Psychotherapie hilft den meisten Patienten
Im Auftrag der “Apotheken Umschau” befragte die “GfK Marktforschung Nürnberg” 2.129 ehemalige oder momentane Psychotherapie-Patienten ab 14 Jahren zu ihren Erfahrungen. Unter der Überschrift “Psychotherapie hilft den meisten Patienten” berichtete die Online-Ausgabe dieses Gesundheitsmagazins (23.04.2012) über die Ergebnisse dieser Umfrage. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent), so schreibt das Blatt, kämen durch Psychotherapie mit ihren Problemen besser zurecht. Bei weiteren 13 Prozent hätten sich die Schwierigkeiten sogar völlig gelöst. Es handelt sich hier um die Selbstauskünfte der Studienteilnehmer. Daher ist der Titel dieses Berichts natürlich irreführend. Er müsste lauten: Die meisten der befragten Psychotherapie-Patienten bekundeten, dass ihnen Psychotherapie geholfen habe.
Im Titel steckt jedoch noch ein zweiter Denkfehler. Dieser wird deutlich, wenn ich die Überschrift ein weiteres Mal neu formuliere: Die meisten der befragten Patienten, die sich einer Behandlung unterziehen oder unterzogen haben, bekundeten, dass es ihnen besser gehe, und führten dies auf die Psychotherapie zurück. Dies mag auf den ersten Blick spitzfindig klingen. Doch bei genauerem Hinschauen sollte eigentlich einleuchten, dass die subjektiv empfundene Besserung ja auch durch andere Faktoren erklärt werden könnte, beispielsweise durch
- verstärkte menschliche Zuwendung
- erhöhte, schon vor Therapiebeginn bestehende Bereitschaft, sich zu verändern
- das Verstreichen der Zeit (die bekanntlich wenn nicht alle, so doch viele Wunden heilt (1)).
Aus meiner Sicht handelt es sich bei solchen Studien in aller Regel um Psychotherapie-Marketing, denn die Grundsachverhalte wurden über Jahrzehnte sorgfältig empirisch erforscht, aussagekräftige Resultate liegen vor und erlauben eine realistische Einschätzung dessen, was Psychotherapie zu leisten vermag und was nicht (2).
Psychotherapieforschung
Der gegenwärtige Erkenntnisstand der Psychotherapieforschung lässt nur den Schluss zu, dass es keine aus wissenschaftlicher Sicht überlegenen Formen der Psychotherapie gibt. Die Patienten profitieren am meisten von einer Behandlung, wenn sie sich selbst dafür entschieden haben und wenn sie der Methode vertrauen, warum auch immer. Fakt ist: Die allen Psychotherapien gemeinsamen Faktoren – also jene Einflussgrößen, die unabhängig von der jeweiligen Methode sind – haben einen wesentlich größeren Einfluss auf das Therapie-Ergebnis als irgendwelche Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens.
Seit rund fünfzig Jahren wird die Psychotherapie mit den Methoden der empirischen und experimentellen Psychologie systematisch erforscht. Die wichtigsten Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- Psychotherapie ist effektiv. Dies ergibt sich aus Vergleichen zwischen behandelten und nicht-behandelten Gruppen.
- Der Erfolg von Psychotherapie hängt nicht oder kaum von den Methoden ab. Dies ergibt sich aus dem Vergleich unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie etc.). (3)
- Psychotherapien sind effektiver als Placebobehandlungen und Placebobehandlungen sind wirksamer als keine Behandlung. Bei einer Placebobehandlung glaubt der Patient, er würde mit einem “echten” psychotherapeutischen Verfahren therapiert, wohingegen der Therapeut weiß, dass es sich um Hokuspokus handelt. Dies ist ein methodisch und philosophisch schwieriges Feld, dem ich mich in einem Anhang zu diesem Tagebucheintrag widme.
- Persönliche Merkmale des Therapeuten sind erheblich bedeutsamer als die sehr geringen methodischen Effekte. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der Effektivität verschiedener Therapeuten einer Ausrichtung sowie dem Vergleich der Effektivität verschiedener Methoden. Die Unterschiede zwischen den Therapeuten einer Schule sind deutlich größer als die Unterschiede zwischen den Therapieverfahren.
- Die Effektivität der Psychotherapie ist weitgehend unabhängig von der Ausbildung, der Fachrichtung (Arzt, Psychologe, keine Ausbildung) sowie von der Dauer der Berufserfahrung des Therapeuten. Dies ergibt sich aus Vergleichen der Effektivität von professionellen, semi-professionellen und nicht-professionellen Therapieanbietern. Laien sind tendenziell sogar erfolgreichere “Psychotherapeuten” als Profis.
- Den mit Abstand bedeutendsten Beitrag zum Therapieerfolg leisten die Selbstheilungskräfte des Klienten.
Wir erkennen also: Was tatsächlich wirkt bei einer Psychotherapie, verdient den Namen “Psychotherapie” überhaupt nicht, sofern man darunter eine wissenschaftlich fundierte, medizinisch orientierte Behandlung versteht. Vielmehr wird die angestrebte Veränderung durch allgemein menschliche Faktoren bewirkt:
Ein so genannter Patient hat den ernsthaften Wunsch, sind selbst zu verändern, er findet einen Helfer, einen so genannten Therapeuten, dem und dessen Methode er vertraut und dann mobilisiert der Patient seine psychischen Ressourcen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Der Therapeut begleitet diesen Prozess zwar, aber in Wirklichkeit hilft nicht er, sondern der Glaube des Patienten daran, dass der Therapeut ihm helfen könne, wolle und werde, ist der eigentliche Wirkfaktor des therapeutischen Prozesses.
Im Folgenden werde ich den Begriff “Psychotherapie” daher in Anführungszeichen setzen.
Ein alltägliches Geschehen
“Psychotherapie” erfordert weder hohes Wissen, noch ausgefeilte Qualifikationen auf Seiten des “Psychotherapeuten”. Sie ist also nichts Besonderes. Wenn sie dazu gemacht wird, dann handelt es sich um eine Verklärung, die eine realistische Sichtweise erschwert oder gar unmöglich macht. Diese Verklärung kann allerdings mitunter durchaus den Prozess vorantreiben, etwa wenn Psychotherapie als heilendes, reinigendes, sakrales Ritual erlebt wird. Oft genug aber schadet sie dem Klienten, wenn er eigene Leistungen fälschlicherweise dem “Therapeuten” zuschreibt, was zu schlimmen Formen der Abhängigkeit führen kann. Die Erfolge motivieren dann nicht dazu, sich auf eigene Füße zu stellen, sondern zu schier endlosen “Therapien”.
“Psychotherapie” ist natürlich keine medizinische Behandlung. Schließlich ist ja auch die Seele keine medizinische Kategorie. “Psychotherapie” ist mitmenschliche Begegnung zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts. Sie findet auch außerhalb von Therapieräumen statt: z. B. in Kneipen, beim Friseur, im Zirkus und im Bett.
“Psychotherapien” sind ein alltägliches Geschehen, auch wenn sich die Mehrheit der Menschen gar nicht bewusst ist, wie oft sie an einer solchen Veranstaltung teilnehmen, als “Therapeut” oder als “Klient” oder beides wechselseitig. ”Therapiert” wird in allen Lebenslagen: Beim Friseur, im Wirtshaus, im Beichtstuhl, auf einer Parkbank, beim (und ganz besonders beim) Telefonieren, in der Mittagspause unter Kollegen… und an vielen Orten der Welt.
Das Grundmuster ist immer das Gleiche:
Ein Mensch (A) wendet sich vertrauensvoll an einen anderen (B). A hat ein Problem P. Er glaubt, dass B ihm bei der Lösung von P helfen könne. Wenn P durch eine Änderung der Einstellungen A’s, seiner emotionalen Reaktionen, seines Denkens, seiner Stimmungen und seines Verhaltens gelöst oder der Lösung näher gebracht werden kann, dann handelt es sich bei einer derartigen Interaktion um eine “Psychotherapie”. Sie besteht aus “psychotherapeutischen” Handlungen. Die Grundstruktur jeder Handlung, nicht nur der “psychotherapeutischen, ist die sog. TOTE-Einheit. Die Abkürzung steht für: “test – operate – test – exit.”
B: “Na wie geht’s?”
A: “Ach, weißt du…!”.
B: “Wieder Ärger mit dem Chef?”
A: “Mensch, du kennst dich doch da aus, bist doch Betriebsrat!”
B: “Um was geht’s denn?”
A: “Plötzlich schneiden mich die Kollegen, und ich glaube, der Boss steckt dahinter.”
So könnte das weitergehen. Das wäre eine “diagnostisches” Interview. B schlägt dem A dann einige Maßnahmen vor, die dieser in die Tat umzusetzen versucht (oder auch nicht) (operate). Wenn sie sich wieder treffen, erfolgt ein neuer Test:
B: “Wie hat’s geklappt?”
War die Aktion erfolgreich, ist das Problem gelöst (exit).
Sonst erfolgen weitere Tests und Operationen – bis zum hoffentlich glücklichen Ende.
Eine “Psychotherapie” besteht, wie jedes Handlungssystem, aus einer Vielzahl miteinander verbundener TOTE-Einheiten. Die Diagnosen (Tests) sind dabei völlig natürliche und zwangsläufige Elemente der “Behandlung”.
Selbst “Therapien”, die mit wenig Worten auskommen und überwiegend aus nicht-sprachlichen Handlungen bestehen, sind kommunikative Prozesse. Man stelle sich einen Klienten mit Höhenangst vor, der mit seinem Therapeuten einen Turm besteigt und der dann oben im Freien übers Geländer schauen soll.
Er steht unten hinter der Tür zum Treppenhaus, die erste Stufe vor sich.
Test: “Bin ich schon oben? Nein.”
Operate: Das Bein auf die erste Stufe stellen.
Test: “Bin ich schon oben? Nein? Bin ich schon tot? Nein.”
Und so weiter. Das Besteigen des Turms ist nicht nur ein körperlicher Vorgang. Er besteht aus TOTE-Einheiten mit einer spezifischen, “therapeutischen” Bedeutung, die in der “Therapie” auch kommuniziert wird. Der Sinn des gesamten Systems “therapeutischer” TOTE-Einheiten lautet im Kern: “Wenn ich einmal den Turm bestiegen und im Freien über die Brüstung geschaut habe, dann werde ich nie wieder Höhenangst haben. Dies sagt mein Therapeut, dies lehrt die Wissenschaft.”
Also: Auch nicht-verbale Handlungen dienen der Kommunikation. Der Klient teilt mit ihnen dem “Therapeuten”, vor allem aber sich selbst etwas mit. Ist der nächste Schritt auf eine höhere Stufe sehr forsch, kann dies bedeuten: “Seht her, ich kann’s, ich habe Mut.” Der folgende Schritt ist ein Test dieser Selbsteinschätzung. Ist er zögerlich, heißt dies vielleicht: “Oje, mir schwindet der Mut!” Der sich daran anschließende Schritt stellt dieses Urteil auf die Probe, usw.
“Psychotherapie” ist wirklich nichts Besonderes. Sie wird aber gern zu einem Mythos gemacht – aus vielen Gründen, aber vor allem auch zur Rechtfertigung der Bezahlung des Therapeuten. Heute allerdings sind formale “Psychotherapien”, also “Psychotherapien” auf Krankenschein leider oftmals verzerrte, suboptimale menschliche Interaktionen, weil durch die Diagnose einer “psychischen Krankheit” sowie die Auswahl angeblich wissenschaftlich bewährter Methoden Handlungsspielräume vorschnell eingeengt werden.
Psychodiagnosen
Wenn man Psychotherapie aus dem oben skizzierten Blickwinkel betrachtet, dann zeigt sich, dass die so genannten Psychodiagnosen, also die Verfahren zur Feststellung der Art und des Ausmaßes einer “psychischen Krankheit” überflüssig sind. Und sie sind nicht nur dies; sie sind gefährlich. Der Glaube, dass ein Klient an einer “psychischen Krankheit” leide, ist mit der Gefahr verbunden, die therapeutische Interaktion zum Schaden des Klienten einzuengen und ihn in Sackgassen zu führen. Denn die Psychodiagnose ist ja ein hypothetisches Konstrukt, eine wissenschaftlich, politisch und ökonomisch motivierte Erfindung, die in der Regel wesentliche Elemente der Situation des Klienten ausblendet und andere Aspekte übertreibt. Der Mensch wird in eine Schublade gepresst; er wird auf die Rolle des “Kranken” reduziert.
Besser wäre es,
- eine Ist-Situation (I-S) zu diagnostizieren,
- gemeinsam mit dem Klienten eine Soll-Situation (S-S) festzulegen,
- nach Wegen von I-S nach S-S zu suchen und
- dann die entsprechenden TOTE-Einheiten zu durchlaufen.
Das Problem eines Klienten in den ersten Stunden zu diagnostizieren, zu versuchen, es auf den Begriff zu bringen, ist sicher nichts Verwerfliches. Allein – eine Psychodiagnose im Sinne psychiatrischer Klassifikationsschemata ist ein Begriff besonderer Art – der Psychiatrie-Kritiker Szasz bezeichnet ihn als “strategisches Etikett”. Mit diesem Etikett werden Weichen gestellt für das weitere Leben eines Menschen, dem dieses Etikett angeheftet wird.
Der Begriff ist dann kein unvermeidliches Moment in einem praktischen Erkenntnisprozess mehr, sondern er wird aus diesem Prozess herausgelöst, wird verdinglicht, gewinnt eine Eigendynamik und bringt Folgen hervor, die jene Verhaltensweisen, auf die er verweist, allein und ohne ihn nicht gezeitigt hätten.Der Diagnostiziert wird durch die Diagnose “psychisch krank” stigmatisiert.
Ein “Spinner” beispielsweise, sanft wie ein Schaf, der sich hin und wieder vor den Ausgeburten seiner Phantasie fürchtet und dem dann das Etikett “Schizophrenie” – gleichsam von Amts wegen – durch die Psychiatrie angeheftet wird… dieser “Spinner” muss damit rechnen, dass ihm Menschen, dem allgemeinen Vorurteil entsprechend, so begegnen, als sei er potentiell gefährlich oder gewalttätig, obwohl seinem Naturell nichts ferner liegt als dies.
Die Menschen, die ihn so behandeln, glauben daran, dass Ärzte, Psychiater, Wissenschaftler dem “Spinner” tief ins Herz und Hirn geschaut und sein wahres Wesen mit ihrer Psychodiagnose zum Ausdruck gebracht hätten. Dass es sich dabei nur im ein “strategisches Etikett handelt, kommt ihnen nicht in den Sinn.
Was ist das Strategische an diesem Etikett? Es legt fest, es legt verbindlich fest, wie zukünftig mit einem Menschen umgegangen werden soll. Die Grundlage dieser Festlegung ist ein irrationaler Glaube, der sich als Wissenschaft tarnt. Es gibt de facto kein psychodiagnostisches Verfahren, dass mit hinlänglicher Sicherheit das Verhalten eines Individuums vorhersagen könnte.
Ich werde immer wieder einmal gefragt, ob man diesen oder jenen nicht als “Psychopathen”, “Borderliner”, “Schizophrenen” usw. bezeichnen könne, weil er sich so oder so verhalten habe. Der Hintergrund: Oft eine Scheidung mit Streit um das Sorgerecht, ein Todesfall mit Erbschaftsauseinandersetzungen, eine Entlassung u. ä. Man sieht hier deutlich, dass auch das Volk begriffen hat, was Psychodiagnosen auch sein können – nämlich strategische Etiketten, mit denen man Leute, mit denen man im Streit liegt, stigmatisieren, degradieren, unglaubwürdig, schlicht unmöglich machen kann.
Keine Form der Hilfe bei psychischen Problemen erfordert Psychodiagnosen im medizinischen Sinn. Es genügt, die Ist-Situation zu analysieren, Ziele zu definieren und dann Hypothesen zu entwickeln, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln man diese Ziele am besten erreicht. Man trägt nichts zur Problemlösung bei, wenn man den Betroffenen als depressiv, schizophren, narzisstisch persönlichkeitsgestört oder wie auch immer bezeichnet. Unsere Sprache ist reich an Möglichkeiten, Seelenzustände, soziale Situationen und Persönlichkeitsmerkmale zu beschreiben. Es gibt keinen vernünftigen Grund, mit pseudomedizinischen Begrifflichkeiten um sich zu werfen. Psychodiagnosen sind aber nicht nur darum verheerend, weil sie das Verhalten anderer unnötig negativ beeinflussen; sie haben auch destruktive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten (4).
Rolle des “Psychotherapeuten”
Meines Erachtens erklärt die Handlungsstrukturanalyse von Psychotherapien die Befunde der empirischen Therapieforschung zur Bedeutung von formaler Qualifikation und Berufserfahrung in der “Psychotherapie”. Erfahrene und langjährig ausgebildete “Therapeuten” sind nicht effektiver als unerfahrene Laien, weil die erforderlichen “psychotherapeutischen” Handlungsschritte zur Alltagskompetenz jedes Menschen gehören.
Natürlich mag der eine “Therapeut” effektiver sein als der andere; dies aber liegt nicht daran, dass der erfolgreichere mehr Kurse absolviert und Schulungen durchlaufen hat als der weniger effektive; dies liegt auch nicht daran, dass sich der effektivere durch allgemein wertgeschätzte Charaktermerkmale von weniger erfolgreichen unterscheidet. Der Grund dafür besteht schlicht und ergreifend in der Tatsache, dass Menschen unterschiedlich gut dafür geeignet sind, als Hilfs-Ich für Leute zu fungieren, die sich ändern möchten. Diese Eignung beruht keineswegs auf besonders positiven Charaktermerkmalen, im Gegenteil: Häufig eignen sich ausgesprochene Hallodris und Scharlatane für diese Aufgabe besonders gut, wenn sie ein Talent dafür besitzen, mit beruhigender Stimme von oben herab Durchhalteparolen zu intonieren.
Die oben skizzierten Grundstruktur der “Psychotherapie” entspricht der universellen Struktur interaktiver Handlungen. “Psychotherapie” kann jeder (allerdings nicht jeder gleich gut), der guten Willens ist und ernsthaft helfen will. “Psychotherapeuten” – die “Psychotherapie” als professionelle, gar wissenschaftlich fundierte Dienstleistung, wenn nicht Krankenbehandlung inszenieren müssen – sind durch diese wirklichkeitsfremden Einschränkungen gegenüber dem Laien natürlich gehandikapt.
Aus der empirischen Psychotherapieforschung wissen wir definitiv, dass der Therapieerfolg von den gewählten Methoden, von der formalen Qualifikation und der Berufserfahrung des Therapeuten unabhängig ist. Die Persönlichkeit des Therapeuten spielt durchaus eine Rolle, aber keineswegs die dominierende.
Diese für den Laien auf den ersten Blick verblüffende, verwirrende und unglaubwürdige Erkenntnis wird verständlicher, wenn man sich die oben erwähnte Allgegenwart “psychotherapeutischer Prozesse” im Alltag vor Augen führt. Es ist im übrigen auch keineswegs so, dass psychische Störungen durch mechanische Einwirkungen behoben würden, so, wie ein Mechaniker ein defektes Auto repariert. Seelische Heilung ist immer Selbstheilung.Wenn der Klient nicht fähig oder willens ist, die angestrebten Ziele zu verwirklichen, dann scheitert die beste “Therapie” – da hilft dann auch kein Spitzen-Scharlatan mehr.
Der “Therapeut” kann Anregungen und Rückmeldung geben, kann neue Ideen einbringen, Perspektiven eröffnen, motivieren – aber das eigene Denken, Fühlen, Handeln verändern kann nur der “Klient” selbst. Darum zeigt ja auch die empirische Therapieforschung, dass der wesentliche Teil der Varianz der ”Therapie”-Ergebnisse nicht durch die “therapeutischen” Ingredienzien – Methoden, “Therapeut”, die Tatsache, dass überhaupt “Therapie” stattfindet etc. – erklärt wird, sondern durch die Fähigkeit und Bereitschaft des Klienten, die “therapeutischen” Anregungen und sonstigen Umwelteinflüsse in Ressourcen zur Selbstveränderung zu verwandeln.
Eine Frage des Glaubens
“Psychotherapie” ist im Kern eine Frage des Glaubens. Den Glaubensakt moniere ich eigentlich nicht, nur eine besondere Art des “Glaubens”, die in “Psychotherapeuten”-Kreisen leider weit verbreitet ist: Hier wird der Glaube mitunter als eine höhere Form des Wissens (absolute Wahrheit plus unerschütterliche Gewissheit) betrachtet.
Ähnliches finden wir ja auch bei Theologen. Und dies ist kein Zufall. Der Glaube als Wissensersatz ist charakteristisch für autoritäre Systeme. Er ist infantil und beruht auf einem unbewussten Mechanismus, der sich in früher Kindheit herausbildete, als sich das hilflose Kind einen beschützenden Vater wünschte. Freud betrachtete diese frühkindliche Sehnsucht als Wurzel des Gottesglaubens; er vergaß aber hinzuzufügen, dass sie auch die Wurzel seines persönlichen Erfolges war.
Der Glaube im Sinne einer erhöhten subjektiven “a-priori-Wahrscheinlichkeit” von Hypothesen vor ihrer Prüfung ist demgegenüber ein wichtiger Motivator im “therapeutischen” Geschehen, ja, dies wäre ohne jenen nicht nur bar jeder Vernunft, sondern auch Leidenschaft.
Der Glaube als Motivator ist charakteristisch für innovative Systeme. Er ist erwachsen, reif und beruht auf der Erfahrung erfolgreicher Meisterung von Problemen mit vielen unbekannten Faktoren. Der Glaube muss in jedem Fall im Spiel sein, da man ja nie wissen kann, ob man von I-S ausgehend mit den gewählten Mitteln auf dem eingeschlagenen Weg tatsächlich nach S-S gelangen wird.
Damit die “Psychotherapie” vorankommt, müssen beide, “Therapeut” und Klient an den Erfolg der Mittel und die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges glauben. Sie müssen sogar, wider jede Vernunft und Erfahrung, felsenfest daran glauben, dass Weg und Mittel, für die sie sich entschieden haben, die besten aller möglichen Wege und Mittel seien.
Genau hier sitzt natürlich der Ansatzpunkt für das Eindringen einer irrationalen Form des Glaubens im Sinne einer höheren Form des Wissens, also im theologischen Sinn. Das ist die Schwachstelle. Sie ist die unerschöpfliche Quelle narzisstischer Versorgung, aus der sich alle Gurus und “psychotherapeutischen” Wundermänner nähren. Sie ist der fruchtbare Boden, auf dem die Wunderkuren wuchern.
Das Dilemma ist: In dieser Situation müssen “Therapeuten” und Klienten mit dem Feuer spielen. Wohl denen, die dies augenzwinkernd tun können. Sonst besteht die Gefahr, dass die Psychotherapie zu einer ko-narzisstischen Veranstaltung entartet, zu einem Nullsummenspiel, bei dem letztlich der Narzisst, also der “Psychotherapeut” gewinnt und der Ko-Narzisst, der Klient verliert.
Das Augenzwinkernde kann sich in unterschiedlichen Formen etablieren, das Entscheidende ist der Als-ob-Charakter: Man weiß, dass es eine Übertreibung ist, aber man lässt sich dennoch von ihr mitreißen. Das ist so wie in der Werbung. Uns ist durchaus klar, dass die Werbung lügt, aber wir lassen uns dennoch von den Werbesprüchen zum Kauf animieren. Ich beschreibe hier keine für die Psychotherapie im engeren Sinne spezifische Situation. Derartiges zeigt sich immer, wo Menschen einander motivieren, dieses zu tun oder jenes zu lassen. Hier kommt, im günstigsten Fall, eine gutartige Form von Betrug und Selbstbetrug ins Spiel.
Doch leider wird unter der ideologischen Vorherrschaft des medizinischen Modells psychischer Krankheiten nur zu oft eine bösartige Form realisiert.
Mythen der Psychotherapie
Moderne Menschen brauchen keinen “Psychotherapeuten”, der wie eine Mischung aus Arzt, Pfarrer und Schamane auftritt. Sie brauchen keine “Psychotherapie”, die wie eine alleinseligmachende Amtskirche organisiert und staatlich abgesichert ist. Die heutige kassenfinanzierte “Psychotherapie” entspricht – von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – weitgehend noch dem Menschenbild des 19. Jahrhunderts, das in unserer Gesellschaft immer noch nicht völlig überwunden ist und dass sich im psychiatrischen Bereich besonders hartnäckig hält.
Es ist ratsam, die Realität der Psychotherapie durch die Lupe der Mythentheorie zu betrachten. Die vorherrschenden Psychotherapie-Mythen haben folgende Struktur:
A. Typ “Kirche”.
Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:
- Es gibt eine alleinseligmachende Kirche.
- Es gibt eine reine Lehre.
- Die reine Lehre wird in hohen Schulen vermittelt.
- Es gibt eine formale Hierarchie der Priester.
- Um auf die höheren Ebenen der Hierarchie aufzusteigen, muss man die hohe Schule absolviert haben.
- Die Heilkraft des Priesters wächst mit der Höhe seiner Position in der Hierarchie.
(Beispiele: die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie)
B. Typ “Sekte”.
Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:
- Es gibt einen alleinseligmachenden Weg.
- Es gibt eine reine Lehre.
- Die reine Lehre wird von einem Wundermann vermittelt.
- Es gibt eine informelle Priester-Hierarchie der persönlichen Nähe zum Wundermann.
- Um auf die höheren Ebenen der Hierarchie aufzusteigen, muss man sich der Gunst des Wundermanns erfreuen.
- Die Heilkraft des Priesters hängt von der persönlichen Nähe zum Wundermann ab.
(Beispiele: Die Psychoanalyse zu Beginn der Karriere Freuds, diverse esoterische Psycho-Kulte, alle “Psychotherapie-Systeme, die stark auf eine Gründerfigur zugeschnitten sind)
In beiden Modellen gibt es eine strikte Trennung zwischen “Laien” und “Fachleuten”. Die “Fachleute” unterscheiden sich von den “Laien” dadurch, dass sie in eine Lehre eingeweiht wurden und in einer Hierarchie aufgestiegen sind. Sie verfügen über ein “okkultes” Expertenwissen, das angeblich nicht durch Bücher vermittelt werden kann, sondern auf höheren Einsichten aus numinosen Quellen (z. B. der eigenen Erfahrung und Praxis) beruht.
Die empirische Psychotherapieforschung stützt keine dieser beiden Psychotherapie-Mythen. Es gibt tausende von “Psychotherapie”-Studien. Auch wenn man skeptisch gegenüber der Wissenschaft ist, sollte man einräumen, dass sich niemand sonst außer der empirischen “Psychotherapie”-Forschung derart ausführlich und umfangreich mit diesem Gegenstand beschäftigt hat.
Es zeigte sich: Weder die Methoden, noch die Qualifikation des Therapeuten oder seine Berufserfahrung haben einen nennenswerten Einfluss auf das Ergebnis der “Psychotherapie”. Die Daten sprechen da eine ganz eindeutige Sprache. Beide psychotherapeutischen Mythen (“Kirche” und “Sekte”) beruhen auf Autorität. Bekanntlich nagt die empirische Forschung immer an den Fundamenten jeder Autorität. So auch hier. Die empirische Forschung zerstört den Mythos der Wissenschaftlichkeit aller gängigen “psychotherapeutischen” Verfahren. Alle kochen nur mit Wasser, so wie der Frisör, der Gastwirt, der Taxifahrer, denen Menschen ihr Seelenleid bekunden, auch.
Und nun sollte man einmal tief durchatmen und sich fragen, ob diese Befunde wirklich überraschend sind. Es ist sicher nicht überraschend, dass wir dazu neigen, ein menschliches Unternehmen, in dem es um Heil und Heilung geht, geistig nach uralten Mustern zu erfassen und einzuordnen, nämlich nach dem Muster “Kirche” oder “Sekte”, “Schamane” oder “Priester”. Diese Muster setzen eine Hierarchie voraus – und wir Menschen neigen dazu, unsere Verhältnis hierarchisch zu ordnen, sowohl gedanklich, als auch in der Wirklichkeit.
Wir schauen auf die oben in der Hierarchie und halten sie für besonders wichtig. “Die da unten”, das Fußvolk zählt nicht.
Sicher, ich höre den Einwand: “Kein Psychotherapeut betrachtet seine Patienten oder Klienten als Fußvolk, als minderwertig.”
Stimmt: Jeder “Psychotherapeut” wird betonen, wie groß seine Wertschätzung für Sie sei. Dennoch zögert er nicht, Ihnen Diagnosen anzuhängen, die, um es milde zu formulieren, nicht selten hochgradig beleidigend sind.
Wie auch immer: Viele Patienten bzw. Klienten lassen sich diese Diagnosen nur zu gern anhängen. Sie schauen zu ihren “Therapeuten” auf. So sind wir Menschen nun einmal gestrickt, vor allem, wenn es uns schlecht geht. Dann fehlt den meisten das Selbstbewusstsein, dass sie gerade in einer prekären Situation dringend benötigen würden.
Aber auch hier spricht die Psychotherapieforschung aber eine eindeutige Sprache: Der mit Abstand wichtigste Erfolgsfaktor der Psychotherapie ist die Selbstheilungskraft des Klienten oder Patienten. Die “Arbeit” machen, wie so oft, die Menschen “ganz unten”. Erfolge bei dieser “Arbeit” sollten eigentlich das Selbstbewusstsein der Klienten steigern. Doch in “Psychotherapie”-Systemen nach dem Muster “Kirche” oder “Sekte” ist dies nicht der Fall. In diesem wird der Erfolg auf die “Leistung” des “Therapeuten” bzw. des “Gurus” zurückgeführt. Das ist aber kontraproduktiv.
Die kirchen- bzw. sektenförmigen “Psychotherapien” haben dennoch nach wie vor eine nützliche Funktion – für Menschen, die in den überkommenen hierarchisch-autoritätsgläubigen Geisteshaltungen befangen sind, für Menschen, für die Erfolg weniger wichtig ist als Anpassung und Unterordnung. Diese Menschen, die das Leben über sich ergehen lassen, brauchen so etwas, natürlich. Nichts anderes.
Für alle anderen könnte sich ein neuer Mythos als hilfreich erweisen, der Mythos der Beratung.
C. Typ “Beratung”.
Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:
- Es geht nicht um “Heil” und “Heilung”, sondern um die Analyse eines Ist-Zustandes, die Bestimmung eines Soll-Zustandes und die Auswahl von Wegen und Mitteln, die zu diesem Soll-Zustand führen könnten.
- Die Weltsicht des Klienten ist entscheidend. Seine Maßstäbe, Werte, Vorlieben und Abneigungen zählen.
- Der Berater liefert Input (Wissen, Hypothesen, alternative Sichtweisen) und gibt Feedback (auf Basis der Werte des Klienten).
- Der Berater ist nicht “Arzt”, “Heiler” oder “Priester”, sondern der “Anwalt” seines Klienten.
- Die Beziehung zwischen Berater und Klienten beruht nicht auf Autorität oder “überlegenem Wissen”, sondern auf zuvor definierten Aufgabenverteilungen und Zielen.
(Beispiele: Common Factors Movement, buddhistische Beratung auf Basis der ursprünglichen Lehren Buddhas)
Buddhas Erben
Die Ergebnisse der modernen “Psychotherapie”-Forschung stützen eindeutig den Typus “Beratung”. Auch dieser Typ ist ein Mythos im Sinne einer konzentrierten Erfolgsgeschichte für moderne aufgeklärte Menschen, die selber denken können und wollen. Es ist eine Erfolgsgeschichte, an die man glauben kann, ohne mit Zahlen, Daten und Fakten in Widerspruch zu geraten. Es ist eine Erfolgsgeschichte, an die man glauben kann, ohne sich fragwürdigen Autoritäten unterordnen zu müssen. Ja, dieser Mythos ist Hoffnung, die enttäuscht werden kann. Aber er ist keine “leere Hoffnung” im Sinne des alten Spruchs: “Hoffen und Harren hält manche zum Narren.” Sie ist “docta spes” (Ernst Bloch), hat Hand und Fuß.
Vor 2500 Jahren sprach Buddha zu seinen Jüngern:
“Glaubt nicht an Rituale, Heilige Schriften und Autoritäten. Glaubt noch nicht einmal mir. Probiert alles selber aus. Was Leiden mindert, behaltet bei. Verwerft, was Leiden verstärkt.”
Patientenrechte
Es geht hier nicht nur um akademische Fragen, um Forschung und Wissenschaft. Es geht ans Eingemachte, um die Praxis, konkret: um die Beachtung der Patientenrechte. So ist ein “Psychotherapeut” z. B. verpflichtet, den Patienten bzw. Klienten über Behandlungsalternativen zu informieren.
Ein “Psychotherapeut”, der seine Aufklärungspflicht ernst nimmt, hätte seinen Klienten sinngemäß folgendes mitzuteilen:
“Auf Grundlage von ein paar tausend Therapiestudien und ein paar Jahrzehnten Forschungsarbeit kann als gesichertes Wissen gelten, dass der Erfolg der Psychotherapie nicht von der gewählten Methoden abhängt. Der Erfolg hängt auch nicht von der formalen Qualifikation des Therapeuten ab, von seinem Studium, von seiner Ausbildung, seiner Berufserfahrung. Auch die wissenschaftlichen Störungs- und Behandlungstheorien haben keinen Einfluss auf den Erfolg. Wir wissen heute, auf Basis von ein paar tausend Studien und ein paar Jahrzehnten intensiver Forschung, dass folgende Kriterien für Sie wichtig sind:
- Haben Sie Vertrauen zum Therapeuten (unabhängig von seinen Titeln, Orden und Ehrenzeichen)?
- Berücksichtigt der Therapeut Ihre Sicht der Dinge angemessen?
- Erscheint Ihnen sein Behandlungsvorschlag plausibel?
- Entsprechen die von ihm vorgeschlagenen Therapieziele Ihren Bedürfnissen?
- Gewährt er Ihnen genug Freiraum zur Entfaltung eigener, selbstbestimmter Initiative und Aktivität (sofern Sie dies wünschen)?
- Ist er Ihnen sympathisch genug, um gut mit ihm zusammenarbeiten zu können?”
Ein “Psychotherapeut”, der die Patientenrechte respektiert, hätte dem Patienten bzw. Klienten also zu sagen:
“Die beste Behandlungsalternative für Sie (und für jeden anderen Klienten), ist die Therapie (gleich welcher Art) bei einem Therapeuten, bei dem sie möglichst viele Fragen der obigen Art aus tiefstem Herzen mit “Ja!” beantworten können. Im übrigen gibt es Selbsthilfegruppen, die keine schlechteren Ergebnisse haben als professionelle Helfer. Manchmal genügt ein Selbsthilfebuch. Manche haben genug Kraft, ohne fremde Hilfe weiterzukommen. Auch bewusstseinsverändernde Substanzen (5) oder geistlicher Beistand können allein oder in Ergänzung zur Therapie hilfreich sein.”
Kontextuelles Modell
Die moderne “Psychotherapie”-Forschung stützt das kontextuelle Modell der Psychotherapie, das erstmals von Frank & Frank (1991) formuliert wurde. Dieses Modell erklärt die Wirksamkeit von “Psychotherapie” wie folgt:
- Es gibt eine emotionale, vertrauensvolle Beziehung zwischen einem Hilfesuchenden und einem Helfer.
- Die Beziehung findet in einem Handlungsfeld statt, dessen Mission die “Heilung” ist (“healing setting”).
- Der Hilfesuchende glaubt, dass der Helfer ihm in diesem Handlungsfeld helfen kann und will.
- Hilfesuchender und Helfer lassen sich von einer gemeinsamen Erklärung des Problems und der Wege zu seiner Überwindung leiten (wobei diese Erklärung keineswegs “wahr” sein muss).
- Hilfesuchender und Helfer vollziehen ein “Ritual” (praktizieren ein Verfahren, wenden Methoden an), um das Ziel des Hilfesuchenden zu erreichen.
- Helfer und Hilfesuchender sind davon überzeugt, dass sie das Problem des Hilfesuchenden gemeinsam meistern können.
Damit keine Missverständnisse entstehen, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass unter einem “healing setting” keineswegs zwangsläufig das Behandlungszimmer eines “Psychotherapeuten” zu verstehen ist. Es kann auch der Stammplatz an der Theke sein, beispielsweise.
Es ist allerdings ein Missverständnis zu glauben, man könne auf Methoden verzichten, nur weil sie allesamt – statistisch betrachtet – gleich wirksam sind. Irgend eine Methode muss man immer anwenden, das gehört zum “Spiel” dazu. Das kontextuelle Modell legt nahe, Methoden auszuwählen, die u. a. mit
- dem Weltbild,
- der Kultur und
- den Hypothesen des Klienten zu den Ursachen der Störung und den besten Wegen zu ihrer Überwindung
soweit wie möglich übereinstimmen.
Auch das Gespräch am Tresen oder im Friseur-Salon wird einer besonderen Methode folgen, wenn es erfolgreich ist. Dies gilt auch dann, wenn der “Therapeut” in diesen Fällen gar nicht weiß, dass er ein “Therapeut” ist, geschweige denn, dass er einer Methode folgt. Manche Leute haben so etwas einfach im Blut. Dennoch unterscheiden sich hilfreiche, heilende Gespräche im Alltag von normalen Unterhaltungen. So etwas ist leider noch unzulänglich erforscht, man könnte viel daraus lernen.
Da es auf die Art der Methoden gar nicht ankommt, sondern darauf, dass der Klient “auf sie schwört”, kann man natürlich auch mit alternativen oder esoterischen Methoden arbeiten, wenn der Klient diesen Methoden vertraut und deren Anwendung wünscht. Generell gilt, dass alles, was die genannten Faktoren der Wirksamkeit von “Psychotherapie” verstärkt, verwirklicht werden sollte.
Es sollte unmittelbar einleuchten, dass eine “Psychotherapie” mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitert, wenn der “Therapeut”
- dem Klienten eine Diagnose anheftet, mit der er sich nicht identifizieren kann,
- ihm ein Störungsmodell mitteilt, dass ihm nicht plausibel erscheint,
- ihn mit Methoden behandelt, die ihm widerstreben.
Der Klient wird dann kein Vertrauen zu seinem Therapeuten und keine Hoffnung auf Erfolg entwickeln und demgemäß kein gutes Arbeitsbündnis eingehen oder die “Therapie” abbrechen. Dies gilt für formale “Psychotherapien” genauso wie für Alltagsgespräche, die in problemlösender Absicht geführt werden.
Einer der Gründe dafür, dass Laien tendenziell die besseren “Psychotherapeuten” sind, liegt daran, dass sie es einfacher haben als psychoschulisch Verbildete, diese doch eigentlich recht einfachen Sachverhalte zu durchschauen. Professionelle “Psychotherapeuten” sind ja nur zu oft Opfer ihrer Ausbildung, weil sie die Lehren ihrer Psychoschulen nicht durchschauen.
Um was geht es in der “Psychotherapie”? Der Klient will sich verändern. Der Helfer kann ihm einen Rat geben, ihn auf Bewährtes hinweisen, ihn vor Gefahren warnen. Aber sich verändern, also die eigentliche Arbeit machen muss der Klient schon selber. Dazu kann er keine Theorie brauchen, die er nicht versteht oder die nicht mit seinem Denken und Fühlen übereinstimmt. Ihm nützen Methoden nichts, die seinen Lebenserfahrungen und seinen Erfahrungen mit sich selbst widersprechen.
Ihm nützen also keine Klugscheißer und Besserwisser als Helfer. Er braucht Leute, die ihn dabei unterstützen, seine inneren Hilfsquellen zu aktivieren und sinnvoll zu koordinieren. Wenn Tarot, I Ging und Astrologie dabei helfen… warum nicht? Wenn Psychoanalyse dabei hilft… warum nicht? Verhaltenstherapie… warum nicht. Es kommt darauf an, dass diese Mittel und Ideen als Instrumente eingesetzt werden, um das Vertrauen des Klienten auf die eigene Kraft zu verstärken. Wenn der “Therapeut” damit aber vor allem unter Beweis stellen will, was für ein “toller Hecht” er doch ist, dann kann die Veranstaltung nur in die Hose gehen.
Vor einiger Zeit fand ich in einem Internet-Gästebuch einer Suchttherapie-Einrichtung einen Eintrag eines ehemaligen, sehr, sehr dankbaren Patienten über den Leiter dieses Hauses, der mit dem Satz endete: “Zu Herrn Dr. X kann ich nur aufblicken!”
Ich traute meinen Augen kaum. Dieser Eintrag stand da, unkommentiert, und er stand da immer noch, als ich sechs Wochen später den Link zu diesem Gästebuch noch einmal anklickte. Der Patient, der diesen Eintrag verfasste, wusste vermutlich nicht, dass er damit ein vernichtendes Urteil über diese Einrichtung im Allgemeinen und über diesen Herrn Dr. X im Besonderen fällte.
Marketing-Leute wissen: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Was nützt dem Kunden ein Gerät mit tollen Funktionen, wenn er diese gar nicht braucht. Was nützt dem Klienten eine hochgeistige, wissenschaftlich durchgestylte “Psychotherapie”, wenn die mit seinen inneren Hilfsquellen, seinen Bedürfnissen und Zielen gar nichts zu tun hat? Was nützt einem Patienten eine “Therapie”, wenn er hinterher dankbar zum Personal aufschaut, anstatt sich selbst auf die Schulter zu klopfen, stolz zu sein, auf die eigene Leistung?
“Psychotherapie” ist bemerkenswert effektiv. Dies kann man trotz aller Kritik nicht sinnvoll bezweifeln. Es gibt zahllose Patientenbefragungen, die eindeutig die Ergebnisse der Studie des Apotheken-Blättchens bestätigen. Die große Mehrheit der Patienten zeigt sich zufrieden mit den Bemühungen ihrer “Psychotherapeuten”. Das ist besser als anderes herum, klar.
“Psychotherapie” könnte aber noch effektiver sein. Meines Erachtens ist der beste Weg zur Effektivitätssteigerung die bessere Beachtung und Erforschung der allgemeinen Faktoren des kontextuellen Modells.
Das Dilemma der Psycho-Experten
Nach dem bisher Gesagten könnte der Eindruck entstehen, dass ich “Psychotherapeuten” entweder für Naivlinge oder für Schlitzohren halte, wenn nicht gar für narzisstisch Gestörte, bei denen sich Geltungssucht mit Geschäftssinn paart. Doch so einfach ist das Leben nicht gestrickt. Selbstverständlich ist mir die Zwangslage bewusst, in der “Psychotherapeuten” unweigerlich gefangen sind – unabhängig davon, ob ihnen dies bewusst ist oder nicht. Es handelt sich hier um eine Zwangslage, mit der alle Psycho-Experten konfrontiert sind – ganz gleich, ob sie darunter leiden oder ob sich ganz glücklich damit sind.
Menschen, die psychologisches Wissen professionell anwenden, stecken in einem Dilemma: Sie müssen mit gefälschten Karten spielen, wenn sie ihre Kunden nicht betrügen wollen. Dieses Dilemma ist die Konsequenz eines Widerspruchs zwischen Selbst- und Fremdbild und der damit verbundenen Erwartungen.
- Ein Unternehmer erwartet, dass psychologisch fundierte Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität oder zur Förderung der Kundenbindung mit Gewissheit oder an diese grenzender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen.
- Ein “Psychotherapie”-Klient will Gewissheit, dass ihn die gewählte Methode auch von seinen quälenden Ängsten, Depressionen oder Zwängen erlöst.
- Ein Militärstratege will sich darauf verlassen können, dass die Psycho-Trainings zur Förderung des Kampfeswillens auch die Zahl der getöteten Aufständischen bzw. Terroristen erhöhen.
Die Psycho-Experten (Psychiater, Psychotherapeuten, Trainer, Berater aller Arten) fühlen sich jedoch ihrer Wissenschaft verpflichtet. Sie sind stolz darauf, auf wissenschaftlicher, auf empirischer Grundlage zu arbeiten. Je ernster sie ihre Wissenschaft nehmen, je besser sie diese verstehen, desto deutlicher sehen sie aber auch, dass ihnen ihre Wissenschaft keine Gewissheiten zu bieten vermag. Diese entströmt noch nicht einmal dem Füllhorn der viel reiferen strengen Naturwissenschaften wie der Physik oder der Chemie. Die Psychologie kann daher nicht garantieren, dass auf ihrer Grundlage entwickelte Maßnahmen zur Veränderung menschlichen Verhaltens und Erlebens tatsächlich greifen.
Die Crux besteht darin, dass diese Maßnahmen, welcher Art auch immer, nur dann halbwegs realistische Erfolgsaussichten besitzen, wenn gleichermaßen Psycho-Experten und Kunden daran glauben. Die Maßnahmen zur Steuerung menschlichen Verhaltens und Erlebens sind schließlich keine mechanischen Eingriffe ins Räderwerk lebloser Maschinen. Sie sind vielmehr ein System von Impulsen, von Anregungen, die von Psycho-Experten und Kunden aufgegriffen werden müssen.
- Der Wirtschaftspsychologe muss sich engagiert in Arbeitsprozesse einbringen, sich in Mitarbeiter und Vorgesetzte einfühlen, Visionen entwickeln und animieren; die Mitarbeiter und Vorgesetzten müssen, sich mitreißen lassen, sich neue Ideen anverwandeln, sich Strategien ausdenken und an sich arbeiten.
- Der Psychotherapeut muss Empathie für seinen Patienten entwickeln, dessen inneren Widerstände gegen Veränderung überwinden, dessen Hoffnung verstärken; der Patient muss seine Selbstheilungskräfte entdecken, sich Ziele setzen und diese beharrlich anstreben.
- Der Militärpsychologe muss sich in die Front-Situation hineinversetzen, muss die Bedürfnisse der Soldaten erspüren, ihre Hemmungen ergründen; die Soldaten müssen Phantasien im Sinne des Trainings entwickeln und das Gelernte auf die Realität im Einsatzgebiet übertragen.
Es ist offensichtlich, dass ohne einen starken Glauben an die gewählten Maßnahmen kein nennenswerter Effekt zu erwarten ist. Die Wissenschaft sagt unmissverständlich, dass die Validität psychologischer Erkenntnisse fast immer höchst fraglich ist. Je näher ein psychologisches Experiment dem Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis kommt, desto weniger lässt es sich auf das reale Leben übertragen. Je lebensnäher eine Studie jedoch ist, desto schwieriger ist es, aus ihr logisch zwingend allgemein gültige Erkenntnisse abzuleiten.
Die Folge dieses Dilemmas ist eine professionelle Dissoziation, eine Bewusstseinsspaltung. Ein Psycho-Experte, der sein Fach ernst nimmt, muss in der Praxis agieren, als besäße er die absolute Gewissheit, muss Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen – in der Theorie aber muss er sich dem unausweichlichen methodischen Zweifel unterwerfen, darf Hypothesen nicht mit Beweisen verwechseln.
Manche Menschen meistern diesen Spagat dank eines elastischen Naturells mühelos; andere müssen sich jeden Tag aufs Neue überwinden. Manche flüchten aus dem Dilemma, indem sie sich aus der Praxis oder aus der Wissenschaft zurückziehen. Wir finden dann auf der einen Seite Professoren, die sich in mathematischen Modellen verlieren und hinterher gequält und lustlos nach empirischen Anwendungen für ihre Formeln und Zahlenwerke suchen. Auf der anderen Seite treiben Gurus und Zaubermänner ihr Wesen auf Grundlage uralter, esoterischer Weisheit.
Grenzen psychologischen Wissens
Es ist wahr: Das psychologische Wissen ist fehlerhaft, unvollständig, oft vage und oft viel zu simpel, um der Vielfalt des realen Lebens gerecht zu werden. Und es ist wahr: Die Psycho-Experten, die Psychologen, Psychiater, der Heilpraktiker und sonstigen zur Seelenheilkunde Berufenen sind nur zu oft narzisstisch Gestörte, die am Helfersyndrom leiden und oft sich selbst nicht helfen können. Ja, es ist wahr: Nicht selten biedern sich die Psycho-Experten geschmeidig und wohlfeil den Mächtigen an und vertreten in erster Linie deren Interessen, dann die eigenen und zuletzt, aber auch nur im günstigsten Fall, die Interessen ihrer Klienten. Wäre es nicht besser, diese Typen zum Mond zu schießen und andere Wege zum Seelenheil zu suchen?
Ich vergleiche die Situation der Psycho-Experten gern mit den Seefahrern in den Zeiten der großen Entdeckungen. Die Navigationsinstrumente waren unzulänglich, die Seekarten Ausgeburten überhitzter Phantasien und unausgegorener Sehnsüchte. Die Seefahrer waren nicht selten von der Gier nach Gold und Macht zerfressen, waren Piraten, waren skrupellose Seewölfe. Und doch entdeckten sie neue Welten, und doch brachten sie Schätze heim, und doch erweiterten sie das Wissen und die Möglichkeiten der Menschheit.
Der aufmerksame Leser wird sich fragen, ob man meine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt psychologischer Erkenntnis nicht auch auf die Befunde der modernen “Psychotherapie”-Forschung beziehen müsste. Vielleicht trifft es ja gar nicht zu, dass Methoden kaum eine Rolle spielen und dass der “Psychotherapeut” viel weniger zum Erfolg einer “Psychotherapie” beiträgt als der Klient oder Patient.
Natürlich muss man auch der “Psychotherapie”-Forschung mit Skepsis begegnen, denn ihre Methoden sind durchaus fragwürdig. Vielleicht liegt sie ja furchtbar schief. Vielleicht! Allein, das macht die Situation nicht besser. Die Ratlosigkeit wird größer, nicht kleiner durch diese allumfassende kritische Einstellung. Sie ist also kein Weg aus der geschilderten Zwangslage.
Seelenpolitik
Die “Psychotherapie” ist heute fest im Griff des medizinischen Systems, auch wenn sie von psychologischen “Psychotherapeuten” ausgeübt wird. Sie ist eine der beiden Hauptsäulen der Psychiatrie, neben der Behandlung mit Psychopharmaka. Dies bedeutet, dass ein kontextuelles Modell der “Psychotherapie” zur Zeit und vermutlich auch auf lange Sicht keine Chance hat. Die “Kirchen” und die “Sekten” werden weiterhin das Feld beherrschen, weil die Kräfte des Marktes und der Politik keine Alternativen (oder allenfalls als Randerscheinungen) dulden.
Unsere Gesellschaft betrachtet
- Abweichungen von den Normen der Gesellschaft bzw. den Erwartungen der Mitmenschen
- sofern sie, obwohl nicht kriminell,
- rätselhaft sind
- und mehr oder weniger bedrohlich wirken
als ein korrekturbedürftiges medizinisches Problem.
Wie wir gesehen haben, hat das tatsächliche Geschehen in der “Psychotherapie” nichts, aber auch gar nichts mit den sonst in der Medizin üblichen Abläufen zu tun. Auch die Rolle und Funktion der “Therapeuten” lässt sich nicht mit anderen Arbeitsfeldern der Medizin vergleichen. Aber unsere Gesellschaft hat sich entschieden, dass medizinische Institutionen für die Kontrolle von Normabweichungen, die nicht kriminalisiert werden können, zuständig sein sollen.
Seit Jahrzehnten wird der Bereich von Verhaltensmustern, die als medizinisch behandlungsbedürftig betrachtet werden, ständig ausgeweitet. Medizinkritiker behaupten, dies entspräche den Geschäftsinteressen der Pharma-Industrie, die bekanntlich mit Psychopharmaka sehr gute Geschäfte macht.
Für diese These spricht die Tatsache, dass die eine Hauptsäule der Psychiatrie, nämlich die Psychopharmaka-Behandlung, gegenüber der zweiten, der psychotherapeutischen Hauptsäule eine immer größere Bedeutung gewinnt. Schwerere Normabweichungen wie beispielsweise die so genannten Schizophrenien oder die diversen Formen der “Depression” bzw. der “manisch-depressiven Störungen” werden kaum noch oder höchstens begleitend psychotherapeutisch behandelt.
Doch aus meiner Sicht greift diese vordergründige, nur ökonomische Betrachtung zu kurz. Nach meinem Verständnis werden in unserer Gesellschaft immer mehr Verhaltensmuster pathologisiert, weil die moderne Industriezivilisation immer rigidere Verhaltenserwartungen an ihre Bürger stellt, denen immer weniger Mitmenschen gewachsen sind.
Dass die Pharmaindustrie über diese Entwicklung ebenso wenig unglücklich ist wie die Psychiatrie, will ich gern einräumen. Selbstverständlich versuchen diese Kräfte auch, die Entwicklung voranzutreiben. Aber die eigentlichen Ursachen der erwähnten Entwicklung sind nicht im Bereich der ökonomischen Interessen dieser Wirtschaftszweige zu suchen.
Der Hauptgrund ist darin zu sehen, dass der Anpassungsdruck auf die Individuen in immer stärkerem Maße identitätszerstörende Ausmaße annimmt und dass zugleich die identitätswahrenden Faktoren immer stärker abgebaut werden.
Einige Beispiele:
Einerseits wandeln sich die beruflichen Anforderungen durch technische und organisationsstrukturelle Neuerungen beständig, gleichzeitig wird die Identifizierung mit den Unternehmen immer schwieriger, weil sie nicht mehr patriarchalisch geführt werden, sondern anonymen Aktionären gehören, die ihre Top-Manager schneller auswechseln als Fußballvereine ihre Trainer.
Die Bedeutung des Nationalstaats nimmt beständig ab und die Macht überstaatlicher anonymer Bürokratien fortwährend zu. Dadurch wird die nationale Identität, einst ein Kernbereich der individuellen Identität, geschwächt.
Der Zwang zu häufigen Wohnortswechsel untergräbt die Bindung an die Heimat, die der identitätsprägende Faktor schlechthin ist.
Kurz: Der Anpassungsstress nimmt kontinuierlich zu und der entscheidende Schutzfaktor gegenüber diesem Stress, die eigene Identität wird immer brüchiger.
Dieser Prozess ist eindeutig gesellschaftlicher Natur und er betrifft in mehr oder weniger ausgeprägtem Maß alle Individuen. Der eine ist aufgrund seines Naturells resistenter gegenüber solchen Faktoren als der andere; aber niemanden lässt diese Entwicklung auf Dauer kalt. Und so steigt die Zahl der Menschen, die aufgrund mehr oder weniger skurriler Verhaltensmuster und Erlebnisweisen den Anforderungen ihres Lebens nicht mehr in dem Ausmaß gewachsen sind, das von ihnen erwartet wird.
Angesichts der heute vorherrschenden neo-liberalen Sicht, dass jeder seines Glückes Schmied sei (6), liegt es natürlich nahe, die Resultate des beschriebenen Prozesses zu pathologisieren und somit die Ursachen ins Individuum zu verlagern.
Stärker noch als die Psychopharmaka-Behandlung ist die so genannte professionelle “Psychotherapie” ein Garant des Gelingens dieser ideologischen Manipulation. Denn der Psychopharmaka-Patient kann sich sagen, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimme, was durch Medikamente korrigiert werden könne, wohingegen der durch eine Psychodiagnose stigmatisierte Psychotherapie-Patient gehalten ist, nach Ursachen in seiner Persönlichkeit zu suchen, die zu verändern er sich motiviert zeigen müsse – obwohl ihm gleichzeitig suggeriert wird, er leide unter Mechanismen, die sich seiner Kontrolle entzögen und die er nur mit der Hilfe von Experten überwinden könne. Double Bind vom Feinsten. Verwirrung pur. Jeder Manipulation sind Tür und Tor geöffnet.
Mehr nationale Solidarität, mehr Heimatverbundenheit, mehr Familiensinn, mehr Gespräche in der Stammkneipe und mit dem Friseur würden weniger Notwendigkeit zur “Psychotherapie” bedeuten. Das steht fest. Jeder sollte sich das klarmachen, ganz gleich, wo er politisch steht. Es liegt auf der Hand.
Zehn Thesen zur “Psychotherapie”
Die folgenden zehn Thesen beziehen sich nicht auf die “Psychotherapie” im Sinne des Beratungsmodells. Dieses Modell sprengt die Grenzen des herkömmlichen medizinischen Modells, fügt sich in den Rahmen des kontextuellen Modells und berücksichtigt die soziale Einbindung des Klienten. Sie degradiert ihn nicht zum “psychisch Kranken”, zum Reaktionsautomaten, der nur mit Hilfe von Experten zur “Normalität” zurückfinden könne.
Die folgenden zehn Thesen beziehen sich auf die “Psychotherapie” im Rahmen des medizinischen Modells psychischer Krankheiten.
- “Psychotherapien” stigmatisieren.Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, räumt dadurch zwangsläufig ein, “psychisch krank” zu sein. Damit die Krankenkasse diese Dienstleistung bezahlt, muss eine psychiatrische Diagnose erstellt werden. Auch wenn diese geheim bleibt, wird der Betroffene fortan alle negativen Einstellungen seiner Mitmenschen bezüglich “psychisch Kranker” im Allgemeinen und gegenüber Menschen mit seiner Diagnose im Besonderen auf sich beziehen. Es ist unmöglich, dies nicht zu tun.
- “Psychotherapien” deformieren das Selbstbild. Unter dem Druck der Stigmatisierung verändert sich das Selbstbild des Betroffenen schleichend im Sinne der gängigen Vorurteile. Sofern sich, was leider die Regel und letztlich auch nicht zu vermeiden ist, die “Psychotherapie” auf die (vermeintlichen) Schwächen des Patienten bezieht, wird diese Deformation des Selbstbildes sogar noch beschleunigt und verstärkt. Der Betroffene neigt zunehmend dazu, seine Gedanken, Stimmungen, Gefühle und Handlungen als Ausdruck seiner “Krankheit” zu betrachten.
- “Psychotherapien” schwächen natürliche soziale Bindungen. Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, hat oft niemandem, dem er wirklich vertraut, mit dem er sich aussprechen kann, der gewillt ist, ihm auch bei unerfreulichen und emotional belastenden Themen zuzuhören. In der “Psychotherapie” findet er nun einen Menschen, der ihm aus beruflichen Gründen seine volle Aufmerksamkeit widmet. Zwar muss sich der Patient an gewisse Spielregeln halten und sich diversen Anstrengungen unterwerfen. Aber es ist viel schwieriger, viel anspruchsvoller, viel zeitraubender und mitunter auch demütigender zu versuchen, wahre Freunde zu gewinnen. Der Besuch eines “Psychotherapeuten” gleicht in mancherlei Hinsicht dem Gang ins Bordell. Eingedenk der menschlichen Natur besteht die Gefahr, dass die bequeme Lösung die anspruchsvollere zunehmend verdrängt. Und diese Gefahr ist bei der “Psychotherapie” sogar noch größer als beim käuflichen Sex, weil letzteren die Kasse nicht bezahlt.
- “Psychotherapien” machen süchtig. Die meisten “Psychotherapiepatienten” erfahren nirgendwo sonst so viel Aufmerksamkeit für ihre persönlichen Belange. Sie sind, oftmals auch in Partnerschaften oder Ehen, einsam und fühlen sich unverstanden oder gar missachtet. Sie erleben daher die Stunden mit dem Psychotherapeuten als sehr befriedigend und lustvoll, auch wenn es nicht zum Äußersten kommt. Da die Zuwendung aber eine professionelle, keine authentische ist, hinterlässt sie ein schales Gefühl, das allerdings in der Regel nicht bewusst gemacht und reflektiert wird. Die erlebte Befriedigung ist also nicht tief und echt, sondern sie verblasst schnell wieder und hinterlässt keine dauerhaften Spuren in der Seele. Konstellationen dieser Art erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Suchtentwicklung, verbunden mit dem Zwang zur Dosissteigerung und mit Entzugserscheinungen. Obwohl sonst keine menschliche Lebensregung psychiatrischer Erfindungsgabe entgeht, findet sich in den diagnostischen Manualen bezeichnenderweise nirgends die “Psychotherapiesucht”.
- “Psychotherapien” führen zu kognitiven Defiziten. Bevor sie süchtig geworden sind, gehen Menschen überwiegend wegen ihrer Lebensprobleme in eine Psychotherapie. Lebensprobleme sind Ausdruck komplexer Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten. Diese Wechselwirkungen spiegeln sich in der Psyche wieder, mehr oder weniger verzerrt. Art und Ausmaß der Verzerrungen hängen sicher auch von psychischen Faktoren ab (von den Erbanlagen und der bisherigen Lerngeschichte); dies ändert aber nichts an Tatsache, dass der Ursachenkern des jeweiligen Lebensproblems außerhalb der Psyche zu suchen ist. Die gesellschaftlichen Prozesse sind ungleich stärker als die Kräfte der Seele. Von diesem Strom werden wir alle mitgerissen – und wenn es uns auch gelingt, den Kopf über Wasser zu halten, dann sollten wir uns deswegen nicht einbilden, das wir Meister des Stromes werden könnten. Indem nun aber die “Psychotherapie” sich auf die Psyche konzentriert und die außer-psychischen Faktoren missachtet, richtet sie den Patienten dazu ab, sich vom Wesentlichen ab- und dem weniger Wichtigen zuzuwenden. Salopp formuliert: “Psychotherapien” verblöden.
- “Psychotherapien” vermindern die intrinsische Motivation. Wer intrinsisch motiviert ist, handelt aus eigenem Antrieb, verfolgt selbst gesetzte Ziele. Die intrinsische Motivation steigt, wenn Handeln aus eigenem Antrieb beim Verfolgen selbst gesetzter Ziele Erfolg hat. Wer aber nach einer Therapie Erfolg hat in Bereichen, in denen er zuvor nicht so erfolgreich war, der wird dies, sofern er an diesen Schwindel glaubt, der “psychotherapeutischen” Methode und der Kompetenz des Therapeuten zuschreiben. Dadurch wird die eigene Leistung, der eigene Anteil am Erfolg geschmälert und entsprechend weniger wird die intrinsische Motivation gefördert. Da aber empirisch erwiesen ist, dass die Kompetenz des Therapeuten und die psychotherapeutische Methode nur einen verschwindend geringen Einfluss auf den Erfolg der “Behandlung” haben, sondern dass vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft des Patienten, sich zu ändern, den Ausschlag gibt, schädigt eine Psychotherapie ihre Patienten motivational schwerwiegend. Denn wer in Lebensproblemen steckt, braucht intrinsische Motivation. Extrinsische Motivation, in Form von Druck durch Partner, Verwandtschaft, Arbeitgeber etc. hatte der Betroffene bereits genug und geholfen hat es nichts, im Gegenteil, sonst würde er sich ja nicht “psychotherapieren” lassen.
- “Psychotherapien” machen realitätsblind. Um Patienten zur Mitarbeit zu motivieren und vom Sinn der Veranstaltung zu überzeugen, neigen Psychotherapeuten dazu, vermeintliche Verbesserungen der Seelenlage und geringfügige Anpassungen ans erstrebte Verhaltensmuster zu großen Erfolgen oder gar Durchbrüchen emporzustilisieren. In einsichtsorientierten Therapien wird geradezu ein Kult der Aha-Erlebnisse zelebriert. Selbstverständlich haben solche Phänomene unter der “psychotherapeutischen” Käseglocke im frischen Wind des alltäglichen Lebens keine besonders große Bedeutung. Da sie aber mit einer hohen emotionalen Relevanz aufgeladen wurden, können sie den Blick für die schnöden Tatsachen des realen Daseins empfindlich trüben. Ein Beispiel für die Folgen sind behandelte Drogenabhängige, die in Bewerbungsgesprächen mächtig auftrumpfen, weil sie dies während der stationären Rehabilitation im Selbstbehauptungskurs “erfolgreich” so gelernt haben. Wenn sie damit auf den Bauch fallen, haben sie dies ihrer Psychotherapie zu verdanken.
- Psychotherapien machen unausstehlich. Wenn Menschen miteinander umgehen, dann ist es nicht verwerflich, wenn jedes Individuum auch die eigenen Interessen im Auge hat. Übertriebene Egozentrik jedoch stört die mitmenschliche Kommunikation und Kooperation erheblich. Wer mit Herzblut an einer gemeinsamen Sache hängt, ist immer wohlgelitten, selbst wenn er die eine oder andere störende Eigenart hat. Psychotherapien (und dies gilt auch für Gruppentherapien) sind vollständig auf das Individuum zentriert, denn definitionsgemäß geht es ja darum, eine “Erkrankung” zu heilen. Die Patienten werden in der “Psychotherapie” deswegen dazu verleitet, wenn nicht animiert, das Geschehen in einer Partnerschaft oder einer Gruppe von Menschen stets im Zusammenhang mit dem eigenen Befinden und Verhalten zu erleben und zu bedenken. Dadurch wird verhindert, dass die Patienten sich von der gemeinsamen Sache mitreißen lassen. Sie können ihre angebliche psychische Störung nicht vergessen; sie können nicht loslassen. Schließlich wurde die “Krankheit” in der “Psychotherapie” ja auch so furchtbar wichtig genommen.
- “Psychotherapien” verbarrikadieren die Zukunft. Fast alle Psychotherapien unterstellen, sich dem Hier & Jetzt zu widmen. Sogar die Psychoanalyse, die in dem Ruf steht, hemmungslos in der Vergangenheit zu wühlen, nimmt für sich in Anspruch, dass sie sich auf das Hier & Jetzt der Übertragungs- bzw. Gegenübertragungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut konzentriere. Allein das kann ja wohl stimmen, wenn es sich dabei um eine Krankenbehandlung handeln soll; denn Krankheiten sind Störungen, die irgendwann einmal in der Vergangenheit entstanden sind. Das unvermittelt erfahrene Hier & Jetzt ist das ganz und gar Unbestimmte, wie Hegel in seiner “Phänomenologie des Geistes” zeigte, es hat keinen konkreten Inhalt. Wird also eine Krankheit behandelt, so ragt stets die Vergangenheit bestimmend ins Hier & Jetzt hinein. Das therapeutische Hier & Jetzt erhält so seinen zentralen Inhalt durch das Vergangene. Dies ist bereits mit dem Begriff der “Psychotherapie” als Behandlung einer kranken Psyche gesetzt. Zwar kommt auch die Zukunft ins Spiel, aber nur als ein Zustand, in dem die Krankheit geheilt ist; und somit ist durch die Besonderheit der “Krankheit” auch vorgegeben, welche Aspekte der Zukunft interessieren. Man kann es drehen und wenden wie man will: Solange Psychotherapie eine Krankenbehandlung sein soll, ist sie an die mutmaßlichen Defizite und Defekte des Patienten gekettet und damit an seine Vergangenheit. Wollte sie sich den offenen Horizont der Zukunft erschließen, so müsste sie sich den Potenzialen des Klienten widmen, doch dann wäre sie im strengen Sinne keine Krankenbehandlung mehr, denn zukünftige Entfaltungsmöglichkeiten sind nun einmal nichts Krankes.
- Psychotherapien verstärken das Leiden. Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, leidet unter Lebensproblemen. Diese Lebensprobleme wurzeln in aller Regel in sozialen und ökonomischen Schieflagen, die der Betroffene, wenn überhaupt, nur in geringem Maß beeinflussen kann. In der “Psychotherapie” erfährt er nun, dass sein Leiden, wenngleich unter Umständen ausgelöst durch solche Lebensprobleme, Ausdruck einer “psychischen Krankheit” sei. Es gelte, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sich zu ändern, um dann wieder hoffnungsfroh in die Zukunft blicken zu können. Da man objektive Sachverhalte der Außenwelt nicht durch “Arbeit an sich selbst” verändern kann, bestehen die Erfolge der “Psychotherapie” allenfalls in einer positiven Reinterpretation der fortbestehenden miserablen Verhältnisse. Manche Therapeuten bekennen sich sogar offensiv dazu, ihren Patienten Scheuklappen aufzusetzen. Allein, dass solche Überzuckerungen des schnöden Daseins voraussichtlich den unausweichlichen Stürmen und Wolkenbrüchen nicht standhalten, bedarf keiner Begründung. Die Konsequenz besteht darin, dass die Patienten früher oder später aufgrund von Enttäuschungen zusätzlich leiden und sich womöglich sogar die Verantwortung für das Misslingen selbst zuschreiben, weil sie nicht genug an sich gearbeitet hätten.
Es trifft zwar zu, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann, ob er glücklich oder unglücklich sein will. Dies bedeutet aber nicht, dass miserable Lebensbedingungen verschwinden, wenn man sich dazu entscheidet, trotz alledem glücklich zu sein. Das Lebensproblem, das einen Menschen in eine “Psychotherapie” geführt hat, besteht jedoch in aller Regel nicht nur aus inneren Befindlichkeiten, sondern aus handfesten äußeren Schwierigkeiten. Diese weitgehend zu ignorieren, ist ein Charakteristikum von “Psychotherapie” nach dem medizinischen Modell. Man müsste schon ein Philosoph vom Range eines Epiktet sein, wenn man bei schweren Nackenschlägen dennoch auf Dauer glücklich bliebe. Viele ehemalige Psychiatriepatienten würden sich vermutlich dann doch wieder dafür entscheiden, erneut die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen, weil ihnen dies als die beste aller verfügbaren Möglichkeiten erschiene.
Es handelt sich bei den vorangestellten zehn Punkten um Thesen, nicht um erwiesene Tatsachen. Sie ergeben sich aus den vorangestellten Ergebnissen empirischer Forschung und aus den daran anknüpfenden Überlegungen. Sie beanspruchen keineswegs, der Diskussion und Kritik enthoben zu sein; im Gegenteil: Einwände sind erwünscht.
Fazit: Der Mythos von der guten und der bösen Psychiatrie
Geheimdienste, militärische Spezialeinheiten und auch manche besonders hartgesottene Polizeitruppen praktizieren in Verhören mitunter die Methode des “guten” und des “bösen” Verhörers. Der “böse Verhörer” ist brutal, er schlägt und foltert die Betroffenen und lässt nichts unversucht, sie in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Der “gute Verhörer” hingegen ist verständnisvoll, sorgt sich um den Verhörten und weckt Hoffnung – die dann natürlich vom “bösen Verhörer” zunichte gemacht wird. Beide Verhörer sind Teil desselben Systems, doch die Methode wirkt dennoch. Je extremer der Stress ist, den der “böse Verhörer” hervorruft, desto intensiver ist das Bedürfnis des Verhörten, daran zu glauben, dass der “gute Verhörer” tatsächlich gut sei und helfen wolle.
Manche Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung unterscheiden zwischen der “guten” und der “bösen” Psychiatrie. Die “böse” Psychiatrie wird mit Psychopharmaka, Elektroschocks, Fixierung etc., also mit Brutalität, Zwang und Gewalt identifiziert, während die “gute” Psychiatrie für “Psychotherapie” und soziale Hilfen steht. Die “böse” psychiatrische Ideologie ist aus dieser Sicht die Vorstellung, die “psychischen Krankheiten” seien Ausdruck eines chemischen Ungleichgewichts im Gehirn und dieses sei weitgehend angeboren. Entsprechend besteht die Glaubenslehre der “guten” Psychiatrie darin, dass psychische Traumata (sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, emotionale Vernachlässigung) die “psychische Krankheit” ausgelöst hätten.
Die Psychiatrie, die mit Psychopharmaka arbeitet, und die “Psychotherapie” (im Rahmen des medizinischen Modells) sind natürlich Bestandteile desselben Systems. Aber viele Betroffene vermögen dies nicht zu erkennen. Je extremer der Stress ist, den die “biologistische” Psychiatrie hervorruft, desto intensiver ist das Bedürfnis der Behandelten, daran zu glauben, dass die “Psychotherapie” tatsächlich gut sei und helfen wolle.
Insofern aber die “Psychotherapie” integraler Bestandteil des psychiatrischen Systems ist, gehorcht sie auch der Logik dieses Systems und erfüllt dessen Aufgabe. Diese besteht darin, bestimmte Formen sozialer Devianz zu kontrollieren, die nicht kriminell sind oder wegen “Schuldunfähigkeit” als nicht kriminell gelten und deren Sinn die Mehrheit der Bevölkerung nicht versteht. Daher gibt es nicht die “gute” und die “böse” Psychiatrie. Die Psychiatrie ist schlicht und ergreifend die Institution in unserer Gesellschaft, der die Aufgabe obliegt, die oben beschriebenen Formen sozialer Devianz zu kontrollieren.
Man kann die Tätigkeit der Psychiatrie durchaus als Gehirnwäsche bezeichnen und im Falle des Zwangs auch als Folter – jedoch muss man sich vor Augen halten, dass diese Etikettierungen juristisch keinen Bestand haben – denn die Tätigkeit der Psychiatrie ist legal, beruht auf gesetzlicher Grundlage. Würde man diese gesetzliche Grundlage zum Gegenstand einer Volksbefragung machen, so stünde zu befürchten, dass sie von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung legitimiert würde.
Dies bedeutet freilich nicht, dass die gesetzliche Grundlage auch mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten vereinbar sei. Daran wurden begründete Zweifel vorgetragen, die aber – jedenfalls im Augenblick – von der überwiegenden Mehrzahl kompetenter Juristen nicht geteilt werden. Aus meiner Sicht beruht die Mehrheitsmeinung unter Juristen ebenso wie die bereits erwähnte Haltung der Bevölkerungsmehrheit auf der Ideologie der “psychischen Krankheit”, deren angebliche wissenschaftliche Basis von der “Psychiatrie” erarbeitet wurde.
Die diagnostischen Kriterien, die in den maßgeblichen psychiatrischen Klassifikationssystemen den “psychischen Krankheiten” zugeordnet werden, beziehen sich eindeutig auf Verhaltensweisen bzw. auf Abweichungen dieser Verhaltensweisen von sozialen Normen und Rollenerwartungen. Die moderne Psychiatrie versteht sich als Neuro-Psychiatrie und behauptet, dass diese Abweichungen auf Störungen des Nervensystems beruhten. Die Kriterien der Diagnose-Manuale beziehen sich aber nicht auf diese mutmaßlichen “chemischen Ungleichgewichte” im Gehirn, sondern es handelt sich bei den entsprechenden Diagnosen eindeutig und unzweifelhaft um moralische Urteile über menschliches Verhalten. Bestimmte Verhaltensmuster werden als “krank” etikettiert, aber die angeblichen “Krankheitssymptome” spielen bei den entsprechenden Diagnosen keine Rolle.
Man sollte die einleitende Passage dieses Textes, in dem ich eine Verhörmethode von Geheimdiensten und Geheimpolizeien schilderte, nicht als effekthascherischen Sarkasmus missdeuten. Derartige Praktiken müssen politisch und moralisch kritisiert werden, auch wenn sie in einem anderen Kontext praktiziert werden. Eine unpolitische, nur moralische Kritik unterscheidet nur zu gern zwischen Folter, die den höheren Werten von Demokratie und Rechtsstaat dient und Folter, die den niedrigen Zwecken von Diktatoren und Gewaltherrschern entspricht. Aus politischer Sicht aber hat Folter immer die Funktion, einer bestimmten Moral mit Gewalt Geltung zu verschaffen, sie gegen eine andere Moral durchzusetzen. Sie kann daher nicht moralisch legitimiert werden, da sie ein Instrument ist, das sich über die Moral stellt. Sie kann sie ebenso wenig wissenschaftlich als notwendige medizinische Maßnahme rechtfertigen.
Anhang
Von Kritikern wird dem “Psychotherapie-Geschäft” gern vorgeworfen, dass es keine Placebo-Studien zur Absicherung der Wirksamkeit seiner Dienstleistungen verwirklicht. Schließlich würde dies ja auch von Pharma-Unternehmen verlangt, die neue Medikamente auf den Markt bringen wollen. Wie “Psychotherapeuten” nun einmal so sind, reagieren sie auf diesen Vorwurf meist sehr emotional und schlussendlich läuft ihr Lamento darauf hinaus, dass es unethisch sei, schwer leidende Patienten einer nur vorgetäuschten Behandlung auszusetzen. Dass ist natürlich Käse, denn durch den Placebo-Versuch will man ja gerade herausfinden, ob eine bisher nur mutmaßlich wirksame Maßnahme tatsächlich effektiv ist, um Kranke vor einer unzulänglichen Behandlung zu bewahren.
Dennoch haben “Psychotherapeuten”, die Placebostudien in diesem Bereich ablehnen, natürlich recht, wenngleich aus anderen Gründen. Bei Medikamenten soll durch Placebo-Studien der chemische vom psychologischen Effekt abgegrenzt werden. In der “Psychotherapie” könnten Placebos jedoch allenfalls dazu dienen, psychologische von psychologischen Effekten abzugrenzen, nämlich solche, die für die Behandlung spezifisch sind, von solchen, die sich aus anderen Quellen speisen. Dies lässt sich zufriedenstellend kaum lösen. Man denke überdies daran, dass natürlich der Goldstandard einer medikamentösen Placebostudie, die Doppelverblindung, hier nicht realisierbar ist. Der “Psychotherapeut” weiß immer, ob er eine Therapie verabreicht, von deren Wirkung er überzeugt ist, oder eine Fake-Behandlung, der er nur einen Placebo-Effekt zuschreibt.
Ich will die methodischen Probleme, die sich mit dem Placebotherapie-Ansatz verbinden, hier nicht weiter vertiefen, weil meines Erachtens die Lösung des Problems, die Effizienz von “Psychotherapien” zu bestimmen, auf einem ganz anderen Feld zu suchen ist.
Dass es Menschen nach einer “Psychotherapie” besser geht als davor, ist erstens empirisch erwiesen und erstaunt zweitens auch niemanden, der noch halbwegs bei Trost ist. Ein seelisch leidender Mensch begibt sich in eine soziale Situation, in der sein Leiden im Mittelpunkt als hilfreich verstandener Bemühungen steht – wie sollte dadurch auch nicht die Chance steigen, dass er sich danach erleichtert fühlt? Das ist banal und verdient es kaum, weiterhin wissenschaftlich erforscht zu werden; allenfalls zu Marketingzwecken könnte man derartige Studien ins Auge fassen.
Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Ist das Spezifische an dieser hilfreichen Bemühung tatsächlich hilfreich? Um dies herauszufinden, braucht man keine Fake-Behandlung. Und das ist auch gut so. Denn es ist in der Tat nicht möglich, eine Pseudo-”Psychotherapie” zu kreieren, die nur auf unspezifischen Faktoren beruht, zumal es ohnehin vorab nur theoretisch festgelegt werden könnte, was denn tatsächlich unspezifisch sei. “Unspezifisch” bedeutet, dass diese Faktoren für alle gängigen Therapieformen charakteristisch sind.
Bevor man Placebostudien realisiert hat, kann man das empirisch nicht wissen, denn erst durch diese könnte ja der Einfluss spezifischer Faktoren von der Wirkung unspezifischer Einflüsse abgegrenzt werden. Die Konstruktion experimenteller Fake-Therapien setzt dieses empirische Wissen aber schon voraus. Da beißt sich die Katze in den Schwanz und die Maus keinen Faden ab. Es sollen in der Forschung ja nur spezifische und unspezifische Merkmale eine Rolle spielen, die tatsächlich eine Wirkung haben und die unspezifischen Faktoren sollen diese Wirkung durchgängig in allen relevanten “Psychotherapie-Verfahren” entfalten.
Doch es geht auch einfacher, viel einfacher. Man muss sich nur klarmachen, was “Psychotherapie” eigentlich bedeutet. Es treffen zwei Menschen zusammen (oder mehrere, in Gruppentherapien, doch betrachten wir den einfachsten Fall, das Grundsätzliche wird auch in diesem deutlich) – also: Zwei Menschen treffen zusammen, A und B; B will sich verändern, bittet A um Rat und Unterstützung. Dies ist ein alltäglicher Vorgang. Die Provider würden viel weniger Flatrates absetzen, wenn so etwas, beispielsweise unter guten Freundinnen, nicht Usus wäre. Dass derartige Interaktionen erfolgreich sind, steht außer Frage. Es geht nicht allen, aber vielen Menschen nach einem derartigen Austausch besser als zuvor. Das ist banal. Ich weigere mich, darin ein Phänomen zu sehen, dass eigens wissenschaftlich untersucht werden müsste.
Die entscheidende Frage lautet nun, ob solche Interaktionen effektiver sind, wenn A ein “Psychotherapeut” ist (und nicht die allerbeste Freundin, die Friseuse, der Barmann, der Stammtischbruder etc.). Es gilt also nicht, echte mit Placebo-Behandlungen zu vergleichen, sondern echte mit unechten “Psychotherapeuten”. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen ist einfach: Man nehme auf der einen Seite “Psychotherapeuten”, die eine entsprechende, anerkannte Ausbildung durchlaufen haben, und auf der anderen Seite Laien, die dazu bereit sind, sich zum Wohle der Menschheit in einem Therapie-Experiment als “Psychotherapeuten” auszugeben und entsprechend zu agieren.
Mit diesem Untersuchungsdesign könnte man feststellen, ob “psychotherapeutische” Ausbildungen oder die Berufserfahrung eine signifikante Rolle hinsichtlich des Erfolgs einer Interaktion, die Rat und Unterstützung zur Veränderung bietet, zu spielen vermag oder ob es sich dabei nur um angemaßte Kompetenz handelt. Falls sich letzteres als zutreffend herausstellen sollte, so bedeutete professionelle “Psychotherapie” nicht nur eine überflüssige Geldverschwendung, sondern dann wäre professionelle “Psychotherapie” auch aus psychologischer Sicht äußerst fragwürdig, weil dann die Betroffenen fälschlicherweise den “Erfolg” einem Experten zuschreiben würden und nicht sich selbst bzw. ihrer Fähigkeit, jemanden zum (kostenlosen) Ausquatschen zu finden.
Es gibt zur Zeit nur wenige Studien dieser Sorte, und diese sprechen durchgängig dafür, dass Laien genauso gut psychotherapieren können wie Profis (7, 8, 9). Garb fand heraus, dass die Ausbildung professioneller Therapeuten ihr Urteil über Patienten im Vergleich zu Laien nicht verbessert; das gleiche gilt für die Berufserfahrung. Die empirische Basis sollte auf jeden Fall noch weiter ausgebaut werden; aber im Augenblick kann ich keinen vernünftigen Grund erkennen, warum sich am Tenor des Forschungsstandes durch weitere Untersuchungen etwas Grundsätzliches ändern sollte.
Dies mag viele Leser überraschen, aber wenn man genauer hinschaut, dann entdeckt man schon einige Aspekte des psychotherapeutischen Prozesses, die den Verdacht nahelegen, dass dies auch gar nicht anders sein kann.
- Die menschliche Psyche ist kein Apparat, den man reparieren kann wie einen Computer. Computer wurden von Menschen gebaut, daher weiß man sehr genau, wie sie funktionieren, sonst hätte man sie ja nicht bauen können. Bei der Seele ist das eben anders.
- Menschen verändern sich psychisch nur, wenn sie sich verändern wollen oder wenn sie der von außen inspirierten Veränderung keinen Widerstand entgegensetzen. Beispielsweise verändert Werbung das Kaufverhalten, auch wenn der Käufer dies nicht wahrhaben will; aber wenn er sich sagt: “So, diese dreiste Werbung wird bestraft!”, dann kann er auch darauf verzichten, für überflüssigen Schrott gutes Geld auszugeben. Genauso ist das mit “psychotherapeutischen” Einflüssen: Sie wirken nicht mechanisch, sondern nur auf dem Wege einer Stimulation zur Selbstveränderung.
- Menschen verändern sich vor allem, wenn das Verhältnis zwischen fördernden und hemmenden Konstellationen in Um- und Innenwelt günstig ist. Es kommt also auf den richtigen Zeitpunkt an. Dieser richtige Zeitpunkt korreliert nicht mit der Ausbildung und Berufserfahrung des Helfers, der dann jeweils zur Stelle ist, um dem Veränderungswilligen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
- Die Psychologie ist eine relativ junge Wissenschaft und allzu viel solide, erhärtete Erkenntnisse kann sie noch nicht vorweisen. Und selbst das wenige, was Bestand hat, besteht aus allgemeinen Erkenntnissen, die an einer größeren Zahl von Menschen gewonnen wurden. Dies ist kein Mangel, sondern Kennzeichen jeder empirischen Wissenschaft. Sie sucht nach allgemeingültigen Gesetzen. Inwieweit sich diese aber auf den Einzelfall übertragen lassen, ist stets zwangsläufig ungeklärt und muss aus situativen Bedingungen erschlossen werden, was oft kaum möglich ist. Aus diesem Grunde sind die Psychologie und der “psychotherapeutische” Erfahrungsschatz keine große Hilfe für den Psychotherapeuten in der Praxis. Daher hat er dem Laien-Psychotherapeuten in dieser Hinsicht nichts voraus.
Diese Liste erhebt, wie üblich bei meinen Listen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Was aber könnte im realen Leben einen Unterschied zwischen professionellen “Psychotherapeuten” und Laien-Psychotherapeuten ausmachen? Außerhalb eines experimentellen Rahmens müsste enthüllt werden, wenn eine Behandlung von einem Laientherapeuten vorgenommen wird. Damit hätte er ein Imageproblem. Er würde also tendenziell schlechter abschneiden wie der Profi, weil viele dumme, sogar saudumme Leute glauben, dass es Psycho-Experten mit besonderen Kräften gäbe. Denn in der Psychotherapie ist das eigentliche Placebo der Psychotherapeut, ganz gleich, wie er ausgebildet wurde, wie viel Berufserfahrung er hat oder gar ein Hochstapler ist. Daher vermute ich, dass Laien, wenn sie sich als Profi-Psychotherapeuten ausgeben, also hochstapeln, im Durchschnitt gesehen genauso erfolgreich sind wie “echte” Psychotherapeuten.
In diesem Geschäft ist also der Wurm drin. Wenn der Haupteffekt nur dadurch zustande kommt, dass manche Leute (auch uneingestandene) Ehrfurcht vor Experten empfinden, und nicht dadurch, dass diese Experten wirklich etwas tun, was diesen Status rechtfertigt, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht.
Literatur zur Psychotherapieforschung
Bohart, A. (2000). The client is the most important common factor. Journal of Psychotherapy Integration, 10, 127-149
Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14
Dawes, R. (1996). House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press
Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag
Frank, J. D. & Frank, J. B. (1991). Persuation and Healing: A Comporative Study of Psychotherapy. (3rd ed.). Baltimore: John Hopkins University Press
Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J. & London, Lawrence Erlbaum Ass, Pub.
Anmerkungen
(1) Dass Placebo-Effekte häufig mit dem Effekt verstreichender Zeit verwechselt werden, zeigen Meta-Analysen des Nordic Cochrane Centre:
Cochrane Database Syst Rev. 2003;(1):CD003974. Placebo treatment versus no treatment. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: The Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Department 7112, Blegdamsvej 9, Copenhagen Ø, Denmark, DK-2100. a.hrobjartsson@cochrane.dk
Cochrane Database Syst Rev. 2004;(3):CD003974. Placebo interventions for all clinical conditions. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Department 7112, Blegdamsvej 9, Copenhagen Ø, Denmark, DK-2100.
Cochrane Database Syst Rev. 2010 Jan 20;(1):CD003974. doi: 10.1002/14651858.CD003974.pub3. Placebo interventions for all clinical conditions. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: The Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Blegdamsvej 9, 3343, Copenhagen, Denmark, 2100.
(2) Siehe Literaturangaben
(3) Über Verfahren, die nicht untersucht und erst recht nicht miteinander verglichen wurden, kann man natürlich keine Aussagen machen. Es gibt Hunderte von Psychotherapieformen und nur eine kleine Zahl davon wurde systematisch wissenschaftlich erforscht. Aus meiner Sicht gibt es aber keinen vernünftigen Grund, an der Übertragbarkeit der vorliegenden Ergebnisse auf diese Methoden zu zweifeln.
(4) Aus ähnlichen Erwägungen hat die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Association” unlängst gefordert, sich vom medizinischen Modell psychischer Krankheiten in der Diagnostik zu lösen und stattdessen zu Einschätzungen des Klienten überzugehen, die seinen sozialen Kontext in den Brennpunkt rücken.
(5) Dies gilt generell nicht nur für Psychopharmaka, sondern für alle Drogen, einschließlich der illegalen. Der Konsum illegaler Drogen ist aber grundsätzlich nicht anzuraten, weil man sich damit vermeidbaren Ärger einhandeln kann und weil Drogen ohnehin so toll nicht auch wieder nicht sind.
(6) Im philosophischen Sinne ist natürlich tatsächlich jeder seines Glückes Schmied, weil jeder selbst entscheiden kann, wie er auf seine Umwelt reagieren will, übel gelaunt oder trotz allem glücklich. Glück ist eine Entscheidung, wie Descartes einst schrieb, und viele andere vor ihm, beispielsweise Epiktet. Doch im neoliberalen Sinne meint dieser Spruch etwas anderes, nämlich, dass jeder reich und mächtig werden könne, wenn er nur fleißig und smart genug sei. In diesem Sinn ist der Spruch nicht nur falsch, sondern zynisch.
(7) Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14
(8) Wexler, H. K.: The success of Therapeutic Communities for substance abusers in American prisons. Journal of Psychoactive Drugs, 27 (3), 57-66, 1995
(9) Garb, H.N. (1989). Clinical judgment, clinical training, and professional experience. Psychological Bulletin, 105, 387–396