Akustische Halluzinationen
Wer Stimmen hört, die sonst niemand hört, ist gut beraten, zu schweigen. Man sollte auch nicht mit Leuten, denen man vertraut, darüber sprechen. Denn solche Stimmen zu hören, gilt als charakteristisches Symptom schwerer psychischer Störungen, vor allem der so genannten Schizophrenie. Dieses Vorurteil ist weit verbreitet. Auch allgemein vertrauenswürdige Leute sind nicht frei von Vorurteilen. Das thematische Feld der so genannten psychischen Krankheiten ist mit Vorurteilen gepflastert. Dies liegt daran, dass hier das kritische Denken schwerfällt. Dafür sorgen Emotionalisierung und Tabus. Diese mentale Gemengelage aus Emotionalisierung und Tabus führt dazu, dass beim Thema “Stimmenhören” sofort die Alarmglocken läuten und die roten Lampen aufleuchten.
Wer Stimmen hört, die sonst niemand hört und sich deswegen Sorgen macht, sollte also nur dann zum Psychiater gehen und ihm dies erzählen, wenn er gern einmal einen Reaktionsautomaten bei der Arbeit beobachten möchte. Um in diesem Fall ganz sicher zu gehen, ist es ratsam, dem Psychiater zu berichten, dass sich mehrere Stimmen miteinander unterhalten und das Verhalten des Stimmenhörers kommentieren.
Wer zeitgemäß sein möchte, äußert die Vermutung, nein, besser, die Gewissheit, dass diese Stimmen absichtlich von bösen Nachbarn, einem Geheimdienst oder Außerirdischen hervorgerufen würden. Nachdem man mit einer solchen Geschichte an der großen Kurbel gedreht hat, rasselt der Automat und wirft eine Hülse aus. Beim Öffnen dieser Hülse kommt, wie aus einem Glückskeks, ein Zettelchen hervor, und auf diesem steht (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit:) F20. Das ist der psychiatrische Kosename für “Schizophrenie”.
Menschen, so heißt es, die solche geisterhaften Stimmen hören, seien gefährlich, besonders dann, wenn ihnen diese Stimmen Befehle erteilen. Psychiater, die nach einem arbeitsamen Tag oder am Wochenende noch die Muße finden, die Abstracts von Studien in ihren Vereinsblättchen zu lesen, werden auf Untersuchungen hinweisen, mit denen sich angeblich die besondere Gefährlichkeit von Menschen belegen lässt, die solche “halluzinierten Kommandos” wahrnehmen.
Braham, Trower und Birchwood haben sich den Stand der Erkenntnis zu diesem Thema allerdings etwas genauer angeschaut und ihr Urteil ist ernüchternd. Die einschlägige Forschung, so schreiben sie, steckt noch in den Kinderschuhen und hat mit massiven methodologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Alles in allem habe sich aber gezeigt, dass “command halluzinations” für sich genommen nicht in der Lage seien, entsprechende Aktionen auszulösen. Falls sie in die Tat umgesetzt würden, so seien zusätzliche, vermittelnde psychologische Prozesse dafür verantwortlich (1, 2).
Aaaaargh! Wer hätte das gedacht? Wenn Menschen ein Kommando erhalten, dann führen sie es niemals aus wie ein Roboter (weil sie ein menschliches Gehirn unter ihrer Schädeldecke haben und keine “central processing unit”), sondern vermittelnde psychologische Prozesse entscheiden über Gehorsam oder Ungehorsam. Dass dies auch für Kommandos gilt, die sonst niemand hört, kann daher nicht überraschen, nicht wirklich.
Woher stammen die Stimmen, die sonst niemand hört? Sind sie Produkte der Innenwelt, die irrtümlicherweise in die Außenwelt projiziert werden? Oder gelangen sie tatsächlich aus der Außenwelt unter Umgehung des Gehörs ins Bewusstsein? Für Psychiater und die meisten Mitmenschen ist die Antwort klar: Diese Stimmen werden von einer kranken Psyche und von einem gestörten Gehirn produziert. Daher gilt es, sie mit Pillen oder guten Worten zum Schweigen zu bringen.
Denn, so denkt die Mehrheit, wer Stimmen hört, die sonst niemand hört, der ist schizophren und gefährlich, und wenn dem Stimmenhörer von den Stimmen Kommandos erteilt werden, dann ist er besonders gefährlich. Viele Stimmenhörer fügen sich angesichts dieser Mehrheitsmeinung, die ja auch von den “Experten” geteilt wird, brav in ihr Schicksal, schlucken Pillen, und schließlich gehen ihnen die Stimmen, sofern die “Medikamente” wirken, am Arsch vorbei. Sie hören sie zwar immer noch, aber sie kümmern sich nicht mehr so recht darum, weil schließlich ohnehin alles Wurst ist.
Interpretationen
Allein, manche Aufmüpfige wollen sich nicht mit psychiatrischen Spekulationen über den Ursprung ihrer Stimmen abfinden und gefährliche Nervengifte schlucken. Sie stimmen ihre Psychiater sorgenvoll, und manch einer, der soviel Undank erntet, mag dann auch aus der Haut fahren. Die Aufmüpfigen werden darob aufsässig; es kommt, wie es kommen muss: Ein Wort gibt das andere – und schließlich ist das Vertrauensverhältnis zerrüttet. Manche, die dann nach Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung wieder aus dem psychiatrischen Kerker entlassen wurden, surfen, allein in ihrer Behausung, im Internet auf der Suche nach verständnisvolleren “Experten”.
Nicht wenige finden dabei meinen Namen, rufen bei mir an oder schreiben mir eMails. In aller Regel erzählen sie mir, dass ihre Stimmen durch elektromagnetische Strahlung absichtlich von bösen Menschen in ihr Gehirn gesendet würden. Sie können diese Sachverhaltsbehauptung zwar ebenso wenig beweisen wie die Psychiater ihre Unterstellung einer gestörten Hirnchemie, aber sie glauben dennoch ungebrochen und unkorrigierbar daran, ähnlich wie ja auch die Psychiater an ihrer durch und durch unbewiesene “Wissenschaft” festhalten, und dies unbelehrbar.
Wenn ich ehrlich sein darf, so finde ich diese These von der “Besendung” ebenso bescheuert wie die Lehren der Psychiatrie. Zwar kann ich gut verstehen, dass sich die Betroffenen nicht von der Psychiatrie eine Schizophrenie andichten lassen wollen, nur weil sie Stimmen hören, die sonst niemand hört; aber deswegen muss man ja nicht unbedingt ins offene Messer rennen. Die meisten Menschen nämlich, denen solche Besendungsfantasien mitgeteilt werden, bilden sich blitzschnell das entsprechende Urteil: Durchgeknallt!
Ich bezweifele im Übrigen nicht, dass Geheimdienste oder Militärs solche Besendungsgeräte gerne hätten und dass eventuell sogar geheime Forschungslabors versuchen, sie zu entwickeln; die Wahrscheinlichkeit aber, dass ein Mensch, der bei mir anruft, tatsächlich Opfer solcher Machenschaften wurde, ist aus meiner Sicht erschreckend gering. Vielmehr handelt es sich, so denke ich, um eine aus der Verzweiflung geborene Fantasie. Diese wurde bei diesen Menschen nicht zuletzt auch durch eine verständnislose und an allem Menschlichen uninteressierte Psychiatrie angeheizt.
Dies aber ist nur meine Meinung, ebenfalls eine Fantasie, die allerdings auf einigen Jahrzehnten Lebenserfahrung beruht. Auch ich weiß nicht, ob nicht doch im Einzelfall Geheimdienste oder wer auch immer mit technischen Gerätschaften Zugriff auf das Bewusstsein des Betroffenen zu erhalten versucht. Man möge mir aber nachsehen, dass ich diesbezüglich dennoch eher skeptisch bin.
Woher diese Stimmen kommen, weiß ich mit Sicherheit in keinem Fall, grundsätzlich nicht. Aber ich weiß, dass es sich dabei um ein weltweites und uraltes Phänomen handelt. Mit anderen Worten: Es ist ganz normal, Stimmen zu hören. Und es ist heute leider notwendig, darüber mit niemandem zu sprechen, vor allem aber nicht mit Psychiatern. Denn diese sind, im Einklang mit der Pharmaindustrie, gerade dabei, auch den allerletzten Winkel der Normalität zu pathologisieren – da ist ein Stimmenhörer natürlich leichte Beute und da fällt schnell der Hammer: Schizophrenie.
Was nun den Umgang mit diesen Stimmen betrifft, so wird ein Betroffener schnell feststellen, dass dieser erheblich leichter fällt, wenn man sie als normal betrachtet. Selbstverständlich können Stimmen lästig sein, bedrohlich, fordernd. Dies gilt aber auch für jene Stimmen, die man tatsächlich mit den Ohren wahrnimmt und die auch andere hören. Also sollte man den Stimmen, die sonst niemand hört, mit derselben Haltung begegnen, in der man sich auch mit allen von anderen hörbaren Stimmen auseinandersetzt.
Denn alle Stimmen, ganz gleich, wo sie herkommen, gehören unterschiedslos zu unserer Wirklichkeit. Natürlich kann man seine Ohren verstopfen, wenn man von den für alle hörbaren Stimmen genug hat. Ohrenstöpsel kann man sich ebenso in der Apotheke besorgen wie, mit entsprechendem Rezept, jene Pillen, die gegen die nicht für alle hörbaren Stimmen (mehr schlecht als recht) helfen. Dies löst allerdings das zugrunde liegende Problem in keinem Fall.
Selbstverständlich können Stimmen Furcht erregend sein, unwiderstehlich fordernd. Dies gilt für alle Stimmen. Für alle Stimmen gilt auch: Wir hören einen akustischen Reiz (A), dieser wird bewertet (B) und die Bewertung, nicht der Reiz selbst, entscheidet darüber, wie wir reagieren (C). Der psychologisch Bewanderte wird erkennen, dass ich hier die ABC-Theorie von Albert Ellis ins Spiel bringe. Die Bewertung kann bewusst und reflektiert oder unbewusst und automatisch ablaufen. Es ist klug, gelegentlich eingeschliffene Automatismen zu durchbrechen (und dies nicht nur, was Stimmen betrifft).
Erfahrungsberichte
Hierzu zwei Erfahrungsberichte:
Dieser Tagebucheintrag stellt beispielsweise nur die wortwörtliche Niederschrift einer Stimme dar, der Stimme O’Dor Bahs, eines Raumschiffkommandanten, die dieser mir mit Hilfe seiner hochentwickelten Strahlungsmethodik direkt ins Hirn sendet. Mitlesenden Psychiatern sei versichert, dass ich einen Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich ihre freundliche Unterstützung beim Umgang mit Aliens dankend und rechtsverbindlich ablehne.
Doch nicht nur Stimmen von Außerirdischen höre ich, nein, nicht genug damit, mitunter höre ich auch – Leser, lass alle Hoffnung fahren, wenn du nun weiterliest – die so genannte Stimme des Gewissens. Sie sagt: “Wie kannst du nur durch Spott und unerwünschte Fakten arme, verwirrte Menschen noch mehr verunsichern? Schäme dich!” Angesichts solcher Stimmen, in der Tat, muss ich einräumen, dass Stimmenhören nicht immer eine reine Freude ist. Die so genannte Stimme des Gewissens ist das Ergebnis der Dressur in Klassengesellschaften. Ihre Hauptfunktion besteht darin, immer dann zu intervenieren, wenn jemand die herrschende Ordnung in Frage stellt. So eine Stimme ist natürlich behandlungsbedürftig – aber nicht durch die Psychiatrie, denn dies hieße ja, den Bock zum Gärtner zu machen.
Es finden sich nicht nur unter den Sprechern, deren Stimmen alle hören können, Stimmenimitatoren. Mitunter beispielsweise tarnt sich auch die Stimme des bürgerlichen Überichs (des so genannten Gewissens) als Stimme des “Operators” einer Besendungsmaschine. Wer Stimmen hört, muss höllisch aufpassen, damit er nicht durch Imitatoren hereingelegt wird. Aber so ist es im “realen Leben” (3) ja auch. Der Psychiater spricht warmherzig und verständnisvoll mit der Stimme des gütigen, selbstlosen Arztes, obwohl er in Wirklichkeit doch nichts anderes ist als ein Agent sozialer Kontrolle und ökonomischer Interessen. Wohl dem, der hier zu unterscheiden weiß.
Sacks
Der britische Neurologe Oliver Sacks ist einem größeren Publikum durch Bestseller wie “Zeit des Erwachens” und “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” bekannt geworden. In seinem neuesten Buch beschäftigt er sich mit Halluzinationen (5). In diesem Werk meint er, dass Menschen mit der Diagnose “Schizophrenie” zwar gelegentlich Stimmen hörten, dass aber die meisten Stimmenhörer diese Diagnose nicht hätten. Rund 10 Prozent der Bevölkerung hörten Stimmen, aber die wenigsten aus diesem Kreis hätten eine psychiatrische Diagnose gleich welcher Art.
Wer also nicht das Risiko eingehen möchte, sich in einer psychiatrischen Praxis das F20-Virus einzufangen und womöglich ein Leben lang darunter zu leiden, sollte im Falle des Stimmenhörens zuvor das neue Buch von Oliver Sacks konsultieren.
Stirner
Nur zu leicht wird die Stimme des bürgerlichen Überichs mit Stimmen verwechselt, die von Außerirdischen, Geheimdiensten oder dem bösen Nachbarn stammen. Dies ist das Heimtückische an der Stimme des bürgerlichen Überichs. Sie kritisiert, schmäht, verunglimpft den Stimmenhörer unter einem Tarnmäntelchen. Was kann da noch helfen, wenn die eigene Gabe zur Unterscheidung nicht ausreicht? Vielleicht die Lektüre von Max Stirners Schrift: “Der Einzige und sein Eigentum”.
Ich zitiere hier nur eine Passage:
“Mensch, es spukt in Deinem Kopfe; du hast einen Sparren zu viel! Du bildest dir große Dinge ein und malst dir eine ganze Götterwelt aus, die für dich da sei, ein Geisterreich, zu welchem du berufen seist, ein Ideal, das dir winkt. Du hast eine fixe Idee!
Denke nicht, dass ich scherze oder bildlich rede, wenn ich die am Höheren hängenden Menschen, und weil die ungeheure Mehrzahl hierher gehört, fast die ganze Menschenwelt für veritable Narren, Narren im Tollhause ansehe. Was nennt man denn eine »fixe Idee«? Eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat. Erkennt Ihr an einer solchen fixen Idee, dass sie eine Narrheit sei, so sperrt ihr den Sklaven derselben in eine Irrenanstalt. Und ist etwa die Glaubenswahrheit, an welcher man nicht zweifeln, die Majestät z. B. des Volkes, an der man nicht rütteln (wer es tut, ist ein – Majestätsverbrecher), die Tugend, gegen welche der Zensor kein Wörtchen durchlassen soll, damit die Sittlichkeit rein erhalten werde usw., sind dies nicht »fixe Ideen«?
Ist nicht alles dumme Geschwätz, z. B. unserer meisten Zeitungen, das Geplapper von Narren, die an der fixen Idee der Sittlichkeit, Gesetzlichkeit, Christlichkeit usw. leiden, und nur frei herumzugehen scheinen, weil das Narrenhaus, worin sie wandeln, einen so weiten Raum einnimmt? Man taste einem solchen Narren an seine fixe Idee, und man wird sogleich vor der Heimtücke des Tollen den Rücken zu hüten haben. Denn auch darin gleichen diese großen Tollen den kleinen sogenannten Tollen, dass sie heimtückisch über den herfallen, der ihre fixe Idee anrührt. Sie stehlen ihm erst die Waffe, stehlen ihm das freie Wort, und dann stürzen sie mit ihren Nägeln über ihn her. Jeder Tag deckt jetzt die Feigheit und Rachsucht dieser Wahnsinnigen auf, und das dumme Volk jauchzt ihren tollen Maßregeln zu. Man muss die Tagesblätter dieser Periode lesen, und muss den Philister sprechen hören, um die grässliche Überzeugung zu gewinnen, dass man mit Narren in ein Haus gesperrt ist. »Du sollst Deinen Bruder keinen Narren schelten, sonst usw.«
Ich aber fürchte den Fluch nicht und sage: meine Brüder sind Erznarren. Ob ein armer Narr des Tollhauses von dem Wahne besessen ist, er sei Gott der Vater, Kaiser von Japan, der heilige Geist usw., oder ob ein behaglicher Bürger sich einbildet, es sei seine Bestimmung, ein guter Christ, ein gläubiger Protestant, ein loyaler Bürger, ein tugendhafter Mensch usw. zu sein – das ist beides ein und dieselbe »fixe Idee«. Wer es nie versucht und gewagt hat, kein guter Christ, kein gläubiger Protestant, kein tugendhafter Mensch usw. zu sein, der ist in der Gläubigkeit, Tugendhaftigkeit usw. gefangen und befangen.
Gleich wie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens der Kirche, Papst Benedikt XIV. dickleibige Bücher innerhalb des papistischen Aberglaubens schrieb, ohne je diesen Glauben in Zweifel zu ziehen, Schriftsteller ganze Folianten über den Staat anfüllen, ohne die fixe Idee des Staates selbst in Frage zu stellen, unsere Zeitungen von Politik strotzen, weil sie in dem Wahne gebannt sind, der Mensch sei dazu geschaffen, ein Zoon politikon zu werden, so vegetieren auch Untertanen im Untertanentum, tugendhafte Menschen in der Tugend, Liberale im »Menschentum« usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen.
Unverrückbar, wie der Irrwahn eines Tollen, stehen jene Gedanken auf festem Fuße, und wer sie bezweifelt, der – greift das Heilige an! Ja, die »fixe Idee«, das ist das wahrhaft Heilige!”
Vor dem Heiligen, heißt es bei Stirner, verliere man alle Macht und allen Mut; das Heilige ist also genau das, was von Freud das Überich genannt wird. Vor dem Heiligen, so Stirner, empfinde man keine Furcht, sondern Ehrfurcht. Man hat sich also mit seinem Überich identifiziert. Aber man fürchtet sich vor dem, was das Heilige, das Überich als unheilig verdammt.
Wenn nun, warum auch immer, die Macht des Überichs nicht groß genug ist, Ehrfurcht einflößend sich durchzusetzen, in dieser oder jener Angelegenheit, so ist es durchaus möglich, dass dann das Überich die Gestalt von Menschen oder Wesen annimmt, vor denen der Betroffene, wenn er den keine Ehrfurcht empfinden mag, sich immerhin fürchtet: Geheimdienste, Außerirdische oder der böse Nachbar kommen hier beispielsweise in Frage. Das ist natürlich eine subtile Form des Selbstbetrugs.
Ein Stimmengewirr herrscht in unserem Kopf. Welch ein Lärm! Wer weiß schon so genau, wer die Urheber dieser Stimmen sind? Wir können lange grübeln, darüber nachsinnen, wer uns wohl das eine oder andere, woran wir glauben, eingegeben haben mag; wir werden es nie ergründen, denn wir stehen in einem Strom des Geredes, der über diesen Planeten flutet, seitdem es Menschen gibt. Wohl dem, der begreift, dass er, und nur er der Herr seiner Innenwelt ist und der es versteht, dem Geschwätz Einhalt zu gebieten, um endlich, endlich mit eigener Stimme zu sprechen.
Ich weiß nicht, woher all diese Stimmen kommen, die manche hören, obwohl sie sonst niemand hört. Meine Arbeitshypothese lautet, dass es sich dabei nicht selten um die verkappten Stimmen des Überichs handelt. Selbst wenn die Stimmen Böses befehlen, können sie Ausdruck einer archaischen Moral sein: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dies sind, so will mir scheinen, Stimmen aus einer abtrünnigen Provinz der Innenwelt.
Was tun gegen lästige Stimmen?
Nach dem Transtheoretischen Modell menschlicher Veränderung lässt sich dieser Prozess in eine Abfolge von Stufen unterteilen. Dieses Modell wurde von James O. Prochaska und seinen Mitarbeitern auf Basis empirischer Studien an der Universität von Rhode Island erstmals zu Beginn der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgeschlagen und inzwischen von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen und weiterentwickelt. (6, 7, 8)
- Auf der präkontemplativen Stufe sind sich die Menschen nicht bewusst, dass ihr Verhalten problematisch ist. Sie sehen daher auch keinen Grund, sich zu verändern.
- Auf der kontemplativen Stufe bemerken die Menschen an Misserfolgen oder den Reaktionen ihrer Mitmenschen, dass ihr Verhalten nicht zum Ziel führt oder mit unerwünschten Nebenwirkungen verbunden ist. Sie entwickeln mehr oder weniger starke Gefühle der Unzufriedenheit und denken evtl. über die Vor- bzw. Nachteile von Verhaltensänderungen nach.
- Auf der Vorbereitungsstufe beabsichtigen die nun Veränderungswilligen, in naher Zukunft aktiv zu werden und beginnen u. U. bereits mit ersten Schritten in die angestrebte Richtung.
- Die Aktionsstufe ist durch absichtliche, erwartungsgesteuerte und zielgerichtete Veränderungen des kritischen Verhaltensmusters gekennzeichnet.
- Auf der Erhaltungsstufe versuchen die Menschen, das Erreichte zu sichern, auszubauen und Rückfälle zu vermeiden.
- Auf der Endstufe hat das problematische Verhalten für die Menschen keinen Reiz mehr und sie sind sich sicher, dass sie nie mehr auf dieses Niveau problematischer Lebensbewältigung zurückfallen werden.
Wer sich beispielsweise erfolgreich das Rauchen abgewöhnt hat und seit einigen Jahren ohne Zigarettenkonsum sich seines Lebens erfreut, wird sich unschwer in diesem Schema wiedererkennen. Es dürfte sich hier tatsächlich um das Grundmuster menschlicher Veränderung handeln. Leider erreichen viele Menschen, trotz ernsthafter Bemühungen und ehrlicher Absicht, die Endstufe nicht. Mitunter sind sie selbst daran schuld. Häufig aber werden sie von Mitmenschen daran gehindert. Zu diesen Mitmenschen zählen bedauerlicherweise auch Psychiater.
Fridolin ist ein IT-Spezialisten, der als 28-jähriger bereits Führungsverantwortung in seinem Unternehmen trägt, ständig überarbeitet ist und allein in einem 3-Zimmer-Apartment lebt. Seit einiger Zeit schläft er schlecht und entsprechend hat er Mühe, morgens in die Gänge zu kommen. Seine Leistung leidet nicht merklich darunter, aber er fürchtet sich davor, zu versagen. Er sucht nach Erklärungen für seine Schlafstörung und kommt schließlich auf den Gedanken, sein Nachbar besende ihn mit einer Strahlenwaffe. Er bildet sich ein, dieser heimtückische Nachbar sei ein Vertrauter seines ärgsten Konkurrenten in seinem Unternehmen, der schon lange an seinem Stuhl zu sägen scheint.
Die Dinge nehmen ihren Lauf. Fridolin beginnt, erste, kleinere Fehler zu machen, die sich zwar nicht dramatisch auswirken, von Kollegen aber durchaus mit ernsten Mienen und Achselzucken quittiert werden. Fridolin wird in betrieblichen Auseinandersetzungen zunehmend unbeherrschter, schließlich rastet er aus und schüttet seinem ärgsten Konkurrenten bei einem Streit ein Glas mit einem Energy-Drink übers blütenweiße Hemd.
Es kommt, wie es kommen muss: Sein direkter Vorgesetzter zeigt Verständnis für Fridolins Lage, lobt seine ausgezeichneten Leistungen, anerkennt den Druck, der auf ihm laste, betont, dass wir alle ja nur Menschen seien und rät ihm, sich der Hilfe von Experten zu versichern. Der junge Mann erwägt daraufhin, sich einer Psychotherapie zu unterziehen, verwirft diesen Gedanken aber wenig später wieder. Denn erstens ist er sich ziemlich sicher, dass seine Schlaflosigkeit nicht daher rührt, als Kind zu heiß gebadet worden zu sein, sondern dass sie die Folge der Besendung durch den Nachbarn sei.
Inzwischen beschränkt sich der Nachbar nicht mehr nur darauf, ihm den Schlaf zu rauben. Er projiziert mit seiner Besendungsapparatur eine Stimme in Fridolins Gehirn, die ihn in übelster Weise beschimpft. Offenbar kann das Gerät nicht nur Stimmen senden, sondern auch Fridolins Gedanken lesen. Denn die Stimme spricht von Dingen, die außer dem Besendeten niemand wissen kann und sie kommentiert seine Handlungen, auch wenn er allein in seiner Wohnung ist und von niemandem beobachtet wird.
Fridolin recherchiert im Internet und findet die Telefonnummer eines Spezialisten für Besendungen. Er hat Glück. Dieser Mann ist nicht so durchgeknallt, wie man befürchten muss, sondern er sagt ihm, dass er wenig Chancen habe, wenn er seinen Nachbarn bei der Polizei anzeige. Dort würde man ihm vermutlich nicht glauben und für verrückt halten. Sollte er nach einer solchen Anzeige noch einmal ausrasten, dann drohe ihm u. U. die Zwangseinweisung und das Ende seiner hoffnungsvollen Karriere.
Ein alter Schulfreund, der zu den wenigen Menschen gehört, denen Fridolin noch vertraut, gesteht ihm, dass er selbst einmal ähnliche Phänomene erlebte, darüber aber weder mit Fridolin, noch mit Kollegen gesprochen habe. Vielmehr sei er in Behandlung bei einer vertrauenswürdigen Psychiaterin. Diese habe ihm geraten, Stress zu reduzieren. Daher habe er seine nervenaufreibende Stellung aufgegeben und sei zum Staat gegangen, wo er eine vergleichsweise ruhige Kugel schieben könne und demnächst verbeamtet werde. Zur Sicherheit nehme er ein leichtes Neuroleptikum, dass ihm die Ärztin verschrieben habe.
Fridolin ist zwar skeptisch, ob dies der richtige Weg für ihn sei. Er sieht aber ein, dass es nicht so weitergehen kann und darf wie bisher. Er lässt sich noch einmal alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen und gelangt zu der Erkenntnis, dass eine Pille, sofern sie denn die Schlaflosigkeit trotz Besendung beende, vermutlich die einfachste Lösung sei, die ihm am wenigsten Zeit koste. Um fünf Uhr nachts fällt er in einen Erschöpfungsschlaf. Er unternimmt den ersten Schritt und ruft die Psychiaterin an, die ihm sein Schulfreund empfohlen hat.
Die Psychiaterin stellt ihm eine Diagnose. Er leide an einer psychischen Krankheit. Er habe eine Psychose. Dies sei heute aber keine hoffnungslose Störung mehr, wie früher einmal. Heute gebe es gute Medikamente. Die Psychose beruhe auf einer angeborenen Störung des Gehirns. Daher müsse er die Medikamente lebenslang einnehmen. Die modernen Präparate seien aber sehr schonend, so dass er von schlimmeren Nebenwirkungen mit hoher Wahrscheinlichkeit verschont bleibe, sofern er kooperativ sei und sich regelmäßig untersuchen lasse. Er könne selbstverständlich weiterarbeiten und werde unter Umständen mehr Erfolg haben als je zuvor. Kurz: Die Ärztin hält ihn in bester Absicht davon ab, in die Aktionsphase des Prozesses der Selbstveränderung einzutreten.
Alles, aber auch wirklich alles, was die Psychiaterin hier behauptet, ist entweder unbewiesen oder nachweislich falsch. Wenn Fridolin das Buch “Anatomy of an Epidemic” (9) des amerikanischen investigativen Medizinjournalisten Robert Whitaker gelesen und verstanden hätte, dann wäre sein Veränderungsprozess hier nicht zu Ende. Aber Fridolin glaubt seiner Ärztin. Sie ist ungefähr 50 Jahre alt, perfekt gepflegt, eine Schönheit der reifen Art, hat Witz, weiß mit jungen Männern umzugehen. Sie haut Fridolin um. In seinem IT-Studium hat man ihm nicht beigebracht, sich gegen mentale Viren zu wappnen. Er glaubt ihr.
Nunmehr fühlt sich Fridolin als psychisch krank. Zwar ist er sich immer noch sicher, todsicher sogar, dass er von seinem Nachbarn besendet wird, aber er hat auch das Gefühl, darauf nicht in angemessener Weise, sondern höchst ungesund zu reagieren. Nun weiß er ja auch, woran das liegt. Sein Gehirn ist defekt. Das ist angeboren. Dafür kann er nichts. Sein Denken ist in hohem Grade widersprüchlich, und dies hat er auch vermerkt, aber darüber will er nicht weiter nachdenken.
Nach einigen Wochen regelmäßiger Einnahme seiner Medikamente, von deren Wirkung er zutiefst überzeugt ist, denn seine Psychiaterin hat ihm einfühlend erklärt, wie sie wirken (sie hat fabuliert, denn dies weiß niemand), nach einigen Wochen und ein paar Tagen also keimt in Fridolin schließlich die “Krankheitseinsicht” auf, dass er gar nicht besendet werde, sondern dass er sich dies – wegen seiner Psychose – nur eingebildet habe.
Dank der Medikamente kann er jetzt auch wieder schlafen, wenngleich er sich morgens eher ausgelaugt, als ausgeruht fühlt. Es gibt nun auch keinen Grund mehr, sich mit Kollegen zu streiten. Sogar die Tatsache, dass sein ärgster Konkurrent vom Chef wegen vorbildlicher Arbeitsauffassung vor versammelter Mannschaft ausdrücklich belobigt wurde, ist kein Anlass zur Aufregung mehr. Inzwischen hat er auch wieder Kontakt mit einer ehemaligen Freundin aufgenommen, die er zwei Jahre zuvor im Streit verließ. Da könnte sich durchaus wieder etwas anbahnen. Wenngleich Fridolins Interesse an Sex zur Zeit eher eingeschränkt ist, so sehnt er sich doch nach weiblicher Umsorgung.
Schließlich wacht Fridolin nach seinem kurzen Erschöpfungsschlaf schweißgebadet auf. Er hat den Besuch bei der Psychiaterin und dessen katastrophale Folgen nur geträumt. Es war ein Alptraum! Gott sei Dank. Zum ersten Mal im Verlauf seines bisherigen Berufslebens meldet er sich krank. Er geht zu seinem Hausarzt. Dieser Arzt ist ein echter Doktor mit dem Herz auf dem rechten Fleck. Er erkennt, dass auch eingebildete Krankheiten mitunter eine Schonzeit erfordern und attestiert ihm, mit besorgter Miene, augenzwinkernd, für ein paar Tage Arbeitsunfähigkeit.
Fridolin macht einem Termin beim Anwalt. Der Jurist hört sich seine Geschichte an und kommt zu dem Schluss, dass er Fridolin keine Hoffnung auf eine gerichtliche Lösung seines Problems machen könne. Verwirrt und wütend verlässt der junge Mann die Kanzlei. Erneut recherchiert er im Internet und stößt auf meinen Namen. Da ich ein Buch zur Bewusstseinskontrolle veröffentlicht habe, rufen viele Leute bei mir an, weil sie glauben und hoffen, dass ich ihnen helfen könne. Dies ist eine schwere Verantwortung, die auf meinen Schultern lastet, der ich aber ganz und gar nicht gerecht werden kann. Er erklärt mir sein Problem und erzählt mir seinen Traum.
Ich sage: “Sie sind heute schon der Dritte, der mich wegen solcher Geschichten anruft. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich den anderen auch gesagt habe, dass ich keinen blassen Schimmer habe, was bei ihnen vorliegt.”
Fridolin: “Aber sie sind doch Psychologe.”
Ich: “Ja eben!”
Er lacht. Dann weint er.
Ich: “Es gibt Probleme, die löst man nicht mit der Brechstange.”
Fridolin: “Wie dann?”
Ich: “Am besten gar nicht.”
Fridolin: “Wie bitte? Wollen Sie mich verarschen?”
Ich: “Nein. Sie verarschen mich. Wenn Sie besendet werden, warum rufen Sie dann einen Psychologen an und keinen Ingenieur oder Physiker. Gehen Sie zum Schuster, wenn sie Brötchen brauchen?”
Fridolin: “Aber im Internet habe ich gelesen, dass Sie sich auskennen…”
Ich: “Ja, mit einigen Sachen kenne ich mich aus. Mit solchen nämlich, die was mit Psychologie zu tun haben.”
Fridolin: “Ich verstehe. Irgendwie war meine Handlung unlogisch, aber, aber, ich…”
Ich: “Sie können von Pontius bis Pilatus rennen mit ihrem Problem, glauben Sie mir, Sie werden keine Hilfe finden, die Sie zufrieden stellt.”
Fridolin: “Ich gehe auf dem Zahnfleisch!”
Ich: “dann gehen Sie zum Zahnarzt!”
Fridolin: “Aber, jetzt hören Sie…”
Ich: “Sie haben mich angerufen, nicht ich Sie!”
Fridolin: “Darf ich Sie noch etwas fragen?”
Ich: “Aber nur, wenn es etwas mit Psychologie zu tun hat!”
Fridolin schluckt und überlegt eine Weile. Sein Problem hat recht eigentlich nichts mit Psychologie zu tun, das weiß er nun. Und dennoch hat er das Gefühl, das starke Gefühl, es ist beinahe wie ein Zwang, mit einem Psychologen darüber sprechen zu müssen.
Schließlich sagt er: “Mein Traum, äh, mein Traum, können Sie den deuten.”
Ich: “Mir geht Ihr Traum am Arsch vorbei.”
Ich weiß, dass ich nun ein wenig warten muss, aber nicht zu lange, denn sonst legt er auf. Das Timing ist wieder einmal perfekt. (Ein wenig Eitelkeit muss sein.)
Ich: “Ihnen aber darf er nicht am Arsch vorbeigehen. Ihr Traum muss Ihnen heilig sein. Ziehen Sie die Lehren daraus. Sie liegen auf der Hand!”
Fridolin: “Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen!”
Ich: “Das müssen Sie auch nicht!”
Fridolin: “Nun spannen Sie mich nicht auf die Folter: Sie wissen doch was, nun sagen Sie schon!”
Ich: “Ich weiß nichts, was Sie nicht schon selber wissen!”
Fridolin: “Ach so meinen Sie das: Ich soll mich nicht so anstellen!”
Ich: “Das habe ich nicht gesagt!”
Fridolin: “Aber gemeint!”
Ich: “Was ich meine, bestimme ich selbst. Außerdem spielt es in diesem Fall keine Rolle!”
Fridolin: “Aber ich kann doch nicht…”
Ich: Warum nicht? Was geht Sie das Geschwätz des Nachbarn an?”
Fridolin: “Aber er lässt mich mit seinem Geschwätz nicht schlafen!”
Ich: “Ich habe als Student in einem sehr lauten Mietshaus gewohnt, anfangs hat mir das den Schlaf geraubt, aber dann…”
Fridolin schluchzt heftig. Dann fasst er sich.
Fridolin: “Herzlichen Dank für Ihren Rat!”
Ich weiß nicht, was Fridolin als Rat verstanden hat. Vielleicht hat er ja begonnen, das kritische Verhalten, nämlich seine Reaktion auf die nachbarliche Stimme zu verändern. Vielleicht hat er bereits die Aktionsstufe erreicht. Möglicherweise hat er sich dazu durchgerungen, seine Interpretation der Stimme zu verändern. Möglicherweise betrachtet er sie heute nicht mehr als eine emotional hoch bedeutsame Ansprache, sondern als ein zwar lästiges, aber bedeutungsloses Hintergrundgeräusch. Eventuell befindet er sich sogar schon in einer Phase, in der er sie nur noch selten oder gar nicht mehr wahrnimmt. Vielleicht sitzt der Nachbar immer noch am Mikrofon seines Besendungsgeräts, aber Fridolin hört ihm einfach nicht mehr zu.
Über die Wellen des Raumes verfügen
Ein weiteres Beispiel: Peter K. hört Stimmen, die sonst niemand hört. Sie geben ihm Anweisungen. Sie verhöhnen ihn, sie bedrohen ihn, sie wissen genau, was er tut und denkt. Sein Psychiater, Dr. Cyriakus P. sagt, Peter K. leide an “Schizophrenie”. Diese werde durch ein chemisches Ungleichgewicht in seinem Gehirn ausgelöst. Peter K. glaubt seinem Psychiater kein Wort. Er meint vielmehr, die Stimmen würden durch Besendung mit Mikrowellen hervorgerufen.
Sein Psychiater fragt ihn, ob er denn schon jemals Leute mit einem Besendungsgerät auf frischer Tat ertappt hätte. Kleinlaut muss Peter K. einräumen, dass dies nicht der Fall sei, dennoch sei er sich ganz sicher. Diese Sicherheit, antwortet ihm der Psychiater, sei ein Symptom seiner Krankheit. Peter K. lässt sich nicht einschüchtern. Er fragt den Psychiater, ob er denn schon jemals beobachtet hätte, wie ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn Stimmen hervorgerufen hätte.
Nehmen wir einmal an, dieser Psychiater wäre ein ehrlicher Mensch. Dann müsste er einräumen, dass die Theorie des chemischen Ungleichgewichts als Ursache der “Schizophrenie” eine unbewiesene Hypothese sei, dass Psychiater de facto nicht wüssten, warum Peter K. Stimmen höre.
So weit liegen die beiden also gar nicht auseinander. Der eine hat eine chemische, der andere eine elektromagnetische Theorie der “Schizophrenie”-Ursachen. Sie hängen also gleichermaßen einer rein naturwissenschaftlichen Sichtweise an, die allerdings der spekulativen Züge nicht entbehrt. Peter K. und Cyriakus P. erkennen einander trotzdem nicht als verwandte Seelen, als Brüder im Geiste an. Wieder einmal bestätigt sich die alte Weisheit, dass Leute um zu furioser auf ihrer Meinung beharren, je weniger sie tatsächlich wissen. Cyriakus P. hält Peter K. für krankeitsuneinsichtig. Peter K. sieht in Cyriakus P. einen Ignoranten, der nichts von Mind Control, von elektronischer Bewusstseinskontrolle verstehe und vermutlich mit den Tätern, die ihn besenden, im Bunde stünde.
Als Peter K. diesen letzten Gesichtspunkt seinem Psychiater ins Gesicht sagt, antwortet dieser, dass solche Verdächtigungen typisch seien für Leute wie ihn, für Paranoiker. Sie seien ein klassisches Symptom. Wir wissen natürlich, wie diese Geschichte ausgeht. So wie immer, wenn Dogmatiker aufeinanderprallen. Es setzt sich durch, wer mehr Macht hat.
Es war einmal ein Postbote. Der wurde gleich zweimal zur psychiatrischen Autorität, obwohl er das Fach nicht studiert hatte. Zunächst machte er unter dem falschen Namen Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy als Amtsarzt Karriere, wurde allerdings nach einiger Zeit enttarnt. Deswegen versuchte er es unter seinem richtigen Namen, Gert Postel, erneut, wieder mit Erfolg. Er wurde Leitender Oberarzt in einer psychiatrischen Anstalt. Als er schließlich Chef einer Klinik und Psychiatrieprofessor werden sollte, flog er auf. In beiden Fällen wurde er aber nicht wegen fachlicher Mängel seiner Arbeit, sondern durch Zufall enttarnt. Und wenn er sich heute wieder einmal unter falschem Namen bei Cyriakus P. bewerben sollte: er hätte die allerbesten Chancen auf Einstellung und eine verantwortliche Position. Denn Cyriakus P. ist eine Autorität, und Autoritäten erkennen und wertschätzen einander sofort.
Peter K. ist inzwischen, nach Klinikaufenthalten, ebenfalls zur Autorität avanciert: im Internet, wo er eine Website über elektronische Bewusstseinskontrolle betreibt. Im dazugehörigen Forum wird er von seinen Jüngern wie ein Heiliger verehrt. Der Leser möge nicht danach suchen, denn Peter K. habe ich zur Veranschaulichung dieses Grundgedankens ebenso erfunden wie Cyriakus P. und Fridolin aus dem vorherigen Beispiel. Nur der Postel ist real, sehr zum Leidwesen der Psychiaterzunft. Ob aber Fridolin, Peter K. und Cyriakus P. realen Personen nachempfunden sein könnten, möge jeder für sich selbst entscheiden.
Unlängst rief Peter K. an. Er sagte, er habe mein Buch über Bewusstseinskontrolle gelesen. Ich hätte also Ahnung, das stehe fest. (Um Himmels willen!) Wie ich mich denn gegen Besendung wehre, wollte er wissen. Dazu habe er leider in dieser Schrift nichts gefunden. Da ist natürlich guter Rat teuer. Aber ich wollte ihm nicht gleich meine Honorarforderung unterbreiten. So etwas tut man nicht. Schließlich wollte ich ja meinen Nimbus des selbstlosen Helfers nicht gefährden, der sich für die Opfer der bösen Welt uneigennützig den Arsch aufreißt.
“Wir alle sind doch”, sagte ich also nach kurzen Bedenken, “Priesterkönige im eigenen Reiche, in unserer Innenwelt.”
“Sie vielleicht, aber ich schon lange nicht mehr”, sagte Peter K. “Wo ich auch bin, was ich auch tue, von morgens bis abends werde ich besendet.”
“Von wem, von der Psychiatrie?”
“Ich weiß nicht, wer mich besendet, da habe ich so meine Vermutungen, weil nämlich…”
Da ich die üblichen Verdächtigen schon kenne und ja doch nicht verhaften kann, versuche ich ihn abzulenken.
“Sind sie sicher, dass es nicht die Psychiatrie ist?”
“Ja, die haben mich als psychotisch bezeichnet und ich soll…”
“Die bombardieren Sie also nur mit Pillen und nicht mit Strahlen.”
Peter K. lacht. “Sie wollen mich wohl verarschen?”
“Nicht im Traum. Sie haben mich gefragt, wie ich mich gegen Besendung wehre. Aber Sie lassen mich ja nicht zu Wort kommen”, sage ich.
“Also gut, wie?”
“Es herrscht Krieg”, antworte ich, “ein Krieg zwischen den Welten.”
“Sciencefiction!”
“Nein, es ist ein Krieg zwischen den Innenwelten. Wer auch immer uns bombardiert, mit was auch immer, ist unser Feind, selbst wenn er vorschützt, es gut mit uns zu meinen. Souverän ist der, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, sagte eins der Rechtsphilosoph Carl Schmitt.”
“War das nicht ein alter Nazi?”
“Mag sein. Interessant ist aber etwas anderes.”
“So?”
“Ja, Schmitt glaubte, er werde besendet. Jahrzehnte lang fürchtete er sich davor. Gegen Ende seines Lebens sagte er:
Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ‘Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet’. Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ‘Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.’” (Siehe Wikipedia)
“Faszinierend!”
“Eindeutig”, sagte ich. Und schwieg eine Weile.
“In seiner 1942 veröffentlichten Schrift haben Wellen und Raum noch eine für andere greifbare Form; es geht scheinbar um Weltmacht, Ozean und Großbritannien; doch tief in der Seele brodelt’s schon.”
“Und wie schützen Sie sich? Bitte!”
“Wovor?”, sagte ich.
“Vor Besendung, natürlich.”
“Aber ich werde doch gar nicht besendet!”
“Woher wollen Sie das denn wissen?”
“Ich habe keine Symptome!”
“Vielleicht dissimulieren Sie!”
Ja, in der Tat: Peter K. und sein Psychiater Cyriakus P. sind Brüder im Geiste. Für mich gilt nach wie vor die Version, die nach dem Ersten Weltkrieg zutraf: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. In meiner Innenwelt bin ich der Souverän. Und wenn O’Dor Bah mich besendet, dann nur, weil ich ihm dies zu Demonstrationszwecken gestatte.
Fazit
Es gibt Menschen, die zutiefst von der Überzeugung durchdrungen sind, dass ihre Gedanken, ihre Gefühle, ihre Stimmungen und sogar ihr Verhalten von außen kontrolliert werden. Als Mittel der Kontrolle werden häufig Hypnose, Telepathie oder zunehmend elektromagnetische Strahlung genannt. Die mutmaßlichen Täter sind bösartige Nachbarn, Kriminelle, Sekten, Geheimdienste, Geheimbünde oder gar Außerirdische.
Aufgeklärte Zeitgenossen sind häufig zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass es sich bei diesen Menschen um Spinner, Paranoide, Psychotiker oder Schizophrene handele oder einfach nur um geltungssüchtige Aufschneider, und dass diese Phänomene die Folge unkritischer Lektüre von Büchern, Filmen oder Zeitschriftenartikeln zum Thema “Mind Control” seien.
Dabei ist das Phänomen keineswegs neu. Zu allen Zeiten gab es Berichte über dämonische Besessenheit und Ende des neunzehnten Jahrhunderts beschrieb der russische Psychiater Victor Kandinsky auf Basis eigener Erfahrungen ein entsprechendes Syndrom, nämlich das Gefühl, andere könnten die eigenen Gedanken lesen, würden Gedanken in die eigene Psyche senden, könnten Handlungen erzwingen. Der aufgeklärte Zeitgenosse kann sich also beruhigt zurücklehnen. Nun hat er gleich drei und nicht nur die eine Schublade mit dem Etikett “Verschwörungstheorie”. Die beiden anderen Schubladen kann er beschriften mit “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” (Clerambault war ein Franzose, der Ähnliches beobachtete) bzw. “religiöser Wahn”.
Doch wenn sich aufgeklärte Zeitgenossen entspannt im Sessel zurücklehnen, dann kann es mitunter geschehen, dass sie nicht einschlummern und sich dem Reich der Phantasie und des Traumes anvertrauen, sondern dass sie die Logik wie ein Stachel im Fleisch an empfindlichen Stellen quält. Zwar haben wir die Diagnosen, aber wo sind die Beweise? Es mag ja sein, dass in dem einen oder anderen Fall religiöser Wahn, das “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” oder die Suggestionen der Verschwörungstheoretiker für die beschriebenen Phänomene verantwortlich waren. Aber dies bedeutet doch nicht, dass es in jedem Fall so ist.
Der aufgeklärte Zeitgenosse glaubt bekanntlich nicht an die Seele und an den immateriellen Geist, sondern er ist tief im naturwissenschaftlichen Denken verankert. Für ihn ist die Psyche ein Effekt des Nervensystems. Selbstverständlich werden unsere Gedanken und Gefühle vom Gehirn produziert und unser Verhalten durch das Nervensystem kontrolliert. Klar, die genannten Verrücktheiten sind also Störungen des Nervensystems. Doch was sind die Ursachen?
Der aufgeklärte Zeitgenosse wird mitunter von religiösen Schwärmern inquisitorisch befragt, ob er seine Position, die Seele sei ein Nervengeflecht, denn auch beweisen könne. Dann lächelt der aufgeklärte Zeitgenosse milde und sagt: “Na, dann trink einfach einmal ein paar Bier zu viel, dann merkst du, dass deine grauen Zellen die Grundlage deines seelischen Lebens sind!”
Aha, lieber aufgeklärter Zeitgenosse: Hier räumst du also ein, dass seelisches Leben von außen gesteuert werden kann. Könnte es dann nicht auch sein, dass Militärs und Geheimdienste die primitive Phase der Manipulation des Geistes durch Alkohol und Drogen hinter sich ließen. Dass sie im Geheimen High-Tech-Methoden entwickelt haben, um menschliches Verhalten und Erleben durch elektromagnetische Strahlung zu steuern?
Verschwörungstheorie? Klar. Die Logik wird aber wie ein Stachel im Fleische weiterbohren. Dem Verhalten und Erleben liegen nun einmal neurologische Prozesse zugrunde. Können neurologische Prozesse vielleicht doch durch elektromagnetische Strahlung beeinflusst werden? Wird gar das “Kandinsky-Clerambault-Syndrom” mitunter durch elektromagnetische Strahlung induziert?
Zum Glück ist kein aufgeklärter Zeitgenosse gezwungen, sich stets dem Diktat der Logik zu unterwerfen und sich durch fruchtlose Fragen quälen zu lassen. Es gibt schließlich wichtigere Dinge. Warum soll man seine Zeit mit diesem verschwörungstheoretischen Quatsch verplempern? Schließlich bekennt man sich nicht dazu, ein aufgeklärter Zeitgenosse zu sein, um sich wegen unvorsichtiger Bedenken dann doch als Spinner titulieren lassen zu müssen, sondern um sich an den Ufern des geistigen Mainstreams zu sonnen.
Persönliches Fazit
Nach meiner persönlichen Meinung befragt, antworte ich: “Ich glaube nicht an Besendung und all diesen Quark. Die Stimmen kommen aus dem Inneren und werden nach außen projiziert, warum auch immer. Befragt jedoch nach meinem Wissen, muss ich passen. Wieder einmal habe ich keine Ahnung. Ob ich denn Besendung und “synthetische Telepathie” grundsätzlich für möglich hielte, will einer wissen. Nein, nein!, rufe ich entsetzt, nie, um Himmels willen, hoffen wir, dass mich die Tatsachen nicht eines Tages dazu zwingen, mich anders zu besinnen. Etwas Grauenvolleres ist kaum vorstellbar; und sicher ist dies auch der entscheidende Grund dafür, dass ich nicht so gern darüber nachdenke.
Aus pragmatischer Sicht ist es allerdings unerheblich zu wissen, woher die Stimmen kommen, da es allein darauf ankommt, mit ihnen angemessen umzugehen. Wenn sie uns etwas Sinnvolles zu sagen haben, ist es gut, ihnen zuzuhören. Wenn sie uns nur herunterziehen, dann gilt es zu lernen, ihnen die Aufmerksamkeit möglichst vollständig zu entziehen.
Anmerkungen
(1) Braham, L.G., Trower, P. & Birchwood, M. (2004). Acting on command hallucinations and dangerous behavior: A critique of the major findings in the last decade. Clinical Psychology Review, Volume 24, Issue 5, September 2004, Pages 513–528
(2) Hier zeigt sich wieder einmal eindrucksvoll, dass es nicht genügt, nur die Abstracts von Studien durchzulesen, die einem mehr oder weniger zufällig in die Hände fallen. Vielmehr kann man sich ein vernünftiges Urteil allein auf Basis einer gründlichen Analyse aller einschlägigen Publikationen zu einer Forschungsfrage bilden.
(3) “Reales Leben” = kleinster gemeinsamer Nenner der Fantasien aller Zeitgenossen
(4) Anmerkung für Psychiater und Richter: Ich habe eine Patientenverfügung ausgefertigt, mit der ich vor Ihnen schütze. Ich dulde bei mir keinerlei psychiatrische Diagnose oder Behandlung, ganz gleich, welcher Art.
(5) Sacks, O. (2012). Hallucinations. New York, N. Y.: Knopf
p>(6) Prochaska, J. O. & DiClemente, C. C. : Transtheoretical Therapy : Toward a more integrative model of change. Psychotherapy: Theory, Research, and Practice, 19, 276-288. 1982
(7) Prochaska, JO; Norcross, JC; DiClemente, CC. Changing for good: the revolutionary program that explains the six stages of change and teaches you how to free yourself from bad habits. New York: W. Morrow; 1994.
(8) Prochaska, JO; Velicer, WF. The transtheoretical model of health behavior change. Am J Health Promot 1997 Sep–Oct;12(1):38–48
(9) Whitaker, R. (2010). Anatomy of an Epidemic. New York: Broadway Paperbacks
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