ich nicht nur das Marketing des psychiatrisch-pharma-ökonomischen Komplexes. Hier meine ich auch nicht allein die Mainstream-Medien. Deren einschlägige Berichterstattung verdient meist als schmeichelhaftestes aller Attribute das Charakteristikum “nützliche Idiotie”. Nein, hier meine ich vor allem Hinz und Kunz, die lieben Mitmenschen, die den Psycho-Jargon mit Löffeln gefressen haben und beständig auf der Suche sind nach Leuten, die sie heiß machen können auf Selbstinszenierungen der psychopathologischen Art.

Selbstverständlich ist im Allgemeinen die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” die beste aller Alternativen, die dem “Betroffenen” prinzipiell zur Verfügung zu stehen scheinen. Generell greifen ja Menschen zu der Lösung, die nach Abwägung aller Vor- und Nachteile scheinbar die beste Bilanz aufweist. Oftmals wird diese Lösung als eine schlechte begriffen, aber alle anderen möglichen Lebenswege scheinen noch übler zu sein. Rational betrachtet ist die Entscheidung, sich als “psychisch krank” zu inszenieren, also sehr häufig durchaus akzeptabel. Doch ist sie deswegen auch vernünftig (im philosophischen Sinn) und moralisch einwandfrei? Ist nicht die Menschenwürde ein hoher Wert, der höchste? Dürfen wir es uns gestatten, uns würdelos zu betragen?

Die miserablen Verhältnisse, unter denen sich viele dazu entscheiden, die Rolle des “psychisch Kranken zu übernehmen, sind letztlich keine Entschuldigung, nicht wirklich. Wir dürfen nicht, um oberflächlicher Vorteile willen, mit unserem Seelenheil spielen. Das ist eine Frage des Stolzes und der Ehre. Natürlich ist dies nur mein Standpunkt, den niemand teilen muss; andere Sichtweisen sind legitim, wenngleich sie mich schaudern machen.

Natürlich muss niemand ein schlechtes Gewissen haben, wenn er aus Gründen, die mir zwielichtig erscheinen, so etwas objektiv Unmögliches wie eine “psychische Krankheit” vorspiegelt. Ebenso wenig muss jemand ein schlechtes Gewissen haben, der sein Konto heillos überzieht, um unnützen Plunder anzuschaffen. Das schlechte Gewissen ist schließlich der Ursprung allen Übels. Es ist im Grunde das Resultat physischer und psychischer Gewalt, die Kindern schon in zartestem Alter angetan wurde und die sie für ein Leben zeichnet. Es ist das Überich, das sich fundamental von freier, begrifflich vermittelter und reflektierter Moral unterscheidet. Natürlich kann man sich als Erwachsener zu echter Moral und vernünftiger Lebensführung durchringen, wenn man mag; aber ich räume ein, dass dies schwierig ist, wenn die Knute die Erinnerungen an unsere Kindheit prägt.

Dennoch: Weder die Werbung, noch die Mitmenschen oder sonstige Verhältnisse  tragen die Verantwortung für beschriebenes Fehlverhalten. Sie sind keine Entschuldigung für die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken”. Die Verantwortung liegt beim Individuum selbst. Zum Glück, immer noch! Die alltägliche Bewusstseinskontrolle hat uns noch nicht vollends in Roboter verwandelt. Deswegen ist ja auch noch nicht alles verloren.

Anmerkung

Faith Rhyne: The Intersection Between “Race” and “Mental Illness” in: Mad in America

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Whistleblower

The Mouth of the South

Martha Beall Mitchell war redselig und indiskret; sie liebte es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen; und sie neigte dem Alkohol zu. Da sie die Frau eines Kabinettsmitglieds war und da sie sich in den Medien zu inszenieren wusste, war ihr das öffentliche Interesse sicher. Als sie begann, Gerüchte über illegale Machenschaften im Weißen Haus zu verbreiten, versuchten interessierte Kreise, sie zu diskreditieren. Sie wurde als Alkoholikerin verunglimpft, als Spinnerin. Als sie sich ihrem Psychotherapeuten anvertraute, diagnostizierte dieser eine Wahnerkrankung.

Ihr Mann, der Justizminister (Attorny General) unter Nixon war, ließ sich scheiden. Dann kam der Watergate-Skandal ans Licht. Plötzlich erschien Martha Beall Mitchells Aussage, dass es nicht mit rechten Dingen zuginge im Weißen Haus, in einem veränderten Licht. Die Enthüllungen über den Watergate-Einbruch und seine Hintergründe rehabilitierten die Frau, die zu schrillen Tönen und pompösen Auftritten neigte. Aus der Verrückten, dem “Mouth of the South” (so genannt wegen ihrer Herkunft aus dem Süden der Vereinigten Staaten), wurde die “Cassandra vom Potomac”. Präsident Richard Nixon musste zurücktreten, Martha Mitchells Mann, John N. Mitchell, kam wegen seiner Verstrickungen in die Watergate-Affäre ins Gefängnis.

Martha Mitchell wurde daraufhin zur Namensgeberin eines psychologischen Effekts, des Martha-Mitchell-Effekts. Damit wird eine so genannte psychiatrische Fehldiagnose bezeichnet, die darin besteht, einen unglaubwürdigen bzw. schwer überprüfbaren Bericht über tatsächliche Vorgänge als wahnhaft aufzufassen.

Aus Sicht der konstruktivistischen Philosophie, der auch die modernen Neurowissenschaften zuneigen, nimmt der Mensch das Universum nicht so wahr, wie es an sich ist, sondern seine inneren Modelle der Außenwelt sind Konstruktionen seines Gehirns.

“Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluss des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare Erlebnisse und relativ verlässliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Die Möglichkeiten, so eine Ordnung zu konstruieren”, schreibt der konstruktivistische Philosoph Ernst von Glasersfeld, “werden stets durch die vorhergehenden Schritte in der Konstruktion bestimmt. Das heißt, dass die ‘wirkliche’ Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten.” (7)

Selbst dann also, wenn wir mit unseren Konstruktionen auf den Bauch fallen und aus dieser Erfahrung Lehren ziehen, bleiben wir durch unser Begriffssystem an den Rest unserer “Wahrheiten” und “Irrtümer” gebunden. Die Welt dort draußen ist zwar unabhängig davon, was wir über sie denken – dies zeigt sie uns hin und wieder mit mehr oder weniger katastrophalen Folgen -, aber was wir, angesichts solcher Demonstrationen, auf neuer Grundlage über sie denken, ist nicht unabhängig von dem, was wir bisher über sie gedacht haben. Kurz: Wir können nicht über unseren Schatten springen.

Und so ist es nicht weiter erstaunlich, dass manche auch nach dem Sturz Nixons meinten, Martha Mitchell habe zwar in Sachen Watergate weitgehend recht gehabt, meschugge sei sie aber dennoch. Schließlich hatte sie behauptet, sie sei entführt und unter Drogen gesetzt worden, um sie zum Schweigen zu bringen, was sich aber nicht beweisen ließ. Für die Freunde von Verschwörungstheorien sei hinzugefügt, dass die CIA in ihrem Gehirnwäscheprogramm MKULTRA den Einsatz von Drogen zu diesem Zweck zur Kunstform entwickelt hatte.

Go to a shrink

In den Vereinigten Staaten, dem Quellgrund der Moderne, ist man auch in Sachen “Whistleblower” schon viel weiter als bei uns. Was bei uns noch Aufmerksamkeit erregt, gar Empörung hervorruft, nämlich die Pathologisierung von Leuten, die das Maul nicht halten können, ist dort längst Routine. Hunderte von großen Unternehmen haben Psychiater als Berater auf der Gehaltsliste, deren einzige Aufgabe darin besteht, aufmüpfige Mitarbeiter für verrückt und gefährlich zu erklären (1).

“If you raise a stink, you go to a shrink!”, ist in den USA bereits ein geflügeltes Wort. Machst du Theater, musst du zum Psychiater. Eine beliebte Grundlage für diese Machenschaften sind Programme zur Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz. Wer zu viel weiß und die Klappe nicht halten kann, wird für potenziell gefährlich erklärt. Wenn er sich gegen eine psychiatrische Untersuchung wehrt, wird er entlassen. Wer zu viel weiß und die Klappe hält, wird unter Umständen ebenfalls zum Psychiater geschickt, damit man was gegen ihn in der Hand hat. Vorsicht ist bekanntlich die Mutter der Porzellankiste.

Im Öffentlichen Dienst der Vereinigten Staaten kann dieser Trick aber nicht mehr so einfach angewendet werden wie in der Privatwirtschaft. Dies verdanken die amerikanischen Angestellten im Staatssektor u. a. Don Soeken. 1978 war Soeken Chef-Sozialarbeiter der U.S. Public Health Service Outpatient Clinic in Washington D.C. Dr. Soeken war dort für die zwangsweise psychiatrische Untersuchung von Angestellten zuständig, die am Arbeitsplatz auffällig geworden waren. Er stellte fest, dass die Leute keineswegs als “psychisch krank” bezeichnet werden konnten, sondern sehr häufig Whistleblower waren. Sie wussten zu viel und konnten die Klappe nicht halten oder standen in Verdacht, dies vielleicht in Zukunft nicht zu können.

Soeken spürte den Druck, der auf ihm lastete. Die Behörden, die ihm diese Leute schickten, erwarteten von ihm, dass er sie für “psychisch krank” erklärte, damit sie die Störenfriede loswerden konnten. Doch Soeken weigerte sich, dabei mitzuwirken. Vielmehr wurde er selbst zum Whistleblower. Er wandte sich an Mitglieder des Kongresses und teilte ihnen seine Beobachtungen mit. 1984 beschloss der amerikanische Gesetzgeber, dass Bundesangestellte (mit einigen Ausnahmen) nicht mehr zu psychiatrischen Untersuchungen gezwungen werden durften. In den 90er Jahren wurde zudem eine Gesetzeslücke geschlossen. Nunmehr durften auch Angestellte der Legislative nicht mehr zwangsweise psychiatrisch diagnostiziert werden. Ausgenommen waren nunmehr nur noch Angestellte im Sicherheitsbereich (FBI, CIA, NSA u. ä.) sowie Leute, die mit toxischen Stoffen umzugehen hatten (2).

Obwohl also die Pathologisierung von Whistleblowers in den Vereinigten Staaten Routine ist, zeigen Vorstoß und Erfolg Soekens doch, dass es in diesem Lande immerhin ein Problembewusstsein gibt. Dies war bisher bei uns in Deutschland nicht der Fall. Es mag sein, es ist zu hoffen, dass der Fall “Gustl Mollath” den Anstoß zum Umdenken gibt.

Hier bin ich allerdings skeptisch. Kaum war der Mann aus dem Maßregelvollzug entlassen, legte sich das öffentliche Interesse auch schon wieder. Es wird vermutlich erneut aufflammen, wenn das Wiederaufnahmeverfahren beginnt. Danach, so prophezeie ich, wird es, wie gehabt, abflauen. Dann wird vermutlich ein Buch Mollaths erscheinen, begleitet von einigem Medienrummel, und schließlich werden sich seine Spuren im Staub des Alltags verlieren. Es würde mich sehr wundern, käme es anders.

Man meditiere über diese Konstellation: Auf der einen Seite steht ein Mensch, der Missstände, der Verstöße gegen Gesetz und Moral anprangert und auf der anderen Seite stehen die Angeprangerten sowie Gutachter, die über keine objektiven Methoden der psychiatrischen Begutachtung verfügen, und Richter, die sich auf die Expertisen dieser angeblichen Fachleute verlassen. Wie kann man da sicher sein, dass unter diesen Bedingungen dem Whistleblower Gerechtigkeit widerfährt? In den USA haben die staatlich geförderten und geforderten Programme zur Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz Tausende von Psychologen und Psychiatern in Arbeit und Brot gebracht. Gerade diesen letzten Gesichtspunkt möge man in die Meditation vorrangig einbeziehen.

Die psychiatrische Daumenschraube

  • Ein wenig wohlwollendes Entgegenkommen gegenüber den eigenen Brötchengebern wird man doch wohl erwarten dürfen? Wer wird denn in die Hände beißen, die einen nähren.
  • Der rechtschaffene Bürger ist ohnehin gut beraten, besser die Klappe zu halten. Man versucht klugerweise nicht, über Dinge mitzureden, in deren Hintergründe man nicht eingeweiht ist.
  • Wer nicht zurücksteckt, wenn man ihm die Instrumente, zum Beispiel die psychiatrische Daumenschraube, zeigt, ist selber schuld, oder etwa nicht?
  • Wenn Korruption und Erpressung die wichtigsten Steuerungsinstrumente der demokratischen Gesellschaft sein sollten, wie spitze Zunge behaupten, dann würden uns Whistleblower mit ihrem Gepfeife ohnehin nur irritieren und von Kurs abbringen.

So oder ähnlich denken viele Leute, die kein Verständnis für “Querulanten” haben, die zu viel reden und sich wichtig machen. Es mag sein, dass diese Haltung vor unliebsamen Erfahrungen schützt, die so manchem drohen, der sich nicht nur insgeheim sagt: “Das darf doch nicht sein!”, sondern der die Schändlichkeiten auch ausplaudert, die er nicht länger verleugnen zu können glaubt.

Doch es gibt auch Leute, die sich dennoch trauen, wider den Stachel zu löcken, und siehe da, manche kommen durch. Dr. Don Soeken, einer von ihnen, ist heute ein anerkannter Spezialist für die Probleme von “Nestbeschmutzern”. Da er selbst in einschlägigen Arbeitsfeldern tätig war, weiß er, wovon er spricht. Über die psychiatrischen Untersuchungen sagt er:

“The doctor will go into all the areas that could discredit a person. He’ll ask early life questions, late life questions, sexual questions, whatever he wants to ask, and then write it up and give it to the boss or law firm. Any doctor worth his salt will find something wrong, or even make up something, and if you don’t answer one of his questions, then you are uncooperative and you can be fired for that, too. What they are trying to do is put a person out on a psychiatric disability. If they succeed, you would never work again in your lifetime (6).”

Was auch immer der Psychiater über den Examinierten zu Papier bringt: Es lässt sich in aller Regel nicht objektiv überprüfen. Man könnte nur ein Gegengutachten einholen, was aber ebenso subjektiv und willkürlich wäre. Was Richtern durch den Kopf geht, die dieses Spiel seit Jahren mitmachen und Urteile auf dieser Grundlage fällen, ist mir schlicht und ergreifend schleierhaft. Ich kann die Amtsauffassung, die dahinter steht, nicht nachvollziehen.

Zum Fall “Gustl Mollath” empfehle ich die Analyse von Gabriele Wolffs Blogbeitrag: Rosenkrieg und Versagen von Justiz und Psychiatrie sowie weiterer einschlägiger Artikel in ihrer Website. Man sollte sie sehr gründlich lesen. Aus meiner Sicht lässt sich hier klar erkennen, dass die Psychiatrie den Rechtsstaat auszuhebeln vermag und dass sie an die Kandare genommen werden muss. Das Problem ist nicht auf den Fall “Gustl Mollath” beschränkt und es handelt sich auch nicht um ein deutsches Phänomen.

Wir haben es hier mit einem weltweiten Webfehler aller politischer Systeme zu tun, die sich auf Volkssouveränität berufen. Durch die Psychiatrie wird ein absolutistischer Zug in das gesellschaftliche Leben hineingetragen. Ludwig XIV. sagte: “Die Staatshoheit ist die gegenüber den Bürgern und Untertanen höchste und von den Gesetzen gelöste Gewalt.” Dies trifft teilweise auch heute noch weitgehend zu, nämlich auf das Verhältnis zwischen einem zwangsweise und stets willkürlich in die Psychiatrie eingekerkerten Menschen und seinen Ärzten. Jährlich werden rund 200.000 Menschen in Deutschland gegen ihren Willen in der Psychiatrie untergebracht.

Der Fall “Gustl Mollath” zeigt eindrucksvoll, wie leicht man in die geschlossene Psychiatrie kommen kann. Wer einflussreiche Feinde hat, lebt gefährlich. Wer dazu neigt, gelegentlich aus der Reihe zu tanzen, aus der Rolle zu fallen, als berechtigt geltende Erwartungen nicht zu erfüllen, muss sich besonders vorsehen. Ein Ehepartner, der einen loswerden will, kann zum Verhängnis werden. Wer aber zu viel und zu offen über Missstände in seinem oder in einem ihm sonstwie bekannten Unternehmen spricht, steht schon mit einem Bein in der Psychiatrie.

Und zwar weltweit: Eine australische Studie beispielsweise ergab, dass 30 Prozent der Frauen und 40 Prozent der Männer mit Whistleblower-Ambitionen von ihren Arbeitgebern zu einer psychiatrischen Untersuchung gezwungen wurden. Im Durchschnitt mussten sie drei verschiedene Psychiater aufsuchen, bis endlich das Gutachten zur Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber ausfiel. 30 Prozent der Betroffenen empfanden die Psychiaterbesuche als hilfreich und 70 Prozent als Besorgnis erregend (3).

Die Psychiatrisierung ist eine ausgezeichnete Methode, um  so genannte Nestbeschmutzer zu diskreditieren und kaltzustellen. Wenn man ihnen fachliche Fehler unterstellt, so muss man dies, wenn’s hart auf hart kommt, nachweisen; dumm nur, dass Whistleblowers in aller Regel Angestellte sind, denen man nichts vorwerfen kann. Unterstellt man ihnen, sie hätten sich nicht kollegial verhalten oder den Betriebsfrieden gestört, so braucht man Zeugen, die bereit sind auszusagen. Dumm nur, dass man zwar leicht Leute dazu anstiften kann, missliebige Kollegen zu mobben, schwieriger wird es dann aber schon, jemanden dazu zu bewegen, mit einer Aussage Verantwortung zu übernehmen. Und so ist die Psychiatrie mit Sicherheit die eleganteste Lösung.

Und dies nicht nur, weil man sich dadurch der leidigen Beweisfrage entledigt – schließlich müssen psychiatrische Diagnosen nicht bewiesen werden, es reicht die subjektive Meinung des Diagnostikers – sondern auch, weil der einmal zum psychiatrischen Fall Erklärte kaum eine Möglichkeit hat, durch sein Verhalten das Gegenteil unter Beweis zu stellen. Wenn er all die Symptome, die angeblich für seine “psychische Krankheit” charakteristisch sind, nicht zeigt, so kann der diagnostizierende Psychiater immer noch behaupten, der Whistleblower dissimuliere diese Symptome nur und dies beweise, wie schwer erkrankt er sei. Mitunter gelingt es zwar, einen Richter mit einem Gegengutachten zu verunsichern; aber über einem Richter ist der blaue Himmel und dort oben thront der liebe Gott: Was die beiden miteinander zu besprechen haben und was dabei dann herauskommt: Wer kann es wissen?

Für die hohe Politik, die für die Wahrung von Ruhe und Ordnung zuständig ist, könnte kein anderes Procedere willkommener sein. Der psychiatrisch-juristische Komplex ist wie für sie erfunden und geschaffen. Falls der Whistleblower sehr viel Staub aufzuwirbeln drohte, treffen sich die Koryphäen aus Wirtschaft, Psychiatrie, Justiz und Politik nach getaner Tat im Wohltätigkeitsclub unter Freunden und lassen die Ereignisse Revue passieren. So läuft das Spiel. Wenn sich alle Beteiligten perfekt die Bälle zugespielt haben, sind die nicht involvierten Freunde voll des Lobes; und wenn nicht alles so glatt lief, wie es wünschenswert gewesen wäre, dann halten sie sich vornehm zurück und geben den Akteuren Gelegenheit zur Manöverkritik. Falls sich später Nachwirkungen in bisher noch nicht betroffenen Bereichen zeigen sollten, so ist dies in der Regel auch kein großes Problem, denn Clubfreunde fühlen sich zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet.

Schattenpolitik

Seitdem sich die moderne Psychiatrie als Herrschaftsinstrument in Form einer medizinischen Spezialdisziplin im 19. Jahrhundert konstituierte, ist sie eine tragende Säule der Schattenpolitik in demokratischen Gesellschaften. Es nimmt daher ja auch nicht wunder, dass ihre Beziehungen zu Geheimdiensten, militärischen Spezialeinheiten und organisierter Wirtschaftskriminalität sowie zu allerlei gesellschaftlichen Organisationen mit dunklen Hinterhöfen stets nichts zu wünschen ließen – aus Sicht der Spitzen dieser Gesellschaften. Ob es nun galt, in Stahlgewittern traumatisierte Soldaten mit schmerzhafter Elektrizität an die Front zurückzufoltern oder ob es galt, mit Gehirnwäschemethoden willenlose mentale Sklaven für den Kalten Krieg zu dressieren, ob es galt, Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten unschuldiger Menschen zu legitimieren, ob es galt, die Prosperität der Pharmaindustrie zu sichern – stets stand die Psychiatrie Gewehr bei Fuß, um den Leidenden zu helfen, und sei es auch durch Zwang.

Was also kann getan werden, um diesem gemeingefährlichen Unfug Einhalt zu gebieten? Eine Abschaffung der Psychiatrie, so vernünftig sie auch wäre (denn es gibt ja die “Krankheiten” gar nicht, die diese Disziplin “behandelt”), steht natürlich nicht auf der Tagesordnung, zumal ja viele Leute eine psychiatrische Behandlung wünschen und somit in einer freien Gesellschaft auch ein Recht darauf haben. Kurzfristig wäre allerdings zu fordern, psychiatrische Diagnosen zu verbieten. Sie haben nämlich keinen Nutzen, fügen den Patienten u. U. aber erheblichen Schaden zu.

Die Schatten der Diagnostik

Die britische Psychotherapeutin und Autorin Lucy Johnstone schreibt im Blog “Mad in America“:

“We have known for a long time that terms such as ‘schizophrenia’ are scientifically meaningless. They are not actually ‘diagnoses’ in a medical sense, since they are not based on patterns of bodily symptoms or signs. Instead, the criteria consist of a ragbag of social judgements about people’s thoughts, feelings and behaviour. The people who are so labelled may well have difficulties and be in urgent need of help, but this is not the way to help them.”

Es handelt sich bei diesen Diagnosen nicht um medizinische Konzepte, sondern um ein Sammelsurium sozialer Urteile über die Gedanken, Gefühle und das Verhalten von Leuten. Daher ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass diese Diagnosen nicht valide sind. Es gibt keine Möglichkeit, sie mit objektiven Verfahren zu überprüfen. Wenn man also einen Whistleblower für “psychisch krank” erklärt, so kann dieser weder das Gegenteil beweisen, noch kann er fordern, man möge diese Diagnose doch durch Labortests oder andere harte, naturwissenschaftliche Methoden erhärten.

Lucy Johnstone fährt fort:

“‘Diagnosing’ someone with a devastating label such as ‘schizophrenia’ or ‘personality disorder’ is one of the most damaging things one human being can do to another. Re-defining someone’s reality for them is the most insidious and the most devastating form of power we can use. It may be done with the best of intentions, but it is wrong  – scientifically, professionally, and ethically.”

Eine psychiatrische Diagnose gehört zu den schlimmsten Dingen, die ein Mensch einem anderen antun kann, stellt die britische Psychologin fest. Und ich möchte im Hinblick auf die Causa Mollath noch hinzufügen, dass dies besonders auf Psychodiagnosen zutrifft, die mit einer Gefährlichkeitsprognose verbunden sind (deren Treffsicherheit bekanntlich auf dem Niveau der Glaskugelschau liegt). Wenn ein Whistleblower also durch einen Diagnostiker als “psychisch krank und gefährlich” eingestuft und wenn diese Diagnose von einem Gericht bestätigt wurde, so ist er fast immer definitiv erledigt; die Verursacher der Missstände, die er anprangerte, können aufatmen.

Was also tun?

“We already have a situation where the strongest defence of DSM (3) is: ‘We know it’s flawed, but it’s the best we have  – what could we do instead?’ The simple answer is, ‘Stop diagnosing people.’ This would at a stroke render redundant all the well-meaning but (as research shows) ineffective campaigns to reduce the stigma of ‘mental illness’.”

Mit dem Diagnostizieren aufzuhören, könnte nicht nur den durchschlagenden Erfolg zur Entstigmatisierung von Menschen mit psychischen Problemen bringen, der allen gut gemeinten Kampagnen bisher versagt blieb. Dadurch würde es auch unmöglich gemacht, Whistleblower mit einem Stempel zu versehen, der ihre Glaubwürdigkeit untergräbt, ja, vernichtet.

Was an die Stelle der psychiatrischen Diagnose treten könnte, beschreibt Lucy Johnstone in einem weiteren Eintrag in das Blog “Mad in America“. Sie schlägt anstelle der Diagnose eine gründliche Beschreibung der Problemlage vor und gibt hierzu ein Beispiel:

“You had a happy childhood until your father died when you were aged 8. As a child, you felt very responsible for your mother’s happiness, and pushed your own grief away. Later your mother re-married and when your stepfather started to abuse you, you did not feel able to confide in anyone or risk the break-up of the marriage. You left home as soon as you could, and got a job in a shop. However, you found it increasingly hard to deal with your boss, whose bullying ways reminded you of your stepfather. You gave up the job, but long days at home in your flat made it hard to push your buried feelings aside any more. One day you started to hear a male voice telling you that you were dirty and evil. This seemed to express how the abuse made you feel, and it also reminded you of things that your stepfather said to you. You found day-to-day life increasingly difficult as past events caught up with you and many feelings came to the surface. Despite this you have many strengths, including intelligence, determination and self-awareness, and you recognise the need to re-visit some of the unprocessed feelings from the past.”

Weil diese hypothetische Patientin eine Stimme hört, die sonst niemand hört und weil diese Stimme sie entwertet, würde die konventionelle psychiatrische Diagnose in diesem Fall vermutlich “Schizophrenie” lauten. Nun stellen wir uns vor, der erwähnte Stiefvater lebe noch und erführe von den Anschuldigungen gegen ihn. Er müsste nun nur behaupten, diese seien das Ergebnis eines Wahns, entbehrten jeder Grundlage und außerdem habe seine Stieftochter ihn unlängst mit einem Messer bedroht. Dann stünde diese Patientin schon mit einem Bein in der geschlossenen Psychiatrie, es sei denn, sie hätte eine aggressive feministische Gruppe zur Seite, die für sie Stimmung macht. So läuft das Spiel heutzutage. Falls der Stiefvater in einem einschlägigen Wohltätigkeitsverein wäre, dann würde auch die Frauengruppe nicht mehr viel ausrichten können.

Die von Lucy Johnstone vorgeschlagene, kontextbezogene Beurteilung eines Menschen mit psychischen Problemen wäre sicherlich ein Fortschritt gegenüber Diagnosen nach DSM oder ICD (5). Aber allein durch den Verzicht auf bestimmte Begriffe wie “Schizophrenie” oder “posttraumatische Belastungsstörung” schafft man ja noch nicht die Vorurteile aus der Welt, die sich mit diesen Diagnosen verbinden – zum Beispiel jenes, das den “Schizophrenen” eine besondere Gefährlichkeit attestiert. Auch wenn das Wort selbst, der diagnostische Terminus politisch nicht mehr korrekt wäre und vermieden würde wie in anderen Bereichen “Neger”, so könnte doch jeder herauslesen, was zwischen den Zeilen steht.

Daher lehne ich auch diese entschärfte Variante der psychiatrischen Diagnose, die Lucy Johnstone propagiert, entschieden ab. Wer beispielsweise zu einem Fahrlehrer geht, weil er noch nicht Auto fahren kann, der braucht ja auch nicht die ausführliche Beschreibung der Geschichte und der momentanen Erscheinungsformen seiner Fahruntüchtigkeit, um Fahren lernen zu können. Und wer irgendein psychisches Problem überwinden will, der benötigt auch keine Diagnose seines momentanen Zustandes. Vielmehr gilt es, Ziele zu definieren und die Wege und Mittel auszuwählen, die zur Verwirklichung der Ziele beschritten bzw. angewendet werden sollen. Das reicht völlig. Will einer mehr, dann möge er zur Astrologin gehen.

Wer Ruhe und Ordnung bewahren will, wird mit dieser Lösung u. U. nicht zufrieden sein, denn zur Ausgrenzung von Störern eignen sich so bestimmte Ziele nicht, nicht wirklich; Horoskope erst recht nicht. Der Bürger muss sich fragen, ob er auf solcherart Ruhe und Ordnung, für deren Aufrechterhaltung man psychiatrische Diagnosen braucht, tatsächlich Wert legt.

Wer bei dieser Frage an wutschäumende, messerstechende, unbelehrbare Irre denkt, wird womöglich geneigt sein, sie spontan zu bejahen – er sollte sich dann aber auch klarmachen, dass Fälle wie Gustl Mollath immer und immer wieder auftreten werden, solange psychiatrische Diagnosen legal sind. Wer brav seine Steuern bezahlt und unter ihrer Last ächzt, wird es vielleicht nicht so gern sehen, wenn mutige Steuerfahnder (Beispiel:  Rudolf Schmenger) psychiatrisiert werden.

Wer solche Fälle beklagt, sollte sich klarmachen, dass es nur eine konsequente Lösung für dieses Problem gibt: die Abschaffung der psychiatrischen Diagnostik. Es darf keinem Psychiater mehr erlaubt werden, Menschen als “psychisch krank” einzustufen. Solche Diagnosen sind subjektive Meinung, sonst nichts. Es ist kein Beweis, wenn sich andere Psychiater finden, die derartige Einschätzungen bestätigen. Auch wenn ein Richter sie als plausibel empfindet, so sind sie dennoch aus der Luft gegriffen. Man sollte die Übereinstimmung von Vorurteilen nicht mit Tatsachen verwechseln.

Anmerkungen

(1) Butts, D. (2003). How Corporations Hurt Us All. Victoria, B.C.: Trafford

(2) Whistleblower.org, Bridging the Gap, Summer 2009

(3) Lennane, J. (2012). What Happens to Whistleblowers, and Why. Social Medicine, Volume 6, Number 4, May 2012

(4) Diagnostic Statistical Manual of Mental Disorders

(5) Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, Liste der psychischen und Verhaltensstörungen

(6) zitiert in: Murphy, M. P. (2004). The Government. Lincoln, NE: iUniverse

(7) von Glasersfeld, E. (1984). Einführung in den radikalen Konstruktivismus, in: Paul Watzlawick (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit. München: Piper

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30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich

Wohlmeinende Menschen, meist Ökonomie-Professoren, aber auch ein paar Gewerkschaftsfunktionäre, Politiker und andere Gesinnungsverstreute, haben sich zu Beginn dieses Jahres zusammengeschlossen und in einem offenen Brief an diesen und jenen Unerhörtes gefordert: die Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich.

Absurd, hieß es postwendend es aus Kreisen der Verursacher von Massenarbeitslosigkeit in unserem Land, sei dieser Vorschlag. Er ist es nicht, im Gegenteil: Wer das Ziel der Vollbeschäftigung ernst nimmt, muss sich hinter diese Forderung stellen. Denn nichts anderes würde funktionieren. Doch dies sei nur am Rande erwähnt, weil es nicht das Thema meines heutigen Tagebucheintrags ist.

Ein wesentliches Argument, das die wohlmeinenden Menschen zur Untermauerung ihres Appells ins Spiel bringen, ist die rapide Zunahme psychischer und psychosomatischer Störungen sowohl bei denen, die Arbeit haben, als auch bei denen, die arbeitslos sind. In den Unternehmen steigt der Leistungsdruck, Menschen sorgen sich zunehmend um den Erhalt ihres Arbeitsplatzes; und die Arbeitslosen verfallen, mit jedem Tag ohne Beschäftigung in steigendem Maß, der Verzweiflung und schließlich düsterer Apathie. Diese Phänomene, so heißt es in dem offenen Brief, begünstigten ein unterwürfiges Verhalten bei Arbeitsplatzbesitzern und Stellensuchenden gleichermaßen.

Der psychiatrisch-pharmakologische Komplex hat also alle Hände voll zu tun. Die Nachfrage nach leistungssteigernden Mitteln einerseits und nach beruhigenden und stimmungsaufhellenden Medikamenten andererseits steigt beständig. Wer sich mit Pillen nicht begnügen will, begibt sich in eine Psychotherapie, um sich für den kapitalistischen Alltag wieder fit zu machen oder zu stählen.

Mit anderen Worten: Menschen, denen eine Daumenschraube angelegt wurde, verlangen nach Mitteln, die ihre Pein lindern, ihren Durchhaltewillen stärken oder nach tröstenden Worten, die sie moralisch aufrüsten sollen. Hier von “Krankheit” und “ärztlicher Behandlung” zu sprechen, ist aus meiner Sicht infam oder gedankenlos oder infam gedankenlos bzw. gedankenlos infam. Der Wirt um die Ecke erfüllt dieselbe Funktion wie dieses Psycho-System, nur nicht auf Krankenschein.

Die neoliberale Verschärfung des Kapitalismus, die zunehmende Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen unter diesem Wirtschaftssystem einerseits und die Pathologisierung der natürlichen Reaktionen auf diese inhumanen Tendenzen andererseits sind zwei Seiten einer Medaille. Eins greift ins andere.

Menschen werden durch die entsprechende Propaganda der Mainstream-Medien nachgerade dazu dressiert, sich als “psychisch krank” zu empfinden, wenn sie dem Druck nicht mehr standhalten – und die Psychiatrie kanalisiert den Strom der Leidenden, der unter diesem Druck Leidenden auf ihre Mühlen; sie schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: der Widerstand gegen dieses Wirtschaftssystem wird durch Pillen und gute Worte minimiert und zugleich verdient man auch recht ordentlich an dieser wachsenden Zahl von Kunden.

Auch die neoliberale Ideologie, dass es dem Tüchtigen an nichts fehle und nur den Faulen die gerechte Strafe für seinen mangelnden Einsatzwillen ereile, trägt ihr Schärflein zur Formung des Massenverhaltens im Sinne der Nutznießer neoliberaler Wirtschaftspolitik bei.

Wer sich diese Ideologie eintrichtern lässt, der sieht die Schuld für jede Misere zunächst bei sich, in der eigenen Seele. Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der Marketingstrategen des psychiatrisch-pharmakologischen Komplexes und seiner “Spin-Doctors” in der Politik.

Die Zusammenhänge sind im Grunde leicht zu durchschauen; man muss kein Soziologe, kein Ökonom, man muss noch nicht einmal besonders scharfsinnig sein, um zu erkennen, wohin der Hase läuft. Doch Menschen, die unter erheblichem Stress stehen, erleiden massive Einbußen an Kritikfähigkeit, besonders dann, wenn wunde Punkte berührt werden: Die mit dem Arbeitsplatz verbundene Selbstwertproblematik ist ein solcher wunder Punkt.

Bei einer zunehmenden Zahl von Menschen entspricht die “psychische Krankheit” dem Selbstbild besser als der solidarische Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Viele begreifen noch nicht einmal, dass alles auf diese Alternative hinausläuft.

Darum werden sich manche, die unter Druck stehen, vielleicht noch für die Idee wohlmeinender Menschen, die Arbeitszeit auf 30 Stunden zu verkürzen, erwärmen können; dass dies aber keine wirklich effektive Lösung ist, wird ihnen nicht einsichtig sein.

Neben der reduzierten Kritikfähigkeit ist noch ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen, wenn man diese Begriffsstutzigkeit verstehen will. In einem Aufsatz mit dem Titel “Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Einkommens für alle” schreibt der Psychoanalytiker Erich Fromm bereits 1970:

“Tatsache ist jedoch, dass die meisten Menschen psychologisch immer noch in den ökonomischen Bedingungen des Mangels befangen sind, während die industrialisierte Welt im Begriff ist, in ein neues Zeitalter des ökonomischen Überflusses einzutreten. Aber wegen dieser psychologischen ‘Phasenverschiebung’ sind viele Menschen nicht einmal imstande, neue Ideen wie die eines garantierten Einkommens zu begreifen, denn traditionelle Ideen werden gewöhnlich von Gefühlen bestimmt, die ihren Ursprung in früheren Gesellschaftsformen haben.”

Sie erinnern sich vielleicht, dass ich mich zu Beginn dieses Tagebucheintrags mit folgender Äußerung zum hier diskutierten Vorschlag wohlmeinender Menschen äußerte:  ”Wer das Ziel der Vollbeschäftigung ernst nimmt, muss sich hinter diese Forderung stellen. Denn nichts anderes würde funktionieren.”

Dabei bleibe ich auch; stelle allerdings Frage, ob dieses Ziel tatsächlich erstrebenswert ist. Selbstverständlich wäre Vollbeschäftigung besser als der gegenwärtige Zustand, der Arbeitslose und Beschäftigte (von wenigen Ausnahmen abgesehen) gleichermaßen demütigt. Aber hieße dieses Ziel zu verfolgen nicht, der Wirtschaft und den Menschen Fesseln anzulegen, die angesichts der Produktivität in fortgeschrittenen Industriegesellschaften unnötig sind?

Es steht für mich völlig außer Frage, dass ein garantiertes Einkommen die Zahl psychisch und psychosomatisch “Erkrankter” dramatisch senken würde, im Gegensatz zur Einführung der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich. Denn die letztgenannte Lösung würde viele Unternehmer dazu inspirieren, sich für die damit verbundene (schon mittelfristig aber nur eingebildete) finanzielle Einbuße dadurch schadlos zu halten, dass man den allerletzten Tropfen aus der Zitrone herauszupressen versucht. Kurz: Die Daumenschraube würde noch schärfer angezogen, wo immer dies verwirklicht werden kann.

Unter den Bedingungen eines garantierten Einkommens aber wäre niemand gezwungen, unter unwürdigen Bedingungen in einem Job auszuharren, um sich den demütigenden Gang zum Arbeitsamt oder gar das Hartzen zu ersparen. Führte dies zu einer Verknappung des Arbeitskräfteangebots, so wäre dies nicht etwa schlecht, sondern gut. Denn dann würden die Löhne steigen und damit auch die dringend benötigte Binnennachfrage nach Konsumgütern.

Es ist ein Irrglaube, dass Vollbeschäftigung angesichts des technischen Fortschritts immer noch ein notwendiges volkswirtschaftliches Ziel wäre. Wenn heute vielleicht noch Vollbeschäftigung durch Arbeitszeitverkürzung auf dreißig Stunden möglich ist, so wären es morgen u. U. 25, übermorgen 20. Das ist keine sinnvolle Perspektive.

Wir brauchen flexible Arbeitszeiten, so oder so. Ein garantiertes Einkommen wäre auch ein Garant für diese Flexibilität. Jeder könnte, bei entsprechender Nachfrage, nach Lust und Laune arbeiten, und fiele nicht in ein finanzielles Loch, wenn kein Interesse an seiner Arbeit bestünde oder wenn er gerade etwas anderes im Sinn hätte, als zu arbeiten.

Die kostspielige, ineffiziente und für den “Kunden” entwürdigende “Arbeitsverwaltung” (Arbeitsagentur, Jobcenter) könnte in ihrer jetzigen Form verschwinden. Das Abrücken vom antiquierten Ziel der “Arbeit für alle” würde auch die Psychiatrie entlasten, weil nämlich wesentliche Anreize für stressbedingtes Self-Handicapping entfielen.

Im Kern verbergen sich hinter den so genannten psychischen Krankheiten oft irrationale Ideen, die in kritikwürdigen gesellschaftlichen Verhältnissen bzw. in den sie rechtfertigenden Ideologien wurzeln. Niemand muss “psychisch krank” werden; er wird es allenfalls, wenn er das System nicht durchschaut, dass ihn in eine miserable und schwierig zu bewältigende Lage gebracht hat.

Wer beispielsweise eine Depression nur simuliert, anstatt sich diese Rolle innerlich anzuverwandeln, wird dennoch krankgeschrieben. Dies sollte jeder bedenken, der eine Auszeit bei einem beschissenen Job unbedingt braucht. Allerdings gilt es auch, sich die Risiken und Nebenwirkungen einer solchen Diagnose vor Augen zu führen. Sie sind gravierend; man ist damit u. U. fürs Leben gezeichnet. Daher halte ich es im Regelfall nicht für ratsam, sich in diese Richtung treiben zu lassen.

Aus Sicht der Profiteure neoliberaler Politik mögen die Forderungen nach der 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich oder gar nach einem garantierten Einkommen absurd sein; sie sind dies aus dieser Sicht aber nur, weil die Großaktionäre nicht für die Folgeschäden neoliberaler Politik im Besonderen und des Kapitalismus im Allgemeinen aufkommen müssen. Die Zeche zahlen immer diejenigen, die sich nicht dagegen wehren können oder wollen.

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Mobbing

“Der Mensch ist des Menschen Wolf!”

Dieser Satz wird meist dem neuzeitlichen Philosophen Thomas Hobbes zugeschrieben. Erstmals aufgeschrieben wurde er jedoch von dem antiken Komödiendichter Plautus. Diese Erkenntnis dürfte vermutlich älter sein, denn die niederträchtige Behandlung des Mitmenschen gehört vielleicht nicht zum Wesen des Menschen, ist aber ein Charakteristikum der aufgezeichneten menschlichen Geschichte. Und daher ist auch das Mobbing kein neues Phänomen. Nur der Name ist neu. In meiner Jugend nannte man es Schikane.

Mobbing ist englisch und kommt von “Mob”, die Meute. Die Meute, schreibt der Nobelpreisträger, Romancier und Kulturphilosoph Elias Canetti in seinem Werk “Masse und Macht”, ist die älteste Form der Vergesellschaftung von Menschen. Sie war schon immer da, lange bevor es die Massen gab. Die natürlichste und älteste Art der Meute sei die Jagdmeute. Sie bildet sich, wenn ein Tier, das der Einzelne nicht oder nur schwer erlegen kann, getötet werden soll. Etwas jünger und mit der Jagd-Meute verwandt ist die Kriegsmeute. Sie setzt eine zweite Meute aus Menschen voraus, gegen die sie sich richtet.

Da sich das Mobbing fast immer gegen eine Einzelperson wendet, ist der Mob im Sinne des Mobbings der archaischen Form der Meute zuzurechnen. Es geht darum, einen Menschen aus der Firma zu ekeln. Für das archaische Unbewusste bedeutet dies, ihn zur Strecke zu bringen, ihn auszulöschen. Tiefenpsychologisch betrachtet, ist das Mobbing dem Lynchen verwandt.

Manche halten ihr Unternehmen zwar für einen Dschungel, damit aber täuschen sie sich. Ein Unternehmen ist ein strukturierter Ablauf menschlicher Aktivität auf rechtlicher Grundlage und durch eine Hierarchie gekennzeichnet. In einem Unternehmen streifen keine halbnackten, blutrünstigen Horden durch die Wildnis – stets bereit anzugreifen oder zu flüchten, zu fressen und gefressen zu werden.

Wenn in einem Unternehmen ein Mob eine Einzelperson zu vernichten trachtet, dann geschieht dies im Verantwortungsbereich einer Unternehmensführung. Diese kann den Beutezug stoppen, die Augen davor verschließen, ihn behindern, fördern oder auch dazu anstiften. Mobbing unterliegt nicht dem Gesetz des Dschungels, sondern es hängt von den Entscheidungen und Unterlassungen übergeordneter Instanzen ab.

Mobbing kann Menschen seelisch vernichten. Es ist daher kein Gesellschaftsspiel und auch kein legitimes Instrument zum kostengünstigen Personalabbau. Betroffene haben ein moralisches Recht zur Gegenwehr. Dieses moralische Recht muss besonders betont werden. Denn in einer demokratischen Gesellschaft neigen wir dazu, den Einzelnen im Unrecht zu wähnen, wenn sich eine Mehrheit bewusst gegen ihn stellt. Dies ist allerdings falsch, denn man kann, wie uns die Erkenntnistheoretiker lehren, über die Wahrheit nicht abstimmen. Abstimmungen sind kein legitimes Beweisverfahren.

Die moralische Beurteilung fällt grundsätzlich nicht im Sinne der Mobber aus. Die Hetzjagd auf einen Einzelnen ist prinzipiell kein akzeptables Mittel der Auseinandersetzung in einem Unternehmen. Diese Bewertung ist unabhängig von den persönlichen Merkmalen und Taten des Betroffenen und von den Motiven bzw. Umständen der Täter. Wer also mobbt, setzt sich selbst ins Unrecht und hat sein Recht auf eine faire Behandlung verspielt. Das Opfer hat das moralische Recht auf seiner Seite, wenn es sich skrupellos zur Wehr setzt. Die Gegenwehr sollte, falls möglich, noch gewissenloser sein, noch heimtückischer und verschlagener als die Angriffe. Mobbing ist der falsche Zeitpunkt für christliche Linke-Wanke-rechte-Wange-Spielchen.

Formen des Mobbings

Wenn es um Gemeinheiten geht, kennt die menschliche Erfindungsgabe offenbar kaum Grenzen. Dies gilt auch und besonders fürs Mobbing. Die folgenden Beispiele ließen sich beliebigt vermehren:

  • Dem Opfer werden Fehler angekreidet, die ihm gar nicht unterlaufen sind
  • Es wird in Gegenwart von anderen Mobbern, aber ohne sonstige Zeugen für dumm und unzurechnungsfähig erklärt
  • Es wird sozial isoliert; man zeigt ihm die kalte Schulter
  • Ihm werden Verstöße gegen Regeln vorgeworfen, an die sich sonst niemand hält
  • Die Täter streuen rufschädigende Gerüchte über das Mobbing-Opfer
  • Bisher Unbeteiligte werden ermutigt, sich gegen das Opfer zu wenden
  • Die Leistungen des Opfers werden – vor allem gegenüber Vorgesetzten – wahrheitswidrig entwertet
  • Seine Arbeit wird sabotiert, Zusagen werden nicht eingehalten
  • Ihm werden Leistungsziele vorgegeben, die es unmöglich erfüllen kann.

Prinzipien der Verhaltensänderung

Mobbing, die systematische Schikane am Arbeitsplatz durch Kollegen und/oder Vorgesetzte, ist eine ernsthafte Bedrohung Ihrer Karriere, Ihrer psychischen Gesundheit und sogar Ihres Lebens. Daher ist es unbedingt erforderlich, so früh wie möglich Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Mobbing kann jeden treffen, zumeist aber richtet es sich gegen Mitarbeiter, die sich aus Sicht der Mobber nicht wehren können. Mobbing findet nicht selten mit stillschweigender Duldung, mitunter sogar Förderung durch die Führungsebene statt. Wird demgegenüber das Mobbing durch die Unternehmensleitung aktiv bekämpft, sinkt die Wahrscheinlichkeit des Mobbings erheblich. Nicht selten dürfte es genügen, wenn der Chef bzw. ein hochrangiger Mitarbeiter den Gemobbten “vor versammelter Mannschaft” aufrichtig lobt oder in Schutz nimmt.

Die Mobber können psychologisch motiviert sein oder wirtschaftliche Interessen verfolgen. Zu den psychologischen Motiven zählen Sadismus oder Weitergabe von Druck bei Überlastung. Wirtschaftliche Motive sind u. a. Konkurrenzkampf oder das Erzwingen einer “kostengünstigen” Kündigung.

Mobbing kann nicht durch “Diplomatie” oder Kompromisse überwunden werden. Betroffene sind das Opfer einer im Grunde kriminellen Attacke und müssen sich mit aller Entschlossenheit dagegen wehren. Es gilt, Ruhe zu bewahren, sich nichts anmerken zu lassen, die Situation gründlich zu analysieren und gezielt zurückzuschlagen.

Wichtige Schritte zur Verhaltensänderung

  • Analyse Ihrer Innenwelt: Was bewirkt das Mobbing bei Ihnen? Welche Einstellung haben Sie gegenüber den Mobbern? Wie wirkt sich das Mobbing auf Ihr Selbstwertgefühl aus? Welche psychischen Energien und Fähigkeiten stehen Ihnen zur Bekämpfung der Mobber zur Verfügung?
  • Analyse der Außenwelt: Wer sind die Mobber? Welche Macht haben sie? Welche Motive verfolgen sie? Wo sind ihre Schwachstellen? Wer unterstützt sie? Mit wem könnten Sie sich gegen sie verbünden?
  • Entwicklung einer Strategie zur Beendigung des Mobbings
  • Motivierung zur Gegenwehr durch “kriegerische” Auto-Suggestionen

Hier darf man keine halben Sachen machen. Wer den Gegner nicht “vernichtet”, ihm das Mobben also für alle Zeiten verleidet, hat vielleicht, nach einem halbherzigen Gegenschlag, vorübergehend Ruhe; aber bei der nächstbesten Gelegenheit entbrennen die Attacken wieder in voller Stärke. In solchen Augenblicken gibt es zwischen Sieg und Niederlage nur das schiere, gähnende Nichts.

Mobbing: Tactics and Strategy

Nicht jede Gemeinheit und Grausamkeit am Arbeitsplatz ist Mobbing. Jeder ist einmal ungerecht – und manche Kollegen können wir aus realen oder unerfindlichen Gründen nicht leiden. Wir sind dann vielleicht nicht immer so freundlich und kollegial, wie man dies mit Fug und Recht von uns erwarten könnte. Das ist betrieblicher Alltag – und wer das nicht ertragen kann, der ist einfach zu gut für unsere Welt.

Mobbing ist etwas anderes als das Abladen von Frust bei Leuten, die nichts dafür können. Die Schlüssel-Merkmale des Mobbings sind Absicht und Wiederholung. Die Attacken der Mobber sind nicht spontan, keine Ausgeburten von schlechter Laune oder mangelnder Selbstdisziplin bzw. Herzensbildung. Die Angriffe der Mobber sind wohlerwogen und oft geplant. Häufig stimmen sich die Mobber ab wie eine Hetzmeute. Und die Angriffe werden regelmäßig wiederholt. Sie sollen wirken wie der stete Tropfen, der den Stein höhlt. Das ist die Strategie der tausend Nadelstiche.

Ein weiteres Kennzeichen des Mobbings ist die Tarnung. Die Gemeinheiten werden so verwirklicht, dass kein unbeteiligter Zeuge die Täter belasten könnte. In aller Regel ist jeder, der bei einer Mobbing-Attacke anwesend ist, auch in das Komplott verstrickt. Mobbing ist also eine Form der Verschwörung.

In fast allen Fällen besteht das übergeordnete Ziel des Mobbings darin, das Opfer aus der Firma zu treiben. Mitunter gibt man sich auch mit geringeren Zielen zufrieden, wenn beispielsweise verhindert werden soll, das der Gemobbte befördert wird. Dies ist auch der Grund, warum Mobbing fast immer mit stillschweigender (eventuell auch offener) Duldung durch die Unternehmensleitung erfolgt. Keine Unternehmungsleitung hat es nämlich gern, wenn die Belegschaft auf eigene Faust Personalpolitik betreibt. Hat es beim Mobbing den Anschein, als sei das Management dagegen, aber hilflos, so trügt dieser in aller Regel. Hier gilt der Leitsatz der Verschwörungstheoretiker: “Nichts ist, was es zu sein scheint!”

Giftige Unternehmen

Warum dulden manche Unternehmen das Mobbing oder stiften gar dazu an? Sicher, es gibt rationale Gründe. Mobbing ist mitunter ein effektives Mittel, “überflüssige” Arbeitnehmer ohne Abfindung loszuwerden. Manche Unternehmer lassen Mobbing auch zu, damit Arbeitnehmer Dampf ablassen können, einen Sündenbock haben und ihre Wut nicht gegen die Unternehmensführung richten.

Da Mobbing aber das Betriebsklima und damit die Arbeitsmoral untergräbt und manchen Angestellten mehr Macht gibt, als ihnen gut tut, verursacht Mobbing im Schnitt mehr Schaden als Nutzen. Meist ist es also keineswegs rational, Mobbing zu akzeptieren oder gar zu fördern. Der Grund dafür, dass es häufig dennoch geschieht, ist m. E. eine vergiftete Atmosphäre, die Mitarbeiter und Führungskräfte erfasst hat. Sie zeichnet sich u. a. durch folgende Merkmale aus:

  • Weit verbreiteter Ärger und tief sitzende Frustrationen
  • Wer mobbt, wird bewundert, der Gemobbte lächerlich gemacht
  • Die Arbeitsabläufe sind dysfunktional, die organisatorischen Strukturen sind “pathologisch”
  • Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind auf allen und zwischen allen Ebenen der Hierarchie gestört
  • Die für Unbeteiligte ins Auge springenden Probleme des Unternehmens werden verleugnet, Außenstehenden wird eine heile Welt vorgegaukelt
  • Die Kontrollsysteme sind unsensibel und ineffektiv

Diese Atmosphäre ist in aller Regel das Produkt gravierender Fehlhaltungen des Managements: Ihm ist der Profit wichtiger als die Menschen, es denkt kurzfristig, es ist mental Lichtjahre von den Mitarbeitern entfernt und es neigt dazu, Arbeitnehmerrechte mit Füßen zu treten. Hier ist meist ein Managertyp am Werke, der sich jede Neigung zur menschlichen Bindung im Unternehmen wegtrainiert hat, der dies aber hinter einer Fassade professioneller Freundlichkeit, aus der mitunter die Krallen gehässiger Ironie hervorbrechen, mehr oder weniger geschickt verbirgt.

Globalisierter Turbo-Kapitalismus

In ihrem Buch “Die Masken der Niedertracht” (dtv, 2010) beschäftigt sich die französische Psychoanalytikerin Marie-France Hirigoyen nicht nur, aber auch mit dem Mobbing. Dieses und andere Formen der systematischen Demütigung von Menschen bezeichnet sie als Perversion. In ihrem Fazit schreibt sie:

“Zahlreiche leitende Persönlichkeiten und Staatsmänner, die doch Vorbild der Jugend sein sollten, scheren sich nicht um Moral, wenn es darum geht, sich einen Rivalen vom Hals zu schaffen oder sich an der Macht zu halten… In dieser Situation reichen ein oder mehrere perverse einzelne in einer Gruppe, in einem Unternehmen oder einer Regierung schon aus, damit das ganze System pervers wird.” Sie fügt hinzu: “In einem System, das nach dem Gesetz des Stärkeren, des Gerisseneren funktioniert, sind die Perversen König.”

Es ist offensichtlich, dass der neoliberale Kult solche Systeme perverser Niedertracht fördert. Denn nach dieser Ideologie ist jeder seines Glückes Schmied. Gemeint ist hier die, wie sollte es anders sein, niederträchtige Version dieses Spruchs. Wer fleißig und klug sei, so heißt es, habe stets Erfolg, und wer Misserfolg erleide, sei entsprechend faul und dumm. Es gibt natürlich auch eine humane, die stoische Variante dieses Gedankens: Jeder ist seines Glückes Schmied, weil, welches Schicksal uns auch immer widerfahren möge, wir selbst – und niemand sonst – entscheiden, wie wir darauf reagieren, ob wir uns die gute Laune verderben lassen wollen. Obwohl also keineswegs jeder Gemobbte seines Glückes Schmied im neoliberalen Sinne ist, so ist er es doch im stoischen Verständnis dieser Einstellung.

Doch die Freunde des Mobbings denken eher nicht an Philosophen wie Epiktet, wenn sie behaupten, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Daher bezweifeln die Anhänger neoliberaler Positionen oft auch, dass ein Mensch Opfer von Mobbing geworden sei. Derjenige, heißt es dann, habe sich seine Probleme selbst eingebrockt. Wie man in den Wald schreie, so schalle es heraus. Wenn aber das Opfer an seinem Elend schuld ist, dann gibt es auch keinen Grund, das System zu ändern.

Der globalisierte Turbo-Kapitalismus hat perverse Niedertracht zwar nicht hervorgebracht, aber er verstärkt sie u. a. durch Unterwanderung der nationalen Solidarität. Der Patriarch, der in seiner Villa am Hang domizilierte und von dort auf seine Fabrik im Tal herabschaute, die er mit Strenge, gelegentlich auch mit harter Hand führte, ist zwar ein kitschiges Bild, dennoch steckt in ihm ein wahrer Kern: In einem patriarchalisch geführten Unternehmen waren Arbeiter und kleine Angestellte besser vor Mobbing geschützt als in heutigen Betrieben, deren global operierende Besitzer ihre Aktienpakete nur noch als Geldanlage betrachten und die entsprechend häufig wechseln.

Zum Schluss noch ein Wort zur stoischen Haltung: Wenn man zur Gegenwehr gezwungen ist, muss man hart, sehr hart zurückschlagen, jedoch ohne offenen, profanen Zorn und Verbitterung. Es ist anzustreben, beim Gegner so viel Schaden wie irgend möglich anzurichten, allerdings nicht aus egoistischen oder egozentrischen Motiven, sondern aufgrund grundsätzlicher Erwägungen. Nie und nimmer wollen wir in einer Welt leben, in der es Mobbern leicht gemacht wird. Durch unseren Kampf müssen wir dazu beitragen, unsere Mitmenschen vor dem Schicksal zu bewahren, Opfer der äußersten Niedertracht zu werden. Es ist nie zu spät, in heiligem Zorn gerechte Rache zu üben – sogar dann, wenn es für uns dabei nichts zu gewinnen gibt.

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Sozialkompetenz

Ausgeprägter noch als in anderen bürgerlichen Gesellschaften, hängt in Deutschland der berufliche Aufstieg maßgeblich nicht von der fachlichen Leistung oder den kommunikativen Fähigkeiten, sondern vom sozioökonomischen Status der Eltern ab. Dies haben u. a. die Forschungen des Soziologen Michael Hartmann gezeigt (1). Häufig wird dieses Phänomen mit dem Hinweis erklärt oder sogar gerechtfertigt, dass die Sprösslinge aus den besseren Kreisen nun einmal über mehr Sozialkompetenz verfügten. Diese sei aber nur zu einem kleinen Teil lehrbar; man erwürbe sie im Elternhaus, in der so genannten Kinderstube.

Sozialkompetenz! Das klingt beim ersten Hinhören durchweg positiv, nach Gemeinsinn, menschlicher Nähe. Man kann dieses Wort nur im Sinne der Erfinder richtig verstehen, wenn man es beim schönen Klang belässt und nicht weiter darüber nachdenkt. Aus moralischer Sicht ist es zweifellos verwerflich, Sozialkompetenz zu zeigen. Allenfalls ein Hochstapler, der Sozialkompetenz nur vortäuscht, darf vor dem Richterstuhl der Moral auf ein mildes Urteil hoffen, weil er ja, gleichsam von Berufs wegen, eine innere Distanz zur sozialkompetenten Rolle für sich reklamieren kann.

Der Begriff “Sozialkompetenz” gehört in das B-Vokabular des Neusprechs, durch das die kritische Dimension von Äußerungen über ideologisch nicht neutrale Themen soweit wie möglich vom Bewusstsein abgekoppelt wird (2). Man muss sich den umgangssprachlichen, aber passenderen Begriff des “Radfahrens” vor Augen führen, um zu begreifen, was damit gemeint ist, wie also Neusprech funktioniert.

In den einschlägigen Lehrbüchern und Enzyklopädien wird man eine halbwegs griffige Definition des Begriffs der “Sozialkompetenz” eher nicht finden. Es gibt auch kein wissenschaftlich allgemein anerkanntes Messinstrument für dieses Konstrukt. Es wäre ja auch ein großes Missverständnis der Bedeutung dieses Begriffs, wenn man versuchen wollte, ihn zu operationalisieren. “Sozialkompetenz” wird nicht gemessen, sondern zugeschrieben.

Sozialkompetenz ist aber nicht mit einem ehrenhalber verliehenen Doktortitel vergleichbar. Ein Mensch, dem höheren Orts Sozialkompetenz zugeteilt wurde, sieht sich durchaus sehr konkreten Erwartungshaltungen ausgesetzt, die allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sind und darum niemals im Klartext formuliert werden.

Diese Erwartungshaltungen sind vielfältig, daher möchte ich sie hier nur exemplarisch abhandeln. Sie verbergen sich, wie der Oberbegriff, hinter Begriffen des B-Vokabulars, also Begriffen, “die nicht nur in jedem Fall eine politische Implikation (haben), sondern auch dazu bestimmt (sind), dem Benutzer eine wünschenswerte Geisteshaltung zu oktroyieren (3).”

Hier nun meine Beispiele:

  • Eigenverantwortung bedeutet die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Verantwortung für Erfolge selbst zu übernehmen und die Verantwortung für Misserfolge Mitarbeitern in die Schuhe zu schieben. Dabei ist es wichtig, diese Mitarbeiter in eine Lage zu bringen, in der sie sich, aus subjektiven oder objektiven Gründen, nicht gegen diese falsche Ursachenzuschreibung wehren (können).
  • Kritikfähigkeit ist die Fähigkeit und die Bereitschaft, sich offen und aufgeschlossen für die Kritik von Vorgesetzten zu zeigen, dabei aber zugleich “zwischen den Zeilen” unaufdringlich, aber effektiv nahezulegen, dass die wahren Verursacher der kritikwürdigen Zustände genau jene seien, die auf der Abschussliste des kritisierenden Vorgesetzten stehen oder die dieser einfach nur nicht leiden kann.
  • Teamfähigkeit bedeutet die Fähigkeit und Bereitschaft, sich bei Vorgesetzten dadurch beliebt zu machen, dass man deren egoistische Ziele als den allgemeinen Teaminteressen entsprechend zu verkaufen vermag.
  • Emotionale Intelligenz entspricht der Fähigkeit und Bereitschaft, sich durch alles, aber auch alles in Entzücken versetzen zu lassen, wofür sich der jeweils relevante Vorgesetzte begeistert und alles, aber auch alles zu verabscheuen, was dieser hasst.

Am Rande bemerkt: Sozialkompetenz ist keine Leistung im Sinne einer Fähigkeit, die man erlernen und üben musste, um sie zu meistern. Dies kann jeder, allein, nicht jeder darf es, es wird nicht bei jedem goutiert. Sozialkompetenz wird zugeschrieben. Sie ist die Lizenz zum Besteigen der Karriereleiter.

Daraus folgt, dass ein Mensch aus besseren Kreisen Sozialkompetenz nur solange benötigt, wie er noch nicht die höchstmögliche Stufe seiner Karriereleiter erklommen hat. Ist er erst einmal zum Boss aufgestiegen, kann er die Sau rauslassen. Dies gilt natürlich nur für das Binnenverhältnis. Im Außenverhältnis kann er nach wie vor gezwungen sein, gegenüber entsprechend mächtigen Interaktionspartnern ein hohes Maß an Sozialkompetenz unter Beweis zu stellen.

Es versteht sich von selbst, dass Sozialkompetenz im Gesamt der Karrierefaktoren umso bedeutender wird, je weniger Sachkompetenz vonnöten ist. Diese ist umso entbehrlicher, je weiter man auf der Karriereleiter bereits aufgestiegen ist, denn fachliches Wissen und handfeste Fähigkeiten sind bei Führungskräften nicht gefragt, damit darf sich das untergeordnete Personal, das so genannte Fußvolk herumschlagen.

Das Dorado der Sozialkompetenten ist natürlich die Psychiatrie. Hier muss niemand etwas wissen. Es genügt völlig, so zu tun, als wisse man etwas. Die Karriere des bedeutenden Heilers Gert Postel, der gleich zweimal als Psychiater in hohe und höchste Positionen aufstieg, obwohl er gelernter Postbote ist, darf im Grunde schon als ausreichender Beweis für diese These gelten (4).

Postels Sozialkompetenz lässt nichts zu wünschen übrig. So bereitete er beispielsweise einmal eine Bewerbung um eine Stelle vor, indem er den zuständigen Chefarzt unter falschem Namen anrief, sich als Universitätsprofessor der Medizin ausgab, und sich selbst als geeigneten Kandidaten anpries.

Hierzu schreibt er u. a.:

“Ich hatte schon mehrfach die Erfahrung gemacht, dass es nichts schadet, als Universitätsprofessor einen nicht habilitierten Chefarzt als Kollege anzusprechen, sozusagen ein Element der Gleichheit in ein solches Gespräch einzubringen (5).”

Dass Postel das Wesen der Sozialkompetenz begriffen hat, zeigt u. a. folgendes Zitat:

“Schließlich verfasste ich noch einen Lebenslauf, in dem mein Vater, der Zeit seines Lebens Mechaniker bei Daimler-Benz in Bremen war, zum Theologieprofessor mutiert und meine Mutter, eigentlich vorehelich Mannequin, später Hausfrau, zur Krankenschwester wurde. Genau die richtige Mischung aus ethischer Bescheidenheit und Helfersyndrom.” (6)

Ich lege Postels “Doktorspiele” nun schnell wieder zur Seite, sonst lese ich mich fest und komme zu nichts anderem mehr. Es bleibt aber festzuhalten, dass dieses Buch das beste Lehrbuch der Sozialkompetenz ist, das man sich nur vorstellen kann.

“Sozialkompetenz” ist ein Neusprech-Wort des B-Vokabulars. Die Aufgabe dieses Vokabulars besteht darin, vertieftes Nachdenken zu verhindern. Im Neusprech werden daher Menschen, die Sozialkompetenz vortäuschen, obwohl sie den erforderlichen sozio-ökonomischen Hintergrund nicht haben, als Hochstapler bezeichnet. So ist es zu erklären, dass Postel in jenem Beruf, für den er sich als hervorragend geeignet erwiesen hatte, nicht weiterarbeiten durfte, nachdem einige kleinere Ungenauigkeiten in seinem Lebenslauf ans Licht gekommen waren.

Der Grat zwischen Koryphäe und Hochstapler kann sehr schmal sein. Er ist oftmals aber viel, viel breiter, als der Fall Postel oder die Schicksale anderer enttarnter Sozialkompetenter vermuten lassen. Postel stürzte verhältnismäßig schnell ab, wenngleich aus Gründen, die sich seiner Verantwortung entzogen und die seine makellose Haltung als vorbildlicher Darsteller eines Sozialkompetenten nicht in Frage zu stellen vermögen.

Mir sind allerdings auch Leute mit ausgeprägterem Stehvermögen persönlich bekannt (die ich natürlich nicht kenne), von denen im Grunde jeder, der es wissen will, auch wissen kann, dass sie nicht sind, was sie zu sein vorgeben. Doch wer will das schon so genau wissen? Solche beruflichen Karrieren werden oftmals erst durch den wohlverdienten Ruhestand beendet. Wenn man dann auf solche Laufbahnen zurückblickt, so wird der Glanz ihrer Sozialkompetenz nicht im geringsten durch fehlende Ausbildungen und erschwindelte Titel getrübt (solange das Geheimnis gewahrt bleibt, versteht sich).

Anmerkungen

(1) Hartmann, M. (2004). Eliten in Deutschland. Rekrutierungswege und Karrierepfade. Aus Politik und Zeitgeschichte B 10 / 2004, 17-24
(2) Orwell, G. (1949, 2000). 1984. München: Econ Ullstein List, Seite 371
(3) siehe (2), Seite 365
(4) Gert Postel: Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers. Eichborn, 2001; Goldmann, 2003
(5) siehe (4), Seite 24
(6) siehe (4), Seite 31

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Psychopharmaka für Frauen

Im “BARMER GEK Arzneimittelreport 2012” (1) widmeten sich die Autoren insbesondere einem seit Jahren bekannten Trend. An erster Stelle in der Zusammenfassung der Befunde heißt es:

“Der größte Unterschied bei der Arzneimittelversorgung liegt nach wie vor im Bereich der psychotropen Arzneimittel – Frauen bekommen zwei- bis dreimal häufiger Antidepressiva, Tranquilizer oder Schlafmittel verordnet.”

Bedeutet dies, dass Frauen zwei- bis dreimal häufiger depressiv sind und unter Angst- bzw. Unruhezuständen leiden oder schlecht schlafen? Nehmen wir z. B. die Depressionen:

Auf einer Seite des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie lesen wir hierzu (3):

“Vergleicht man die Diagnosenhäufigkeit bei Frauen mit der von Männern, fällt auf, dass Frauen etwa doppelt so häufig an Depression zu erkranken scheinen. Allerdings kann es sich hierbei um ein Artefakt handeln, denn je schwerer die Depression ist, desto mehr gleichen sich Frauen und Männer in ihren Häufigkeitszahlen an. Die manisch-depressive Erkrankung tritt bei Frauen und Männern gleich häufig auf. Es kann also sein, dass die größere Häufigkeit der Diagnose Depression bei der Frau vor allem durch die leichteren Ausprägungsformen erklärt werden können. Hier muss an die Möglichkeit gedacht werden, dass Männer bei der Preisgabe depressiver Symptome und dem Weg zum Arzt, um sich wegen einer Depression behandeln zu lassen, zurückhaltender sind.
Eine Besonderheit, die Frauen gegenüber depressiven Verstimmungen bis hin zur schweren wahnhaften Depression anfälliger macht, existiert aber doch: Dies ist das erhöhte Risiko, zum Zeitpunkt der monatlichen Regelblutung zu erkranken, sowie bei anderen hormonellen Umstellungen wie der Geburt und der stark verminderten Produktion von Sexualhormonen bei Frauen Ende des vierten Lebensjahrzehnts.”

Hier zeigt sich also, dass

  1. die Verschreibungshäufigkeit nicht adäquat die Häufigkeit und Schwere depressiver Verstimmungen widerspiegelt und dass
  2. vermutlich Besonderheiten des Verhaltens von Frauen für die deutlich erhöhte Zahl der Verschreibung von Antidepressiva im Vergleich zu Männern mitverantwortlich sind.

Bei den anderen “Krankheitsbildern” ist die Situation ganz ähnlich. Der Einschätzung Gerd Glaeskes, eines der Autoren des Arzneimittelreports, ist also zuszustimmen: Für diese gravierenden Unterschiede der Verschreibungshäufigkeit sind nicht nur Faktoren relevant, die von den beteiligten Fachdisziplinen als “medizinische” eingeordnet werden könnten. Aus meiner Sicht handelt es sich um Einflussgrößen aus dem Bereich des Konsumentenverhaltens. Da die ärztliche Behandlung eine Dienstleistung und die Psychopharmaka Waren sind, ist dies ja auch nicht weiter erstaunlich.

Mir ist schon bewusst, dass selbstverständlich auch Geschlechtsrollenstereotype in den Köpfen der Ärzte für geschlechtsspezifisches Verschreibungsverhalten verantwortlich sein können:

  • “Homöopathie ist etwas für Frauen, Männer wollen etwas Hartes, was Richtiges!” oder
  • “Männer wollen etwas für den Körper, Frauen etwas für die Seele!”

Dennoch glaube ich, dass man den weiblichen Patienten als Akteur des Verschreibungsprozesses stärker beachten muss, als dies bisher in Studien zum Konsumentenverhalten bei medizinischen Gütern und Dienstleistungen geschieht. Ich versuche, die Unterschiede grob vereinfacht und sicher auch ungerecht an zwei Beispielen zu verdeutlichen:

  • Wenn Frauen in ein Bekleidungsgeschäft gehen, um sich eine Hose zu kaufen, wenn sie dann eine gut sitzende finden und neben der Stange mit Hosen hängen T-Shirts, von denen keins farblich zur gewählten Hose passt, dann suchen Frauen im Laden nach anderen T-Shirts. Männer aber suchen nicht, sondern verlassen den Laden nur mit der Hose.
  • Wenn Frauen mit mehr oder weniger unspezifischen Beschwerden in eine Arztpraxis gehen, wenn der Arzt ihnen dann ein Medikament verschreibt, das zur mutmaßlichen körperlichen Ursache passt, dann suchen Frauen aus ganzheitlicher Sicht auch noch nach korrespondierenden psychischen Gründen. Sie verlassen die Arztpraxis nicht ohne ein Rezept für die Seele. Männer nehmen das Körper-Rezept und trollen sich.

Diese Parallelisierung des Konsumentenverhaltens zwischen Shopping und Arztbesuch ist natürlich stark überzeichnet und, wie alles Wahre, nicht ganz ernst zu nehmen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass diese Beispiele in die richtige Richtung zum Verständnis des geschlechtsspezifischen Verschreibungsverhaltens weisen.

Ein Grund geschlechtsspezifisch unterschiedlicher Verschreibungshäufigkeiten für Psychopharmaka könnte also darin bestehen, dass Frauen stärker als Männer nach einer passenden “seelischen Diagnose” für eine körperliche Störung suchen. Sie verlassen den Laden nicht nur mit der Hose wie die unpraktischen Männer, die sich leicht abspeisen lassen.

Frauen macht das Einkaufen bekanntlich viel mehr Spaß als Männern. Während der Mann möglichst schnell wieder zurück auf die Straße möchte, lässt sich die Frau Zeit, wägt ab, prüft auch Dinge, die sie gar nicht braucht und kaufen wird – vor allem aber lässt sie sich viel lieber beraten als der Mann. Sie spricht ausführlich über ihre Wünsche und darüber, was ihr steht, was ihr nicht steht usw.

Auch dies könnte erklären, warum Männern deutlich seltener Psychopharmaka verschrieben werden als Frauen. Wer keine Wünsche äußert, dem werden auch weniger Angebote gemacht. Und wer schon durch Miene und Blicke zu erkennen gibt, dass er nur eine Hose und sonst nichts will, außer schnell raus aus dem Laden, dem werden sicher auch seltener passende T-Shirts offeriert. Warum sollte das in einer Arztpraxis anders sein?

Für meine These scheint zu sprechen, dass sich Unterschiede bei den Verschreibungen nicht nur hinsichtlich der Psychopharmaka zeigen, sondern generell. In der Kurzfassung des Arzneimittelreports 2012 heißt es:

“Eine Übersicht der Arzneimittelverordnungen bei der größten Gesetzlichen Krankenkasse in Deutschland zeigt die Verteilungsmuster für die versicherten Frauen und Männer. Danach zeigt sich, dass 2011 im Durchschnitt pro 100 Versicherte 864 Arzneimittel verordnet wurden, pro 100 Männer waren es 763 Verordnungen, pro 100 Frauen dagegen deutlich mehr, nämlich 937 (+22,3%).”

Selbstverständlich sind die Gründe für unterschiedliche Verordnungshäufigkeiten nicht nur auf das “Shopping-Verhalten” zurückzuführen und müssen differenziert hinsichtlich möglicher weiterer Ursachen analysiert werden. Doch aus meiner Sicht wäre es ignorant, diesen Faktor außer acht zu lassen. Die Frau muss gerade im Bereich psychopharmazeutischer Produkte als bewusste, aktive Konsumentin begriffen werden, als Kundin, die weiß, was sie will und die sich demgemäß auch nicht mit weniger abspeisen lässt. Die Kehrseite: einige Psychopharmaka können süchtig machen. Daher ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass von einer Medikamentenabhängigkeit überwiegend Frauen betroffen sind.

Schlagzeilen wie diese: “Frauen werden in die Abhängigkeit therapiert” (Welt online, 26.06.12) zeichnen allerdings ein sehr einseitiges Bild. Damit wird der Eindruck erweckt, als ob allein der Arzt die Schuld an dieser Entwicklung trüge. Fakt aber ist, dass der Arzt als Kaufmann Kundenwünsche nicht ignorieren kann, vor allem dann nicht, wenn sie eindeutig und bestimmt vorgetragen werden. Man wird ja auch den Boutique-Besitzer nicht dafür verantwortlich machen, dass manche Frauen mehr Klamotten kaufen, als sie sich leisten können. Er ist ebenso wenig Verursacher einer Kaufsucht, wie der Arzt Verursacher einer Medikamentensucht ist. Das Geschäft läuft halt so.

Man greift zu kurz, jedenfalls, wenn man für die höhere Verschreibungshäufigkeit von Psychopharmaka bei Frauen gegenüber Männern die Vorurteile von Ärzten verantwortlich macht, denn auch Ärztinnen verschreiben Frauen mehr Psycho-Pillen als Männern. Es dürfte auch nicht zutreffen, dass Geschlechtsrollenstereotype bei Ärzten beiderlei Geschlechts allein für dieses Phänomen verantwortlich wären. Wir dürfen die Frau als aktive Konsumentin nicht aus dem Blick verlieren.

Es ist eine Legende, dass dass “Frauen – in der Regel widerspruchslos – das herunterschlucken, was ihnen der Arzt verordnet”, wie Ingrid Füller in dem Buch “Schlucken und ducken” behauptet (2). Nicht das Verschreibungsverhalten von Ärzten, sondern diese Sichtweise ist Ausdruck eines unreflektierten Geschlechtsrollenstereotyps. Frauen spielen eine aktive und zuweilen dominierende Rolle im Prozess der Psychopharmakaverschreibung; der niedergelassene Arzt steht schließlich im Konkurrenzkampf und muss sich flexibel zeigen, damit seine Kundschaft nicht zum Doktor um die Ecke abwandert.

Zweifellos hat das Pharma-Marketing einen wesentlichen Einfluss auf den Medikamentenkonsum; aber selbst die geschickteste Verkaufsstrategie kann keinen Bedarf erzeugen, für den partout kein Bedürfnis besteht. Psychopharmaka sind überdies nicht mit Pillen für körperliche Erkrankungen zu vergleichen, die man nehmen muss oder zu nehmen müssen glaubt, wenn man geheilt werden will. Vielmehr ähneln diese Substanzen den Straßendrogen; sie versprechen die schnelle Lösung von Befindlichkeitsproblemen, gleichsam auf Knopfdruck. Bei solchen Mitteln spielt der eigene Antrieb, die eigene Entscheidung eine wesentlich größere Rolle als in anderen Bereichen der medikamentösen Versorgung.

Die Ebene des selbstbestimmten Konsumverhaltens wird im Übrigen nicht nur bei der Interpretation unterschiedlicher Verschreibungshäufigkeiten zwischen Männern und Frauen sträflich missachtet, sondern generell. Die Auseinandersetzung zu diesem Thema wird von ideologischen Bildern bestimmt: hier der Arzt, der rein fachlich orientiert, notwendige Rezepte ausstellt; dort der Mediziner, der von Gier und den Interessen der Pharmaindustrie getrieben, Patienten überversorgt.

Der aktive Konsument gerät nur in den Blick, wenn sich der Patient nicht so verhält, wie er soll. Hier stehen zwei Fallgruppen im Vordergrund:

  1. Der Patient ist süchtig und versucht dem Arzt ein Medikament abzuluchsen.
  2. Der Patient ist nicht “krankheitseinsichtig” und weigert sich, seine Medikamente zu nehmen.

Doch das sind nur die Extrempole des normalen, des alltäglichen Konsumverhaltens von Psychopharmaka. Auch zwischen diesen Polen konsumieren Menschen selbstbestimmt, abwägend, sich entscheidend diese Mittel. Und wenn Frauen mehr Psycho-Pillen bekommen als Männer, so liegt das auch daran: Frauen halten Psychopharmaka häufiger als Männer für die beste aller ihnen gebotenen Alternativen. Beispiel: Während der Mann in schwierigen Lebenslagen vielleicht ein zusätzliches Fläschchen Bier in Erwägung zieht, neigen Frauen häufig eher zum Pillen-Döschen. Daher sind ja auch mehr Frauen medikamentenabhängig und weniger alkoholabhängig als Männer. Dass Psychopharmaka nicht “psychische Krankheiten” heilen oder lindern, sondern dass sie Instrumente der Lebensbewältigung sind, wird hier besonders deutlich.

Anmerkungen

(1) Im Arzneimittelreport 2013 steht die Off-Label-Verschreibung von Psychopharmaka an Kinder und Jugendliche im Vordergrund.

(2) Burmester, J. (Hrsg.) (1994). Schlucken und ducken. Medikamentenmissbrauch bei Frauen und Kindern. Geesthacht: Neuland

(3) Grammatikfehler unverändert übernommen.

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Hypnose: Das therapeutische Theater

Charcot

Das „Hôpital de la  Salpêtrìere“ wurde im 17. Jahrhundert in Paris errichtet und war zunächst keine psychiatrische Anstalt in modernem Sinne, sondern vielmehr ein „Siechenhaus“, in dem vor allem Menschen untergebracht wurden, die störten: Bettler, Mittellose, auffällige Prostituierte, chronische Alkoholiker, Geisteskranke und Schwachsinnige – jeder, der die soziale Ordnung gefährdete oder anderen zur Last fiel, musste damit rechnen, in der  Salpêtrìere zu landen und dort mit hoher Wahrscheinlichkeit auch zu enden.

Dieses „Siechenhaus“ war eine Stadt in der Stadt, die aus rund 45 Gebäuden, Straßen, Plätzen, Gärten, sogar einer kleinen Kirche bestand (Ellenberger, 1996, 149). Erst im 19. Jahrhundert wurde dieser gigantische Komplex mit bis zu 8.000 Patienten in eine psychiatrische Klinik im heutigen Sinne umgeformt – durch Jean-Martin Charcot (1825 – 1893), den „Napoleon der Neurosen“. Dieser Spitzname, den ihm die Pariser schon früh in seiner Laufbahn verliehen hatten, kennzeichnet seinen Charakter. Er war dynamisch, beharrlich und selbstbewusst bis zur Arroganz. Nach jahrelangem, verbissenen Kampf gelang es ihm durchzusetzen, dass für ihn 1882 der erste französische Lehrstuhl für die Krankheiten des Nervensystems eingerichtet wurde.

Durch den Ehrgeiz, die Tatkraft, die Intelligenz und die Beharrlichkeit Jean-Martin Charcots wurde die Salpêtrìere zur Geburtsstätte der modernen Psychiatrie und Neurologie, die sich fortan weltweit als eigenständige medizinische Disziplinen mit wissenschaftlichem Anspruch etablierten. Psychiatrie und Neurologie folgten damit einem allgemeinen Trend im 19. Jahrhundert, denn zuvor war die Medizin nicht streng in Fachgebiete gegliedert.

Charcot war ein Schüler des französischen Mediziners Duchenne de Boulogne (1806 – 1875). Dieser Pionier der Neurophysiologie verhalf auch der Therapie mit elektrischen Strömen zum Durchbruch. Er gilt als Vater der Elektrotherapie, die im 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts bei einer Vielzahl physischer Krankheiten und psychischer Störungen eingesetzt wurde und den Nimbus eines Allheilmittels hatte.

In seiner Antrittsvorlesung begründete Charcot, warum er sich unermüdlich dafür eingesetzt hatte, dieses „Siechenhaus“ zu einer

„planmäßig organisierten Hauptstätte der Lehre und Forschung für die Krankheiten des Nervensystems“

auszubauen:

„Wo anders, sagte ich damals, will man ein so reiches, für diese Art von Untersuchungen geeignetes Material finden (Charcot, 1886, 1)?“

Was er an „Material“ in der Salpêtrìere vorfand –: das waren die Armen, die Ausgestoßenen, die Entrechteten, kurz: Menschen, die sich nicht dagegen wehren konnten, zum Material der Forschung und Lehre gemacht zu werden.

1882, zum Zeitpunkt der Inauguralvorlesung Charcots, lebten mehr als 5000 meist chronisch kranke, als unheilbar geltende und auf Lebenszeit aufgenommene Patienten in der Salpêtrìere. Der Psychiater betrachtete diese Menschen als Inventar eines

„lebenden pathologischen Museums (Charcot, 1986, 3).“

Charcot behandelte aber auch eine große Zahl von vermögenden Privatpatienten, dies, und die Verheiratung mit einer wohlhabenden Witwe, machten ihn zu einem reichen Mann.

Hypnose und die mit Suggestionen verbundene, mitunter auch sehr schmerzhafte Stimulation von Körperstellen mit elektrischem Strom gehörten im 19. Jahrhundert zu den Standardmethoden psychiatrischer Behandlung – und Charcot machte von beiden Verfahren, allein und in Kombination, regelmäßigen Gebrauch.

Es ist umstritten, ob Charcot selbst hypnotisierte oder diese Aufgabe von seinen Assistenten erledigen ließ, die nach seinen Anweisungen arbeiteten. Kritiker behaupten, diese Assistenten hätten Charcots Patienten hypnotisch so dressiert, dass sie später bei dessen Demonstrationen im Hörsaal genau jene Symptome zeigten, die der Psychiater erwartete (Braude, 1995, 18 f.).

Zum Pläsier der feinen Pariser Gesellschaft

Das Publikum dieser Vorführungen war keineswegs nur auf Medizinstudenten, Ärzte oder Wissenschaftler beschränkt; auch Laien durften daran teilnehmen; nicht selten fanden sich Persönlichkeiten des Theaters oder des literarischen Lebens ein, um sich die Hysteriker zum Vorbild für ihre Werke oder entsprechende Bühnenrollen zu nehmen (Lehman, 2009, 38).

Auch Politiker und andere Interessierte aus der Pariser Gesellschaft fanden sich ein.

„Die Dienstagsvorlesungen von Professor Charcot“, schreibt Alain Corbin, „waren ein gesellschaftliches Ereignis in Paris; kaum jemand von Rang und Namen versäumte es, der einen oder anderen dieser Veranstaltungen beizuwohnen und dem berühmten Gelehrten zu lauschen, dessen (vermeintliche und wirkliche) Erfolge aus der Neurologie eine Modewissenschaft gemacht hatten (Corbin, 1999, 583).“

Mitunter genügten einfache Suggestionen und Charcots ärztliche Autorität, um Symptome hervorzurufen. Einem seiner Patienten, dessen hysterische Lähmung er zuvor kuriert hatte, sagte er „im Ton aufrichtiger Überzeugung“:

„Sie glauben geheilt zu sein, das ist ein Irrtum. Sie können den Arm nicht mehr aufheben und nicht beugen, auch die Finger nicht bewegen. Sehen Sie, Sie sind nicht im Stande, mir die Hand zu drücken.“

Nach „einigem Hin- und Herreden“ stellte sich die Lähmung wieder ein, wie sie am Tag zuvor gewesen war. Seinen Studenten, denen er in einer Vorlesung davon berichtete, sagte er, dass er sich „über den Ausgang dieser absichtlich reproduzierten Lähmung keine Sorge machte“. Er wisse aus Erfahrung, „dass man in Sachen Suggestion alles wieder aufheben kann, was man selbst erzeugt hat (Charcot, 1886, 240).“

Es handelte sich bei diesem Hysteriker im Übrigen um einen Patienten, der sich zuvor als „nicht hypnotisierbar“ herausgestellt hatte. In einer totalen Institution vom Typ der Salpêtrìere war offenbar ein Ritual, das dem üblichen Procedere der Hypnose-Induktion folgte, nicht zwingend erforderlich, um Patienten zur Übernahme einer bestimmten, den Vorstellungen Charcots entsprechenden Krankenrolle zu bewegen. Nachdem die Lähmung im Anschluss an einen hysterischen Anfall erneut verschwunden war, gelangt es Charcot allerdings nicht mehr, sie durch weitere Suggestionen wieder auszulösen.

Ungleich mächtiger, schreibt Charcot, seien natürlich jene Suggestionen, die nicht im wachen, sondern im hypnotischen Zustand eingegeben werden. Man könne bei einem Menschen in diesem Zustand eine Vorstellung oder eine zusammenhängende Vorstellungsreihe ins Leben rufen, die

  • „ sich wie ein Parasit im Geiste der betreffenden Person festsetzt,
  • der Beeinflussung durch alle anderen Vorstellungen unzugänglich bleibt,
  • und sich durch entsprechende motorische Akte nach außen kundgeben kann (Charcot, 1986, 274).“

Die durch hypnotische Suggestionen hervorgerufenen Bewegungen zeichneten sich, so Charcot, durch einen automatischen, rein mechanischen Charakter aus; in diesem Zustand sei der Hypnotisand tatsächlich eine menschlichen Maschine im Sinne De La Mettries („l’homme machine“).

Zum Beweis seiner These rief Charcot, während seiner Demonstrationen vor Medizinstudenten und anderen Interessierten, bei hypnotisierten, hysterischen Patienten nach Belieben Lähmungen verschiedener Gliedmaßen hervor und hob sie durch entsprechende Suggestionen wieder auf (Charcot, 1886, 278 ff.). So suggerierte er beispielsweise zwei hysterischen Frauen  erfolgreich eine Cox-Arthrose mit den entsprechenden Bewegungseinschränkungen und Schmerzempfindungen (Charcot (1886), 324).

Auch außerhalb des Auditoriums in der Salpêtrìere verfehlten die hypnotischen Dressuren Charcots und seiner Assistenten ihre Wirkung nicht: Als während eines Balles der Patienten in der Salpêtrìere einmal unerwartet ein Gong ertönte, verfielen viele hysterische Frauen in Katalepsie und behielten die plastischen Posen bei, in denen sie sich gerade befanden, als der Gong ertönte (Ellenberger, 1996, 151).

Der prägende Einfluss, den Charcot und dessen Theorien auf das Verhalten der Patienten ausübte, war so ausschlaggebend, dass kaum noch zu unterscheiden war, was auf die Eigendynamik ihrer Störung und was auf die hypnotische Dressur in der Salpêtrìere zurückzuführen war.

Der Arzt Hippolyte Bernheim berichtete beispielsweise, er habe Tausende von Patienten hypnotisiert und nur bei einer Frau die von Charcot beschriebenen drei Phasen der Hypnose gefunden. Dabei habe es sich um eine Patientin gehandelt, die zuvor drei Jahre in der Salpêtrìere zugebracht habe (Ellenberger, 1996, 154). Charcot, dessen Jähzorn ebenso gefürchtet war wie seine Arroganz, geriet jedes Mal in Rage, wenn Bernsteins Name auch nur erwähnt wurde (Munthe, 1929, 303).

Der schwedische Psychiater Axel Munthe (1857 – 1949) zählt zu den bissigsten Kritikern Charcots, bei dem er 1880 promoviert hatte. Er schildert seine Erfahrungen mit dem französischen Neurologen und Psychiater in seinem autobiographischen Buch: „Die Geschichte von San Michelle“ (Munthe (1929). Dieses Buch ist eine seltsame Mischung aus phantastischen und realen Elementen, und dies muss man natürlich berücksichtigen, wenn man seine Ausführungen zur Salpêtrìere unter Charcot bewertet. Dennoch findet sich hinsichtlich der Person Charcots und seines Verhaltens nichts in seinem Buch, was im Widerspruch zur historischen Forschung stünde.

Charcot hatte seinen Hörsaal in ein Theater verwandelt und die Darsteller, schreibt Munthe, waren überaus zweifelhafte Charaktere.

  • Manche seinen tatsächlich „Somnambulisten“ gewesen, die posthypnotische Befehle verwirklichten, weil sie einem inneren, unbewussten Zwang gehorchten.
  • Bei vielen aber habe es sich eindeutig um Schwindler gehandelt, die genau wussten, was von ihnen erwartet wurde, denen es Spaß machte, ihre diversen Tricks in der Öffentlichkeit vorzuführen und das Publikum bzw. die Ärzte mit der „aufregenden Gerissenheit der Hysteriker“ hinters Licht zu führen.

Sie waren bereit, auf Kommando einen klassischen hysterischen Anfall zu vorzutäuschen und die von Charcot postulierten drei Phasen der Hypnose (Lethargie, Katelepsie, Somnambulismus) zu simulieren. Zwei Mitarbeiter und Schüler Charcots, Alfred Binet und Charles Féré entwerten entsprechende Geständnisse ehemaliger Patienten allerdings mit dem Hinweis, dass es sich dabei wohl um die übliche Prahlerei von Hysterikerinnen gehandelt habe (Binet & Féré, 1888, 33).

Wie auch immer:  Den Schwindlern erging es vermutlich besser als den Patienten, die für hypnotische Suggestionen tatsächlich empfänglich waren. Bei den echten Hypnose-Patienten der Salpêtrìere handelte es sich, nach Einschätzung Munthes, meist um junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen, die unzählige Male hypnotisiert worden waren, in deren verwirrten Gehirnen die absurdesten Suggestionen herumgeisterten und die oftmals einem Ende in der Abteilung für die schwerstgestörten Irren entgegendämmerten (Munthe (1929), 302 f.).

Vom Alltag im Reich der Hypnose

Im Vorwort ihres Werks über den „Tierischen Magnetismus“ (Binet & Féré, 1888) betonen die Autoren Alfred Binet und Charles Féré, dass ihre Erkenntnisse nicht nur in in der Salpêtrìere gesammelt, sondern dass sie auch mit den von Charcot eingeführten Methoden gewonnen worden seien (Binet & Féré (1888), v). Die beiden Autoren waren Assistenten Charcots. Es spricht aus meiner Sicht nichts dagegen, dieses Buch als eine zwar parteiliche, aber dennoch authentische Widerspiegelung der Hypnose-Experimente in Charcots Krankenhaus zu betrachten.

Die Effektivität der Hypnotisierung hängt, nach den Erfahrungen der Autoren, in erster Linie von der Gewöhnung ab. Der erste Versuch, einen Menschen zu hypnotisieren, misslinge in den meisten Fällen – aber nach mehreren Wiederholungen sei beinahe immer mit einem Erfolg zu rechnen. Zur Hypnose müsse man erzogen werden (Binet & Féré, 1888, 99).

Die hypnotische Erziehung, die man treffender als Dressur bezeichnen sollte, ist in der Tat ein wesentlicher Gesichtspunkt zur Einschätzung des vollen Spektrums der Möglichkeiten, die sich mit der Hypnose verbinden. Die beständige Wiederholung erleichtert nämlich nicht nur die Einleitung der Hypnose, sie verstärkt auch deren Effekte.

Wer die Hypnose nur auf Basis von Hypnose-Shows oder Hypnosetherapien beurteilt, wird deren Möglichkeiten unterschätzen, weil diese Formen der Hypnotisierung eher kurz- und allenfalls mittelfristig sind. In der Salpêtrìere zu Zeiten Charcots aber wurden die Patienten oft über Jahre immer und immer wieder hypnotisiert – und zwar in einer hoch suggestiblen Atmosphäre, in einem Milieu, in dem die Hypnose alltäglich und hypnotisches Verhalten normal  war.

Die Salpêtrìere war eine „totale Institution“ mit strengen Regeln, eine Stadt in der Stadt, eine abgeschlossene Welt mit einem „absoluten Monarchen“ an der Spitze, der keinen Widerspruch duldete: Jean-Martin Charcot, der berühmteste Arzt seiner Zeit.

Angesichts solcher Verhältnisse ist folgende Beobachtung der Autoren leicht nachzuvollziehen:

“Zunächst wird der hypnotische Zustand nur verzögert erzeugt, dann stellt er sich in wenigen Minuten ein, und schließlich beinahe unmittelbar. Danach ist das Individuum fast vollständig in der Gewalt des Hypnotiseurs (Binet & Féré, 1888, 99).”

Wenn für Hypnose empfängliche hysterische Patienten von demselben Hypnotiseur mehrere Tage lang hypnotisiert worden seien, dann versänken sie, schreiben Binet und Féré, häufig in einen Zustand eines permanenten Zwangs; sie seien sozusagen besessen – und dies gleichermaßen tagsüber, im Wachzustand, als auch nachts, in ihren Träumen. Dieser Geisteszustand sei stets von Halluzinationen der einen oder anderen Art begleitet. Immer sei der Hypnotiseur das Objekt dieser Halluzinationen. Der eine Patient halte ihn für den Teufel, der andere fühle sich gefoltert, ein Dritter umklammert (Binet & Féré, 1888, 221).

Pointiert, aber nicht wirklich übertrieben, kann man behaupten, dass die Patienten der Salpêtrìere, sofern sie hypnotisiert wurden, entweder talentierte Schwindler oder echte mentale Sklaven waren, die den Befehlen ihrer Sklavenhalter willenlos gehorchten. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Charcot irgendetwas dazwischen geduldet oder auch nur nicht bemerkt hätte.

Die Hypnose wurde in der Salpêtrìere im Übrigen nicht nur dazu genutzt, dass Verhalten einzelner Patienten zu kontrollieren, sondern auch, um deren Verhältnis untereinander zu gestalten. Wenn man beispielsweise eine nach Einschätzung der Ärzte zu enge Beziehung zwischen zwei hysterischen Patienten auflösen wollte, so wurden einem der beiden suggeriert, der andere habe ein grauenvoll deformiertes, abstoßendes Gesicht (Binet & Féré (1888), 212). Das Umgekehrte ist natürlich auch möglich: Wenn beispielsweise eine Person (A) mit einer anderen Person (B), die A nicht leiden kann, ohne Streit in einem Raum zusammensein soll, so suggeriert man A einfach, B sei die wertgeschätzte Person C.

Ob sich jemand einem Hypnoseversuch widersetzen könne, schreiben Binet & Féré, sei eine Frage der Willenskraft; die Willenskraft sei bekanntlich variabel und es gebe Menschen mit extrem schwach ausgeprägter Widerstandsfähigkeit (Binet & Féré, 1888, 103). Auch die Hypnosetiefe variiere von Person zu Person. Der „profunde“, also voll ausgeprägte hypnotische Zustand sei bisher nur bei Hysterikern beobachtet worden (Binet & Féré, 1888, 100). Die Autoren bezeichnen diesen „profunden hypnotischen“ Zustand auch als „hysterische Hypnose“ (Binet & Féré, 1888, 105).

Die heutige Hypnoseforschung bestreitet die Annahme Charcots und seiner Schüler, dass nur Hysteriker den voll entfalteten Zustand der Hypnose erreichen könnten, wohingegen bei allen anderen Menschen, wenn überhaupt, nur eine leichte Hypnose (tiefe, dem Schlummer ähnliche Entspannung) möglich sei. Aber auch sie räumt ein, dass sich Menschen hinsichtlich ihrer hypnotischen Begabung stark unterscheiden. Menschen, bei denen diese Begabung sehr stark ausgeprägt ist, werden als „hypnotische Virtuosen“ bezeichnet. Diese werden aber nicht grundsätzlich als Hysteriker oder als sonst wie psychisch gestört betrachtet.

Die Hypnotiseure der Salpêtrìere entdeckten „hysterogene Zonen“, durch deren Berührung sie bei ihren Patientinnen und Patienten hysterische Anfälle auslösen konnten; und damit nicht genug: Wenn sie bei Menschen in somnambulen Zuständen bestimmte „erogene Zonen“ berührten, konnten sie so intensive sexuelle Erregungen hervorrufen, dass diese nicht selten mit Orgasmen verbunden waren (Binet & Féré, 1888, 152).

Da derartige Phänomene außerhalb des Dunstkreises der Salpêtrìere, wenn überhaupt, eher selten beobachtet wurden, liegt der Verdacht nahe, dass diese Reaktionen im „hysterischen Klima“ dieses Krankenhauses mit hypnotischen Mitteln gezüchtet wurden.

Hier sei angemerkt, dass hypnotische Virtuosen nicht selten eine starke Sympathie für ihre Hypnotiseure entwickeln, die bis hin zur Verliebtheit, wenn nicht Hörigkeit gehen kann. Die Hypnose wird von ihnen häufig als überaus lustvoll erlebt.

Wie bereits erwähnt, wurden außerhalb der Salpêtrìere Zweifel daran laut, dass die in dieser Anstalt beobachteten Phänomene tatsächlich natürliche Merkmale des hypnotischen Prozesses seien. Binet und Féré begegnen dem Einwand, es sei nirgendwo als in der Salpêtrìere gelungen, diese Erscheinungen hervorgerufen, u. a. mit folgendem höchst verräterischen Einwand: Erstens müsse eine Versuchsperson  gewählt werden, die an “epileptischer Hysterie” leide und zweitens müsse dieselbe Hypnosemethode angewendet werden wie in der Salpêtrìere.

“Es muss eingeräumt werden”, schreiben die Autoren, “dass sogar bei Versuchspersonen, die an epileptischer Hysterie leiden, sich die Ergebnisse von denen, die Charcot erhielt, unterscheiden, weil die Patienten einem anderen Modus operandi unterworfen wurden; weil sie, mit anderen Worten, nicht dieselbe hypnotische Erziehung erhielten (Binet & Féré (1888), 160).”

Deutlicher könnte man es kaum artikulieren, dass Charcots Patienten einer hypnotischen Dressur unterworfen wurden, damit sie Verhaltensmuster zeigten, die einer vorgegebenen Theorie entsprachen.

Charcot wollte beweisen, dass bestimmte hypnotische Phänomene existieren. Und so suchte er Versuchspersonen aus, bei denen diese Phänomene in einer derart übertriebenen Weise in Erscheinung traten, dass kein Raum für Zweifel blieb (Binet & Féré, 1888, 162).

Binet und Féré waren, als treue Schüler ihres Meisters, natürlich davon überzeugt, dass es sich bei diesen Phänomenen um natürliche Merkmale des hypnotischen Zustandes handele. Würdigt man jedoch die Umstände insgesamt, dann ist die Hypothese wahrscheinlicher, dass Charcot und seine Getreuen ihre Patienten hypnotisch dressierten, sich infolge bestimmter Auslösereize bizarr zu verhalten.

Zum besseren Verständnis sei hinzugefügt, dass hypnotische Virtuosen hervorragend darauf verstehen, die Wünsche und Absichten ihrer Hypnotiseure zu erraten. Und so ist es nicht auszuschließen, dass Charcot und seine Mitarbeiter tatsächlich davon überzeugt waren, genuine Merkmale der Hypnose hervorzulocken, also Merkmale, die sich automatisch einstellen, sobald eine bestimmte Stufe der Hypnose erreicht ist. Sie kamen vermutlich gar nicht auf die Idee, dass sie  methodische Kunstprodukte produzierten.

Es sei sehr seltsam, schreiben Binet und Féré, dass die Hypnotiseure im Hospital von Nancy keine Kontrakturen bei Hypnotisierten beobachtet hätten, wenn Nerven, Sehnen oder Muskeln gereizt wurden. Wenn es wahr sei, dass keine Versuchsperson irgend eine der physischen Reaktionen auf Reizungen, die Charcot beschrieben habe, gezeigt hätte, dass bei ihnen vielmehr alles auf Suggestionen zurückzuführen gewesen sei, dann seien sie zu der Schlussfolgerung gezwungen, es gebe keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass auch nur eine der Versuchspersonen im Hospital von Nancy tatsächlich hypnotisiert war (Binet & Féré, 1888, 169).

Die Schule der Salpêtrìere versuchte zu beweisen, dass das voll entfaltete Bild der Hypnose ein Zustand des Nervensystems sei, der sich nur bei Menschen mit einer bestimmten seelischen Erkrankung, der Hysterie nämlich, einstelle und der bestimmte, gleichsam naturgegebene physische Merkmale aufweise.

Dieser Versuch ist gründlich gescheitert. Die Resultate beweisen eher das Gegenteil: Die Hypnose ist eine Inszenierung, die dem Theaterspielen ähnlicher ist als einem pathologischen Verhaltensmuster. Dies schließt nicht aus, dass Hypnotisierten und Hypnotisiere der wahre Charakter der Hypnose keineswegs bewusst ist. Echte Hypnose ist unbewusste Schauspielerei.

Mitunter weigerten sich die Hypnotisanden, Binets und Férés Befehle auszuführen; die Autoren führten dies auf zwei mögliche Gründe zurück:

  • Entweder war der Befehl nicht autoritär, nicht entschlossen genug,
  • oder aber der Widerstand war ein Zeichen des Überlebens der Persönlichkeit.

In letztgenanntem Fall wurde, so die Autoren, die Persönlichkeit durch den hypnotischen Schlaf nicht vollständig zerstört (Binet & Féré (1888), 288).

Falls der Hypnotisierte jedoch keinen Widerstand zeigt oder dieser überwunden werden konnte, so gleiche der suggerierte Handlungsimpuls den unbezwingbaren Antrieben von Wahnsinnigen in zwei Hinsichten:

  • erstens bezüglich der Seelenqual, die der Hypnotisierte erleide, wenn er an der Verwirklichung der suggerierten Handlung gehindert werde
  • und zweitens bezüglich der Erleichterung, die er empfinde, wenn er dem Befehl dann endlich gehorchen könne (Binet & Féré (1888), 292).

Ihm wird dann aber keineswegs bewusst sein, dass er unter Zwang agiert hat, vielmehr wird er glauben, aus eigenem Antrieb gehandelt zu haben und an dieser Einschätzung auch unbeirrt festhalten, wenn man ihn mit der Absurdität eventueller Rationalisierungen seiner Motive konfrontiert.

Literatur

Binet, A. (1896). Alterations of Personality. New York: D. Appelton and Company

Binet, A. & Féré, C. (1888). Animal Magnetism. New York: D. Appelton and Company

Braude, S. E. (1995). First Person Plural. Multiple Personality and the Philosophy of Mind. Revised Edition. Lanham, Maryland: Rowman & Littlefield Publishers

Charcot, J. M. (1886). Neue Vorlesungen über die Krankheiten des Nervensystems insbesondere über Hysterie. Autorisierte Ausgabe von Dr. Sigmund Freud. Leipzig und Wien: Toeplitz und Deuticke

Corbin, A. (1999). Kulissen. In: Ariès, P. & Duby, G. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. 4. Band: Von der Revolution zum Großen Krieg. Himberg bei Wien: Wiener Verlag (Bechtermünz Verlag)

Ellenberger, H. F. (1996). Die Entdeckung des Unbewussten. Geschichte und Entwicklung der dynamischen Psychiatrie von den Anfängen bis zu Janet, Freud, Adler und Jung. Vom Autor durchgesehene zweite, verbesserte Taschenbuchauflage. Zürich: Diogenes

Gauld, A. (1975). A history of hypnotism. Cambridge: Cambridge University Press (Taschenbuchausgabe)

Huber, M. (1995). Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag

Lehman, A. (2009). Victorian Women and the Theatre of Trance: Mediums, Spiritualists, and Mesmerists in Performance. Jefferson, N. C.: McFarland & Company, Publishers

Munthe, A. (1929). The Story of San Michelle. New York: E. P. Dutton & Co., Inc.

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“Psychische Krankheiten”, Hausmittel und Tugenden

Ein Volk von “psychisch Kranken”

Es gibt keine objektiven Verfahren, um eine psychiatrische Diagnose zu erhärten, keine Labortests, kein Blutbild, keine “Brain Scans”, nichts. Ob jemand psychisch krank ist oder nicht, entscheidet der Arzt, am besten im Einvernehmen mit dem Patienten und seinen Angehörigen. Die Existenz “psychischer Krankheiten” kann man ebenso wenig beweisen wie die Existenz Gottes; also liegt es nahe, aus der Psychiatrie eine Religion auf theologischer Grundlage und mit entsprechender Priesterschaft zu machen.

Unter diesen Bedingungen nimmt es nicht wunder, dass der Erfolg psychiatrischer Behandlungen fast ausschließlich von Faktoren abhängt, die nichts mit den eingesetzten Methoden und Mitteln zu tun haben. Denn wenn man die Ursachen nicht kennt, dann kann man auch nicht gezielt behandeln und ist gezwungen, die Verfahren willkürlich, “auf gut Glück” auszuwählen. Wer nach Lourdes pilgert und, siehe: es hilft, muss schließlich auch daran glauben, dass die Jungfrau Maria geheilt habe. Bei Licht betrachtet, gibt es nicht den Hauch eines Beweises dafür, dass die tatsächlich der Fall war.

Daher sind die entscheidenden Faktoren des “Behandlungserfolges” der Psychiatrie im Reich des Glaubens zu suchen; maßgeblich sind

  • die Überzeugung des Therapeuten von der Überlegenheit seines Behandlungsansatzes, seiner Medikamente, seiner psychotherapeutischen Methoden
  • die Überzeugung des Patienten, mit seinem Therapeuten, seinen Mitteln und Methoden eine Erfolg versprechende Wahl getroffen zu haben
  • die Fähigkeit und Bereitschaft des Therapeuten, seinen Glauben zu missionieren
  • die Fähigkeit und Bereitschaft des Patienten, sich in die gewünschte Richtung zu verändern.

Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass Laien genauso erfolgreich Psychotherapien verwirklichen können wie Profis und dass Heilpraktiker mit ihren Globoli wahre Wunder zu wirken vermögen. Da nämlich das Krankheits-, das Gesundheits- und das Gefühl einer Verbesserung bzw. Verschlimmerung des Leidens nur von einem Maßstab abhängen, nämlich dem subjektiven Empfinden des Patienten, kommt es auf die Ausbildung und Berufserfahrung des Helfers überhaupt nicht an.

Die seelische Befindlichkeit eines Menschen unterliegt bekanntlich Schwankungen, nicht nur bei den angeblich Manisch-Depressiven. Das Leben ist eine Achterbahnfahrt. Wenn sich Menschen in einem Stimmungstief befinden, dann wird es ihnen mit der Zeit meist von allein wieder besser gehen. Das ist der Lauf der Dinge. Unterziehen sie sich also in einer solchen miserablen Situation einer psychiatrischen Therapie, so könnte es sich bei einem Behandlungserfolg durchaus um einen Effekt gehandelt haben, der auch ohne ärztliche oder psychologische Maßnahmen eingetreten wäre, einfach nur so.

Es gibt natürlich Patienten, die auf ihre Psychotherapie oder ihre Medikamente schwören. Sie lassen sich in ihrem Glauben auch nicht durch wissenschaftliche Studien erschüttern, die eindeutig belegen, dass Psychopharmaka und Psychotherapien, wenn überhaupt, entweder nicht nennenswert effektiver sind als Placebos oder, wie Straßendrogen, Missstimmungen bzw. Fehlverhalten durch künstliche Euphorie oder Apathie nur unterdrücken.

Auf den ersten Blick scheint dies ein gutartiger Selbstbetrug zu sein; schließlich ist der Glaube des Patienten an die Heilkraft seiner Behandlung der entscheidende Erfolgsfaktor. Doch bei näherer Betrachtung erweist sich dieser Selbstbetrug als ein zweischneidiges Schwert:

  • Der Patient erfährt nicht, dass er sich de facto aus eigener Kraft verändert hat (und beraubt sich dadurch einer wichtigen, mehr, der effektivsten Motivationsquelle zur Meisterung zukünftiger Probleme)
  • Der Patient läuft Gefahr, von Therapeuten, Therapien und Therapeutika abhängig zu werden.

Man könnte nun einwenden, dass die Dinge und die Menschen nun einmal so seien, wie sie seien und dass eine Heilung oder Linderung des Leidens ein Wert an sich sei, unabhängig davon, wie dieses Segnungen zustande kamen.

Auf den ersten Blick ist dies ein plausibles Argument. Schaut man aber genauer hin, so zeigt sich, dass dieser scheinbar segensreiche Wunderglaube auf einer gesellschaftlich verankerten Ideologie beruht, die auf folgenden Grundsätzen fußt:

  • Seelisches Leiden, das vom Normalen abweicht, ist die Folge eines individuellen Krankheitsprozesses in der Psyche und im Nervensystem des Betroffenen
  • Zur Behandlung solchen Leidens bedarf es des Arztes
  • Die vom Arzt eingesetzten Methoden und Mittel können eine Heilung oder Linderung des Leidens bewirken
  • Der Patient ist das passive Objekt ärztlicher Maßnahmen
  • Seine Verantwortung besteht allein darin, sich rechtzeitig der Hilfe des Arztes zu versichern und seinen Anweisungen zu folgen.

Mit anderen Worten: Auch wenn sich Patienten nach einer psychiatrischen Behandlung besser fühlen sollten, so bezahlen sie einen hohen Preis dafür. Sie verzichten, zumindest vorübergehend, oftmals aber lebenslang, darauf, als vollwertige, mündige Bürger betrachtet werden zu können.

Dass eine derartige Ideologie in einem demokratischen Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts tatsächlich noch Fußhalt findet, ist nicht schwer zu verstehen, wenn man bedenkt, wie wenig Menschen leider auch in diesem Jahrhundert den Anforderungen eines demokratischen Rechtsstaats entsprechen. Dass aber auch emanzipatorische, bürgerrechtlich gesinnte politische Kräfte, beispielsweise im linken Spektrum oder unter den radikal Freiheitlichen, dieses Thema nur selten kritisch aufgreifen, erschüttert, ja, empört mich.

  • Wie will man denn progressive gesellschaftliche Entwicklungen mit Menschen vorantreiben, die sich selbst für psychiatrische Fälle halten, wenn sie feststellen, dass sie von der Norm abweichen?
  • Wie will man denn progressive gesellschaftliche Entwicklungen mit Menschen vorantreiben, die auf Wunderheilungen vertrauen, wenn es ihnen seelisch schlecht geht, anstatt sich auf die eigene Kraft zu besinnen?

Vielleicht denkt man in diesen Kreisen ja, es handele sich nur um eine verschwindende Minderheit, um “psychisch Kranke”, die politisch nicht ins Gewicht fallen. Dabei wird dann aber vergessen, dass Experten die Zahl der “psychisch Kranken” in Europa auf jährlich 33 Prozent schätzen. Die meisten Menschen, denen eine derartige Diagnose zuteil wird, glauben auch an diese; viele von ihnen hängen der psychiatrischen Religion aktiv an; nur wenige fühlen sich durch psychiatrische Diagnosen verleumdet und protestieren dagegen. Die “psychischen Krankheiten” liegen eindeutig im Trend. “Psychisch Kranke” werden, wenn es so weitergeht, schon bald nur noch eine gefühlte Minderheit sein.

Zehn Hausmittel gegen die Psychiatrie

Allein, niemand ist gezwungen, sich seinem Schicksal zu ergeben, und darauf zu warten, dass ihn die psychiatrische Diagnose ereilt. Wer sich als psychisch gefährdet betrachtet, weil sein Verhalten und Erleben Merkmale aufweist, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden könnten, darf jedoch hoffen. Es gibt uralte Hausmittel gegen die Psychiatrie.

  1. Gedichte. “A poem a day keeps the psychiatrist away.” Diesen Spruch entdeckte ich vor rund 45 Jahren an einer Toilettenwand in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt mit Ausblick auf eine Gracht in Amsterdam. Er hat sich in mein Gehirn eingebrannt und mich sicher durch mein bisheriges Erwachsenenleben geleitet. Es ist allerdings ratsam, die Wirkung des täglichen Gedichts durch eine Patientenverfügung zu verstärken. Wer ein Gedicht schreibt, versucht, ob ihm dies bewusst ist oder nicht, ein Gefühl zu vergeistigen. Wer sich täglich in dieser Kunst übt, schützt sich vor “Depressionen”, indem er Traurigkeit und innere Leere in süße Melancholie verwandelt. Ein selbst geschriebenes Gedicht hilft auch bei Abirrungen unseres Verstandes, weil es den Geist wieder an sein Material, an die Stimmungen und Bilder im Seelengrund, bindet. Kurz: Es gibt kaum eine Gefährdung des psychischen Gleichgewichts, die nicht durch ein wenig Lyrik gemildert werden könnte. Zeigen Sie Gedichte, die als Heilmittel gedacht waren, niemandem; auch nicht der besten Freundin oder einem guten Freund. Dies würde die Wirkung zumindest abschwächen, wahrscheinlich aber zerstören, wenn nicht ins Gegenteil verkehren.
  2. Tagebuch. Ein Tagebuch gibt dem Leben Struktur, vorausgesetzt, dass es regelmäßig und möglichst täglich geführt wird. Allein durch die Aufgabe, die Ereignisse des Alltags auf den Begriff zu bringen, zwingen wir uns, unser Dasein geistig zu ordnen. Dies wirkt der Neigung entgegen, sich in Beliebigkeit zu verlieren. Es gibt zwei Varianten des Tagebuchs, nämlich das geheime und das öffentliche. Ins geheime Tagebuch gehören Gedanken, die das Selbstverständnis fördern sollen; das öffentliche wird mit Selbstverpflichtungen gefüllt. Die “Pflasterritzenflora” verpflichtet mich beispielsweise, bei jeder sich bietenden Gelegenheit meine Pritsche hervorzuholen und auf die Psychiatrie einzudreschen. Gäbe es dieses öffentliche Tagebuch nicht, ach, oft genug wäre ich zu faul, zu träge für diese mentalsportliche Übung.
  3. Cut-up. Cut-up ist eine literarische Technik, die durch den Schriftsteller William S. Burroughs, einer Gallionsfigur der “Beat Generation”, bekannt gemacht wurde. Sie besteht darin, Texte virtuell oder physisch zu zerschneiden und die Fragmente zufällig wieder zusammenzufügen. Mitunter entstehen dadurch neue Sätze, deren Sinn sich unmittelbar erschließt, meist aber handelt es sich um scheinbar sinnlose Wortkombinationen, die jedoch neue Gedanken anregen können. Man kann diese Methode benutzen, um eingefahrene Schemata des Denkens zu zertrümmern. Auf diese Weise befreit man sich von den oft schon in der Kindheit eingetrichterten Weltsichten und Selbstbildern. Als Ausgangsmaterial können beispielsweise Abschnitte aus dem geheimen Tagebuch dienen.
  4. Meditation. Versenken Sie sich in sich selbst. Es ist ganz gleich, welche Methode sie anwenden. Es gibt nämlich keine, die besser wäre als alle anderen. Ich bevorzuge das Meditieren im Stehen auf einem Bein. Aber das ist natürlich nicht jedermanns Sache. Wenn Sie einen Guru brauchen, der Sie in die Kunst der Meditation einführt, dann nehmen Sie den billigsten; die anderen sind ihr Geld nicht wert. Beim Meditieren kommt es darauf an, sich auf ein stark eingegrenztes thematisches Feld zu konzentrieren und alles andere an sich vorbeiströmen zu lassen. Hinterher wird sich eine besinnliche Leichtigkeit einstellen. Wenn Sie täglich üben, werden Sie mit der Zeit gelassener, lassen sich nicht mehr so leicht provozieren – und da Provokationen sehr häufig Kontakten mit Psychiatern unmittelbar vorausgehen, kann der Wert dieses uralten Heilmittels gar nicht überschätzt werden.
  5. Borussia Dortmund. Viele Menschen, die sich zum Psychiater getrieben fühlen, leiden unter der Sinnleere ihres Daseins. Das muss nicht sein. Philosophen meinen, die Welt habe an sich keinen Sinn, sie sei ein kaltes Universum, dass dem menschlichen Schicksal neutral gegenüberstünde. Der Mensch könne den Sinn seines Lebens nicht finden, er müsse ihn erfinden. Werden Sie Fan von Borussia Dortmund. Sie werden feststellen, wie sich, unmittelbar nach diesem Entschluss, die Wellen des Lebenssinns kraftvoll an den Ufern ihrer Seele brechen. Arme Tröpfe, die Bayern München oder anderen Operettenclubs anhängen, werden nun wahrscheinlich murren; aber was hülfe es denn, ihr hättet die deutsche Meisterschaft gewonnen, aber eure Seele verloren? Spaß beiseite: Heilsam ist ein Objekt unbedingter Verehrung (und diese darf durchaus augenzwinkernd sein).
  6. Zweifel. Glauben führt zum schlechten Gewissen und, ach, wie oft landen Menschen beim Psychiater, weil sie das schlechte Gewissen quält. Das muss nicht sein. Das seelische Korsett, dieses Werkstück aus den Fabriken der Erziehung und Ausbildung, löst sich augenblicks in seine Bestandteile auf, wenn man sich des Glaubens entschlägt und zu zweifeln beginnt. Sie dürfen, sie müssen an allem, an allem zweifeln – nur nicht an Borussia Dortmund, versteht sich. Wer regelmäßig in der Pflasterritzenflora blättert, weiß: Mit gesunder Skepsis und im Licht der empirischen Forschung betrachtet, erweist sich die “Wissenschaft” der Psychiatrie als ein gewaltiger, gemeingefährlicher Schwindel. Und so ist der Zweifel ein wichtiges Vorbeugungsmittel gegen geistige Verirrungen und Verwirrungen.
  7. Zorn. Sie sind immer nett, höflich und hilfsbereit. Sie kümmern sich um die Leidenden und helfen alten Mütterlein über die Straße. Kein Tadel. Fördernd ist das gute Benehmen. Allein: Das ist nicht genug. Hin und wieder müssen Sie zornig sein, und zwar öffentlich, deutlich, unmissverständlich. Schon der liebe Gott zürnte das eine ums andere Mal, aber gewaltig. Wie sonst hätte er sich gegen diese Menschenbrut denn auch durchsetzen sollen? Hüten Sie sich aber vor heiligem Zorn. Dem richtig Zornigen ist nichts heilig. Zürnen Sie vielmehr klug und mit Bedacht. Randalieren sie nicht, machen Sie andere randalieren. Dann sind die es, denen der Psychiater droht.
  8. Revolte. Ist Ihnen schon aufgefallen, dass echte Anarchisten bis ins hohe Alter gesund und munter bleiben? Das ist kein Wunder. Wer zeitlebens die Gewalten der Unterdrückung und Ausbeutung nach Kräften ärgert, wirkt körperlichem und geistigem Verfall machtvoll entgegen. Manche werden dadurch sogar unsterblich. Haben Sie keine Angst davor, deswegen keine Karriere zu machen oder einen Knick derselben mutwillig herbeizuführen. Was nützt Ihnen denn die Karriere, wenn sie diese als moralischer Idiot durchlaufen?
  9. Wissen. Lernen Sie. Lernen Sie so viel wie möglich. Verwechseln Sie aber nicht das Lernen mit dem Verlernen, zu dem Sie die Ideologen verleiten wollen. Die einmalige Lektüre einer Mainstream-Zeitung kann Jahre des Fleißes zunichte machen. Wussten Sie das? Also Vorsicht. Lernen heißt nachprüfen. Wissen wird nicht von Autoritäten vermittelt. Es stammt vielmehr aus der empirischen Forschung. Tatsachen zählen. Eine Behauptung ohne Begründung ist nichts wert. Eine Behauptung, deren Begründung eine weitere Behauptung ist, auch nicht. Erst wenn eine Behauptung ihren Grund in Sachverhalten findet, die man direkt oder indirekt beobachten kann, darf man sie ernst nehmen. Wie viele Menschen beispielsweise werden “psychisch krank”, weil sie sich minderwertig fühlen und weil sie glauben, dass jeder seines Glückes Schmied sei – in dem Sinne, dass er alle gesetzten Ziele erreichen könne, wenn er nur fleißig und klug sei. Doch wer die Tatsachen unserer sozialen und ökonomischen Realität studiert, erkennt schnell, dass solche neoliberalen Weisheiten Bullshit sind. Im Grund ist Wissen das beste Heilmittel gegen die Psychiatrie.
  10. Solidarität. Es ist gut, Gedichte zu schreiben, Tagebuch zu führen, Cut-up zu praktizieren, zu meditieren, auf Borussia Dortmund nichts kommen zu lassen, außer am Verein an allem zu zweifeln, zornig zu sein, zu revoltieren, sich zu bilden, allein: Erst durch gegenseitige Hilfe kann die Heilkraft dieser alten Hausmittel dank wechselseitiger Wirkungsverstärkung voll ausgenutzt werden. “A poem a day keeps the psychiatrist away!” Das stimmt, aber nur in Kombination mit einem anderen Lokusspruch, den ich vor rund 45 Jahren an der Wand eines Schulklos entdeckte: “Allein machen sie dich ein!” Es geht schließlich darum, Missetäter in ihre Schranken zu verweisen und Schuldige ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Fast immer, wenn Menschen in den Strudel der Psychiatrie geraten, haben sie sich durch arge menschliche Niedertracht dort hineinstoßen lassen. Dies wird nie enden, solange die Opfer sich in duldsamen Schafen ihr Vorbild suchen.

Die zehn Tugenden der Freien

Wer sich durch diese Hausmittel gestärkt hat und sich nicht mehr in allzu großer Gefahr sieht, einer psychiatrischen Diagnose anheimzufallen, wird vermutlich lange verschüttete Tugenden in sich (wieder-)entdecken, die es zu fördern und zu pflegen gilt: Die Tugenden der Freien.

  1. Selbstbeherrschung. Diese zutiefst notwendige Tugend steht seit einigen Jahrzehnten nicht mehr besonders hoch im Kurs. Ich erinnere mich an den Boom der Selbsterfahrungsgruppen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. In diesen war Selbstbeherrschung verpönt, galt als Sünde wider das seelische Wachstum. Wer seinen Gefühlen nicht freien Lauf ließ oder, schlimmer noch, sein Denken und Verhalten strenger Zucht unterwarf, galt als charakterlich erstarrt und musste massiver Körpertherapie unterworfen werden. Doch ein Vers von Goethe sagt in der denkbar kürzesten Form, dass der Verzicht auf Selbstbeherrschung zur lebenslangen Knechtschaft führt. “Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht. Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer ein Knecht.” Die Selbstbeherrschung ist eine Tugend, die geübt werden will. Sie wird uns nicht in die Wiege gelebt. Menschen neigen von Natur aus dazu, ihren spontanen Impulse zu gehorchen; und Eltern neigen von Natur aus dazu, die spontanen Impulse ihrer Kinder zu unterdrücken. Dies ist, zumindest zu einem erheblichen Teil, auch unerlässlich, solange die Kinder noch nicht zur Vernunft gekommen sind. Sobald sich diese aber einstellt, müssen Menschen, die nicht Knecht bleiben wollen, lernen, sich selbst zu disziplinieren. Sonst droht die Psychiatrie. Die zentrale Botschaft, die das Psychiatrie-Marketing mithilfe der Medien in die Köpfe der Menschen einhämmert, lautet: Ihr könnt auch nicht selbst kontrollieren; bei seelischen Problemen bedürft ihr des Arztes, der euch, wie kleine Kinder, bei der Hand nimmt und euch, zu eurem Besten, den Weg weist. Mitunter fördern auch psychiatrische Maßnahmen die Selbstbeherrschung, aber nur scheinbar. Denn in diesen Fällen werden die “Patienten”, beispielsweise in einer Psychotherapie, geschult, sich gemäß psychiatrischer Vorgaben selbst zu beherrschen. Sie werden dadurch gleichsam zu Vasallen im eigenen Königreich, dem Reich ihrer Seele. Im Allgemeinen aber verstärkt die Psychiatrie Disziplinlosigkeit. Denn wer seine inneren Impulse mit Pillen unterdrückt, lernt niemals, sie aus eigener Kraft zu beherrschen. Im Gegenteil: Die ohnehin schwache Fähigkeit zur Selbstbeherrschung verkümmert sogar unter dem Einfluss dieser “Knopfdruck-Lösungen” für psychische Probleme.
  2. Rationalität. Ebenfalls seit Jahrzehnten beobachte ich eine Tendenz in den Medien, sachliche Themen auf einer personalisierenden und emotionalisierenden Ebene zu präsentieren. Es wird vermutet, dass dies eine Folge des zunehmenden Einflusses der feministischen Ideologie sei. Wenn dies der Fall sein sollte, dann würden sich die Frauen damit einen Bärendienst erweisen. Denn die wichtigste Hilfsquelle der Selbstbeherrschung ist zweifellos die Rationalität. Da aber auch eine Frau ohne Selbstbeherrschung immer eine Magd bleibt, darf sie sich nicht wundern, wenn ihr die Emanzipation trotz feministischer Einstellung nicht gelingen will. Die Oberfeministinnen, die es nach oben geschafft haben, zeichnen sich meist gerade dadurch aus, dass sie eiskalt und berechnend auf ihren Vorteil bedacht sind. Selbstverständlich plädiere ich nicht dafür, seine Gefühle zu unterdrücken, denn bekanntlich funktioniert das nicht. Sie tauchen, wie ein Korken, den man unter Wasser drückt, immer wieder auf. Daher muss man lernen, seine Gefühle zu meistern; sie in den Dienst der Vernunft zu stellen. Wer sich diese Tugend in einer Psychotherapie anverwandeln möchte, wird in aller Regel enttäuscht. Denn viele Therapeutinnen und sogar Therapeuten sind offensichtlich davon überzeugt, dass Heilung von reichlich Tränen und unkontrollierten Gefühlsausbrüchen begleitet sein müsse. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wer seinen Gefühlen ausgeliefert ist, wer keinen Abstand von ihnen gewinnen kann, der wird ihnen auch nicht nahe kommen, der wird sich niemals im Glanz voll entfalteter Gefühle sonnen können.
  3. Beharrlichkeit. Die heutige Psychiatrie setzt zunehmend auf Pillen zur schnellen Überwindung von Befindlichkeitsstörungen aller Arten. Der Pharmaindustrie wird, und dies nicht unbedingt scherzhaft, nachgesagt, sie erfinde zu neuen Wirkstoffen die jeweils passenden psychischen Erkrankungen. Doch selbst wenn Psychotherapien angeboten werden, so sollte diese möglichst schnell zum Ziel gelangen und das störende Muster des Verhaltens und Erlebens ausschalten. Doch überall da, wo Menschen aus eigener Kraft erfolgreich waren, sei es in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Kunst oder im Sport, war das Geheimnis des Erfolges fast immer die Beharrlichkeit. Es kommt darauf an, nicht aufzugeben, trotz anfänglicher Misserfolge und trotz kritischer Stimmen oder wohlmeinender Freunde, die zum Umsatteln raten. Man muss sich in eine Sache, die einem am Herzen liegt, die man besitzen, die man beherrschen will, mit aller Kraft verbeißen. Beharrlichkeit bringt Heil!, heißt es in den Weisheitsbüchern des alten China.
  4. Selbstvertrauen. Nichts ruiniert das Selbstvertrauen eines Menschen zuverlässiger, schneller und nachhaltiger als eine psychiatrische Diagnose. Denn ihre Botschaft lautet: Nicht du, sondern eine Krankheit deines Gehirns, ist für deine Probleme verantwortlich – und darum bist auch nicht du, sondern der Arzt, der diese Krankheit zu behandeln versteht, für deine Heilung oder die Linderung deines Leidens verantwortlich. Selbstvertrauen ist aber kein Gefühl, das sich von allein einstellt. Ebenso wie das Vertrauen in andere ist das Selbstvertrauen auf Signale angewiesen, die darauf hindeuten, das es gerechtfertigt sei. Im Falle des Selbstvertrauens kann nur das Selbst diese Signale setzen. Nur durch eigenes Handeln kann man sich selbst davon überzeugen, dass man sich selbst vertrauen kann. Handeln nach Vorschrift des Arztes ist keine selbstvertrauensbildende Maßnahme, sondern führt allenfalls dazu, dass wir dem Arzt zu vertrauen lernen. Die wichtigste Hilfsquelle der Beharrlichkeit ist jedoch das Selbstvertrauen. Wer nicht an sich selber glaubt, der wird den Frustrationen nicht gewachsen sein, die sich unweigerlich einstellen, wenn man auf schwierigem Weg beharrlich voranschreiten möchte. Warum sollte man sich anstrengen, wenn man es ja doch nicht schafft? An der nächsten Straßenecke kannst du dir in der Praxis eines Psychiaters ein Rezept für eine Pille abholen, und dann fühlst du dich gleich besser, auch wenn du deine selbst gesteckten Ziele nicht aus eigener Kraft erreichst; was soll’s?, dies wird dir schon bald ganz gleichgültig sein, wenn du nur regelmäßig deine Pille schluckst und deinem Arzt vertraust.
  5. Eigensinn. Eigensinn gilt als etwas Negatives, mitunter sogar Verwerfliches. Eigensinnig sind Leute, die nicht so wollen, wie sie sollen, die sich gegen anerkannte Autoritäten oder die Gemeinschaft insgesamt stellen, die sich für zu wichtig nehmen, die sich selbst überschätzen, die immer im Mittelpunkt stehen wollen und was der Abwertungen mehr sind. Eigensinn ist nur statthaft bei Leuten, die Macht haben; er wird als Privileg des Souveräns begriffen. Der Untertan darf nicht eigensinnig sein. Er soll darauf achten, was die Vorgesetzten für richtig halten, was die Mehrheit der Kollegen denkt, was am Stammtisch gesagt, was im Fernsehen gesendet und in der Press gedruckt wird. Diesem Mainstream soll er sein Denken unterordnen, damit er nicht aneckt und den Betrieb aufhält. Das Nachdenken möge er doch jenen überlassen, die eine entsprechende Lizenz dafür ihr eigen nennen, weil sie Machthaber oder Experten sind. Die wichtigste Hilfsquelle des Selbstvertrauens ist allerdings der Eigensinn. Denn das Selbstvertrauen hängt von der Bewertung des eigenen Handelns ab. Erfolg oder Misserfolg, das ist hier die Frage. Die Bewertung setzt Maßstäbe voraus. Wenn jemand beispielsweise berechtigterweise den Chef kritisiert und sich deswegen Aufstiegschancen verbaut, dann darf er sich, gemessen an den Maßstäben des Mainstreams, als Versager fühlen; aber, an die Elle des Eigensinns angelegt, kann diese Kritik durchaus ein Beweis dafür sein, dass man sich nicht mehr alles bieten lässt, sich wieder im Spiegel in die Augen schauen kann, kurz: Dieser Mut zur Kritik kann ein Signal für berechtigtes Selbstvertrauen sein.
  6. Widerspruchsgeist. Eigensinn geht zwangsläufig mit Eigenunsinn einher. Wenn ich erkenne, was für mich selbst gut und richtig ist, dann entwickelte ich auch ein Gespür dafür, was ich mir nicht aufzwingen lassen darf. Je klarer ich also meinen Eigensinn ins Auge zu fassen und als begründet zu erkennen vermag, desto heftiger wird auch mein Widerspruchsgeist entfacht. Und das ist auch gut so. Wer seinen Widerspruchsgeist stärken will, sollte nach Möglichkeit die Psychiatrie meiden, denn dort sitzen Spezialisten für das Brechen des Widerstands und das Vermitteln von “Krankheitseinsicht”, wobei ihnen brachiale Methoden zu diesen Zwecken nicht fremd sind. Widerspruchsgeist ist jedoch naturgemäß der entscheidende Gradmesser des Eigensinns, denn je mehr Fremdsinn man sich zumuten lässt, desto weniger Raum kann sich der Eigensinn aneignen.  Die meisten der so genannten psychischen Störungen entstehen durch passive Anpassung an unzumutbare Verhältnisse. Dabei kann das, was zumutbar ist, nur im Licht individueller Möglichkeiten und Grenzen beurteilt werden. Zumutbarkeit kann niemals eine soziale Norm sein; unzumutbar ist, was sträflich den Eigensinn missachtet.
  7. Kampfgeist. Wenn ein Ohnmächtiger Widerspruchsgeist zeigt, muss er damit rechnen, dass früher oder später das Imperium zurückschlägt. Die jeweils Mächtigeren in sozialen Gefügen lieben es ganz und gar nicht, wenn Untergeordnete wider den Stachel löcken. Um im Kampf nicht mutlos zu werden und vorschnell die Waffen zu strecken, muss man begeistert sein. Die höchste Form der Begeisterung entflammt im Kampf , wenn man nicht nur ein persönlich bedeutsames Ziel vor Augen sieht, sondern wenn man gewiss sein kann, dass man sich für ein übergeordnetes Ziel einsetzt, dass im wohlverstandenen Interesse der Gemeinschaft liegt. Rechter und dauerhafter Kampfgeist setzt also in aller Regel eine Gemeinschaft Gleichgesinnter voraus, mit der man gemeinsame Sache macht. Und wenn es sich bei dieser gemeinsamen Sache nicht um das spezielle Anliegen einer kleinen Gruppe mit Sonderinteressen handelt, sondern um eine Menschheitsaufgabe, dann hat man eine Mission: Möglichst viele Menschen sollen für den Kampf gegen das Böse und für das Gute begeistert werden.
  8. Sinnen auf Rache. Wo Böses getan wurde, muss die Gerechtigkeit wiederhergestellt werden. Die Täter müssen die angemessene Strafe erhalten. Dieses Sinnen auf Rache, verbunden mit kräftigem, aber gezügeltem Hass, ist die wichtigste emotionale Hilfsquelle, um den Kampfgeist lebendig zu erhalten. In den Ohren von Menschen, die unter dem kulturellen Einfluss der christlichen Sklavenreligion stehen, mag es befremdlich klingen, wenn das Sinnen auf Rache und der Hass auf die Bösen zu den Tugenden gezählt wird. Wer so denkt, sollte sich klar machen, dass beispielsweise die Nationalsozialisten niemals besiegt worden wären ohne diese Tugenden. Gerade für Menschen mit psychischen Problemen ist das Sinnen auf Rache eine entscheidende Voraussetzung für deren Lösung. Man denke beispielsweise an eine Frau, die als Kind vom Vater sexuell missbraucht und emotional ausgebeutet wurde. Diese Frau muss rückhaltlos mit dem christlichen Gebot brechen, dass man seine Eltern lieben solle. Nur zu oft werden Patienten, denen von nahe stehenden Menschen Barbarisches angetan wurde, von ihren Therapeuten dazu angehalten, sich mit den Tätern zu versöhnen. Die geheime Botschaft lautet: Wenn du weiterhin unter den Folgen der Taten leidest, dann bist du selber schuld, weil du nicht verzeihen kannst, wie dies von einem guten Christenmenschen und Psychiatriepatienten verlangt werden muss.
  9. Heroischer Nihilismus. Wir leben in einem Universum, das an unseren Geschicken keinen Anteil nimmt. Ihm wohnt kein Sinn für Gerechtigkeit inne, auch keine Tendenz zu Happyend, im Gegenteil: Die ultimative Antwort auf all unser Sinnen und Trachten lautet: Tod. An dieser Beschaffenheit des Universums kann auch die beste Gesellschaftsordnung nichts ändern, ebenso wenig wie ein religiöser Glaube. Dem Dasein wohnt kein Sinn inne, vielmehr sind wir aufgerufen, es mit Sinn zu erfüllen, mit unserem Sinn, mit Eigensinn. Aber auch dem steht das Universum gleichgültig gegenüber. Weil dies so ist, sind wir von Natur aus zu nichts verpflichtet, zu keiner Moral, zu keinem Kampf, noch nicht einmal zum Leben. Wir haben die Wahl. Wenn wir uns, im vollen Bewusstsein der Unausweichlichkeit unserer Lage, dazu entscheiden, Humanisten zu sein und für eine menschengerechte Welt zu kämpfen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle, dann erst werden die Tugenden bedeutsam, von denen ich hier spreche und dann erst können sie als Hilfsquellen für ein gutes Leben verstanden werden. Dies muss, bei allem Hass, bei allem Rachedurst, stets bedacht werden: Wir könnten uns auch anders entscheiden und unseren Frieden machen mit dem, was uns dann vielleicht nicht mehr so unerträglich erschiene. Wir haben die Wahl, und wir müssen die Konsequenzen tragen, die sich daraus für uns und andere ergeben.
  10. Freiheitsliebe. Die Freiheitsliebe ist kein Gefühl, sondern eine Tugend, die unseren Gefühlen beim Entscheiden eine Richtung gibt. Kluge Entscheidungen beruhen auf Gefühlen, die durch rationale Erwägungen gemeistert wurden. Das Maß der Meisterschaft ist die Freiheit. Dies bedeutet, dass unsere Gefühle daran zu messen sind, ob sie Entscheidungen begünstigen, die insgesamt und auf lange Sicht unsere Freiheit erhöhen. Wenn uns die Furcht vor den Konsequenzen impulsiven Handelns zur Entwicklung unserer Selbstbeherrschung zwingt, so ist diese Furcht ein Ausdruck, eine Facette der Freiheitsliebe. Freiheit bekommt man nicht geschenkt, sie ist auch nicht einfach nur vorhanden oder abwesend, sondern man muss sie ergreifen oder man wird sie preisgeben. Wer keine Wahl zu haben glaubt, dem wird keine Tugend helfen.

Keine Sorge: Ich will Ihnen, lieber Leser, hier nicht die “Zehn-Tugenden-Therapie nach Dr. Gresch” auf Grundlage uralter Hausmittel gegen die Psychiatrie aufschwatzen. Wer wähnt, man müsse nur die alten, die ineffektiven Therapien gegen eine neue Wunderkur austauschen und dann werde alles gut, der irrt sich gewaltig.

Tugendhaft wird man nicht durch Psychotherapien oder Pillen, sondern durch die eigene Entscheidung, sich in den zehn Tugenden zu üben. Die entsprechenden Übungsfelder finden sich nicht in psychiatrischen Kliniken, auch nicht in den Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten, sondern vor allem in der Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die frei sein und nach eigenen Regeln leben wollen.

Literaturempfehlungen

Balt, S. The Placebo Effect: It Just Gets Better and Better

Bohart, A. (2000). The client is the most important common factor. Journal of Psychotherapy Integration, 10, 127-149

Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14

Frank, J. D. & Frank, J. B. (1991). Persuation and Healing: A Comporative Study of Psychotherapy. (3rd ed.). Baltimore: John Hopkins University Press

Kirsch, I. (2009). The Emperor’s New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth. London: The Bodley Head

Steingard, S.: The Emperor’s Antipsychotic Drugs

Turner EH, Knoepflmacher D, Shapley L (2012) Publication Bias in Antipsychotic Trials: An Analysis of Efficacy Comparing the Published Literature to the US Food and Drug Administration Database. PLoS Med 9(3): e1001189. doi:10.1371/journal.pmed.1001189

Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J. & London, Lawrence Erlbaum Ass, Pub.

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Last-Minute-Weihnachtsgeschenk: Die Soul&BodyTools

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Eine Trickkiste, die hält, was sie verspricht

Grundsätzlich rate ich davon ab, Psychotrickkisten zu kaufen. Auch Seminare, in denen ihre Anwendung geschult wird, erspart sich, wer klug ist und sein Geld bzw. seinen Seelenfrieden liebt. Meist ist es ja doch nur Schrott, was man sich da einhandelt, und wenn es ein bisschen was taugt, dann ist es überteuert. Und wer weiß: Vielleicht sitzt dem arglosen Kunden solcher Angebote schon bald eine gut getarnte Sekte im Genick. Also Vorsicht! Bei den Soul&BodyTools mache ich ganz bewusst eine Ausnahme. Nicht nur gehen fünf Euro pro Toolkit an eine gemeinnützige Organisation; die Ware ist vergleichsweise preiswert und – vor allem – sie hält, was sie verspricht. Werden auch Sie jung, schön und erfolgreich dank Dr. Pinta. Die Soul&BodyTools von “Pinta Toolkits” gehören zu den wenigen Trickkisten, die ich uneingeschränkt empfehlen kann. Die von dem genialen brasilianischen Mediziner, Kammersänger, Psychologen und Physiker entwickelten Werkzeuge gehören mit Abstand zum Besten, was der Markt zu bieten hat. Jung, schön und erfolgreich! Das ist nun kein unerfüllbarer Traum mehr.

Es ist so leicht, sein Glück zu machen

Dagegen kann man sich nicht wehren. So wie im Frühling die Säfte steigen, drängen auch in den besinnlichen Stunden der Weihnachtszeit wieder unsere Träume ans Licht. Wäre es nicht herrlich, zu den Reichen und Schönen zu zählen. Wäre es nicht toll, wenn endlich der Traumprinz oder die Königin des Herzens vorbeikämen, zauberhaft lächelten und “Ja” sagten? Das schon lang erträumte Objekt der Sehnsucht, der Lust und Begierde – könnte es nicht plötzlich vor uns stehen und uns gehören? “Hoffen und Harren”, das reimten schon die Alten, “hält manchen zum Narren.” Seien Sie kein Narr! Kommen Sie raus aus dem finsteren Eck der Zukurzgekommenen! Nur passiv zu warten und sein Hemdlein auszubreiten wie Sterntaler, zaubert keinen Goldregen herbei. Lernen Sie die Kunst des “Active Dreaming” mit dem Booster-Dreamer. Dieses und 36 weitere hochwertige Tools für Körper und Seele finden Sie im Werkzeugkasten von Dr. Pinta (ohne Batterien).

Rocmontar Pinta

Dr. Rocmontar Pinta ist ein Phänomen. Aufgewachsen in den Slums von Rio de Janeiro, ein Schwarzer mit unbekanntem Vater und einer Prostituierten als Mutter, lernte er erst mit 14 Jahren Lesen und Schreiben – auf der Straße, von einem Landstreicher, der es gut mit ihm meinte. Damals war Rocmontar ein Schnüffelkind, berauschte sich durch das Einatmen von Klebstoffen, stahl und bot sich Männern an. Doch das Lesen eröffnete ihm eine neue Welt. Er las alles, was er in die Finger bekam, fischte alte Zeitungen aus Abfalleimern, klaute Bücher in Supermärkten, machte schließlich selbst seine ersten Schreibversuche. Je mehr er las und lernte, desto deutlicher wurde ihm, dass seine bisherige Lebensweise keine Zukunft hatte.

Unter Qualen, aber mit eisernem Willen gewöhnte er sich das Schnüffeln ab, brachte sich das Gitarrespielen bei und begeisterte ein immer größer werdendes Publikum in den Fußgängerzonen der südamerikanischen Metropole mit selbstvertonten und -getexteten Liedern. Mit sanften, eindringlichen Klängen beschwor er die Magie des Dschungels und seine kraftvolle, männliche Stimme ließ die okkulte Macht erahnen, die sich in seinen schamanischen Zaubergesängen verkörperte. Einer seiner Zuhörer war ein Psychologie-Professor der führenden Universität Rios. Der aufgeweckte und begabte Junge weckte sein Interesse und in einer Spielpause verwickelte er ihn in ein Gespräch. Der Professor war fasziniert von der Intelligenz und Schlagfertigkeit des Jungen aus den Elendsviertels der Stadt. Und so bat er ihn, an seiner Untersuchung über die Lebensperspektiven von Straßenkindern teilzunehmen.

Eines der herausragenden Ergebnisse der Tests, die Rocmontar nun durchlief, war seine atemberaubend hohe Intelligenz. Der junge Pinta brachte es sage und schreibe auf einen IQ von 185 – und gehörte damit in die Weltliga der Supergescheiten, zusammen mit Goethe, Newton, Einstein und anderen großen Geistern. Daran konnte kein Zweifel bestehen, denn er wurde wiederholt getestet, auch von Koryphäen aus den Vereinigten Staaten. Noch verblüffter aber waren die Forscher, als sie seine emotionale Intelligenz überprüften. Nicht nur seine “Kopf-Intelligenz” war herausragend. Auch seine Bauch-Intelligenz, sein Einfühlungsvermögen, seine Selbstkontrolle und seine Souveränität im Umgang mit Mitmenschen waren unschlagbar. Das war der Durchbruch.

Dank großzügiger Begabtenförderung durch den Staat und private Sponsoren übersprang Rocmontar Pinta alle schulischen und akademischen Hürden mit Leichtigkeit und in atemberaubender Geschwindigkeit. Als er dann mit knapp 24 Jahren vor seiner Habilitation stand, mit den besten Aussichten, der jüngste Professor seines Landes zu werden, hatte er einen Traum, der sein Leben veränderte. In diesem Traum begegnete ihm Usar. Usar ließ ihn wissen, dass er ein Wesen aus einer anderen Sphäre sei – und diese Mitteilung war von einer solchen Kraft, dass Rocmontar sie nie wieder vergessen konnte. Fortan fühlte er sich in Usars Hand. Der Lichtgeist gab ihm aber keine Befehle, noch nicht einmal Ratschläge. Er ermutigte ihn nur, das Beste aus seinem Leben zu machen und sich darauf zu besinnen, wo seine stärkste Begabung liege.

Das Toolkit

Pinta musste sich nicht lange besinnen, Seit Jahren ahnte er, dass er nicht zum Professor geboren worden sei. Auch für die Konzertsäle war er nicht geschaffen, obwohl ihm dort das Publikum zu Füßen gelegen hätte. Er war mit Herz und Seele Entwickler von Psycho-Tools. Schon als Fünfjähriger hatte er begonnen, auf Müllhalden zusammengeklaubte Materialien zu psychisch wirksamen Apparaturen zusammenzubauen und an sich selbst zu erproben. War er nicht der beste Beweis dafür, wie wirksam diese Instrumente waren? Nun setzte er seine ganze Kraft daran, seine Ideen weiterzuentwickeln und in höchster Perfektion zu realisieren. Der Erfolg einer CD mit herzergrreifenden Liebesliedern brachte ihm den erforderlichen finanziellen Rückhalt.

Er zog sich für sechs Jahre in den brasilianischen Dschungel zurück, um nachzudenken, zu forschen, zu experimentieren. Dann war es soweit: Ein Prototyp seiner Soul&BodyTools stand gebrauchsfertig auf dem wackeligen Tisch in seiner Hütte vor ihm. Er selbst war überwältigt, als er die schnittigen und schneidigen Instrumente vor seinen Augen glänzen sah. Erst schlichen die Schamanen seines Dorfes misstrauisch und neidisch um seine Behausung. Doch dann konnten sie sich nicht mehr beherrschen und steckten ihre Nasen in seine Hütte. Hingerissen gaben sie ihren Widerstand auf und schon bald meldeten die Buschtrommeln, dass in Ixquotia – so hieß das Dorf – ein gewaltiger Durchbruch gelungen sei.

Auch den Emissären der Psycho-Industrie blieb nicht verborgen, was die Buschtrommeln verkündet hatten. Sie bedrängten Pinta, ihnen die Rechte an seinen Soul&BodyTools zu verkaufen. Doch Rocmontar hatte die Lehren seiner Kindheit nicht vergessen und er misstraute den Geldleuten aus den Vereinigten Staaten gründlich. Und so entschloss er sich, eine eigene Firma zu gründen, um seine Tools unter dem Markennamen Pinta Toolkits® zu einem fairen Preis zu vermarkten.

Ein bescheidener Mensch

Trotz des rasanten Siegeszugs der Tools rund um den Planeten, trotz seines überwältigenden Erfolges ist Dr. Rocmontar Pinta ein bescheidener Mensch geblieben. Er lebt mit seiner Frau Juanita in einer kleinen Bergstadt in den Anden in einem hübschen Häuschen, ist bei den Nachbarn beliebt und eine Stütze des Kirchenchores. Nur ungern verlässt er diese Idylle, um weltweit auf Kongressen zu sprechen, die UN zu beraten oder Entwicklungsprojekten in unterentwickelten Ländern zur Seite zu stehen. Einen großen Teil seines Gewinnes spendet er für wohltätige, künstlerische und wissenschaftliche Zwecke. Befragt, warum er seine Reais nicht zusammenhalte für schlechte Zeiten, antwortet er mit faszinierendem Schalk in den Augen: “Wozu brauch’ ich Geld, ich hab doch meine Tools?”

PS: Aus gegebenem Anlass: Dieser Text ist Satire. Bitte nicht mehr wegen Bezugsquellen anrufen!

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Frohe Weihnachten, liebe Neger

In Amerika ist es inzwischen verpönt, Kunden oder Mitarbeitern “Merry Christmas” zu wünschen. Auch aus den Werbekampagnen sind die Weihnachtswünsche verschwunden. Ersatzweise heißt es: “Seasons Greetings” oder “Happy Holidays”.

Schließlich möchte man die amerikanischen Moslems, Buddhisten, Hinduisten, Anhänger sonstiger Glaubensgemeinschaften sowie natürlich auch die Freidenker und Atheisten nicht kränken.

Meinungsumfragen haben zwar ergeben, dass 95 Prozent der Amerikaner Weihnachten feiern – und zwar unabhängig vom Glaubens- oder Unglaubensbekenntnis – aber wer meint, “Political Correctness” habe etwas mit realer Diskriminierung zu tun, der hat die ganze Chose nicht verstanden.

Weihnachten ist weltweit kein ausschließlich christliches Fest mehr. Es ist noch nicht einmal ein religiöses Fest. Das ist auch den Kirchen nicht verborgen geblieben. Sie beklagen die zunehmende Kommerzialisierung. Eigentlich könnte also jeder wissen, dass am Weihnachtstag nur noch eine Minderheit in erster Linie die Geburt Jesu feiert. Und so ist es auch rational nicht nachvollziehbar, warum “Frohe Weihnachten” diskriminierend sein soll.

Das Weihnachtsideal besteht heute darin, im Familienkreis zusammenzukommen, sich zu beschenken, gut zu essen und zu trinken, alte Freundschaften zu pflegen. Zuvor muss man sich heftig abrackern, damit man dann, wenn der Stress nach der Bescherung nachlässt, mit besonderem Genuss ein paar Tage die Seele baumeln lassen kann.

Mit Religion hat dieses Ideal erkennbar nichts zu tun. Natürlich kann, wer mag, Religiöses mit Weihnachten verbinden – wer nicht mag, muss deswegen aber auf Weihnachten nicht verzichten. Das ist hier in Deutschland so und in Amerika nicht anders.

Was stößt mir hier so böse, so sauer auf an dieser “Political Correctness”?

  • Es geht offenbar nicht um die Menschen.
  • Es geht offenbar nicht um den Schutz von Minderheiten.
  • Es geht offenbar nicht um die Achtung von Gefühlen.
  • Es geht um die Dressur von Menschen um der Dressur willen.
  • Die Menschen sollen sich in immer weiteren Bereichen ihres Lebens willig abrichten lassen, ohne nach dem Sinn zu fragen.

Früher wurden solche Dressuren religiös legitimiert oder auch nationalistisch. Ein guter Christ (Jude, Moslem etc.) oder ein guter Deutscher (Amerikaner, Brite etc.) tat dieses oder jenes nicht.

Doch heute, in der multikulturellen Gesellschaft, geht die Allgemeinverbindlichkeit der religiösen und nationalen Imperative zunehmend verloren. Daher braucht man die “politische Korrektheit” als verbindliche Leerformel zur Abrichtung menschlicher Tanzbären.

Nun gut, ich räume ein, dass manche politisch korrekten Formulierungen tatsächlich Kränkungen vermeiden.

  • Manche Neger beispielsweise fühlen sich wirklich von diesem alten deutschen Wort beleidigt, obwohl es nicht anders bedeutet als Schwarzer. Denn dieses gute alte deutsche Wort ist ein Lehnwort aus dem Lateinischen.
  • Manche Frauen sind tatsächlich indigniert, wenn man statt LehrerIn einfach nur Lehrer schreibt, um sich auf den Berufsstand insgesamt zu beziehen.

Doch wenn man sich die Natur dieser Kränkungen genauer anschaut, dann springt deren Künstlichkeit ins Auge. Sage ich zu einem anderen in kränkender Absicht: “Du Schwein”!, dann muss der sein Gekränktsein nicht aus einem Wust von Ideologien ableiten – er weiß spontan, dass ich ihn kränken wollte.

Das spontane Wissen stammt

  • erstens aus der sprachlichen Tradition, denn “Schwein” wird im Deutschen bekanntlich als Schimpfwort gebraucht
  • und zweitens ergibt sich die Absicht zur Beleidigung aus dem Kontext der Kommunikation.

Fühlt sich eine Frau aber missachtet, weil ich Lehrer, statt LehrerIn schreibe, dann kann sie dieses Gefühl weder aus der sprachlichen Tradition ableiten oder aus dem Kontext. Dasselbe gilt für “Neger” und für “Frohe Weihnachten”.

In meiner Kindheit war das Wort “Neger” eine neutrale und keineswegs verächtliche Bezeichnung, im Gegensatz zu “Nigger”. Wer Schwarze als “Nigger” bezeichnete, gab sich dadurch als Rassist oder Nazi zu erkennen. Heute wird von manchen die Geschichte umgedeutet: Es wird behauptet, “Neger” sei schon immer diskriminierend gemeint gewesen. Jüngere Leute mögen dies tatsächlich glauben; wenn ältere die behaupten, so passen sie sich wider besseres Wissen der “Political Correctness” an.

Sprach man früher von Lehrern im Allgemeinen, so waren selbstredend die Lehrerinnen eingeschlossen; so funktionierte nun einmal die deutsche Sprache. Meine man aber eine spezielle, so redete man sie mit Frau Lehrerin an, weil auch dies nicht nur die deutsche Sprache vorschrieb, sondern weil es eine Selbstverständlichkeit war. Und man wünschte sich, wenn Christkind oder Weihnachtsmann anrückten: “Frohe Weihnachten!” Keineswegs brachte das saisonale Servicepersonal die Geschenke.

Früher, in meiner Kindheit, hatten all dieses sprachlichen Gepflogenheiten keinen diskriminierenden Unterton. Wer Schwarze, Frauen oder Andersgläubige beleidigen wollte, musste härtere Kaliber auffahren. Dies bedeutet nicht, dass unserer Kultur die Diskriminierung von Farbigen, Frauen und Andersgläubigen fremd wäre, keineswegs. Doch diese Diskriminierung haust nicht in den Wörtern oder Phrasen, sondern in der handfesten Realität. Das Sein aber ändert man nicht im Zeichen. An der Lage eines Lehrlings ändert sich nichts dadurch, dass man ihn Azubi nennt.

Also, liebe LehrerInnen, liebe NegerInnen (ich weiß, das ist nicht ganz korrekt, aber hier stoße ich an Grenzen, SchwarzInnen, geht das?) – euch besonders, aber auch allen anderen wünsche ich von Herzen schöne Feiertage.

PS: Puuh, mein Gott (für Atheisten: Meine Güte)! Zum Glück ist “Herz” sächlich.

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Fernsehen

Fernsehen scheint eine harmlose, mehr oder weniger vergnügliche Beschäftigung zu sein. Der einzig erkennbare Nachteil besteht scheinbar darin, dass man seine Zeit auch mit sinnvolleren Tätigkeiten ausfüllen könnte.

Aber hat man nicht, bei all der Hetze, dem Stress und den Sorgen des Alltags ein Recht auf harmlose Unterhaltung ohne Nutzeffekt?

Ja, wenn es denn so harmlos wäre. Einige Merkmale des Fernsehens sollten uns stutzig machen:

  • Fast alle Sendungen sind leichte Kost, selbst die angeblich anspruchsvollen. Die Macher achten sorgsam darauf, niemanden mit einem IQ größer 70 durch Inhalt oder Form ernsthaft zu überfordern.
  • Eine große Zahl der Sendungen bewegt sich auf dem emotionalen Niveau von Kindern. Dabei handelt es sich keineswegs nur um das eigentliche TV für Kids, sondern um eine Vielzahl von Shows, Filmen und Serien.
  • Besonders deutlich wird dies bei Quiz-Sendungen, in denen Kandidaten und Zuschauer zu Schülern werden, die sich einer Prüfung unterziehen müssen.
  • Eine Vielzahl von Sendungen ist auf gute Laune programmiert. Die Akteure lächeln, als ob ihre Lachmuskeln Maschinen wären, die keine Ermüdung kennen.
  • Selbst die Nachrichtensprecher schauen, wie auf Knopfdruck, nur ganz kurz ernst, wenn sie über die allerschlimmsten Katastrophen berichten, und schalten sofort wieder auf dieses penetrante Lächeln um, sobald dies angesichts des Inhalts auch nur halbwegs vertretbar erscheint.
  • Die leichte, seichte Kost, die in beständig guter Laune schwimmt wie in einer opulenten Soße, wird mit Mord- und Totschlag, Folter, Entführung, Katastrophen, Lug und Trug, Korruption und Erpressung, kurz: mit allen erdenklichen menschlichen Übeln garniert.

Die Wirkung ist eine Mischung aus säuglingshafter Entspannung (die häufig auch durch Alkohol und Naschwerk noch unterstützt wird) und emotionalem Extrem-Stress (an den man sich nicht gewöhnen kann, weil Mord und Totschlag uralte, genetisch programmierte Angriff-Flucht-Schemata in unserem Unbewussten aktivieren).

Die tranceartige Bewusstseinslage, der medial gesteuerte Tagtraum verhindert, dass uns die archaischen Impulse (Angriff, Flucht) aktivieren. Obwohl wir aufgrund dieser Erregungen aus dem Sessel aufspringen müssten, bleiben wir wie hypnotisiert vor der Glotze sitzen.

Der Fernsehzuschauer ist in diesem Zustand hochgradig suggestibel. Er ist fast völlig wehrlos gegenüber den Botschaften des Fernsehens, auch wenn er sich ihnen gegenüber erhaben wähnt. Die Botschaften dringen tief in sein Unbewusstes ein und setzen sich dort fest.

Wer über die Gestaltung der Programme entscheidet, kann, auf Grundlage dieser Mechanismen, zwar nicht perfekt, aber dennoch sehr weitgehend unser Unbewusstes programmieren – mit seinen politischen Aussagen, mit Kaufanreizen, womit auch immer.

Und so werden diese Botschaften zu Selbstverständlichkeiten, die unser Denken, Fühlen und Verhalten steuern wie Realitäten, auch wenn es sich um Ideologien, Fiktionen und Fantasien handelt. Da dies die Mehrheit der Bevölkerung betrifft, werden sie zu unserer gemeinsamen Wirklichkeit.

Wer mir dies nicht glaubt, kann sich durch ein Experiment selbst davon überzeugen. Verzichten Sie für ein paar Monate konsequent aufs TV.

Sie werden feststellen, dass Ihnen in dieser Zeit Bekannte und Arbeitskollegen, Nachbarn und andere Mitmenschen zunehmend fremd werden – und zwar in einem erschreckenden Ausmaß. Schon bald werden sie sich wie ein Marsmensch fühlen.

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Die Psychiatrie und der Krieg

Männliche Hysteriker

Während des 1. Weltkriegs wurden Militärpsychiater mit einer wachsenden Zahl so genannter Kriegsneurotiker konfrontiert. Unter Kriegsneurotikern, die auch als “Kriegszitterer” bezeichnet wurden, verstand man Menschen, die “im Stahlgewitter” psychiatrisch dekompensiert und kampfunfähig geworden waren.

Sie zeigten Symptome, die man damals als “hysterisch” diagnostizierte. Zu den typischen Beschwerden zählten psychisch bedingte Blindheit und Taubheit, Stummheit bei intaktem Sprechorgan, Lähmungen und Zittern ohne erkennbare körperliche Ursache.

27,7 % der Frontkämpfer wurden während des I. Weltkriegs wegen eines psychiatrischen Zusammenbruchs aus der Kampfzone evakuiert, weitere 16,6 % wurden vorübergehend in psychiatrische Einrichtungen gebracht, schreibt der Historiker Richard A. Gabriel in seinem Buch über die psychiatrische Dimension des modernen Kriegs: The painful field.

Kaufmanns Kur

Die militärische Führung vermutete natürlich, dass ein erheblicher Teil dieser Kranken Simulanten seien. Bei einem anderen Teil jedoch räumte man ein, dass sie ihre Störungen nicht vortäuschten, sondern dass sie tatsächlich unter ihnen litten. Unabhängig voneinander kamen Militärpsychiater in verschiedenen Ländern auf die Idee, diese Menschen in einer hochsuggestiven Atmosphäre durch starke elektrische Ströme zu kurieren.

Die Patienten wurden an den Körperteilen, die ohne physische Ursachen erkrankt waren, äußerst schmerzhaft elektrisiert. Wenn dies nichts half, wurden besonders empfindliche Zielgebiete ausgewählt, wie beispielsweise die Lippen oder die Hoden.

Im Militärjargon hieß diese Behandlung “Kaufmanns Kur” – nach dem deutschen Psychiater Fritz Kaufmann, der 1916 einen wissenschaftlichen Artikel über diese Behandlung in einer medizinischen Zeitschrift veröffentlichte und irrtümlich als ihr Erfinder galt.

In Wirklichkeit wurde die schmerzhafte Elektrotherapie bereits im 19. Jahrhundert praktiziert.

Nach heutigen Maßstäben handelte es sich dabei um eine Form der Folter-Gehirnwäsche. In jenen Tagen aber sah man darin eine durchaus legitime Behandlungsmethode, wenngleich sich auch Opposition bei Ärzten und sogar auf den Führungsebenen der Streitkräfte regte.

In Frankreich wurde diese Methode beispielsweise von Clovis Vincent sowie von Roussy & Lhermitte eingesetzt, in Österreich von Wilhelm Neutra und Wagner-Jauregg, in Deutschland von Fritz Kaufmann, in Großbritannien von Yealland sowie von Hunderten weiterer Ärzte.

Dank ihrer schnörkellosen Präzision und Klarheit ist besonders die Schrift Lewis Yeallands (“The Hysterical Disorders of Warfare”, 1918) zur Lektüre zu empfehlen.

Der kanadische Psychiater behandelte Kriegsneurotiker nach einem beeindruckenden Konzept. Er verband Elektrofolter mit einfachen, unmissverständlichen Suggestionen. Diese Suggestionen waren Variationen eines Grundthemas, das der Psychiater seinen Patienten bereits zu Beginn der Tortur nahelegte: “Die Therapie wird solange fortgesetzt, bis Sie geheilt sind.”

Klartext: “Sie werden solange gefoltert, bis Sie das gewünschte Verhalten zeigen”

Eine ungeschönte Beschreibung

Wilhelm Neutra fühlt sich in seiner Schrift “Seelenmechanik und Hysterie” (1920) genötigt, den Leser durch ausführliche, wenn nicht ausschweifende philosophische und psychologische Betrachtungen auf sein eigentliches Thema hinzuführen. Doch sobald er dann zur Sache kommt, schildert er seine Methode sehr drastisch, unmissverständlich und beinahe lustvoll.

Er lässt keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um eine Form der Folter handele und bekennt sich auch dazu. Sie sei leider nur im militärischen Rahmen anwendbar, weil allein hier der notwendige Zwang ausgeübt werden könne; in diesem Rahmen aber feiere sie Triumphe.

Er schreibt:

“Dergestalt sind viele Funktionsstörungen als paradoxe Erfolge der Selbstheilungstendenz zu deuten. Erst wenn der Zustand ein andauernd qualvoller ist und sich nicht als erträglich zu gestalten erweist, dann entschließt sich die Heilbereitschaft, ich möchte beinahe sagen wehmutsvoll, zur Preisgabe der Hysterie. Die Heilbereitschaft wächst mit der Qual.
In der Anwendung der schmerzhaften Pinselfaradisation können wir dies sozusagen experimentell erkennen. Betrachten wir irgendein Beispiel. Ein hysterisch Gelähmter mit kompletter Astasie-Abasie möchte zwar seinem präsidialbewussten Willen entsprechend wieder gesund sein; seine innere Heilbereitschaft sei aber, nehmen wir an, viel zu gering, um durch irgendein Suggestivmittel zur Gesundheit zu führen. Der Kranke wird deshalb der Schmerzbehandlung unterzogen, um seine Qualen zu vermehren, die eben an sich absolut nicht ausreichen, um eine genügende Expansion des Gesundungstriebes zu erzeugen. Seine Beine werden also mit dem faradischen Pinsel bearbeitet. Zunächst liegt der Patient dabei ganz ruhig und außer den durch den elektrischen Strom ausgelösten Muskelzuckungen tritt keine aktive Bewegung in die Erscheinung. Die Heilbereitschaft besteht noch nicht. Würde man in diesem Stadium den Patienten auf die Beine stellen, so wäre er immer noch vollkommen unfähig, auch nur einen Augenblick zu stehen.
Wir verstärken den Strom und damit die Schmerzempfindung. Der Patient zeigt nun mimische Schmerzäußerungen, verzieht das Gesicht und beginnt ev. zu weinen. Gleichzeitig krampft er aktiv irgendwelche Muskeln der Beine zusammen, auch solche, die, nicht vom elektrischen Strome getroffen, sich nicht passiv kontrahieren. Die Heilbereitschaft wird rege und erzeugt immer wieder aktive Beinbewegungen, sobald der Schmerz durch den elektrischen Pinsel einsetzt. Aus der Tiefe der völlig unbewussten Schmerzreaktion taucht die Bewegungsmöglichkeit ins Halbbewusstsein empor. Aber dieser Grad reicht noch immer nicht aus und es wäre verfehlt, es dabei bewenden zu lassen. In diesem Stadium würde das Maximum des Erfolges darin bestehen, dass schon die Angst vor dem neuerlichen Elektrisieren die Beinbewegungen ermöglicht, aber ein Stehen oder sogar Gehen wäre noch vollkommen ausgeschlossen. Um den Erfolg rasch zu komplettieren, wird der Strom neuerdings verstärkt.
Die mimischen Schmerzäußerungen oder das Weinen verwandelt sich in Zorn und Raserei. Der Patient wehrt sich aus Leibeskräften, um sich der Qual zu entziehen. Die Kaltblütigkeit des Arztes, der sine ira zielbewusst weiterarbeitet, und die Handfestigkeit seiner Gehilfen, die dem Patienten die Unzulänglichkeit seiner Fluchtversuche beweist, steigert endlich die Heilbereitschaft bis zu einer solchen Expansion, dass die Steh- und Gehfähigkeit eintritt. Aber noch ist das therapeutische Martyrium gewöhnlich nicht zu Ende. Während früher nur die Befreiung von der Qual erstrebt wurde, ist in diesem Zeitpunkte oft nur die grobe Funktionsstörung gewichen, die volle Heilung jedoch noch nicht erzielt.
Der Patient kann jetzt wohl stehen und gehen, aber sein Gang ist ungelenk, unelastisch, unkoordiniert. Die Heilbereitschaft der Hysterie begnügt sich damit nicht bloß, sondern strebt geradezu nur eine derartige Besserung des Zustandes an, als notwendig ist, um die Lustbilanz aktiv zu machen. Wir müssen uns eben nur daran erinnern, dass die Hysterie psychenergetisch ein Ziel des Lusttriebes und ein Werk der in seinem Dienste stehenden Krankheitsbereitschaft sei. Um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, setzt nun der Arzt seine Folterarbeit fort, bis endlich der Lusttrieb, diesmal aber in seiner Verkleidung als Heilbereitschaft sich in die Gesundheit flüchtet, die unter den gegebenen Umständen einzig und allein die Qualfreiheit verbürgt. “

Neutra führte die kriegsbedingte Hysterie auf einen unterbewussten Konflikt zwischen Selbsterhaltungstrieb und Kampfmoral (Patriotismus, soldatische Ehre) zurück. Die hysterischen Symptome stellten also einen Kompromiss dar, seien eine Flucht in die Krankheit, durch die der Erkrankte das Gesicht wahren und gleichermaßen auch strafrechtliche Konsequenzen vermeiden könne. Es handele sich bei der Kriegsneurose nicht um eine Simulation, da der Patient diese Konfliktlösung nicht mit bewusstem Willen anstrebe.

Das Pansen

Während des 2. Weltkriegs entwickelte der Psychiater Friedrich Panse eine verschärfte Form der Elektrobehandlung von Kriegsneurotikern. Er kombinierte sie mit einen ausgeklügelten System von Suggestionen. Sein Verfahren ging unter dem Begriff “Pansen” in die Medizingeschichte ein. Diese Behandlung war so grausam, dass die Führung der Reichswehr sie zunächst nur bei “Freiwilligen” gestattete.

Doch als sich ab 1943 die militärische Situation erheblich verschlechterte, wurde sie auch als Zwangsmaßnahme zugelassen.

Panse war im Übrigen externer Gutachter der Aktion T4, also Mittäter beim Massenmord der Nazis an den so genannten psychisch Kranken während des Dritten Reichs.

Im Nachkriegsdeutschland wurde er zwar vor Gericht gestellt, aber freigeprochen und schließlich sogar wieder Direktor einer Nervenklinik sowie Universitätsprofessor. Er trat 1967 in den Ruhestand und starb 1973.

Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches rückten bekanntlich viele Spezialisten, die durch ihr Verhalten während der Nazizeit belastet waren, wieder in gehobene Positionen auf. Sie wurden gebraucht.

Taktischer Nuklearkrieg

Während des Kalten Krieges sollte eine Invasion sowjetischer Panzer durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen auf deutschem Boden gestoppt werden. Mit anderen Worten: Soldaten des westlichen Bündnisses, also auch deutsche, sollten auf deutschem Boden Atomwaffen zünden, um die Sowjets aufzuhalten. Da hätte es bestimmt das eine oder andere Problem mit der Kampfmoral gegeben.

Dies war den Militärs natürlich bewusst. Der ranghohe General Heinz Trettner schrieb in einem Aufsatz zur Problematik der taktischen Nuklearwaffen in Europa:

“Selbst wenn man so optimistisch ist zu glauben, dass Soldaten so ausgebildet und erzogen werden können, dass sie das Grauen der atomverwüsteten Schlachtfelder unberührt zu durchschreiten und ihre taktischen Aufträge plangemäß auszuführen vermöchten – ich teile diesen Optimismus nicht -, kann doch niemand von der unvorbereiteten und ungeschützten Bevölkerung ähnliches erwarten. Wer einen Atomtest beigewohnt oder Filme von Tierversuchen bei den Atomexplosionen gesehen hat, macht sich da keine Illusionen. Mit einer demoralisierten Bevölkerung und einem zerstörten Land im Rücken kann sich aber auch der beste Soldat in einem modernen Krieg nicht behaupten.” (1)

Offenbar behielten die Optimisten die Oberhand, denn die Strategie des Einsatzes taktischer Nuklearwaffen wurde während des Kalten Kriegs nicht revidiert. War dies ein unbegründeter Optimismus? Immerhin gab es die Militärpsychiatrie mit ihrem breiten Schatz an Erfahrungen. Vielleicht erfahren unsere Urenkel einmal – wenn die Archive geöffnet werden – mit welchen Methoden die Militärpsychiatrie in dieser Frage operierte bzw. zu operieren gedachte. Bis dahin bleibt uns nur die Phantasie.

Beflügelt wird die Phantasie bei der Lektüre alter Zeitungen. Am 11. 12. 1959 hielt der wehrpsychiatrische Berater der Bundeswehr, Prof. Dr. med. Max Mikorey einen Vortrag in der Kienslesbergkaserne in Ulm zum Thema: “Der Mensch in der Paniksituation”.

Die Schwäbische Donau-Zeitung berichtete am 14. 12. 1959, welche Maßnahmen dem Psychiatrieprofessor vorschwebten:

Soldaten sollten so dressiert werden, dass gar keine Panikreaktion eintrete. Ungeschulte Kämpfer besäßen zu viel Selbsterhaltungstrieb. Der ‘innere Schweinehund’ müsse ihnen ausgetrieben werden.

Der Kommandierende General habe, so schrieb die Zeitung, dem Psychiater in einer kleinen Ansprache bescheinigt, dass dessen Ausführungen auch aus militärischer Sicht als fachgerecht anerkannt würden.

Leider wissen wir nicht, welche Methoden Mikorey vorschwebten, um Soldaten den inneren Schweinehund auszutreiben und ihren Selbsterhaltungstrieb zu schwächen.

Wir wissen aber, dass seit Beginn des Kalten Kriegs der US-Geheimdienst CIA sowie das amerikanische Militär Gehirnwäscheforschung betrieben, u. a. mit dem Ziel, Verfahren zu entwickeln, mit denen man Menschen zwingen könne, jeden Befehl auszuführen, und koste er auch das eigene Leben.

Auf Basis von inzwischen freigegebenen CIA-Dokumenten und von Zeugenaussagen lässt sich die Methodik dieser Folter-Gehirnwäsche in etwa wie folgt skizzieren:

Es handelt sich dabei um eine Form der Bewusstseinskontrolle durch Persönlichkeitsspaltung. Sie ist die effektivste Form der Gehirnwäsche, die jemals ersonnen wurde. Ihr Ziel besteht darin, einen Menschen in einen willenlosen Sklaven zu verwandeln, der jeden Befehl ausführt, und koste es auch das eigene Leben.

Im Kern ist diese Methode der mentalen Versklavung eine Kombination zweier Verfahren, die von der Psychiatrie bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, nämlich der “suggestiven Elektrotherapie” (Elektrofolter) sowie der Erzeugung einer “Multiplen Persönlichkeitsstörung” durch Hypnose (die häufig durch Drogen eingeleitet und vertieft wird).

Die Gehirnwäscher rufen u. a. durch Hypnose, Drogen und extremen Stress eine künstliche Multiple Persönlichkeitsstörung hervor und unterwerfen die entstehenden Fragmentpersönlichkeiten einem brutalen Drill. Durch Schlüsselreize aktiviert, begehen die mental versklavten Opfer selbst- bzw. fremdschädigende Handlungen, an die sie sich nachher ebenso wenig erinnern können wie an die Täter und die Gehirnwäsche.

Bewusstseinskontrolle durch Persönlichkeitsspaltung wird im englischen Sprachraum als “trauma-based (seltener: torture-based) mind control” bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Form der Erziehung und Ausbildung, die bedingungslos gehorsame Menschen (“manchurian candidates”) hervorbringen soll. “Bedingungslos” bedeutet, dass diese Menschen jeden Befehl befolgen, sogar wenn dies für sie den sicheren Tod zur Folge hat, und dass ihr Gehorsam nicht von der persönlichen Anwesenheit der Bewusstseinskontrolleure abhängt.

Foltergestützte Bewusstseinskontrolle ist – salopp gesprochen – eine Mischung aus Folterkammer, Kadettenanstalt und Schauspielschule. Die Resultate dieser Erziehung und Ausbildung sind mentale Sklaven” – mental, weil sie nicht in Ketten gelegt und von Sklaventreibern bewacht werden müssen, um im Sinne der Bewusstseinskontrolleure zu funktionieren.

Das übergeordnete Ziel der Bewusstseinskontrolle durch Persönlichkeit besteht darin, einen Menschen so abzurichten, dass er

  1. sich selbst und andere glauben macht, eine integrale, einheitliche, “normale” Persönlichkeit zu sein
  2. sich gleichzeitig aber so verhält, als ob mehrere, klar voneinander abgegrenzte, selbständige Persönlichkeiten unter seiner Schädeldecke hausten.

Die Täter verwandeln ihr Opfer also in einen Schauspieler, der sich vollständig mit seinen Rollen identifiziert und der nicht weiß, dass er schauspielert.

In einem demokratischen Rechtsstaat modernen Typs verbieten sich Methoden wie Kaufmanns Kur und das Pansen von selbst. Würden solche Verfahren angewendet, wäre nicht nur ein Sturm öffentlicher Empörung die zwangsläufige Folge, auch die Staatsanwaltschaft müsste sich einschalten.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Elsässer, ein Assistent Panses während des Dritten Reichs, die von seinem Chef entwickelte Form der Elektrofolter noch 1961 in einem Handbuch der Psychiatrie beschönigend und verharmlosend rechtfertigte, ohne dass die Fachwelt daran Anstoß nahm (Riedesser & Verderber, 1996, 205).

Denkbar ist jedoch, dass solche Methoden im Geheimen praktiziert werden und dass die Erinnerung der Opfer an die Torturen durch psychiatrische Methoden ausgeschaltet wird.

Einige Menschen in einigen NATO-Staaten behaupten, sie seien Opfer einer derartigen foltergestützten Bewusstseinskontrolle geworden.

Wer fest auf Demokratie und Rechtsstaat vertraut, wird solche Behauptungen allerdings eher als “falsche Erinnerungen” (“False Memory Syndrome”) einstufen. Und wer Verschwörungstheorien liebt, wird das “False Memory Syndrome” als Ideologie betrachten, die der Camouflage für die Produktion mental versklavter, humaner Kriegsroboter während des Kalten Krieges dient.

Anmerkung

(1) Trettner, H.: Zur Problematik der Taktischen Nuklearwaffen in Europa. Militärpolitik 1/1977, S. 70

Weiterführende Literatur

Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer
Siemen, H.-L. (1982). Das Grauen ist vorprogrammiert. Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg. Gießen: Focus
Diese sorgfältig dokumentierten Bücher lassen keinen Zweifel daran, dass die deutsche Wehrpsychiatrie während des 1. und 2. Weltkriegs in großem Stil die so genannten Kriegsneurotiker (heute würde man vom post-traumatischen Belastungssyndrom sprechen) durch brutale Elektrofolter und andere Foltermethoden zu kurieren versuchte.
Mit modernen Varianten dieser Methodik beschäftigt sich folgendes Werk:
Epstein, O. B. et al. (Hrsg.) (2011). Ritual Abuse and Mind Control: The Manipulation of Attachment Needs, London: Karnac Books
Dieses bemerkenswerte Buch dokumentiert die Vorträge einer Konferenz über rituellen Missbrauch und Bewusstseinskontrolle in Großbritannien. Es erschien im britischen Fachverlag “karnacbooks“.
Die Konferenz wurde vom renommierten Bowlby Centre in London veranstaltet.
Eine Leseprobe bietet google books.
Das aus der Feder von Ellen P. Lacter stammende dritte Kapitel dieses Buches gehört zum Besten, was jemals über Mind Control geschrieben wurde.
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Mit der taktisch nuklearen Verteidigung Deutschlands beschäftigen sich beispielsweise:
Trauschweizer, I. W. (2006). Creating Deterrence For Limited War: The U.S. Army And The Defense Of West Germany, 1953-1982, Dissertation
Bald, D. (2008). Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Der Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Berlin: Aufbau Verlag

Nachbemerkung: Differenzierungen im Begriff des Elektroschocks

Man darf die “Elektrotherapien” wie die “Kaufmann-Kur” bzw. das “Pansen” nicht mit der Elektrokrampftherapie verwechseln, obwohl die genannten Verfahren insgesamt salopp auch mit dem Begriff “Elektroschock” angesprochen werden.

Bei der so genannten Elektrokrampftherapie werden Ströme, heute meist unter Betäubung des Patienten, durch das Gehirn gejagt. Demgegenüber werden bei der “Kaufmann-Kur” oder beim “Pansen” absichtlich unterschiedliche Körperstellen mit sehr schmerzhaften Strömen traktiert.

Da die Intensität des Schmerzes hier ausschlaggebend für den “Behandlungserfolg” ist, werden bevorzugt besonders schmerzempfindliche Körperpartien, wie beispielsweise die Genitalien, elektrisiert. Die Schmerzen waren so stark, dass die “Patienten”, also die Folteropfer entweder angeschnallt oder von mehreren starken Männern festgehalten werden mussten, um sie an der Flucht zu hindern.

Demgegenüber gehört der Schmerz nicht zu den Wirkfaktoren der Elektrokrampftherapie, deren Effekt nach heutigem Wissensstand vermutlich weitgehend auf dem Placeboeffekt beruht (siehe: Read, J; Bentall, R (2010 Oct-Dec). “The effectiveness of electroconvulsive therapy: a literature review.”. Epidemiologia e psichiatria sociale 19 (4): 333–47).

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Zehn Thesen zur Lage der Psychiatrie

  1. Schenkt man den Verlautbarungen einschlägiger Verbände und Forschungsinstitute Glauben, so versteht sich die Psychiatrie als naturwissenschaftlich untermauerte, evidenzbasierte Medizin. Zwar ist dies zur Zeit noch nicht einmal ansatzweise der Fall, aber immerhin träumen die Vordenker dieser Disziplin davon, eines Tages die biologischen Grundlagen der so genannten psychischen Erkrankungen und der Wirkungen sowie Nebenwirkungen einschlägiger “Heilmittel” zu enthüllen.
  2. Sollte sich dieser Traum jemals erfüllen, dann wäre dies gleichbedeutend mit dem Ende der Psychiatrie. Sie würde sich zwar nicht in Nichts, wohl aber in Neurologie auflösen. Dann nämlich würden sich die so genannten psychischen Erkrankungen in neurologische verwandeln und dementsprechend in den Zuständigkeitsbereich der Neurologie fallen. Der diese Krankheiten behandelnde Arzt hätte dann ebenso viel oder wenig mit der “Psyche” zu tun wie jeder andere Körperarzt auch. Sofern die Psychotherapie bestehen bliebe, so würde sie sich in eine Maßnahme zur gezielten Beeinflussung von Hirnprozessen verwandeln und einem Training zur neurologischen Rehabilitation oder Prävention gleichen.
  3. Es sieht zur Zeit allerdings nicht so aus, also ob dieser Traum wahr werden könnte. Ganz gleich, in welchen Bereich der Psychiatrie man schaut: Das ganze System ist in der Praxis de facto nicht darauf eingestellt, gestörte Hirnprozesse zu identifizieren und mit gezielten Maßnahmen zu korrigieren. Es geht vielmehr darum, das als abweichend diagnostizierte Verhalten und Erleben der Patienten wieder an soziale Normen und / oder die Erwartungen signifikanter Mitmenschen anzupassen. Die dazu verwendeten “Heilmittel” und Methoden wirken zwar auf Hirnprozesse ein (sonst könnten sie den Patienten ja auch nicht beeinflussen), aber ihr Wert bemisst sich ausschließlich an Maßstäben, die sich nicht auf Hirnprozesse, sondern in erster Linie, direkt oder indirekt, auf das Sozialverhalten beziehen.
  4. Die gegenwärtige Situation der Psychiatrie ist also durch die drei folgenden Momente gekennzeichnet, nämlich durch: (a) den Anspruch, moderne Medizin zu sein (b) die bisher erfolglose Suche nach den mutmaßlichen biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten und nach den entsprechenden kausalen Heilmethoden (c) die Realität einer Agentur zur sozialen Kontrolle.
  5. Die heutige Psychiatrie ist, im Licht unabhängiger, methodisch sauberer empirischer Forschung, grandios gescheitert: Keine brauchbare Diagnostik, keine effektiven Behandlungsmethoden, keine akzeptablen Medikamente. Misst man sie jedoch nicht an ihren offiziellen Zielen aus dem thematischen Feld der Heilung und Linderung von Krankheiten, sondern an ihren heimlichen, die im Bereich sozialer Kontrolle zu suchen sind, dann hat sie sich durchaus bewährt, allerdings nur gemessen an den Maßstäben von Leuten mit einem fragwürdigen Verständnis von Demokratie und Menschenrechten.
  6. In und außerhalb der Psychiatrie werden Stimmen laut und lauter, die eine einschneidende Kurskorrektur fordern – und dies sowohl aus moralischen, wie auch aus ökonomischen und politischen Gründen. Der psychiatrisch-phamaindustrielle Komplex gerät zunehmend unter Druck, vor allem in den angelsächsischen Ländern, wenngleich dieser Druck zur Zeit immer noch sehr schwach ist. Die Missstände in der gegenwärtigen Psychiatrie, ihre wirtschaftliche und fachliche Ineffizienz sind so offensichtlich, dass recht eigentlich niemand, der hier Verantwortung trägt, aus vollem Herzen mit den herrschenden Verhältnissen zufrieden sein kann. Die Mehrheit der Unzufriedenen erhofft sich nach wie vor eine Verbesserung der Zustände durch Fortschritte der biologisch orientierten Forschung, wohingegen eine Minderheit stattdessen oder in erster Linie den sozialen Kontext des Menschen in den Mittelpunkt psychiatrischen Interesses rücken möchte.
  7. Viele führende Pharma-Unternehmen haben angekündigt, sich aus der Psychopharmakaforschung zurückzuziehen oder diesen Schritt bereits vollzogen. Es wird immer schwieriger, Medikamente mit einem neuen Wirkmechanismus zu entdecken; der Placeboeffekt verstärkt sich und deswegen wird die Hürde zur Zulassung eines neuen Medikaments immer höher; in anderen Bereichen der Pharma-Wirtschaft sind die Gewinnaussichten auch daher deutlich besser. Manche Vertreter der Pharma-Industrie sehen einen wesentlichen Grund für diese Entwicklung darin, dass die Psychiatrie wissenschaftlich nicht mit den Fortschritten der Neuro-Wissenschaften Schritt zu halten vermochte bzw. diese Entwicklung schlicht verschlafen habe. Wenn diese Forschungsabstinenz der Industrie dazu führt, dass wieder mehr Studien aus staatlichen Quellen finanziert werden, dann würde damit vermutlich auch die Wahrscheinlichkeit einer Kurskorrektur zunehmen. Es ist allerdings fraglich, ob dies ausreicht.
  8. Da die Zahl von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen beständig wächst, steigen natürlich auch die Behandlungskosten. Zumindest bei uns in Deutschland wird aber auf Seiten der Krankenkassen kein ernstliches Bemühen erkennbar, diese durch eine effizienzsteigernde Kurskorrektur zu senken. Über die Gründe für diese Zurückhaltung mag man rätseln. Generell gilt ja, dass Leute, deren Macht, Ansehen und ggf. Einkommen in dem Maße zunimmt, in dem die von ihnen verausgabten Mittel anwachsen, tendenziell wenig Interesse daran haben, auf die hier relevante Variable zu ihren Ungunsten einzuwirken. Ich rechne nicht damit, dass von dieser Seite ein Reformdruck in die richtige Richtung ausgeübt wird. Seit vielen Jahren ist beispielsweise bekannt, dass man in der medizinischen Rehabilitation der so genannten Abhängigkeitskranken, ohne fachliche Effizienzeinbuße, sehr viel Geld sparen könnte, wenn man dort (a) die Zahl der Psychiater und psychologischen Psychotherapeuten erheblich reduzieren würde, und zwar (b) zugunsten der Zahl der Sozialarbeiter und der semi-professionellen Helfer, und wenn man (c) flankierend Selbsthilfeansätze stärker fördern würde. Ich überlasse die Beantwortung der Frage, warum dort dennoch nichts geschieht, der Fantasie des Lesers.
  9. Abgesehen von vereinzelten liberalen Stimmen, ist der politische Druck auf die Psychiatrie gering. Daran wird sich vermutlich auch solange nichts ändern, wie die Medien weiterhin das Hohelied der Psychiatrie singen und allenfalls dann Missstände thematisieren, wenn sie sich partout nicht mehr vertuschen lassen. Über die Gründe der Abneigung der Medien, in diesem Bereich kritischem oder gar investigativem Journalismus Raum zu bieten, mag man spekulieren, wenn einem das Offensichtliche zu profan ist. Man sieht allerdings auch, dass die Politik durchaus unter Druck geraten kann, wenn einzelne Medien, wie im Fall Gustl Mollath, beispielsweise den psychiatrisch-juristischen Komplex aufs Korn nehmen. Dass solche Einzelfälle allerdings auf Dauer eine grundlegenden Kurskorrektur begünstigen könnten, halte ich für fraglich.
  10. Aus meiner Sicht ist eine Wendung zum Besseren nur möglich, wenn die Hilfe für Menschen mit psychischen Problemen nicht mehr, wie bisher, im Rahmen eines medizinischen Krankheitsmodells konzipiert wird, sondern auf Grundlage empirisch psychologischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Weil menschliches Verhalten und Erleben maßgeblich durch Umwelteinflüsse beeinflusst wird, die zeitlebens auf die Individuen einwirken, darum muss man seelische und soziale Probleme auch im gesellschaftlichen Kontext verstehen und Maßnahmen zur Überwindung dieser Probleme auf die konkreten Lebensbedingungen des Individuums zuschneiden. Es ist allerdings nicht damit zu rechnen, dass die Psychiatrie diese Kurskorrektur vollzieht, weil die Kräfte, die sie in diese Richtung drängen, nicht stark genug sind und auf absehbare Zeit auch schwach bleiben werden – und dies, obwohl die fachlichen und wirtschaftlichen Vorteile auf der Hand liegen. Die Psychiatrie wehrt sich mit Klauen und Zähnen gegen eine vernünftige Lösung; lieber würde sie sich in pure Neurologie auflösen, als auch nur einen Meter des ärztlichen Reviers preiszugeben. Wenn alle Stricke reißen, muss das Volk sich wehren, allein, auch darauf sollte man nicht hoffen. Das Volk ist mehrheitlich durch Blödzeitung und Trash-TV mental deformiert und weder in der Lage, noch willens, sich die Zusammenhänge vor Augen zu führen oder gar die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen.

PS: Manche werden sich vielleicht fragen, warum ich bei meinen Thesen die Vergangenheit ausgeklammert habe. Dabei stellt sich allerdings die Anschlussfrage, ob es eine psychiatrische Vergangenheit gibt, die sich qualitativ so sehr von der Gegenwart unterscheidet, dass aus einer differenzierten Betrachtung Entwicklungslinien in die Zukunft extrapoliert werden könnten.

Da bin ich mir zur Zeit noch nicht sicher. Im Moment habe ich eher das Gefühl (es ist aber tatsächlich nur ein Gefühl), dass es, im qualitativen Sinn, weder eine Vergangenheit, noch eine Zukunft der Psychiatrie gibt, sondern dass sie, seit ihrer Geburt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, im Zustand ewiger Gegenwart verharrt, sich im Kreise drehend, im Zentrum der Macht um sich selbst kreiselnd.

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Zwangsbehandlung

  1. Die erzwungene Unterbringung und Zwangsbehandlung von Menschen, die angeblich psychisch krank und für sich oder andere gefährlich sind, widersprechen meinem Sinn für Gerechtigkeit und Fairness fundamental. Außerdem sind sie in meinen Augen ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte, auch wenn sie in vielen Staaten dieser Erde legal sind. Es handelt sich dabei um Willkürmaßnahmen, die zudem die Ziele, die sie angeblich bzw. offiziell anstreben, nicht zu erreichen vermögen.
  2. Psychische Krankheiten sind keine wissenschaftlichen Konstrukte, die sich in nachvollziehbarer Weise auf Sachverhalte in der Realität beziehen. Sie stellen vielmehr Mythen dar, die einerseits die tatsächlichen Gründe für schwerwiegende Lebensprobleme verschleiern und andererseits Maßnahmen gegen eigensinnige Menschen den Schein der Legitimität verleihen sollen (10).
  3. Die Reliabilität ist ein Maß für die Genauigkeit eines diagnostischen Verfahrens. Je größer im Durchschnitt also die Abweichung der Diagnosen mehrerer Psychiater hinsichtlich jeweils derselben Person ist, als desto weniger reliabel muss das verwendete Diagnose-Verfahren gelten. Studien zeigen, dass die, auf den herkömmlichen Manualen ICD und DSM beruhenden, psychiatrischen Diagnosen hochgradig unreliabel sind. Dabei erweist sich die neueste Version des DSM, die fünfte Ausgabe als besonders unreliabel. Klartext: Die Psychiater gelangen bei derselben Person häufig zu unterschiedlichen Einschätzungen. Dies gilt natürlich auch für Diagnosen, die zu einer Unterbringung und Zwangsbehandlung so genannter psychisch Kranker führen.
  4. Die Validität ist ein Maß dafür, wie die Resultate eines diagnostischen Vorgehens mit dem übereinstimmen, was sie angeblich beurteilen. Man kann beispielsweise das Körpergewicht sehr reliabel messen, aber dennoch ist die Waage ein sehr schlechtes Instrument zur Bestimmung der physischen Beweglichkeit des Gewogenen. Für den letztgenannten Zweck wäre die Waage also ein sehr invalides Messinstrument. Gesucht wird ein Maß der Übereinstimmung zwischen der Diagnose und einem objektiven Kriterium, dass nicht logisch vom Diagnoseverfahren abhängt. Die Übereinstimmung zwischen dem Psychiaterurteil und den Berichten von Angehörigen eines Diagnostizierten wäre in diesem Sinne kein solches Kriterium, weil Angehörige und Psychiater sich in der Regel wechselseitig beeinflussen und weil beide Gruppen psychiatrische Sichtweisen verinnerlicht haben. Bei psychiatrischen Diagnosen kommen also nur physiologische Kriterien (beispielsweise objektiv messbare Parameter im Nervensystem), so genannte Biomarker als Validitätskriterien in Frage. Bisher ist es der psychiatrischen Forschung aber noch nicht gelungen, solche Biomarker zu identifizieren (1-4). Es gibt zweifellos auch andere Konzepte der Validität mit weniger strengen Anforderungen, doch dabei handelt es sich im Grunde nur um Maße der intersubjektiven Übereinstimmung, die anfällig für Verzerrungen durch Vorurteile, gemeinsame Interessen und professionelle Blindheiten sind. Aus diesem Grunde ist die Validität der Diagnosen, die Unterbringungen und Zwangsbehandlungen begründen sollen, höchst zweifelhaft und vor allem, mangels sauberer Kriterien, nicht bezifferbar.
  5. Der Zusammenhang zwischen Reliabilität und Validität wird durch folgendes Schaubild verdeutlicht. Hier lässt sich erkennen, dass psychiatrische Diagnostik mangels reliabler und valider Diagnoseverfahren mit einer extrem geringen Treffsicherheit verbunden ist (oben links). Im Übrigen ist auch die psychiatrische Gefährlichkeitsprognostik der Glaskugelschau nicht überlegen (5).
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  6. Auch der Einwand, dass man die Wissenschaft mit ihren Zahlen, Daten und Fakten nicht überschätzen und stattdessen auf die Professionalität, Berufs- bzw. Lebenserfahrung des Diagnostikers bzw. Prognostikers vertrauen solle, sticht leider nicht. Die Qualität des klinischen Urteils korreliert definitiv nicht mit der Berufserfahrung. Dies ist das eindeutige Resultat der Untersuchungen von Robyn M. Dawes, eines Pioniers der psychologischen Entscheidungsforschung. Seine Erklärung für dieses Phänomen erscheint plausibel. Bei der Prognose geht es ja um das Kategorisieren von Menschen – beispielsweise: “gefährlich – nicht gefährlich” oder “psychotisch – nicht psychotisch”. Die Effektivität von Lernprozessen im Bereich der Kategorisierung hängt nun aber von zwei Faktoren ab: (a) Kenntnis von Regeln zur Zuordnung von Exemplaren zu einer Kategorie; (b) systematisches Feedback über richtige und insbesondere falsche Kategorisierung. Beide Voraussetzungen sind aber im Bereich der Gefährlichkeitsprognostik nicht erfüllt. Erstens ist es heute noch weitgehend unbekannt, anhand welcher Merkmale man zukünftige Gefährlichkeit abschätzen kann. Und zweitens kann auch von einer systematischen Rückmeldung nicht die Rede sein (6). Vergleichbares gilt für die Diagnose “psychischer Krankheiten”.
  7. Unterbringung und Zwangsbehandlung stellen einen sehr schweren Eingriff in die bürgerlichen Freiheiten eines Menschen dar. Wenn überhaupt, dann könnte dieser moralisch nur gerechtfertigt sein, sofern die Treffsicherheit der Diagnosen und Prognosen dem Bild rechts unten in der Grafik zu Punkt 5 zumindest erkennbar nahekäme. Dies ist jedoch nicht der Fall, nicht im Entferntesten der Fall, und es besteht auch keinerlei Aussicht auf Besserung.  Im Gegenteil: Es kann aus meiner Sicht kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass die bisherige ideologische Grundlage der Psychiatrie, nämlich das medizinische Krankheitsmodell, in sich zusammengebrochen ist. Diese Auffassung wird im Übrigen von einer wachsenden Zahl von Psychiatern und anderen einschlägig tätigen Professionellen geteilt (7). Solange die Psychiatrie dieses Krankheitsmodell beibehält, sind keine wesentlichen Verbesserungen des Standes der Erkenntnis zu erwarten.
  8. Selbst von Befürwortern der Unterbringung und Zwangsbehandlung wird die Qualität der entsprechenden Gutachten als eher schlecht bezeichnet. Der Streit um die Gutachten im Fall “Gustl Mollath” zeigt erneut sehr deutlich, dass diese nicht selten, sogar gemessen an den Standards des “gesunden Menschenverstandes”, nur als haarsträubend bezeichnet werden können (8). Diese Gutachten entsprechen in vielen Fällen noch nicht einmal den gängigen formalen Kriterien und Vorschriften. Doch selbst wenn sie in dieser Hinsicht vorbildlich wären, so müssten sie dennoch wegen der grundsätzlichen Mängel im Bereich der Reliabilität und Validität verworfen werden.
  9. Das aus meiner Sicht gewichtigste Argument für die Beibehaltung des bisherigen Procederes besteht darin, dass Unterbringung und Zwangsbehandlung ein etabliertes Element unseres Rechtssystems darstellen und dass durch die ersatzlose Streichung dieses Elements ein Vakuum entstehen müsste, das chaotische Auswirkungen zeitigen könnte. Es trifft ja durchaus zu, dass die Marketing-Maschinen des juristisch-psychiatrischen Komplexes der Bevölkerung seit Jahrzehnten suggerieren, die entsprechenden Maßnahmen seien aus Gründen der Gefahrenabwehr und gleichermaßen zum Schutz der psychisch schwerst erkrankten Menschen unbedingt erforderlich. Würde man nun darauf verzichten, dann wäre damit zu rechnen, dass sich Aggressionen von “Normalen” gegen psychiatrisch Stigmatisierte häufen würden. Dieses Argument ist allerdings nur solange bedenkenswert, wie die von der Psychiatrie hervorgerufene Stigmatisierung von Menschen als “psychisch krank” fortbesteht. Denn: Würde die “Hate Speech“, die sich in Begriffen wie “psychisch Kranke”, “psychisch Gestörte”, “Geisteskranke”, “chemisches Ungleichgewicht” etc. manifestiert, nicht mehr durch psychiatrische und andere staatliche Ideologien legitimiert, dann würden auch die damit verbundenen Gewaltfantasien und irrationalen Schutzbedürfnisse in der Bevölkerung allmählich abgebaut. Psychiatrische Diagnostik hat in der Bevölkerung ein Aggressionspotenzial insbesondere gegen jene Menschen hochgeschaukelt, die mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch Zwangskunden der Psychiatrie werden, nämlich eigensinnige Leute, Außenseiter, Unangepasste, die keine wesentliche soziale Unterstützung haben, die meist aus der Unterschicht stammen und die sich nicht gut wehren können. Dieses Aggressionspotenzial verschwindet nicht von allein, einfach dadurch, dass man Zwangsbehandlungen verbietet. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Davor darf man seine Augen nicht verschließen und gerade deswegen muss psychiatrisch motivierte “Hate Speech” geächtet und abgebaut werden.
  10. Es ist grundsätzlich notwendig, das gesamte psychiatrische System, zunächst jedoch in erster Linie die psychiatrische Diagnostik, auf den Prüfstand zu stellen. Bei einer Passantenbefragung hielten beispielsweise zehn Prozent der Interviewten “Schizophrene” für gefährlich (9), obwohl dies im Licht empirischer Forschung keineswegs der Fall und leicht erhöhte Gefährlichkeit einzelner Teilgruppen fast vollständig auf Missbrauch von Drogen- und Alkohol zurückzuführen ist. Hier zeigt sich also, dass die zwangsläufig mit psychiatrischen Diagnosen verbundene Stigmatisierung ein ernst zu nehmendes Hindernis für die Abschaffung der Zwangseinweisung und -behandlung angeblich psychisch Kranker darstellt. Da man das Vorliegen einer “psychischen Erkrankung” nicht mit objektiven Methoden festzustellen und eine mutmaßliche Selbstgefährdung oder Gefährlichkeit für andere nicht treffsicher zu prognostizieren vermag, sind psychiatrische Diagnosen und Prognosen jedoch ohnehin entbehrlich, zumal man sie auch nicht braucht, um Menschen mit Lebensproblemen sinnvoll zu helfen. Die psychiatrische Diagnostik zu verbieten, wäre also ein erster, unbedingt notwendiger Schritt auf dem Weg zur Abschaffung von Maßnahmen, die aus meiner Sicht in eklatanter Weise gegen die Menschenrechte verstoßen, die ungerecht und unfair sind.

Anmerkungen

(1) Buchsbaum MS, Haier RJ. Psychopathology: Biological approaches. Annu Rev Psychol. 1983;34:401–30
(2) Hoes MJ. Biological markers in psychiatry. Acta Psychiatr Belg. 1986;86(3):220–41
(3) Jablensky A. Epidemiological and clinical research as a guide in the search for risk factors and biological markers. J Psychiatr Res. 1984;18(4):541–56
(4) Muscettola G, Di Lauro A, Giannini CP. Blood cells as biological trait markers in affective disorders. J Psychiatr Res. 1984;18(4):447–56
(5) Albrecht, G. (2003). Probleme der Prognose von Gewalt durch psychisch Kranke. Journal für Konflikt- und Gewaltforschung (Journal of Conflict and Violence Research), Vol. 5, 1, 97-126
(6) Dawes, R. M. (1989). Experience and validity of clinical judgment: The illusory correlation. Behavioral Sciences & the Law, Volume 7, Issue 4, pages 457–467, Autumn (Fall)
(7) Pflasterritzenflora: Postpsychiatrie?
(8) Sponsel, R.: Potentielle Fehler in forensisch psychopathologischen Gutachten, Beschlüssen und Urteilen der Maßregeljustiz. Eine methodenkritische Untersuchung, illustriert an einigen Fällen u. a. am Fall Gustl F. Mollath, mit einem Katalog der potentiellen forensischen Gutachtenfehler  sowie einiger RichterInnen-Fehler, Internet
(9) Birr, F. (2005). Qualitative Passantenbefragung zu Aspekten der Stigmatisierung Schizophrener im Rahmen einer Antistigmakampagne (Dissertation). Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Unversität München
(10) Szasz, T. (1961). The Myth of Mental Illness. Foundations of a Theory of Personal Conduct. New York

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Elektrokrampftherapie

Unter dem Titel “Hilfreicher Stromschlag ins Gehirn” berichtete die Süddeutsche Zeitung am 27. 08. 2012 (online) über die so genannte Elektrokrampftherapie (auch: Elektrokonvulsionstherapie oder, volkstümlich, Elektroschocktherapie), mit der beispielsweise “Depressive” oder “Schizophrene” behandelt werden.

Hier heißt es:

“Ein bisschen frustrierend ist das manchmal schon, weil wir mit etwas arbeiten, das wir nicht verstehen”, sagt Anästhesist Thomas Reiter, während er die Körperfunktionen seiner Patientin in der Aufwachphase überprüft. In der Tat ist über den eigentlichen Wirkmechanismus der EKT so gut wie nichts bekannt.”

Es gäbe, so schreibt die Zeitung, zwar einige Studien über Veränderungen im Gehirn der Geschockten, aber die Faktenlage sei insgesamt dünn. Dennoch, so wird schon im Titel der Eindruck erweckt, sei der Stromschlag hilfreich.

Daran habe ich keine Zweifel. Allein, wem hilft er?

Die so genannte Elektrokrampftherapie ist eine Standardmethode der Gehirnwäsche, die beispielsweise von Geheimdiensten und militärischen Organisationen praktiziert wird. Die Spezialisten in diesen Einheiten kennen den Wirkmechanismus ebenfalls nicht. Sie sind deswegen aber keineswegs beunruhigt.

Wissen sie doch, dass die gewünschte Wirkung, die ihnen bei der Meisterung ihrer verantwortungsvollen Aufgabe im Dienste des Staates hilft, zuverlässig eintritt, wenn man die Methode nur skrupellos genug und mit Fingerspitzengefühl anwendet.

Die Geschockten sind nach den hilfreichen Stromschlägen ins Gehirn hochgradig fügsam und suggestibel. Die Elektroschocks versetzen den elektrisch Malträtierten vorübergehend in einen infantilen Zustand. Sie rufen künstlich eine neurologische Störung hervor, die von den Neurologen als “hirnorganisches Psychosyndrom” bezeichnet wird.

Es ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Gedächtnisstörungen
  • zeitliche, räumliche und personenbezogene Verwirrung und Desorientiertheit
  • allgemeine Störung der intellektuellen Funktionen
  • Beeinträchtigungen der Urteils- und Kritikfähigkeit
  • Verflachung bzw. Unangemessenheit der emotionalen Reaktionen
  • Gefühl der Abgehobenheit von der Realität (1).

In George Orwells utopischem Gesellschaftsentwurf “1984″ (2) gibt es ein Ministerium für Wahrheit, das sich mit Geschichtsklitterung beschäftigt. Die Vergangenheit wird grundlegend im Sinne des “Großen Bruders” umgedichtet.

Die Herrschenden in George Orwells Roman hatten erkannt, dass Menschen Suggestionen keinen Widerstand mehr entgegensetzen können, wenn sie glauben, diese stünden im Einklang mit der historischen Erfahrung und ihrer persönlichen Vergangenheit. Sie haben dann keinen Vergleichsmaßstab mehr.

Wer sich dennoch gegen Suggestionen sträubt und Gedankenverbrechen begeht (also denkt, was er nicht denken soll), wird im Ministerium für Liebe umgedreht – unter anderem mit “Elektrokrampftherapie”.

Nach einer Elektrokrampftherapie ist der “Patient” dankbar für jeden Hinweis, der ihm aus seinem Zustand der Desorientiertheit und Verwirrung heraushilft. Ärzte und Angehörige werden ihm sagen, dass er dank eines hilfreichen Stromschlag ins Gehirn wieder hoffnungsfroh in die Zukunft blicken könne und dass die “Symptome” seiner “psychischen Krankheit” nach menschlichem Ermessen schon bald gemildert sein würden. Auch an den Nachwirkungen der Behandlung müsse er nicht lange leiden. Dann beginne ein neues Leben. Dies ist der ideale Nährboden für den Placebo-Effekt.

Niemand kennt die Ursachen einer “Schizophrenie” oder einer “Depression”. Trotz intensiver Forschung sind alle Versuche, die biologischen Ursachen dieser angeblichen Krankheiten zu identifizieren, grandios gescheitert. Dabei wurde auch ein erheblicher finanzieller Aufwand getrieben, mit Geldern, die aus staatlichen und pharmaindustriellen Quellen sprudelten. Leider blieb kaum noch Geld dafür übrig, um nach sozialen Ursachen zu suchen.

Und so bin auch ich auf Spekulationen angewiesen. Dadurch unterscheide ich mich nicht von der Psychiatrie.

Aus meiner Sicht handelt es sich bei allen “psychischen Krankheiten” (ausgenommen sind Störungen, die durch nachgewiesene neurologische Krankheiten hervorgerufen wurden) um Leistungen eines intakten Gehirns, das nach dem Motto “Garbage in, garbage out!” im wahrsten Sinn verrückt spielt.

Ein drastisches Beispiel dafür sind die “psychischen Störungen” von Frontkämpfern. Fast alle Soldaten rasten spätestens nach einigen Wochen in Stahlgewittern aus. Sie prägen Verhaltensmuster aus, klagen über Erlebnisweisen, die von den Wehrpsychiatern als “krank” gedeutet werden.

Diese “psychiatrischen Syndrome” zeigen sich nicht nur bei Soldaten, die schon immer psychisch auffällig, sondern auch bei Menschen, die zuvor an ihre zivile Umwelt aufs Allerbeste angepasst waren. Garbage in, garbage out.” Der Wahnsinn des Krieges macht diese Menschen verrückt; genauer, er bringt sie dazu, verrückt zu spielen, um ihm zu entkommen.

Vor vielen, vielen Jahren erforschte ich als Angestellter eines sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts die Auswirkungen moderner Technik auf das menschliche Gemüt. Wie es sich gehört, hantierte ich mit Fragebögen und ließ den Großrechner heißlaufen. Damals gab es noch keine PCs, die Statistik konnten.

Aber ich interviewte auch Betroffene, ließ mich auf ihre Gedanken ein, versuchte, mich einzufühlen in ihre Situation. Eine Frau sagte mir: “Es ist wie im Krieg, ich muss mich anpassen, weglaufen kann man ja nicht, bei den Verhältnissen am Arbeitsmarkt ist das nicht klug für eine Frau in meinem Alter.” Sie sah grau aus, wirkte älter, als sie war. Ihre Miene war traurig, ihr Blick Hilfe suchend.

Für viele Menschen in unserer Gesellschaft ist es wie im Krieg. Zahllose Kräfte, derer sie sich nicht erwehren können, zerren an ihnen, oft in verschiedene Richtungen. Sie möchten weglaufen, können aber nicht. Sie möchten angreifen, fürchten sich aber vor den Konsequenzen. In solchen Situationen mag es als die beste aller wahrgenommenen Möglichkeiten erscheinen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen.

Durch Psychotherapien, durch Psycho-Drogen (“Medikamente”), durch Elektroschocks oder gar durch Psychochirurgie ändert sich nichts an der sozialen Realität dieser Menschen. Die sozialen und ökonomischen Schieflagen bleiben unverändert. Die Menschen werden dadurch häufig aber fügsam und offen für Suggestionen.

Wen wundert es da, dass die Rückfallquote nach Elektroschockbehandlung hoch ist?

“Almost half of the patients relapsed in 1 year after discontinuation of c/mECT, most of these within the first 3 months and all within the first 8 months”, berichtet das “Journal of ECT” (3).

Dies ist ja auch nicht anders zu erwarten, wenn man die Ursachen der Störungen nicht im Gehirn, sondern in den sozialen Verhältnissen verortet. Vor diesen kann man zwar eine Weile seine Augen verschließen, aber nicht für immer, es sei denn, man schlösse seine Augen für immer.

John Read und Richard Bentall wollten sich nicht mit unsystematischen Berichten über Erfolge und Misserfolge der Elektrokrampftherapie zufrieden geben. Sie recherchierten daher in den einschlägigen Datenbanken, um alle placebo-kontrollierten Studien zu den Behandlungserfolgen zu erfassen. (In diesen Untersuchungen wurden echte mit simulierten Schocks verglichen; die Patienten werden während der Behandlungen betäubt.)

“Results – These placebo controlled studies show minimal support for effectiveness with either depression or ‘schizophrenia’ during the course of treatment (i.e. only for some patients, on some measures, sometimes perceived only by psychiatrists but not by other raters), and no evidence, for either diagnostic group, of any benefits beyond the treatment period. There are no placebo-controlled studies evaluating the hypothesis that ECT prevents suicide, and no robust evidence from other kinds of studies to support the hypothesis. Conclusions – Given the strong evidence (summarised here) of persistent and, for some, permanent brain dysfunction, primarily evidenced in the form of retrograde and anterograde amnesia, and the evidence of a slight but significant increased risk of death, the cost-benefit analysis for ECT is so poor that its use cannot be scientifically justified.” (4)

Kurz:

  • über den Placebo-Effekt hinaus nur minimale echte positive Effekte während, keine nach der Behandlungsperiode
  • keine Studien, die auf Suizidprävention hinweisen
  • wegen der Gefahr permanenter Hirnschädigungen und eines gesteigerten Todesrisikos ist die Elektrokrampftherapie wissenschaftlich nicht gerechtfertigt.

Die unerwünschten Effekte sind also sehr real und physiologisch begründet, aber die erwünschten Wirkungen beruhen, sofern  sie überhaupt eintreten, weitgehend auf dem Placebo-Effekt.

Von all diesen Dinge weiß der Autor des Berichts in der Süddeutschen Zeitung offenbar nichts. Er erweckt den Eindruck, dass die Elektrokonvulsionstherapie für manche Patienten, die schlecht auf andere Maßnahmen ansprechen, das Mittel der Wahl sei. Fakt ist, dass diese “Therapie” allenfalls einen Placeboeffekt besitzt und dass auch dieser Effekt sehr schnell abklingt.

“In unserer Gesellschaft sind diejenigen, die am besten wissen, was passiert, auch am weitesten davon entfernt, die Welt so zu sehen, wie sie tatsächlich ist. Allgemein gesagt, je größer die Einsicht, desto größer die Selbsttäuschung: je intelligenter, desto weniger vernünftig.” (George Orwell, 1984, Seite 25)

Anmerkungen

(1) Breggin, P. R. (1980). Elektroschock ist keine Therapie. München, Wien, Baltimore, Urban & Schwarzenberg
(2) Orwell, G. (1949, 2002). 1984. Berlin: Ullstein (und zahllose andere Ausgaben)
(3) Kaija Huuhka, Merja Viikki, Tarja Tammentie, Kati Tuohimaa, Minna Björkqvist, Hanna-Mari Alanen, Esa Leinonen, Olli Kampman (2012). One-Year Follow-Up After Discontinuing Maintenance Electroconvulsive Therapy. J ECT. 2012 Apr 24
(4) John Read und Richard Bentall: The effectiveness of electroconvulsive therapy: A literature review. Epidemiologia e Psichiatria Sociale, 19, 4, 2010, 333-347

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Mind Wars, Kalter Krieg, Bewusstseinskontrolle

Satanisten?

Immer wieder werden Stimmen laut, dass auch in Deutschland Kinder von Satanisten in schwarzen Messen rituell missbraucht und absichtlich zu multiplen Persönlichkeiten gemacht würden. Solche Thesen werden natürlich vor allem im Internet verbreitet, zumeist in obskuren Websites (4).

Viele zweifeln daran. Der Grund: Es seien noch niemals Satanisten wegen solcher Taten rechtskräftig verurteilt worden. Die Satanismus-Gläubigen kontern, dass die Satanisten sehr mächtig seien und polizeiliche Ermittlungen behindern oder gar verhindern könnten. Wie mächtig müssten Satanisten sein, die so etwas können? Wäre es möglich, dass wieder einmal nichts ist, was es zu sein scheint?

Drei Tatsachen

  • Die CIA und andere Behörden untersuchten während des Kalten Kriegs in langjährigen und kostspieligen Forschungsprojekten die Möglichkeit, Menschen durch Gehirnwäsche in willenlose mentale Sklaven zu verwandeln, die wie Automaten jeden Befehl ausführen, und koste es auch das eigene Leben.
  • Die Nato gründete und kommandierte unter Führung der CIA während des Kalten Kriegs in allen demokratischen Staaten Europas geheime Partisanenorganisationen (z. B. die italienischen Gladio-Einheiten), die aktiv werden sollten, wenn das nicht-kommunistische Europa von der Sowjetunion besetzt würde.
  • Während des Kalten Kriegs sollte die Bundesrepublik Deutschland im Falle eines Angriffs der Sowjetunion mit der so genannten “Atomic Demolition Munition” (kleine nukleare Sprengsätze) verteidigt werden, deren Effizienz durch Selbstmordbomber erheblich gesteigert worden wäre – durch Vergrößerung der Schadwirkung auf den Feind bei gleichzeitiger Verminderung der Kollateralschäden.

Diese drei Tatsachen sind verbürgt. Authentische Akten beweisen, dass es sich hier nicht um haltlose Verschwörungstheorien handelt. Es liegt nahe, eine mehr als nur oberflächliche Verbindung zwischen diesen drei Tatsachen zu vermuten. Doch das ist Spekulation. Bisher sind noch keine Akten aufgetaucht, die einen Zusammenhang zwischen dem Gehirnwäsche-Projekten der CIA (MKULTRA, Bluebird, Artichoke u. ä.), der Stay Behind Organization und der taktischen NATO-Nuklearstrategie belegen. Aber eine Reihe von Menschen behaupten, Opfer derartiger Gehirnwäsche-Methoden geworden zu sein, versichern (für mich) glaubwürdig, sie seien für Himmelfahrtskommandos dieser Art abgerichtet worden (5).

Hintergrund zu den drei Tatsachen

Eine Zusammenstellung von Informationen zu den Gehirnwäsche-Experimenten der CIA und anderer Behörden der Vereinigten Staaten findet sich in der Website “Want to know“.

Wissenschaftliche Untersuchungen zu den einst geheimen Partisanenorganisationen der NATO werden auf einer Web Site der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich präsentiert.

Über die einst ultrageheime NATO-Strategie zur Verteidigung Deutschlands mit Mini-Nukes informiert beispielsweise das Buch von Detlef Bald: Politik der Verantwortung (Berlin: Aufbau, 2008).

Satanisch ritueller Missbrauch?

Meine Hypothese: Den sog. satanisch rituellen Missbrauch gibt es nicht – es gibt ihn doch.

Es gibt ihn nicht, weil die sog. satanischen Rituale nur vorgetäuscht sind. Es gibt ihn doch, weil der Missbrauch real ist. Es handelt sich dabei im eine ausgeklügelte Form der Gehirnwäsche. Mit ihr werden mentale Sklaven produziert – mit Aufgaben im militärischen und/oder geheimdienstlichen Bereich.

Diese militärischen und/oder geheimdienstlichen Projekte werden, so lautet meine Hypothese, durch den Pseudo-Satanismus perfekt getarnt. Es handelt sich hier um eine falsche Fährte. Vorteile: Sie führt ins Nichts. Und sie diskreditiert jeden, der sie ernst nimmt, als Spinner oder Verschwörungstheoretiker.

Die Suche nach satanistischen Sekten, die Menschen zum Zwecke der Gehirnwäsche unter Drogen setzen, mit Elektroschocks traktieren, hypnotisieren und foltern, bleibt erfolglos. Kein Wunder.

Aber war da nicht noch was? Gibt es nicht Organisationen, die nachweislich Menschen zum Zwecke der Gehirnwäsche unter Drogen setzen, mit Elektroschocks traktieren, hypnotisieren und foltern?

Es mag zwar sein, dass einige der Täter tatsächlich Okkultisten sind. Es mag auch sein, dass sich okkulte Zirkel oder destruktive Kulte an diesen Taten beteiligen. Fakt und nachgewiesen aber ist, dass sich hochrangige Psychiater an den Gehirnwäsche-Projekten der CIA beteiligten. Und dass diese Psychiater Okkultisten waren, ist weder bekannt, noch wahrscheinlich.

Die absichtliche Spaltung der Persönlichkeit u. a. durch Drogen, Hypnose, sensorische Deprivation, Elektroschocks und Folter aber ist keine sakrale Handlung, auch nicht in den abseitigsten Kulten, sondern sie verfolgt erkennbar militärische, geheimdienstliche, ökonomische und nicht zuletzt auch wissenschaftliche Ziele. Im Kern handelt es sich bei diesem Verfahren im Übrigen um die “Elektrotherapie mit starken elektrischen Strömen”, also um eine psychiatrische Foltermethode, bekannt beispielsweise unter den Namen “Kaufmanns Kur” und “Pansen”, die während der beiden Weltkriege zur “Behandlung” von “Kriegsneurotikern” durchaus gebräuchlich war (6).

Muße zum Nachdenken über neue Aufgaben

Nach meiner Hypothese stand das Ziel, Spezialeinheiten für nukleare Himmelfahrtskommandos während eines erwarteten Dritten Weltkriegs aufzubauen, zwar am Anfang dieses Gehirnwäsche-Projekts, doch dabei blieb es nicht (7).

Als die sowjetische Invasion auf sich warten ließ, hatten die Täter Zeit und Muße, über andere Aktions- und somit Legitimationsmöglichkeiten nachzudenken. So wurden – so lautet meine Hypothese – die gehirngewaschenen mentalen Sklaven auch als Terroristen eingesetzt, die durch Entführungen und Attentate die Völker des “freien Europas” in Angst und Schrecken versetzten. Damit wollte man den Ruf nach dem starken Mann provozieren und die Bereitschaft fördern, Einschränkungen der demokratischen und der bürgerlichen Freiheiten zu akzeptieren.

Nahrung findet diese Hypothese in allerlei Spekulationen, wie zum Beispiel jener des US-Generals W. C. Westmoreland, die er 1970 in einem einst ultrageheimen Field-Manual 30/31, Supplement B niederschrieb. Dort beklagt er, dass kommunistische Unterwanderer ihre Regierungen durch Gewaltverzicht mitunter in falscher Sicherheit wiegen.

Er schreibt:

“In solchen Fällen sollten dem US-Militärgeheimdienst alle Mittel zur Verfügung stehen, gezielte Operationen zu starten, die sowohl die Regierungen der Gastländer, als auch die Öffentlichkeit von der Gefahr einer Rebellion und der Notwendigkeit eines Gegenangriffs überzeugen. Zu diesem Zweck sollte der US-Militärgeheimdienst alles daran setzen, Agenten mit Spezialaufträgen in die aufständische Bewegung einzuschleusen, welche die Aufgabe haben, spezielle Aktionsgruppen innerhalb der radikaleren Elemente der Bewegung zu bilden. Entsteht eine der oben genannten Situationen, sollten diese durch den US-Geheimdienst kontrollierten Gruppen eingesetzt werden, um je nach Lage des Falls entweder gewaltfrei oder auch gewaltsam einzugreifen.”

Die US-Regierung bezeichnet diese Zeilen Westmorelands jedoch als sowjetische Fälschung. Eine Field Manual 30-31 existiere zwar, auch ein Anhang A, Supplement B sei jedoch eine Falschinformation. Einen überzeugenden Beweis für diese These kann die US-Regierung allerdings nicht vorlegen.

Der einschlägig forschende Historiker Daniele Ganser hält Field Manual 30-23 B nach wie vor für authentisch. Seine Argumentation in einer Fachzeitschrift für Geheimdienste und nationale Sicherheit (The CIA in Western Europe and the Abuse of Human Rights. An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies, in: Intelligence and National Security Journal, 2006, H. Volume 21, Number 5, S. 760-781) ist aus meiner Sicht durchaus überzeugend.

Wie auch immer: Eine Vielzahl von Fakten spricht dafür, dass die USA in Europa während des Kalten Kriegs eine “Strategie der Spannung” verfolgten, um die Linke durch inszenierten Terrorismus zu diskreditieren (vgl. z. B. Klaus Kellmann: Der Staat lässt morden. Politik und Terrorismus – heimliche Verbündete. Henschel Verlag Berlin, 1999).

Ins Konzept dieser “Strategie der Spannung” passt auch der “Satanismus” – nahtlos. Schon 1979 (also vor der satanistischen “Hysterie” aus den Vereinigten Staaten) schrieb der Okkultismus-Experte Horst Knaut:

“Es gibt geschützte religiöse Klausen, ‘Klöster’ und ähnliche Okkultverstecke weitverstreut, in denen man ungehindert untertauchen kann, in denen man lehren, planen, drucken und Bomben basteln kann. In denen Menschen verschwinden können, ohne dass Nichteingeweihte davon erfahren… Dort kann Gehirnwäsche angewandt werden. Dort können Menschen für alle Zwecke psychologisch disponiert, ja abgerichtet werden. Experten hat der religiöse, okkultistische Untergrund genügend anzubieten – Experten für kriminelle, gesellschaftsfeindliche, zerstörerische Lehren. Ich kann nur schmunzeln, wenn die ‘Terroristen’ stereotyp immer wieder in Neubauwohnungen mit Garagen in der Nähe vermutetet werden. Das sind nur kleine Außenbasen – ihre häuslichen und geistigen Wohnungen sind woanders. (Horst Knaut: Das Testament des Bösen, Stuttgart, 1979).”

Das klingt doch wie eine Idealbesetzung. Deutsche Okkultisten – mit ihren bestens dokumentierten Verbindungen zum Nazismus und zu Geheimdiensten – verbünden sich im Kalten Krieg mit einer Geheimarmee im Geiste einer “Strategie der Spannung”.

1 und 1 zusammenzählen? Man wird einfach den Verdacht nicht los, dass 2 dabei herauskommt. Doch selbst dann, wenn sich der Verdacht zur Gewissheit zu verdichten scheint, bleibt die Unterstellung, die Gehirnwäsche durch Satanisten (trauma-based mind control) sei eine militärisch-geheimdienstliche Camouflage, natürlich eine Hypothese. Man kann sie unbesorgt ins Reich der Verschwörungstheorien verbannen. Dies wäre zwar nach menschlichem Ermessen nicht vernünftig; er wer sagt uns denn, dass es immer klug sei, vernünftig zu sein?

Der Leser möge ich nicht falsch verstehen; ich möchte seinen Verstand keineswegs in eine bestimmte Richtung drängen. Es würde mich freuen, wenn er ihn frei umherschweifen ließe, dabei aber nicht vergäße, seinen Blick mitunter auf Dinge zu richten, denen er zuvor keine Beachtung schenkte.

Ein Blick untern falschen Kanaldeckel

Im Lauf meines Lebens bin ich oft und mit Herzenslust, zuweilen ein lustiges Lied auf den Lippen, durch deutsche Gaue gewandert und habe mich an der schönen Natur erfreut. War’s anders nicht möglich, wanderte ich auch die Landstraße entlang. Mitunter entdeckte ich, meist in der Nähe von Brücken, merkwürdige Verschlüsse, die bei oberflächlicher Betrachtung wie Kanaldeckel aussahen.

Bei genauerem Hinsehen stellte ich allerdings fest, dass sie keine Öffnungen zum Abfließen von Wasser und eine Schraube in der Mitte hatten. Einmal fragte ich einen Bautrupp, der sich an einer derartigen Öffnung im Pflaster zu schaffen machte, welche Funktion diese Schächte hätten. Einer der Arbeiter antwortete ausweichend. Sie seien Mitarbeiter vom Straßenbauamt, sagte er. Zu weiteren Auskünften war er nicht bereit, er habe zu tun. Damit gab ich mich zufrieden, denn so wichtig schien mir die Angelegenheit nun auch wieder nicht zu sein.

Erst vor einigen Jahren erfuhr ich bei Recherchen im Internet, dass es sich bei diesen seltsamen Kanaldeckeln um die Verschlüsse von Sprengschächten handelte. Im Falle einer sowjetischen Invasion sollten sie mit Sprengstoff gefüllt werden. Es handelte sich also um militärische Sperranlagen. Überall in Deutschland wurden während des Kalten Kriegs Vorrichtungen zur Aufnahme von Sprengstoff für den Ernstfall installiert. Natürlich dachte ich zunächst an konventionellen Sprengstoff.

Dann stieß ich bei weiteren Recherchen auf das Field Manual 5-102 der US-Armee aus dem Jahre 1985. Dieses Field Manual enthält Anweisungen, wie man am besten heranrückende Feinde stoppen kann.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit nuklearen Sprengkörpern, der sog. „Atomic Demolition Munition“. Dabei handelt es sich um atomare Sprengsätze mit einer Sprengkraft zwischen 10 Tonnen bis maximal 15 Kilotonnen. Diese nuklearen Sprengsätze sind verhältnismäßig klein; selbst die größten können von zwei bis drei starken Männern getragen werden. Daher werden sie auch als Kofferbomben bezeichnet.

Die „Atomic Demolition Munition“ hat, laut Field Manual 5-102, spezielle Eigenschaften, die sie auf dem Schlachtfeld besonders wünschenswert macht. Da sie eine wesentlich höhere Zerstörungskraft als konventioneller Sprengstoff besitze, seien die Anforderungen an die Logistik und das Personal bei ihrem Einsatz erheblich reduziert. Die „Atomic Demolition Munition“, kurz ADM besäße einen signifikanten Vorteil gegenüber jedem anderen Einsatzsystem, wenn absolute Treffsicherheit erforderlich ist.

Klar: Wenn zwei, drei Soldaten einen atomaren Sprengsatz an einer Autobahnbrücke anbringen, dann kann diese Zielgenauigkeit naturgemäß nicht im entferntesten durch einen Bombenabwurf bzw. Atomkanonen- oder Raketenbeschuss erreicht werden. Bomben, Granaten oder Raketen müssten daher wegen der geringeren Treffsicherheit eine wesentlich höhere Sprengkraft besitzen, um genauso effektiv zu sein wie die ADM.

Bekanntlich wechseln heranrückende Panzerverbände häufig unvorhersehbar ihre Richtung, weil sie dem Gegner natürlich nicht ins offene Messer rennen wollen. Mit mobiler ADM kann man ihm aber folgen und ihn an geeigneter Stelle mit geballter Ladung erwarten. Konventioneller Sprengstoff müsste, um denselben Zweck zu erfüllen, in erheblich größeren Mengen herbeigeschafft werden; er wäre also bei weitem nicht so flexibel. Man könnte die nuklearen Sprengsätze unauffällig mit einem Kleinwagen oder einem Handkarren, wenn nicht sogar auf dem Rücken eines starken Mannes, transportieren.

Die sei, so heißt es im bereits zitierten Manual, dementsprechend eine rundum positive Waffe: Atomarer Niederschlag (Fallout), freigesetzte Strahlung und Kollateralschäden könnten kontrolliert und minimiert werden. Im Grunde, so argumentieren die Autoren des Field Manuals, stelle sich die Frage „konventionell“ oder „atomar“ vielfach im realen Kriegsleben überhaupt nicht – rein technisch und militärisch betrachtet.

Viele Tunnel z. B. könnten mit konventionellem Sprengstoff gar nicht ernsthaft beschädigt, geschweige denn zerstört werden – und zwar wegen der gewaltigen Mengen Sprengstoff, die benötigt würden, um die Explosionswirkung eines so großen Raumes an einem einzigen Punkt zu konzentrieren.

Eine Mini-Nuke sei hier ein wahrer Segen. Ein einziger kleiner atomarer Sprengsatz, in der Mitte des Tunnel platziert, würde diesen dermaßen demolieren, dass der Feind Wochen zu tun hätte, um ihn wieder passierbar zu machen. Ähnliches gelte auch für Autobahnen. Mit konventionellem Sprengstoff könne man bestenfalls ein paar Löcher reißen, die der Angreifer leicht mit Behelfsbrücken überwinden könne. Und selbst dieser geringe Effekt würde sehr viel Personal, Transport-Kapazität und Arbeitszeit binden.

Doch eine ADM, die unterhalb oder auf der Fahrbahn explodierte, würde ein Hindernis hinterlassen, das den Feind zum Bau einer festen Brücke zwingen und ihn selbst dann mehrere Tage beschäftigen würde, wenn er nicht unter Feuer stünde. Und dann erst die Brücken. Keine Plackerei mehr. Ein ADM-Feuer-Team könnte eine Brücke, für deren Sprengung eine konventionelle Einheit mehrere Kompanie-Stunden benötige, in wenigen Minuten in Schutt und Asche legen.

Doch nicht nur Tunnels, Straßen und Autobahnen eignen sich als Ziele für die Kofferbomber. Das Armee-Handbuch nennt als weitere Objekte massive Dämme, Kanäle, Startbahnen, Verschiebebahnhöfe, Häfen, Industrieanlagen, Kraftwerke, Versorgungsdepots und enge Talabschnitte.

Nicht nur zum Stoppen des Vormarsches feindlicher Verbände, sondern auch zum Angriff sind Mini-Nukes eine feine Sache, schwärmen die Autoren des Field Manuals 5-102. Mit ihrer Hilfe kann man die Flanken einer angreifenden Formation schützen. Man kann Hindernisse hinter den feindlichen Linien schaffen, um ihn an der Flucht zu hindern (wozu hat man schließlich Fernspäher?). Man kann die erste von der zweiten Angriffswelle des Feindes trennen, wenn man zwischen beiden ein paar Mini-Nukes hochgehen lässt.

Die Anwendungsmöglichkeiten sind – militärisch betrachtet – letztlich nur durch die mangelnde Phantasie der Anwender begrenzt. Folgt man diesem Handbuch des US-Militärs, dann sind kleine taktische Nuklearwaffen also eine durchaus sinnvolle Option in der modernen Kriegsführung. Das potentielle Schlachtfeld Deutschland war jedenfalls bestens präpariert für diese Art des Waffengangs mit den Sowjets.

Was wird die Zukunft bringen? Eine Schwachstelle sind, wie immer, die Menschen. Zum Glück gibt es auch für den „Human Factor“ ein Handbuch der Armee, das Field Manual 22-51 (29. 09. 1994).

Die Drohung einer nuklearen Eskalation, so heißt es dort, hänge über jeder militärischen Operation, die Atomwaffenbesitzer einschließe. Während des Kalten Krieges hätte sich die Auffassung durchgesetzt, dass ein globaler Atomkrieg unweigerlich zum nuklearen Winter und zum Untergang der Menschheit führe.

Neuere Computer-Simulationen zeigten aber, dass der nukleare Winter nur partiell sei. Ebenso falsch sei die Befürchtung, dass jeder Einsatz von Atomwaffen zwangsläufig zu einer globalen Eskalation und zum nuklearen Winter führe. Weder die Atombomben auf Japan, noch die zahlreichen atmosphärischen Atomtests hätten einen negativen Effekt auf das Weltklima gehabt.

Diese weit verbreiteten falschen Überzeugungen seien natürlich auch nicht spurlos an den US-Soldaten vorüber gegangen. Die meisten US-Soldaten würden daher im Falle einer nuklearen Auseinandersetzung glauben, dass der Weltuntergang bevorstehe. Die elektronischen Kommunikationsstörungen während einer Schlacht und die feindliche Propaganda würden diesen Irrglauben noch verstärken.

Dies führe zur Hoffnungslosigkeit – im Sinne der während des Kalten Kriegs allgemein herrschenden Überzeugung, dass es in einem Atomkrieg keinen Gewinner geben könne. Es sei unbekannt, welche Auswirkungen diese Hoffnungslosigkeit auf unangemessen ausgebildete Soldaten habe. Einige Soldaten seien negativ durch Filme, Bücher und TV-Shows beeinflusst worden, die Mythen und grobe Übertreibungen hinsichtlich der Auswirkungen von Strahlung hervorgerufen hätten.

Daher heißt es im Field Manual 22-51 bündig:

„Wir müssen die Soldaten mental und emotional auf den Schock vorbereiten, der sich einstellt, wenn sie zum ersten Mal eine nukleare Attacke hören und sehen.“

Ein erster, wichtiger Schritt bestünde darin, die Soldaten mit realistischen Informationen über die Risiken unterschiedlich intensiver Strahlung zu versorgen. Informationen über die wahren Gefahren, besonders bei niedrigen Niveaus radioaktiver Strahlung, sollten mit den Schäden verglichen werden, die durchs Rauchen, Röntgen-Untersuchungen und Flügen in großer Höhe verursacht werden können.

Das Manual schildert einer Reihe weiterer Maßnahmen aus dem Arsenal der modernen Psychologie und Verhaltensmodifikation. Ob derartige Methoden die Befürchtungen von Soldaten tatsächlich beschwichtigt können, vermag ich nicht zu beurteilen. Wie sich Soldaten in den heißen Zonen atomarer Schlachten tatsächlich verhalten werden, wird man wahrscheinlich erst dann erfahren, wenn der erste Krieg dieser Art stattfindet.

Vermutlich würden sich in einen solchen Krieg in der Regel an vorderster Front nur jene Soldaten bewähren, die von Kindesbeinen an durch eine spezielle Form der Gehirnwäsche auf eine atomare Schlacht und die eventuell erforderliche Selbstopferung vorbereitet wurden.

In Deutschland werden seit 1990 keine Sperrvorrichtungen für konventionelle Munition und ADM mehr gebaut. Der Feind von einst hat sich aufgelöst. Gegen den Feind von heute könnte man in unserem Land auch dann nicht mit ADM vorgehen, wenn er selbst mit Mini-Nukes ausgerüstet wäre. Der Kampf gegen den Terrorismus ist in dieser Hinsicht asymmetrisch.

Ein Terrorist könnte beispielsweise das Frankfurter Kreuz mit Mini-Nukes in die Luft jagen, aber die Bundeswehr könnte ihm zur Strafe keine ADM unter den Gebetsteppich stecken. Und so liegt es nahe, sich, auch vorbeugend, an Staaten schadlos zu halten, die angeblich oder tatsächlich Terroristen unterstützen.

In einem Papier des amerikanischen Militär-Gremiums „Joint Chiefs of Staff” (Vereinigter Generalstab) aus dem Jahre 2005 heißt es:

„Verantwortliche Sicherheitsplanung erfordert die Vorbereitung auf Bedrohungen, die möglich, aber heute vielleicht unwahrscheinlich sind. Die Lektionen der Militärgeschichte bleiben klar: Unvorhersagbare, irrationale Konflikte treten ein. Die Streitkräfte müssen sich darauf vorbereiten, Waffen und Fähigkeiten entgegen zu treten, die existieren oder existieren werden, auch wenn in naher Zukunft keine unmittelbar wahrscheinlichen Kriegsszenarien gegeben sind. Um die Abschreckung des ABC-Waffeneinsatzes zu maximieren, ist es wesentlich, dass die US-Streitkräfte den effektiven Einsatz nuklearer Waffen vorbereiten und dass sie bereit sind, Nuklearwaffen zu verwenden, falls dies zur Vorbeugung oder Vergeltung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen notwendig ist.

(“Responsible security planning requires preparation for threats that are possible, though perhaps unlikely today. The lessons of military history remain clear: unpredictable, irrational conflicts occur. Military forces must prepare to counter weapons and capabilities that exist or will exist in the near term even if no immediate likely scenarios for war are at hand. To maximize deterrence of WMD use, it is essential US forces prepare to use nuclear weapons effectively and that US forces are determined to employ nuclear weapons if necessary to prevent or retaliate against WMD use.”)

Am Ende des Kalten Krieges rechnete ich fest damit, dass sich die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges deutlich verringern würde. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Wenn heute einem Staat unterstellt wird, er stelle insgeheim Massenvernichtungswaffen her, dann könnte dies das Präludium für einen Nuklearkrieg sein.

Suizide Mission Blues

Eine Fantasie. Am frühen Morgen des 27. Oktobers 1962 stand ein elfjähriger Junge an einer Landstraße in der Nähe von Fulda. Der Junge stammte nicht aus dieser Gegend. Er hatte mehrere Stunden Fahrt mit einem Auto hinter sich. Er hielt eine Leine in der Hand, mit der er den kleinen Esel, der neben ihm stand, führen konnte. Ein schwerer Sack war mit Ledergurten auf dem Rücken des Tieres geschnallt. Das Kind wusste nicht, was sich in diesem Sack befand. Man hatte ihm gesagt, dass der Inhalt sehr wichtig sei. in den Sack dürfe er nicht hineinschauen. Ein Kabel verband den Sack mit einem roten Knopf am Halsband des Esels. Das Kind wusste, was es zu tun hatte. Sobald er von Männern, die danach sofort wieder fortgefahren wären, ein entsprechende Anweisung erhalten hätte, wäre er mit dem Esel in die ihm gewiesene Richtung marschiert und hätte auf den Knopf gedrückt, wenn weitere, präzise definierte Ereignisse eingetreten wären. Der Junge war folgsam, sehr folgsam, viel folgsamer, als dies von Jungen in seinem Alter als menschenmöglich erachtet werden konnte. Um sein Ziel zu erreichen, hätte er einen Weg durch bewaldetes Gebiet gewählt. Er kannte das Gelände. Er hatte einen Kompass und eine Karte dabei. Er wusste, wie man sich in Wald und Feld orientiert. Er liebte Erdbeeren mit Schlagsahne. Sie waren ihm als Nachtisch zu Abendessen versprochen worden.

1964. Der Spiegel (23. 12., Heft 52) berichtete, dass besorgte Bürgermeister im Verteidigungsministerium angerufen und gefragt hätten, ob man in ihrem Gemeindegebiet noch unbesorgt spazieren gehen könne.

1964. Die Beatles sangen: “I want to hold your hand.” Bernd Spier meinte trotzig: “Das kannst du mir nicht verbieten.”

Leonid Breschnew wurde Generalsekretär der KPdSU.

Die Amerikaner begannen ein militärisches Abenteuer, das als “schmutziger Krieg” in die Geschichte eingehen und mit einer schmählichen Niederlage enden sollte. Am 7. August 1964 ermächtigte der amerikanische Kongress mit der Tonkin-Resolution den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, zur Abwehr von Angriffen auf US- und verbündete Streitkräfte in Südostasien alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Das war der offizielle Start des Vietnamkriegs.

Der Name dieser Resolution bezieht sich auf den sog. Tonkin-Zwischenfall. Nordvietnamesische Schiffe hatten angeblich den US-Zerstörer USS Maddox attackiert. Heute wissen wir, dass dieser Angriff niemals stattfand. Noch nicht einmal der Präsident und sein Verteidigungsminister Robert McNamara glaubten damals daran. Es handelte sich um Kriegspropaganda.

1964. In Deutschland war das Leben friedlich. Südostasien war weit weg. Über die Leinwände der Republik flimmerte “Für eine Handvoll Dollars”. Sergio Leone begründete mit diesem Streifen das Genre des Italo-Westerns. Die Deutschen lehnten sich in die Kino-Sessel zurück und knabberten Popcorn.

Heinrich Lübke wurde zum Bundespräsidenten wiedergewählt. Was haben wir über seine Scherze gelacht! “Meine Damen und Herren, liebe Neger…”. Es war damals nicht ausgeschlossen, dass unser Lachen in einem Atomblitz verhallt wäre. Als Atomic Demolition Munition werden kleine Atombomben bezeichnet, deren Sprengkraft vergleichsweise gering ist. Sie können in Kleinwagen, mit Lasttieren und die kleinsten Versionen sogar von einem kräftigen Soldaten im Rucksack zu ihrem Einsatzort transportiert werden. Die Detonation wird durch Zündschnüre oder Zeitschalter ausgelöst. Den größten Nutzen haben sie, wenn sich ein Held fürs Vaterland an Ort und Stelle mit ihnen in die Luft sprengt. Nur dann kann mit einiger Sicherheit vorausgesetzt werden, dass die Feindwirkung deutlich größer ist als der Kollateralschaden.

In seiner Dissertation CREATING DETERRENCE FOR LIMITED WAR (1) beschreibt der Historiker Ingo Trauschweizer eine Zusammenkunft im Pentagon, dem amerikanischen Verteidigungsminsterium, die sich als Meilenstein für den weiteren Verlauf des Kalten Kriegs in Deutschland erweisen sollte.

Am 13. November 1964 traf sich der amerikanische Verteidigungsminister McNamara mit seinem deutschen Kollegen Kai-Uwe von Hassel. In von Hassels Gefolge befanden sich der Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinz Trettner und General Bernd Freitag von Loringhoven. Von Loringhoven war ein Zeuge der letzten Tage im Führerbunker. Heinz Trettner bezweifelte, dass die strategische nukleare Abschreckung noch glaubwürdig sei. “Flexible Response”, die gestufte Abschreckung sei nunmehr erforderlich. Diese Einschätzung teilte er mit dem amerikanischen Verteidigungsminister und dessen frischgebackenem Stabschef General Earle G. Wheeler. Die massive Vergeltung solle einem nuklearen Überraschungsangriff oder einem totalen konventionellen Angriff des gesamten Warschauer Paktes vorbehalten bleiben.

Die deutsche Generalität hatte sich auch eine Alternative zum weltweiten atomaren Overkill ausgedacht. General von Loringhoven trug das Konzept vor: Im Falle eines Angriffs der Sowjets auf Westdeutschland sollten Heer und Luftwaffe mit konventionellen Mitteln zurückschlagen. Gleichzeitig aber sollten atomare Landminen, die so genannte Atomic Demolition Munition (ADM), die bereits entlang der deutsch-deutschen Grenze deponiert worden waren, gezündet werden. Sobald NATO-Truppen in Gefahr stünden, zerstört zu werden, sollten zusätzliche taktische Atomwaffen eingesetzt werden. Eine weitere Eskalation könne vermieden werden, wenn die sowjetische Aggression auf dieser Stufe gehalten werden könne. Nach diesem deutschen Konzept sollten die Nuklearwaffen nur auf deutschem Boden und nicht gegen die sowjetischen Kommunikationslinien eingesetzt werden.

Zwischen 1953 und 1958 waren die amerikanischen Streitkräfte bereits mit taktischen Nuklearwaffen ausgestattet worden. Zu diesen zählen Kurzstreckenraketen, Haubitzen, Kanonen und natürlich Atomic Demolition Munition (3).

Der Vorschlag der deutschen Generalität war damals nicht gerade bahnbrechend neu. Bereits am 23. März 1955 explodierte auf dem amerikanischen Atomtestgelände in Nevada eine kleine Atombombe (Atomic Demolition Munition) im Rahmen eines Manövers, in dem die Führung eines taktischen Nuklearkriegs geübt wurde. Dass sich nun auch die Deutschen von dieser Idee so begeistert zeigten, dürfte Wohlklang in amerikanischen Ohren gewesen sein.

Am 4. Dezember 1964 moderierte Lou van Burg im ZDF zum ersten Mal die Spielshow “Der goldene Schuss”. Der Ausruf “Wunnebar” wurde zum Markenzeichen dieses überaus beliebten Entertainers.

Mitte Dezember wurden die Pläne zur Verteidigung unseres Landes mit ADM der deutschen Öffentlichkeit bekannt. Dies führte zu den bereits erwähnten Anrufen besorgter Bürgermeister im Verteidigungsministerium. Im Lauf der folgenden Jahre wurde das ADM-Konzept immer wieder einmal publik, löste stets einen Sturm im Wasserglas aus und wurde danach wieder vollständig verdrängt.

Deshalb konnte jeder neue Bericht über den geplanten taktischen Nuklearkrieg in Deutschland von den Medien als große Enthüllung bisher unbekannter Tatsachen verkauft werden. Die bisher letzte derartige Enthüllung erfolgte anlässlich der Veröffentlichung eines Buchs von Detlef Bald, über das noch zu sprechen sein wird.

Die 3. US-Panzerdivision (3rd Armored Division “Spearhead”) bewachte während des Kalten Krieges die deutsch-deutsche Grenze. Sie besaß natürlich auch ein beachtliches Waffenarsenal, um die sowjetischen Panzer im Falle eines Angriffs aufzuhalten. Zu diesen Waffen zählte ein Koffer. In diesem Koffer befand sich ein kleiner nuklearer Sprengsatz, eine sog. Special Atomic Demolition Munition (SADM) namens MK-54.

Am 8. Februar 1971 liberalisierte der damalige Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt mit dem so genannten Haarnetzerlass das Tragen langer Haare bei der Bundeswehr. Etwa ein Jahr später wurde der Haarnetzerlass jedoch wieder aufgehoben. Ich erinnere mich an einen General, der kurz nach dem Erlass im Fernsehen sagte: “Ich weiß nicht, wie der Feind das sieht, aber mich schrecken Soldaten mit langen Haaren ab.” Die Bundeswehr hatte 740.000 Haarnetze angeschafft. Eine krasse Fehlinvestition.

Arnold Dutcher war 1971 als Soldat der “Spearhead-Division” in Deutschland. Er schreibt in seinen Erinnerungen an diese Zeit:

“Während meines Einsatzes in Deutschland trainierte ich hauptsächlich mit der MK-54 SADM. Sie war die leichteste und kompakteste der ADM-Waffen.” Die Mission seiner Einheit, des ADM-Platoons bestand darin, “Dinge in die Luft zu sprengen, die dann Hindernisse wurden, um die Armeen des Ostblocks auf ihrem Weg nach Westen zu stoppen.” Als Ziele kamen z. B. Autobahnen in Frage. Der Einsatz der Kofferbombe wurde beständig geübt. Ein häufiges Übungsgebiet war ein Autobahnabschnitt in der Nähe Hanaus. Die Einsatzgruppe hielt die Zufahrt zum Standort der Bombe frei, beseitigte Unterholz, entfernte Äste und andere Gegenstände, die das Fahrzeug der Truppe behindert hätten. Die letzten Meter mussten Sie den Koffer tragen, der insgesamt etwa 75 kg schwer war.

Die Bombe sollte durch eine internen Zeitschalter gezündet werden. Dutcher und seine Kameraden hatten allerdings den Befehl, in Sichtweite auf die Detonation zu warten.

“Dies bedeutete er erhebliches Risiko für das Team”, schreibt Dutcher, “aber wir wussten, wie wir in Deckung gehen und uns selbst schützen konnten.” (Dutchers Bericht findet sich hier.)

Die militärische Führung des Westens waren damals davon überzeugt, dass die Sowjets einen Angriff auf Westdeutschland mit Atombombenzündungen im Weltraum über Deutschland beginnen würden, um durch den elektromagnetischen Puls die Kommunikation des westlichen Bündnisses zu stören und die Elektronik lahmzulegen.

Dann wären aus ordinären Zündkabeln gigantische Antennen für die Energie des elektromagnetischen Pulses geworden. Damals war es nämlich noch nicht möglich, die Elektronik und die Kommunikationssystem gegenüber dem elektromagnetischen Puls zu härten.

Man lief also Gefahr, dass die nuklearen Landminen überhaupt nicht oder zum falschen Zeitpunkt hochgegangen wären. Wollte man sicherstellen, dass die kleinen Atombomben punktgenau beim Herannahen sowjetischer Panzerverbände explodierten, um die Verstrahlung Deutschlands möglichst gering zu halten, dann brauchte man Leute zur Zündung der Bomben von Hand.

Man bedenke: In dieser Zeit gab es auch nicht die heute zur Routine gewordene, höchst effiziente Überwachung von Schlachtfeldern durch Satelliten.

Um Zündkabel gegenüber dem Puls zu härten, hätte man sie tief eingraben müssen – eine Unmöglichkeit angesichts der Tatsache, dass Panzerverbände im Krieg aus guten Gründen oftmals unerwartet ihre Route ändern.

Ed Mitchell, ein Offizier der US-Armee im Ruhestand, erinnert sich an seine Zeit in Deutschland:

“Ich hatte die Aufgabe, … Personal auszuwählen, das die Aufgabe erledigen konnte, doch das als entbehrlich betrachtet wurde.” (Mitchells Bericht)

Ein anderer Offizier, Rowe Attaway fügt im Hinblick auf den Ernstfall hinzu:

“Einsatzgruppen hätte man mit 7-Tage-Rationen versorgt, erwartet, dass sie die zugewiesene Aufgabe erledigen und dann abgeschrieben (written off the books).” (Attaways Bericht)

Der Umgang mit den Mini-Nukes galt unter Soldaten scheinbar als Himmelfahrtskommando. Es nützt ja nicht viel, nur irgendwo große Krater in die Landschaft zu sprengen. Um die kann der Feind natürlich herum fahren. Dafür braucht er etwas länger, aber er kommt dennoch zum Ziel.

Besser ist es, die Ladung zu zünden, wenn der Feind ihr ganz nahe ist. Dazu muss man in der Nähe bleiben und rechtzeitig auf den Knopf drücken. Dann aber hat der Anwender vermutlich nicht mehr genug Zeit, sich aus dem Staub zu machen.

Trotzdem: Für das Konzept eines begrenzten Atomkriegs waren die Mini-Nukes im Kalten Krieg einfach unentbehrlich – und so brauchte man auch Menschen, die sie an der Front oder gar hinter den feindlichen Linien einsetzten.

Am 27. 5. 1972 wird die erste Folge von “Star Trek” (“Raumschiff Enterprise) im deutschen Fernsehen gezeigt. Am 1. September wird Robert James Fischer Schachweltmeister.

Ron Chiste war als GI in Deutschland und diente in der 3. US-Panzerdivision. Im Mai 1972 erhielt er den Befehl, die taktischen Atomwaffen scharf zu machen. Was war geschehen? Präsident Richard Nixon hatte angeordnet, dass der nordvietnamesische Hafen von Haiphong bombardiert werden solle. Das Weiße Haus war sich nicht sicher, wie die Russen reagieren würden (Chistes Bericht).

Über den Einsatz dieser und anderer Atombomben auf deutschem Boden entschied die USA allein. Die wenigsten Deutschen wussten, was ihnen drohte. Nur ein paar Politiker. Ob die wohl noch im Lande gewesen wären, wenn Dutcher oder andere US-Boys unsere Autobahnen mit Atombomben in die Luft gesprengt hätten?

Ron Chiste erinnert sich an ein sog. EDP-Briefung, also eine Lagebesprechung zur Einnahme der Kriegsposition. EDP bedeutet: Emergency Deployment Position. Das Briefing war streng geheim, die Fenster wurden abgedunkelt und Wachen standen vor den Türen. Am Ende der Lagebesprechung waren Fragen erlaubt.

Chiste sagt, er müsse damals wohl noch sehr naiv gewesen sein. Er fragte nämlich, wie viel Zeit das Bataillon denn habe, um in Stellung zu gehen. Die älteren Offiziere trauten ihren Ohren nicht.

Der Instrukteur antwortete cool:

“Sie werden keine Zelte mitnehmen, keine Feldküchen oder irgend etwas dergleichen. Die C- und B-Batterien werden über die Fulda rasen und die A-Batterie wird in Reserve gehalten. Wir rechnen nicht damit, dass C und B zurückkehren werden.”

Ron Chiste betitelte seinen Bericht mit der Überschrift: “The EDP Briefing or Suicide Mission at the Fulda Gap.” Die Geschützgruppen, die in Position gebracht werden sollten, waren nuklearfähig. Im Fulda-Gap erwartete man einen Angriff sowjetischer Panzerverbände. Im diesen abzuwehren, benötigte man offensichtlich Himmelfahrtskommandos.

In einer Besprechung des Buchs von Detlef Bald zur “Politik der Verantwortung”(2) in der Süddeutschen Zeitung vom 2.3.2009 heißt es:

“Am 23.Oktober 1973 wurden in den ‘Deutschen Einsatzbeschränkungen für ADM’ die ‘Four German No’s’ für die Nato verbindlich eingeführt und in einem vertraulichen Briefwechsel von Bundeskanzler Brandt mit US-Präsident Nixon im April 1974 bestätigt. Die Punkte waren: 1. Kein Atomminen-Gürtel an der Grenze; 2. Keine Vorab-Delegation der politischen Entscheidungsgewalt zum Atomwaffeneinsatz an eine militärische Kommandobehörde; 3. Keine militärischen Planungen ohne Schutz der Zivilbevölkerung; 4. Keine Vorbereitung von Sprengkammern oder -schächten in Friedenszeiten. Wie wichtig diese Festlegungen waren, zeigt, dass noch 1970 bei einer neuen Rheinbrücke in Düsseldorf, der ‘Kniebrücke’, Kammern für nukleare Sprengladungen angebracht werden sollten. In Düsseldorf entstand dann, so de Maizière, ‘die erste Rheinbrücke ohne Sprengkammern’.”

Nach Einführung der deutschen Einsatzbeschränkungen wurden die ADM offenbar von der Grenze in grenzferne Depots der Amerikaner zurückverlegt. Die Bundeswehr unterhielt so genannte  “Spezial Sperrzüge”, deren Aufgabe darin bestand, die ADM von einem Sonderwaffenlager der Amerikaner abzuholen, zum vorgesehenen Sperrpunkt zu bringen und zu bewachen.

Ein Informant, der 1978 als Wehrpflichtiger in einem “Spezial Sperrzug” diente, erzählte mir, wie die entsprechenden Übungen abliefen. Er fuhr mit einem Spezialtransporter zu den Amis. Dort wurde die Bombe aufgeladen. Ein US-Soldat setzte sich mit entsicherter Waffe auf den Beifahrersitz. Dann ging es quer durch Deutschland zum Sperrpunkt.

Am 15. März 1973 wurde der Erotik-Film “Liebesgrüße aus der Lederhose” uraufgeführt. Er begründete das Genre der Lederhosenfilme.

Pferde neigen in Stresssituationen zur Flucht; Esel bleiben wie angewurzelt stehen.

Anmerkungen

(1) Ingo Wolfgang Trauschweizer: CREATING DETERRENCE FOR LIMITED WAR: THE U.S. ARMY AND THE DEFENSE OF WEST GERMANY, 1953-1982. Dissertation: University of Maryland, 2006

(2) Detlef Bald: Politik der Verantwortung. Das Beispiel Helmut Schmidt. Das Primat des Politischen über das Militärische 1965-1975. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Berlin, Aufbau Verlag 2008

(3) Alan Gary Maiorano: The Evolution of United States and NATO Tactical Nuclear Doctrine and Limited Nuclear War Options, 1949-1984. Master Thesis. Naval Postgraduate School Monterey, Ca., 1983, Seite 37

(4) Ich überlasse dem interessierten Leser die Recherche im Netz.

(5) vgl. u. a. Hersha (2001), Rutz (2001)

(6) Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt a. M.: Fischer; Siemen, H.-L. (1982). Das Grauen ist vorprogrammiert. Psychiatrie zwischen Faschismus und Atomkrieg. Giessen: Focus-Verlag

(7) Nachgewiesen sind Gehirnwäsche-Projekte bei der CIA und bei der amerikanischen Armee; dass auch andere militärische Organisationen auf diesem Feld tätig waren, darf als überaus wahrscheinlich gelten.

Weiterführende Literatur

Bowart, W. H. (1995). Operation Mind Control, Revised and Expanded Edition. Fort Bragg, Ca., Flatland Editions

Collins, A. (1988). In the Sleep Room. The Story of the CIA Brainwashing Experiments in Canada. Toronto, Lester & Orpen Dennys Ltd.

DeCamp, J. W. (1996). The Franklin Cover-up. Child Abuse, Satanism, and Murder in Nebraska. Second Edition. Lincoln, Nebraska, AWT, Inc.

Fröhling, U. (1996). Vater unser in der Hölle. Seelze-Velber, Kallmeyer’sche Verlagsbuchhandlung

Ganser, D. (2005). NATO’s Secret Armies. Operation Gladio and Terrorism in Western Europe. London and New York: Frank Cass

Hersha, C. et al. (2001). Secret Weapons. Far Hills, N.J., New Horizon Press

Lee, M. A. & Shlain, B. (1992). Acid Dreams. The Complete Social History of LSD: The CIA, the Sixties, and Beyond. New York, Grove Press

Marks, J. (1979, 1991). The Search for the Manchurian Candidate. The CIA and Mind Control. New York, Times Book

Moreno, J. D. (2000). Undue Risk. Secret State Experiments on Humans. New York, Freeman and Company

Ross, C. A. (2000b). Bluebird. Deliberate Creation of Multiple Personality by Psychiatrists. Richardson Tx., Manitou Communications

Rutz, C. (2001). Nation Betrayed. Secret Cold War Experiments Performed on Our Children and Other Innocent People. Grass Lake, MI, Fidelity Publishing

Sargant, W. (1997). Battle for the Mind. A Physiology of Conversion and Brainwashing. How Evangelists, Psychiatrists, Politicians, and Medicine Men Can Change Your Beliefs and Behavior. Cambridge, MA, Malor Book (Erstveröffentlichung 1957)

Scheflin, A. W. & Opton, E. M. (1978). The Mind Manipulators. New York, Paddington Press

Thamm, B. G. (1994). Mehrzweckwaffe Rauschgift. Von Kampfgiften, Verhördrogen und Wahrheitsseren. Hilden, Verlag Deutsche Polizeiliteratur (VDP)

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Die “Multiple Persönlichkeitsstörung”

Nach gängiger Theorie entsteht eine multiple Persönlichkeit als spontane Reaktion auf ein überwältigendes Trauma. Die Spaltungen seien als Coping zu verstehen, als Versuch der Bewältigung. Die Bewältigung bestehe darin, zwischen zwei (oder mehreren) Alter Egos oder Ich-Zuständen bzw. Pseudo-Persönlichkeiten zu wechseln. Die erste Spaltung erfolge bereits zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr, mitunter auch früher.

Kognitive Komplexität ist ein Begriff aus der Kognitionswissenschaft. Er bezieht sich auf die Zahl und den Abstraktionsgrad der Konstrukte, mit denen wir unsere Welt erfassen. Ein stark vereinfachtes Maß dafür ist die Zahl der Variablen, die wir bei einer Entscheidung berücksichtigen können.

Unter “Coping” versteht man die situationsentsprechende Veränderung des Verhaltens und der mentalen Operationen zur Vermeidung oder Minimierung von Stress. Manche unterscheiden hier zwischen bewussten Coping und unbewussten Abwehrmechanismen.

Aus meiner Sicht ist die Entscheidung unerheblich, weil es sich immer um eine Ich-Funktion handelt. Ich-Funktionen können bewusst oder unbewusst realisiert werden; die eingesetzten kognitiven Ressourcen sind, abgesehen von der Aufmerksamkeit, identisch.

Man kann nun auch die Operation der Spaltung zum Zwecke der Trauma-Bewältigung unter dem Gesichtspunkt der kognitiven Komplexität betrachten. Das kognitive System des traumatisierten Kindes sieht sich bei seiner Coping-Entscheidung in der einfachsten Form vor folgende Alternative gestellt:

Gegeben seien zwei Alter-Egos oder Ich-Zustände, nämlich A und B. Außerdem seien zwei Situationen (x, y) mit unterschiedlichen Qualitäten gegeben (die eine könnte z. B. bedrohlich, die andere ungefährlich wirken). Daraus ergibt sich folgendes System von Implikationen:

  • Wenn x, dann A.
  • Wenn y, dann B.

Das Maß der kognitiven Komplexität ist hier also (nach der oben angegebenen vereinfachten Form) 4,  denn die Entscheidung muss vier Variablen (x, y, A, B) berücksichtigen.

Glenda Andrews und Graeme S. Halford sind der Frage nachgegangen, wie sich die kognitive Komplexität, die Kinder auf verschiedenen Altersstufen zu meistern vermögen, entwickelt. Ihre Experimente zeigten, dass Kinder Entscheidungen auf Basis dreigliedriger Relationen (drei Variablen) erst ab einem Alter von durchschnittlich fünf Jahren korrekt zu fällen vermögen (1).

Aus meiner Sicht begründet dieser Befund erhebliche Zweifel an der These, dass die Multiple Persönlichkeitsstörung spontan als Coping-Mechanismus in früher Kindheit entsteht. Die kognitive Komplexität, die mit einer adaptiven Spaltung verbunden ist, kann von Kindern in diesem Altern gar nicht bewältigt werden.

Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei dieser Spaltung angeblich um eine spontane Reaktion handelt, also um eine Anpassungsleistung, die vom kindlichen Gehirn ohne Anleitung durch Erwachsene erfolgen soll.

Man bedenke auch, dass die Situationen (x,y), auf die ein Kind zum Zwecke der Traumabewältigung reagieren soll, in aller Regel nicht nur aus einem Signal bestehen. Sie stellen selbst wieder eine komplexe Konfiguration von Hinweisreizen dar.

Beispiel: Ein fünfjähriges Kind wird von seinem Vater sexuell missbraucht. Tagsüber geht es in den Kindergarten. Eine Coping-Strategie könnte darin bestehen, dass sich das Kind in zwei Personen (Ich-Zustände, Ego States) spaltet: Lolita und Doris. Lolita ist dem Vater im Bett liebevoll zu Willen; Doris ist ein braves Kindergartenmädchen mit altersgerechtem Verhalten.

Man möge sich die kognitive Komplexität vor Augen halten, die dieses Mädchen angeblich im zarten Alter von fünf Jahren aus eigenem Antrieb zu bewältigen vermag. Und dabei haben wir nur die kognitive Komplexität berücksichtigt und die emotionale Verarbeitungskapazität noch gar nicht ins Auge gefasst.

Die Forschung zeigt im Übrigen, dass Kleinkinder nur ein sehr rudimentäres, gleichsam “physikalistisches” Selbstbild besitzen. Das Wissen über die eigene Person ist stark zentriert um äußerlich sichtbare Merkmale (Haarfarbe, Größe, Geschlecht). Bis zum Alter von sechs Jahren gelingt es Kindern nicht, zwischen physischen und psychischen Merkmalen von Personen (auch der eigenen) zuverlässig zu unterscheiden. Erst mit etwa 9 bis 11 Jahren ist das Kind in der Lage, ein reflexives Verhältnis zu sich selbst aufzubauen (2).

Nun soll sich aber die so genannten multiple Persönlichkeitsstörung bereits in frühester Kindheit durch Traumatisierung allein entwickeln. Das Kind soll sich zum Zweck des Überlebens aufspalten.  Anhänger der gängigen Theorie werden vermutlich argumentieren, dies geschehe unbewusst. Mir will aber nicht einleuchten, dass ein Kind unbewusst können sollte, wozu es bewusst de facto nicht in der Lage ist.

Aus meiner Sicht ist es dazu noch nicht in der Lage, weil die psycho-biologische Entwicklung zu diesem frühen Zeitpunkt noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Meines Wissen werden “Multiple Persönlichkeitsstörungen” nur sehr, sehr selten bei Kleinkindern diagnostiziert, obwohl sich die Betroffenen angeblich genau in dieser frühen Phase der menschlichen Entwicklung spalten.

Eine andere Erklärung erscheint mir wesentlich plausibler:

Ich räume ein, dass Persönlichkeit auch auf angeborenen Faktoren beruht und daher auch eine gewisse Eigendynamik anzunehmen ist.

Andererseits aber ist Persönlichkeit ein Instrument zur Reduktion von Komplexität in sozialen Interaktionen und hier dürfte der biologische Sinn von Persönlichkeit liegen. Tiere, die solitär leben und allenfalls zur Kopulation zusammenfinden, brauchen keine oder kaum Persönlichkeit.

Aus diesem Grund ist Persönlichkeit auch etwas, was in sozialen Lernprozessen geformt wird, und zwar maßgeblich. Denn ohne diese Formung könnte sie ihre biologische Funktion nicht erfüllen.

Kinder lernen zwar viel implizit, durch Beobachtung, durch Nachahmung. Die wichtigste Dimension kindlichen Lernens ist aber das vermittelte, nicht das unmittelbare Lernen. Vermittler sind Mutter, Vater, Geschwister, Spielkameraden, Erzieherinnen etc. Eine zentrale Rolle spielen natürlich die Eltern.

Persönlichkeitsentwicklung, so heißt es, vollziehe sich im Spiegel signifikanter Anderer. Multiple Persönlichkeitsentwicklung dann wohl auch.

Echte multiple Persönlichkeiten werden von ihren Eltern unter Anleitung von Fachleuten bewusst geformt. Diese Fachleute sind mit der Psychobiologie der kindlichen Entwicklung bestens vertraut und stimmen ihre Maßnahmen auf den jeweiligen Entwicklungsstand ab.

  • Die Aufzucht multipler Persönlichkeiten beginnt aus meiner Sicht sofort nach der Geburt mit einem “Love-bombing”, das natürliche Mutterliebe noch weit übersteigt. Die Kinder sollen ja eine solide Basis haben, damit sie durchhalten, was sich daran anschließt, und nicht etwa sterben.
  • Danach erfolgt ein unspezifisches Dissoziationstraining durch Folter, oft in Käfigen mit elektrischen Kontakten auf den Böden. Die Folterungen erfolgen mitunter systematisch, mitunter zufällig. Stets variieren dabei zentrale Merkmale des Wahrnehmungsfeldes. Farben können eine Rolle spielen, Klänge, Kostüme, Masken.
  • Ist das Kind etwas älter, schließt sich eine Zweiteilung an, meist in ein “Tagkind” und ein “Nachtkind”.
  • Wenn das sitzt, erfolgt die “Triangulation” in das wahre Selbst (Persönlichkeitskern), die Frontpersönlichkeit und eine Vermittlungsinstanz zwischen beiden, einen Mediator, der gleichzeitig als “Schnittstelle” für die Täter gilt. Diese ist der Empfänger für die “Programmierung”.
  • Das ist das Fundament. Darauf setzt später, wenn das Kind kognitiv-affektiv dazu in der Lage ist, das so genannte Mauerwerk auf. Dieses besteht aus Derivaten des Mediators, der für Spezialaufgaben aufgespalten wird.
  • Die wichtigste Abspaltung ist eine Pseudo-Persönlichkeit, die für alle anderen die Schmerzen der Folter erträgt. Sie wird zu einer “Batterie des Schmerzes” geformt und liefert die psychische Energie für das gesamte “Betriebssystem”.
  • Weitere Abspaltungen können z. B. Prostituierte (auch Kinderprostitution), Soldaten (auch Selbstmordbomber) und “Hellseher” (für Remote-Viewing-Experimente sein; hier sind der Phantasie keine Grenzen gesetzt.

Dieser Erziehungsprozess findet ist einer “virtuellen totalen Institution” statt, die eine Mischung aus Folterkammer, Kadettenanstalt und Schauspielschule sowie nach außen scheinbar normalem Familienleben darstellt.

Zu beachten ist auch, dass die Dressur nicht funktionieren würde, wenn die Täter nicht in der Lage wären, das soziale Umfeld der Kinder zu kontrollieren – sei es durch Erpressung, Bestechung oder auf Grundlage von Loyalität gegenüber den Tätern oder des Systems, das sie repräsentieren.

Die Prozesse sind natürlich viel komplexer, als ich sie hier in einer kurzen Tagebuch-Notiz skizzieren kann.

Echte multiple Persönlichkeiten sind sehr selten, weil ihre Aufzucht aufwändig, riskant und kostspielig ist. Häufig sind die Ergebnisse auch nicht zufriedenstellend. Gelingt die Dressur jedoch, so haben die Täter eine gefährliche Waffe in der Hand, eine Waffe aus Fleisch und Blut. Sie verwirklicht zuverlässig jeden Befehl, als ob sie eine “Drohne” wäre. Aber sie ist viel intelligenter als alle “Drohnen”, die heute zu militärischen Zwecken eingesetzt werden.

Mir ist bewusst, dass ich mich mit meinen Positionen weitab vom psychotherapeutischen und psychiatrischen Mainstream bewege. Praxen und Kliniken sind ja voll von Leuten, die als “multiple Persönlichkeiten” diagnostiziert wurden. Aus meiner Sicht liegt diesen Diagnosen ein theoretisches Konzept zugrunde, das nicht mit den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie und Entwicklungsbiologie übereinstimmt.

Um es kurz zu machen: Ich schließe mich weitgehend dem Urteil von August Piper und Harold Merskey an: “DID is best understood as a culture-bound and often iatrogenic condition (3).”

Warum nur oft? Aus meiner Sicht ist die multiple Persönlichkeit immer eine iatrogene “Krankheit”.

  • Denn die Prozeduren, mit denen die echten multiplen Persönlichkeiten produziert werden, erfordern die Mitwirkung von psychiatrisch qualifiziertem Personal.
  • Und die unechten multiplen Persönlichkeiten, die ihre innere Zerrissenheit zeitbedingt als “Multiple Persönlichkeitsstörung” inszenieren, bedürfen ebenfalls des Arztes (bzw. des approbierten Psychologen), der sie so diagnostiziert und sie bei dieser Inszenierung ermutigend begleitet.

Weder die echten, noch die unechten Persönlichkeitsstörungen sind Krankheiten. Die echten sind vielmehr Zustände während und nach einer Gehirnwäsche. Die unechten aber sind Inszenierungen, Rollenspiele, bei denen “Patienten” und “Therapeuten”, meist ohne zu wissen, was sie tun, vertrauensvoll zusammenwirken.

Anmerkungen

(1) Andrews, G. & Halford, G. H. (2002) A cognitive complexity metric applied to cognitive development. Cognitive Psychology, Volume 45, Issue 2, September 2002, Pages 153–219
(2) Immelmann, K. et al. (1988). Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens. Stuttgart, Weinheim: Gustav Fischer Verlag; Psychologie VerlagsUnion, Seite 422
(3) Piper, A. & Merskey, H. (2004). The Persistence of Folly: A Critical Examination of Dissociative Identity Disorder. Part I. The Excesses of an Improbable Concept.  Can J Psychiatry, Vol. 49, No. 9

PS

Die neuere Forschung deutet darauf hin, dass “Traumatisierung” grundsätzlich, also nicht nur bei Kindern, keine unmittelbare Folge eines schmerzhaften, Furcht erregenden oder demütigenden Ereignisses ist, sondern dass den Umweltbedingungen nach diesem Ereignis und hier vor allem den Interaktionen mit anderen Menschen eine entscheidende Bedeutung beigemessen werden muss: PLOS Blogs, Neuroanthropology: Trauma – The Importance of the Post-Trauma Environment, 27.12.2012

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Eskalation der Perversion: Zur Frühgeschichte der Atombombe

Einsteins Brief

Ein ungelegener Besuch

Im Juli 1939 genoss der Physiker Albert Einstein seinen Urlaub in Peconic, einem malerischen Küstendorf am äußersten Zipfel von Long Island, einer Insel, die sich von den Häfen New Yorks nach Norden in den Atlantik erstreckt. Seine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, sich mit seinem kleinen Segelboot “Tinnef” die Zeit zu vertreiben.

Am 16. Juli störten Einsteins Physikerkollegen Leó Szilárd und Eugene Paul Wigner seine Urlaubsruhe. Einstein zeigte sich wenig begeistert über diese Störung. Er unterhielt sich gerade mit einem Freund, David Rothman, dem Besitzer eines Warenhauses im nahe gelegenen Southold (Rothman, o. J.).

Doch Szilard und Wigner hatten viel Mühe darauf verwendet, den Begründer der Relativitätstheorie ausfindig zu machen, nachdem sie sein Haus in Princeton verschlossen gefunden hatten – und nichts lag ihnen ferner, als unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Dazu war ihr Anliegen viel zu ernst.

Einstein trug Pantoffeln, ein Unterhemd, eine Hose, die von einem Strick gehalten wurde und deren Beine er aufgekrempelt hatte. Er musste schnell erkennen, dass sich seine Kollegen nicht abwimmeln lassen wollten. Sie machten einen außergewöhnlich entschlossenen Eindruck. Und so bat Einstein sie auf seine überdachte Veranda (Hoffmann, 1995, 81 f.).

Szilárd hatte bei Einstein in Berlin studiert und damals dessen Aufmerksamkeit durch eine brillante Arbeit über ein schwieriges Gebiet der statistischen Thermodynamik erregt. Gemeinsam erfanden Szilárd und Einstein einen Kühlschrank ohne bewegliche Teile und meldeten ihn zum Patent an. Wigner hatte Einstein und Szilárd ebenfalls als Student in Berlin kennen gelernt. Zusammen mit Szilárd entwickelte Wigner die Theorie der nuklearen Kettenreaktion.

Szilárd, der diesen Besuch initiiert hatte, trieb die Sorge um, dass deutsche Physiker versuchen könnten, eine Atombombe zu entwickeln, und er hatte seinen Freund Wigner davon überzeugt, dass man einen Mann von der Reputation Einsteins gewinnen müsse, um die amerikanische Regierung vor dieser Gefahr zu warnen.

Im Dezember 1938 hatten die deutschen Physiker Otto Hahn und Fritz Straßmann am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin die Kernspaltung entdeckt (Hahn & Straßmann, 1938). Nachdem die Physiker Lise Meitner und Otto Frisch die Experimente Hahns und Straßmanns einer bahnbrechenden wissenschaftlichen Analyse unterzogen und die Kernspaltung physikalisch erklärt hatten, war den Nationalsozialisten die Bedeutung dieser Entdeckung klar. Sie entschieden, die in den böhmischen Gruben von Joachimsthal geförderten Uranerze der alleinigen deutschen Nutzung vorzubehalten. Die braune Führung rief ein Uranprojekt ins Leben, das die technischen Möglichkeiten der soeben entdeckten Kernspaltung ausloten sollte (Walker, 1990). Am 29. April 1939 fand in Berlin eine “Uransitzung” statt. Die Nazis hatten den Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, Prof. Abraham Esau damit beauftragt, dieses hochkarätig besetzte Symposium auszurichten. Diese Entwicklungen hatte Szilárd in hohem Maße beunruhigt.

Zum Zeitpunkt des Treffens Szilárds, Wigners und Einsteins und bis zum Ende des Krieges verfügten die amerikanischen und die in die USA emigrierten Wissenschaftler allerdings nur über sehr widersprüchliche und großteils falsche Informationen über das deutsche Atomprogramm (Walker, 2002). Dies führte beinahe zwangsläufig dazu, die Fortschritte und Möglichkeiten des Feindes zu überschätzen.

Szilárd unterrichtete Einstein über den aktuellen Stand der Uranforschung, die nicht zu den Spezialgebieten des Urhebers der Relativitätstheorie zählte.

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