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Die Freiheit der Innenwelt und ihre Feinde

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Eigentum

Ich setze als gegeben voraus: Über die Frage, ob die Außenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, können wir philosophieren, bis wir zu Staub zerfallen. Der Staub ist dann die letztgültige Antwort auf diese Frage. Es gibt also keine Antwort zu Lebzeiten.

Über die Frage, ob unsere Innenwelt unabhängig von unserem Bewusstsein existiert, müssen wir nicht philosophieren, können wir nicht philosophieren, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Ich denke, also bin ich; ich fühle, also bin ich; und wenn all dies mein Gehirn tut, dann bin ich selbst mein Gehirn.

Unsere Innenwelt ist unser Eigentum. Sie ist uns eigentümlich. Daher teilen wir sie mit niemandem. Sie mit jemandem zu teilen, ist nicht möglich. Allerdings wird sie von Wesen bevölkert. Diese Wesen – ich nenne sie Avatare – können von Außen nicht in unsere Innenwelt gelangt sein; denn unsere Außenwelt ist durch eine unüberwindbare Grenze von der Innenwelt abgeschottet. Dies liegt daran, dass in unserer Innenwelt nur Kreationen unseres Ichs lebensfähig sind; die anderen aber, unsere Mitmenschen, zählen nicht zu den Produkten unseres Geistes. Sie sind eigensinnig, so wie wir.

Avatare

Dennoch finden sich in unserer Innenwelt Avatare, die realen Menschen in der Außenwelt nachgebildet wurden, zum Beispiel Vater und Mutter. Wenn wir noch halbwegs bei Trost sind, so wissen wir natürlich, dass es sich bei diesen Phantomen nicht um wirkliche Menschen, sondern nur um Fantasien, um Ausgeburten unseres Geistes handelt. Trotzdem gehen wir in unserer Innenwelt oftmals mit ihnen so um, als ob sie real wären. Mitunter gehorchen wir sogar ihren Befehlen, selbst dann, wenn sie seit vielen Jahren tot sind – in der Außenwelt; ihre Avatare leben weiter.

Der Begriff “Avatar” wird hier von mir in Anlehnung an den psychoanalytischen Terminus der Introjektion verwendet (10). Grob vereinfacht gesagt: Der Mensch neigt dazu, in der Fantasie alles in sich aufzunehmen, was Lust spendet und in der Gegenbewegung alles, was in der Innenwelt Unlust hervorruft, nach außen, meist in andere Personen zu projizieren. In Abweichung von Freudschen Verständnis können nach meiner Auffassung Avatare (Introjekte) nicht nur Lustquellen sein, sondern auch Unlustquellen, die man u. U. dennoch nicht aus sich zu verbannen vermag.

Auch Psychiater oder psychologische Psychotherapeuten können zu Avataren werden. Ihre Repräsentanten in der Innenwelt sagen dann beispielsweise: “Nimm deine Pillen!” oder “Atme dreimal kräftig durch!” Was auch immer sie sagen: Betroffene sollten sich davor hüten, mit Avataren so umzugehen, als ob sie reale Menschen wären. Sie sind es nicht. Wenn wir ihnen gehorchen, so ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass wir uns selbst versklavt haben.

Wenn wir nicht weiter darüber nachdenken, dann haben wir das Gefühl, als ob die Avatare in unserer Innenwelt 1:1 Repräsentanten realer Menschen in der Außenwelt seien, an die wir uns erinnern. Doch das ist keineswegs der Fall. Es handelt sich um Konstrukte, um Hirngespinste. Sie sind Gebilde aus Erfahrung, subjektiv. Wir können und wir sollten uns überlegen, warum wir diese Erfahrungen so und nicht anders zu Avataren verdichtet haben.

Im Allgemeinen sind die Vorbilder unserer Avatare unschuldig daran, wie sie sich in unserem Kopf einnisten. Sie dachten nicht im Traum daran, dort in einer bestimmten Weise ein Eigenleben als Phantome zu führen. Manche reale Personen legen es aber darauf an, sich in unserer Innenwelt zu installieren. Oft merken wir das gar nicht. Und das ist schlecht. Wenn uns andere versklavt haben, wenn wir, trotz heldenhafter Gegenwehr, schlussendlich unterlegen sind und uns in unser Schicksal fügen mussten, so ist dies keine Schande, kein Makel. Doch wehe, man unterwirft sich Avataren. Welch eine Schmach!

Es ist eine Frage der Ehre, Avatare in ihre Schranken zu weisen. Sie sind Schauspieler in unserem inneren Theater. Wir sind die Regisseure. Wir gestatten ihnen ein gewisses Eigenleben, solange sie im Großen und Ganzen nach unserer Pfeife tanzen. Wir sind die Autoren des Skripts, an das sie sich zu halten haben. Doch wenn die Zügel dem Autor-Regisseur aus der Hand gleiten, droht Unheil, arges Unheil. Auf unsere Außenwelt haben wir oft nur wenig Einfluss. Wir müssen schlussendlich hinnehmen, was dort geschieht. Doch in unserer Innenwelt sind wir die absoluten Herrscher. Hier dürfen wir uns von niemandem vom Thron stoßen lassen.

Wenn Avataren die feindliche Übernahme unserer Innenwelt gelingt, dann ist dies in jedem Fall ein Zeichen für charakterliche Mängel, die es zu überwinden gilt. Denn letztlich haben wir uns dazu entschieden, ihnen einen Platz in unserer Innenwelt einzuräumen, der ihnen nicht gebührt. Ein guter Charakter ist nicht so ehrlos, sich solcher Fremdherrschaft zu fügen, ohne Not. Die Gedanken sind schließlich frei. Mitunter aber wird dieser Ehrverlust auch von außen gefördert, beispielsweise dadurch, dass Aggressoren durch Drohungen, finstere Prophezeiungen und vor allem durch Schmeicheleien und andere Lügen das innere Reich sturmreif schießen.

Wie Bomben werfen psychologische Psychotherapeuten und Psychiater ihre Worte und Pillen in die Innenwelt ihrer Klienten und Patienten, um durch die Explosionen den Boden unter den Füßen der inneren Selbst-Avatare schwankend zu machen. Ja, auch “wir” sind Avatare in unserer Innenwelt. Sind wir dort wehrlos, sind wir dort charakterschwach, dann nur, weil wir (in der Außenwelt) das so wollen, bewusst oder unbewusst. Und das ist frevelhaft. Wir müssen auch für unser Unbewusstes gerade stehen.

Eine Mutter schlägt ihr Kind, das angeblich faul und böse war, und brüllt dabei: “Nimm dir ein Beispiel an deinem Cousin Karl-Georg, der hat immer gute Noten in der Schule!” Wenn das Kind nicht sehr stark, wenn sein Widerstand gegen mentale Versklavung nicht kraftvoll ist, dann wird Karl-Georg bei ständiger Wiederholung solcher Vorgänge zum einem Avatar, der Macht in der Innenwelt des Kindes auszuüben vermag.

Ob Kabarett oder große Bühne – in unserer Innenwelt ist immer Theater. Geschickte Manipulateure wissen, welche Stücke besonders gut ankommen. Sie versuchen beispielsweise, sich selbst als Avatar des edlen Ritters in unserer Innenwelt zu etablieren und unseren Selbst-Avatar zur Jungfrau zu machen, die es vor dem bösen, Feuer speienden Drachen zu erretten gilt. Nicht nur durch Gewalt, sondern auch durch Verführung, durch vergiftete Liebe kann sich ein Täter in die Innenwelt seines Opfers schmuggeln, genauer, kann er sein Opfer dazu verleiten, den Täter als machtvollen Avatar, als Phantom in seiner Innenwelt zu konstruieren.

Leviathan

Was wie ein Spiel erscheint, sei es, wie Firlefanz und Bühnenzauber, sei es, wie große Oper, kann bitterer, blutiger Ernst werden, wenn der Betroffene sich den Fiktionen in seiner Innenwelt nicht mehr zu entwinden vermag, wenn er zum mentalen Sklaven geworden ist. Die hypnotische Kraft solcher Spiele ist gewaltig; man sollte das nicht unterschätzen.

Alle Avatare, die Anweisungen geben oder auch nur Ratschläge erteilen, sind höllische Abgesandte Leviathans – ganz gleich, hinter welcher Maske sie sich verbergen, ob als väterlicher, vollbärtiger Psychiater oder als nette, junge, ein wenig hilflose Psychotherapeutin. Leviathan duldet keine freie Innenwelt. Er versucht, sie durch Avatare zu kolonisieren. Die Avatare Leviathans sind böse, sehr böse. Ein schlimmer Finger ist, wer ihnen gestattet, böse zu sein.

Das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan wird in Thomas Hobbes’  gleichnamigen Buch zum Inbegriff der Allmacht des Staates, gegen den jeder Widerstand zwecklos ist. Wie wir wissen, ist dies nicht der Fall: Es ist möglich, die Macht des Staates zu begrenzen, und in den meisten Verfassungen der modernen, zivilisierten Welt ist das Volk der Souverän. Doch Leviathan will uns dieses Bewusstsein der geteilten Souveränität rauben, durch die Installation von Avataren.

Die Kolonisation der Innenwelt gelingt am besten in totalen Institutionen. In einer totalen Institution hängen die Resultate der Handlungen des Insassen ausschließlich von der Willkür der Menschen ab, denen er ausgeliefert ist. Die geschlossene Psychiatrie ist der Urbild einer totalen Institution. Dort ist man, wenn man von Psychiatern für psychisch krank und gefährlich erklärt wurde. Völlig unabhängig von dem, was man tut oder lässt, entscheiden allein die Psychiater, ob man auch weiterhin psychisch krank und gefährlich ist oder ob man als “geheilt” oder “deutlich gebessert” entlassen wird.

Schon nach wenigen Monaten ist die Seele eines Menschen, der in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde, in aller Regel überflutet von den Avataren Leviathans. Nur wenigen, sehr wenigen gelingt es, diesem Terror zu widerstehen. Sie sind Helden. Gustl Mollath gehört zu ihnen. Es gehört eine schier unglaubliche Charakterstärke dazu, um diese Kraft aufzubringen, um dies durchzuhalten.

Zum Glück ist Gustl Mollath nicht der einzige Held dieser Art. Es gibt viele, die widerstanden haben. Man vergleiche einmal langjährig psychiatrisch Behandelte mit den Mitgliedern psychiatriekritischer Psychiatrieerfahrenenverbände. Welch ein Unterschied! Und dies ist nicht nur mein subjektiver Eindruck. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass es Menschen ohne psychiatrische “Medikamente” auf lange Sicht deutlich besser geht als mit. Robert Whitacker hat in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” die entsprechenden Beweise dafür zusammengetragen. Dort finden sich zudem empirisch fundierte Erklärungen dafür, warum dies so ist. Auch in dem neuen Werk des Mitbegründers der Cochrane Collaboration, Peter Gøtzsche finden sich in zwei Kapitels empirische Beweise für die überwiegende Nutzlosigkeit dieser Substanzen aus Sicht der Betroffenen (11).

Nach meiner Lebenserfahrung sind Menschen, die erfolgreich die Avatare Leviathans in Schach halten, grundsätzlich lebendiger, fröhlicher, kreativer als Zeitgenossen, die sich ihnen willig ergeben. Die “Anarchisten” sind auch körperlich gesünder, leben länger, haben im Alter weniger Falten und duften bei Vollmond beinahe so zauberhaft wie Neugeborene.

Gehirnwäsche

Es gibt leider sehr brutale und effiziente Methoden, Avatare in der menschliche Seele zu installieren. Mit diesen Methoden wird dem Betroffenen suggeriert, das die beste aller Möglichkeiten, die er noch habe, die völlige Unterwerfung unter den Willen der Bewusstseinskontrolleure sei. Falls die Anwendung dieser Methoden erfolgreich ist, falls sich der Betroffene also zur Unterwerfung entscheidet, wird sich er sich u. U. für souverän halten, obwohl er sich so verhält, als ob er ein Automat wäre. Diese Methoden bezeichnet man als Gehirnwäsche oder neuerdings auch als “trauma-based mind control”.

Jede Erfolg versprechende Gehirnwäsche beruht auf folgendem Grundmuster (1-5):

  1. Das Opfer wird einer extremen Stress-Erfahrung unterworfen (z. B. durch Folter)
  2. Durch diese Stress-Erfahrung wird es hochgradig suggestibel.
  3. Die Suggestibilität wird zudem durch soziale und / oder sensorische Deprivation, Elektrokrampfbehandlungen und geeignete Drogen verstärkt.
  4. Das Opfer wird in den Zustand der gelernten Hilflosigkeit versetzt, es wird also willkürlich bestraft – unabhängig davon, ob es sich gehorsam zeigt oder Widerstand leistet.
  5. Sobald es optimal empfänglich und hilflos ist, wird es mit Suggestionen überflutet, die ihm negative und positive Handlungskonsequenzen vor Augen führen (“Wenn Sie X tun, folgt Y, sonst Z”).
  6. Schließlich werden erwünschte Handlungen systematisch belohnt und unerwünschte bestraft.

Wer sich bisher noch nicht mit dieser Thematik beschäftigt hat, ist vermutlich geneigt, die Anwendung dieses Grundmusters der Folter-Gehirnwäsche im geheimdienstlichen Bereich zu verorten. Doch wer die Spuren verfolgt, die diese Methodik in der Vergangenheit hinterlassen hat, wird beispielsweise auf Peter Riedessers und Axel Verderbers Buch zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie stoßen und dort erfahren, dass deutsche Militärpsychiater nach diesem Grundmuster die so genannten Kriegshysteriker (“traumatisierte” Soldaten) “geheilt” haben. Wer diesen Faden weiter verfolgt, wird schnell erkennen, dass auch Psychiater anderer Länder (8) mit diesen brutalen Methoden operierten, wie beispielsweise der aus Kanada stammende Psychiater Lewis Yealland in England während des 1. Weltkriegs (7).

Die Militärpsychiater des 20. Jahrhunderts elektrisierten ihre Patienten mit starken, sehr schmerzhaften Strömen, um den zur Gehirnwäsche erforderlichen extremen Stress zu erzeugen. Zu diesem Zweck platzierten sie die Elektroden an besonders empfindlichen Körperstellen. Dies ist heute weitgehend aus der psychiatrischen Mode gekommen. Nur noch das Judge-Rotenberg-Educational-Centre in den Vereinigten Staaten hält ungebrochen an dieser Tradition fest. Die Opfer sind hier aber keine Soldaten, sondern Kinder und Jugendliche mit schweren Verhaltensstörungen.

Es ist allerdings möglich, extremen Stress auch ohne Methoden zu erzeugen, die man auf den ersten Blick als Folter zu identifizieren vermag. Mit anderen Worten: In den Augen von Leuten, die diese gern zudrücken, erscheinen Anwender dieses Grundmusters der Gedankenkontrolle nicht als Folterer und Gehirnwäscher, sobald sie Verfahren der Stress-Auslösung einsetzen, die nach heutigen Maßstäben als “medizinische Hilfe” gelten.

Zwangsbehandlung

Nach vorübergehender Ungewissheit aufgrund von Urteilen höchster Gerichte hat der Bundestag inzwischen ein Gesetz verabschiedet, nach dem Zwangsbehandlungen von so genannten psychisch Kranken wieder zulässig sind. Die Bundesjustizministerin (die dieses Amt zur Zeit nur noch kommissarisch verwaltet, die sie aus dem Parlament flog) vertrat in einem Radiointerview die Auffassung, dass die Zwangsbehandlung unter bestimmten Voraussetzungen im Interesse der Patienten läge. Es ist mir schleierhaft, welcher Freiheitsbegriff dem Denken dieser liberalen Politikerin wohl zugrunde liegen mag; aber dies ist ein politisch-philosophischen Thema und soll deswegen hier nicht weiter verfolgt werden (9). Betroffenenverbände vertreten allerdings eine andere Meinung als Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Sie halten Zwangsbehandlungen vielmehr für Folter und Gehirnwäsche.

Ist das nicht übertrieben?

  1. Ein Zwangsbehandelter wird einer extremen Stress-Erfahrung unterworfen. Er wird gegen seinen Willen in eine psychiatrische Anstalt gebracht, dort mit Gewalt an ein Bett fixiert, ihm werden Nervengifte injiziert, die erwiesenermaßen hochgradig schädlich sind.
  2. Durch diese Stress-Erfahrung wird er in einen Zustand erhöhter Suggestibilität versetzt.
  3. Der Zwangsbehandelte wird von seinem vertrauten sozialen Umfeld isoliert, einem reizarmen, monotonen Tagesablauf ausgesetzt.
  4. Auch wenn er sich bemüht, bei Ärzten und Pflegern einen guten Eindruck zu hinterlassen, “geistige Gesundheit” zu demonstrieren, wird er aus seiner misslichen Lage nicht befreit. Er muss vielmehr erkennen, dass er sich in einer totalen Institution befindet und den Ärzten bzw. Pflegern bedingungslos ausgeliefert ist.
  5. Erst wenn er “Krankheitseinsicht”, sich zumindest kooperationsbereit gezeigt, sich also mit dem Aggressor identifiziert hat, wird er mit Suggestionen überflutet, die ihm negative und positive Handlungskonsequenzen vor Augen führen (z. B.: “Wenn Sie hier gut mitarbeiten, dann können wir Sie schon bald entlassen, sonst müssen wir Sie länger hierbehalten.”)
  6. Erwünschtes Verhalten ist mit allerlei Vergünstigungen verbunden, unerwünschtes Handeln jedoch führt z. B. zu einer Erhöhung der Neuroleptika-Gabe oder gar zur Fixierung.
  7. Ziel dieser Behandlung besteht darin, dass der Patient die Repräsentanten der Psychiatrie als verhaltenssteuernde Avatare verinnerlicht.

Wohltätige Gehirnwäsche?

Kritiker meines Standpunkts könnten diese Parallelen zwischen geheimdienstlicher oder militärischer Folter-Gehirnwäsche und psychiatrischer Zwangsbehandlung als oberflächlich bezeichnen und behaupten, dass die Zwangsbehandlung erstens legal sei und zweitens im wohlverstandenen Interesse des Patienten liege. Dies ist natürlich eine philosophische Frage, weil es um Wertmaßstäbe geht – und ich kann mir durchaus vorstellen, dass Geheimdienstler und Militärs ebenfalls davon überzeugt sind, mit Folter-Gehirnwäsche Gutes zu tun und das eigene Volk vor Tod und Vernichtung zu bewahren. Doch Philosophie ist nicht das Thema der Pflasterritzenflora. Mir geht es hier um eine psychologische Bewertung und die fällt aus meiner Sicht eindeutig aus.

Unabhängig von moralischen und juristischen Fragen, hat eine Zwangsbehandlung auf die Seele eines Betroffenen dieselben Auswirkungen wie eine Folter-Gehirnwäsche. Daran ändert auch die medizinische Camouflage solcher Maßnahmen nichts, im Gegenteil: Sie verstärkt die Wirkung der Gehirnwäsche u. U. sogar. “Geheilte” Patienten, die nach einer solchen Tortur ihren Ärzten für die Zwangsbehandlung ewig dankbar sind, sie als Retter verehren und ihre Avatare in der Innenwelt uneingeschränkt herrschen lassen, ähneln aus meiner Sicht durchaus Opfern militärischer oder geheimdienstlicher Folter-Gehirnwäsche, die nach einer solchen Maßnahme ihren Peinigern stets treu zu Diensten sind – bis in den Tod.

Freier Wille

Nun meinen manche, der Mensch besitze ohnehin keinen freien Willen, sein Verhalten und Erleben würde vollständig durch seine Gene und durch Umwelteinflüsse determiniert. Kurz: Er stehe ohnehin unter Kontrolle. Da sei es doch besser, er unterwürfe sich der rationalen und sozial angepassten Kontrolle durch die Psychiatrie, anstatt unter dem Diktat defekter Gene und schlechter sozialer Einflüsse zu stehen.

Auch wenn dieses Argument plausibel erscheint und dem Zeitgeist entspricht, halte ich es dennoch für falsch. Wer es vertritt, macht sich entweder nicht klar, dass es dem Geist der Demokratie Hohn spricht, oder dies macht ihm nichts aus. Man könnte einwenden, dass die Natur nun einmal so sei und auf den Geist der Demokratie keine Rücksicht nähme. Dieser Einwand griffe aber nur dann, wenn er zuträfe. Trifft er aber nicht. Der freie Wille widerspricht keineswegs den Erkenntnissen der Neurowissenschaften, wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” überzeugend nachzuweisen vermochte.

Menschen handeln. Sie haben Absichten, setzen sich Ziele, wählen Mittel aus, bilden Erwartungen hinsichtlich der Ziele und der ausgewählten Mittel. Dies betrifft nicht nur das äußere, sichtbare Verhalten, sondern auch die geistigen Prozesse. Auch Stimmungen, Gefühle, Gedanken sind (teilweise verdeckte) Handlungen oder Begleiterscheinungen von Handlungen.

Angst z. B. begleitet die Absicht anzugreifen oder wegzulaufen. Angreifen und Weglaufen aber sind Handlungen: Sie haben ein Ziel, unterliegen einer Absicht usw.

Wenn ich nachdenke, dann versuche ich, eine Frage zu beantworten. Das aber ist eine zielgerichtete, absichtsvolle, erwartungsgesteuerte geistige Operation, also eine innere Handlung.

Manchmal aber verhalten wir uns auch automatisch. Bedeutet dies, dass wir in diesem Falle Automaten sind? Bezogen auf das Seelenleben ist der Begriff des “Automatismus” nur eine Metapher, und zwar eine irreführende.

Denn auch unsere automatischen Verhaltensweisen verfolgen absichtlich gewählte Ziele, sind von Erwartungen gesteuert – und wenn etwas schief läuft, dann tritt häufig wieder der bewusste Wille an die Stelle des scheinbar nicht durch das Ich kontrollierten Ablaufs.

Wenn wir neue, unbekannte Probleme lösen, stehen die entsprechenden Handlungen im Brennpunkt unserer Aufmerksamkeit. Routineaufgaben erledigen wir “automatisch” – dies bedeutet nur, dass wir ihnen unsere Aufmerksamkeit teilweise oder vollständig entzogen haben.

Wir können unsere Aufmerksamkeit auch einzelnen Elementen unserer Handlungen entziehen. Wenn wir z. B. die Absicht hinter unseren Handlungen aus dem Bewusstsein verbannen, dann hat unser Bewusstsein den Eindruck, es habe die Kontrolle über diese Handlung verloren.

Unser Ich ist dann nicht mehr in der Lage, darüber zu reflektieren, dass ein Teil seiner selbst unbewusst die entsprechende Absicht zu dieser Handlung verfolgt.

Die Entscheidung zur “psychischen Krankheit”

Dies trifft natürlich auch auf die so genannten psychischen Krankheiten zu. Diese sind fast immer mit einem erlebten Kontrollverlust verbunden. Nicht nur Zwänge oder Abhängigkeiten sind Ausdruck eines subjektiv erlebten Kontrollverlusts.

  • Wer depressiv ist, der sieht sich außerstande, die dunklen Schatten aus seinem Bewusstsein zu verbannen.
  • Wer übersteigerte Angst hat, der fühlt sich nicht mehr als Herr dieses Gefühls, sondern er glaubt, unter der Kontrolle seiner Angst zu stehen und von dieser zu Verhalten gezwungen zu werden, das er selbst gar nicht will.
  • Wer unter einem Zwang leidet, glaubt, dass dieser willentlicher Beeinflussung entzogen sei.

Doch dieser Kontrollverlust ist eine Täuschung. Diese Täuschung wird dadurch hervorgerufen, dass wir den entsprechenden Absichten unsere Aufmerksamkeit entzogen haben.

Auch der Entzug der Aufmerksamkeit, also der “Abwehrmechanismus”, die Verdrängung, ist eine (innere) Handlung. Sie beruht wie jede Handlung auf einer Absicht. Auch dieser Absicht können wir unsere Aufmerksamkeit entziehen.

Logisch betrachtet, verwickeln sich Menschen bei diesem unaufhörlichen Entzug von Aufmerksamkeit für ihre Absichten und ihre Absichten höherer Ordnung natürlich in Widersprüche. Daher ist es ein Wesenselement dieser menschlich-allzumenschlichen Form des Selbstbetrugs, sich in diesem Bereich außerhalb der Logik zu stellen.

Wer etwas von Hypnose versteht, wird hier unschwer erkennen, dass diese Verdrängung von Absichten aus dem Bewusstsein des Handelnden auffällige Ähnlichkeiten mit der Ausführung eines posthypnotischen Befehls aufweist.

Dieser hat folgende Grundform: Ein Mensch wird hypnotisiert. Der Hypnotiseur gibt ihm folgenden Befehl: “Sie werden wieder aus der Hypnose aufwachen, sobald ich das Zeichen A gebe. Sie werden sich dann nicht mehr an die Hypnose erinnern können. Wenn ich danach das Zeichen B gebe, werden Sie die Handlung XYZ vollziehen.”

Der Hypnotiseur gibt das Zeichen A. Der Hypnotisand wacht auf. Der Hypnotiseur signalisiert nach einer Weile das Zeichen B. Der Hypnotisand vollzieht die Handlung XYZ.

Auf Befragen, warum er so gehandelt habe, wird er allerlei Rationalisierungen vorbringen. Seine tatsächliche Absicht aber bleibt seinem Bewusstsein verborgen. Diese bestand ja darin, die Befehle des Hypnotiseurs zu befolgen, und zwar den Befehl, die Hypnose zu vergessen, und den Befehl, XYZ zu verwirklichen.

Bei den so genannten psychischen Krankheiten verhält es sich ganz ähnlich wie im obigen Fall – mit dem Unterschied, dass in der Regel keine formale Hypnotisierung im Spiel war.

Aber auch bei so genannten psychischen Krankheiten verfolgt der “Erkrankte” die Absicht, die “Symptome” zu produzieren und zu “vergessen”, dass er selbst es ist, der diese Symptome erzeugt.

Er wird sie vielmehr rationalisieren. Eine Möglichkeit zur Rationalisierung bieten ihm Psychiatrie und Psychotherapie an. Sie legen ihm nahe, sich als psychisch krank zu fühlen. Eine Störung in seinem Gehirn zwinge ihn zu dem symptomatischen Verhalten.

Er sei krank, und daher für dieses Verhalten nicht voll verantwortlich. Er müsse sich in die Obhut des Psychiaters oder Psychotherapeuten begeben und sich willig den Anordnungen dieser Fachleute fügen, also einen großen Teil seiner Verantwortung für sich selbst den Psycho-Experten anvertrauen.

Meist sind die “geschilderten” unbewussten Vorgänge nicht unbewusst im strikten Wortsinn; sie sind nicht dem Bewusstsein völlig unzugänglich. Der Betroffene hat durchaus “vermerkt”, dass er ein Spiel spielt, in dem er sich selbst und andere täuscht. Doch es gehört zu seiner letztendlich freiwillig gewählten Rolle, darüber nicht nachzudenken.

Selbstbetrug ist keine Krankheit – auch dann nicht, wenn man sich den Selbstbetrug nicht bewusst machen und eingestehen will. Allerdings führt dieser Selbstbetrug zu einem Leben, das aus der Sicht eines souveränen Individuums als unwürdig bezeichnet werden muss. Es ist zwar nicht verwerflich, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen, wenn man glaubt, dies sei die beste aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Von außen betrachtet, hinterlässt man durch diese Wahl allerdings einen jammervollen Eindruck. Das muss nicht sein, nicht wirklich.

Anmerkungen

(1) Sargant, W. (1997). Battle for the Mind. A Physiology of Conversion and Brainwashing. How Evangelists, Psychiatrists, Politicians, and Medicine Men Can Change Your Beliefs and Behavior. Cambridge, MA, Malor Book (Erstveröffentlichung 1957)
(2) Ross, C. A. (2000). Bluebird. Deliberate Creation of Multiple Personality by Psychiatrists. Richardson Tx., Manitou Communications
(3) Scheflin, A. W. & Opton, E. M. (1978). The Mind Manipulators. New York, Paddington Press
(4) Marks, J. (1979, 1991). The Search for the Manchurian Candidate. The CIA and Mind Control. New York, Times Book
(5) Gresch, H. U. (2010). Hypnose, Bewusstseinkontrolle, Manipulation. Düsseldorf: Elitär Verlag (Kindle Edition)
(6) Riedesser, P. & Verderber, A. (1996). “Maschinengewehre hinter der Front”. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie. Frankfurt am Main: Fischer
(7) Yealland, L. (1918). Hysterical Disorders of Warfare. London: McMillan
(8) Gresch, H. U. (2012). Kriegszitterer. Schwarze Stufen
(9) Womöglich muss man dies aber auch anderswo nicht vertiefen, weil die FDP ja doch bald aus allen Parlamenten herausgeflogen sein wird; und das ist auch gut so.
(10) Laplanche, J. & Pontalis, J.-B. (1998). Das Vokabular der Psychoanalyse. Eintrag: Introjektion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp
(11)  Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

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Der Psycho-Jargon

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Wer unter seinem Verhalten oder seinem Erleben leidet, fragt sich: warum, will die Ursachen überwinden. Auf dem Weg dorthin muss er viele Barrieren hinter sich lassen. Vermutlich die erste, die ihm begegnet, nachdem er sich eingestanden hat, ein Problem zu haben, ist zugleich jene, deren Heimtücke nicht zu überbieten ist. Wenn man sich diese Barriere personifiziert vorstellen will, so könnte man sie mit einem Verbrecher vergleichen, der die Arglosigkeit und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst einkalkuliert, um zum Ziel zu gelangen.

Bei dieser Barriere handelt es sich um eine Redeweise, die ich als “Psycho-Jargon” bezeichne. Unter diesem Jargon ist eine Sprachvarietät zu verstehen, die Merkmale der Alltagssprache und von Fach-Terminologien vermischt – und zwar in einer Weise, die eine umfassende, ein gründliche und ehrliche Reflexion des eigenen Innenlebens und des eigenen Umfelds beinahe unmöglich macht.

Dies beginnt bereits mit dem Begriff der “psychischen Krankheit”, der als unausgesprochener oder ausgesprochener Sinnstifter in die thematischen Felder aller anderen Begriffe hineinwirkt – und zwar in einer Weise, die unausweichlich Verwirrung stiftet. Eine Krankheit erfahren wir als ein leibliches Geschehen, das uns widerfährt, das wir nicht in bewusster Absicht herbeigeführt haben, dass wir nicht direkt beeinflussen oder gar kontrollieren können und zu dessen Überwindung wir des Arztes bedürfen, sofern es sich um eine ernsthafte, nicht schnell vorübergehende Störung handelt.

Ich habe hier bewusst nicht körperliches, sondern leibliches Geschehen geschrieben, um hervorzuheben, dass wir Krankheit als bezogen auf unsere subjektive Repräsentation des Körpers erfahren. Maurice Merleau-Ponty unterscheidet zu Recht zwischen Leib und Körper und sieht im Leib eine vermittelnde Instanz zwischen Körper und Geist.

Bei einer körperlichen Erkrankung wissen wir, dass wir den zugrunde liegenden Prozess prinzipiell nicht direkt beeinflussen können. Wir haben zwar eventuell Einfluss auf potenzielle Risikofaktoren, die wir meiden, und auf Schutzfaktoren, die wir in Dienst nehmen können, aber der biologische Prozess selbst unterliegt nicht unserer Verfügungsgewalt.

Bei einer so genannten psychischen Krankheit ist dies aber ganz anders. Hier erfahren wir uns ebenfalls als ausgeliefert, aber gleichzeitig wissen wir, dass wir es eigentlich nicht sein sollten. Wer beispielsweise einen Zwang hat, weiß, das er eigentlich in der Lage sein sollte, ihm zu widerstehen. Wer sich vor Spinnen fürchtet, weiß, dass er angesichts geringer Gefahr eigentlich mutig sein könnte.

Mit anderen Worten: Bei einer körperlichen Krankheit ist der zugrunde liegende Prozess durch den Willen prinzipiell unbeeinflussbar, allenfalls können wir Risiko- oder protektive Faktoren vermindern oder vermehren. Bei einer psychischen Krankheit jedoch ist der zugrunde liegende Prozess prinzipiell beherrschbar und als krank wird erlebt, dass dies nicht gelingen will. Ich lasse hier jene Menschen außer acht, die ernsthaft glauben, alles sei psychisch und dass deswegen auch körperliche Krankheiten durch Gesundbeten, positive Gedanken oder dergleichen geheilt werden könnten. So etwas sagt sich leicht, wenn andere betroffen sind. Ist man aber selbst an der Reihe, dann bleiben nicht viele übrig, die diese Überzeugung ernstlich aufrecht erhalten.

In den Begriff der “psychischen Krankheit” ist also, gleichsam als Geburtsfehler, ein Widerspruch eingebaut, eine doppelte Botschaft. Einerseits impliziert dieser Begriff, man sei einem Phänomen ausgeliefert, das sich grundsätzlich eigener Kontrolle entzieht und gleichzeitig suggeriert er, dass man in der Lage sein sollte, diese Kontrolle auszuüben.

Man macht sich dies am besten an einem Beispiel klar. Patient A zittert und kann dieses Zittern nicht bezwingen, weil er an einer Störung seines Nervensystems erkrankt ist. Patient B zittert und kann dieses Zittern nicht bezwingen, weil er an einer “Konversionsstörung” leidet, für die es keine neurologische Ursache gibt. Von außen ist kein Unterschied beim Zittern zu erkennen.

Es gibt zahlreiche Störungen des Verhaltens und Erlebens, die eindeutig oder zumindest nach menschlichem Ermessen auf Schädigungen des Nervensystems zurückzuführen sind. Bei einer Verletzung der präfrontalen und frontalen Bereiche des Kortex können beispielsweise die als Stirnlappensyndrom bekannten Persönlichkeitsveränderungen auftreten. Durch Schädigungen in diesem Bereich, beispielsweise infolge von Unfällen, können die Motivation verringert, das soziale Urteilsvermögen beeinträchtigt und die Affekte labilisiert werden. Reizbarkeit und Aggressivität sind keine Seltenheit.

Bei zerebrovaskulären Erkrankungen wurden Katastrophenreaktionen mit Symptomen wie Ruhelosigkeit, Hyperemotionalität, Irritation und zornige Ausbrüche beschrieben. Aber auch Indifferenzreaktionen können auftreten, die sich in völliger Gleichgültigkeit gegenüber Schwächen, im Desinteresse an Tagesereignissen oder in der Tendenz zu sorglosen Späßen über ernste Dinge äußern.

Bei der Temporallappenepilepsie finden sich Symptome wie Angst, Depressionen, Wahnvorstellungen, Wutreaktionen oder extreme Ängstlichkeit. Ich beschränke mich hier auf eine kleine Auswahl möglicher Zusammenhänge zwischen körperlichen Erkrankungen und psychischen Reaktionen; wer sich in dieses Gebiet vertiefen möchte, kann einschlägige Handbücher der Neuropsychiatrie zu Rate ziehen. Es gilt festzuhalten, dass wir hier nicht von “psychischen Krankheiten” sprechen, sondern von neurologischen Erkrankungen mit Auswirkungen auf das Seelenleben. Für keine der so genannten “psychischen Krankheiten” konnte bisher eine körperliche Ursache identifiziert werden.

Es ist ein Charakteristikum des Psycho-Jargons, dass er den Unterschied zwischen neurologischen und sonstigen körperlichen Erkrankungen verwischt und zugleich die bereits erwähnten doppelten Botschaften vermittelt. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Botschaften des Psycho-Jargons auf die heute modische neurowissenschaftliche Sichtweise oder auf die überkommene psychoanalytische beziehen. Die biologische Psychiatrie beispielsweise spekuliert über die Hirnprozesse, die mangelnder Krankheitseinsicht bei Schizophrenen zugrunde liegen, fordert von diesen aber zugleich, sie möchten Krankheitseinsicht zeigen. Die Psychoanalyse sieht ihren Patienten als Roboter, der durch den unbewussten psychischen Apparat gesteuert wird, verlangt von ihm aber gleichzeitig, sich mit dem Analytiker im Dienste des Ichs zu verbünden, um das Unbewusste zu entthronen.

Irgendetwas stimmt nicht an diesen Sichtweisen; sie sind in sich widersprüchlich; aber es ist nicht erwünscht, wenn der Patient darüber nachdenkt und kritische Fragen stellt. Genau dies aber ist ein zentrales Charakteristikum des so genannten Double Binds. Doppelte, in sich widersprüchliche Botschaften entfalten eine heimtückische Wirkung, weil der eingeborene Widerspruch nicht durchschaut werden kann. In unserer Kultur ist es sehr schwer, ihn zu erkennen, weil wir von Kindesbeinen an dazu erzogen werden, ernstere psychische Probleme als Krankheit aufzufassen.

Er wird selbst dann nicht durchschaut, wenn er so offensichtlich ist wie in der abstinenzorientierten stationären Suchttherapie. Hier wird dem Patienten einerseits suggeriert, dass er krankheitsbedingt an einem unwiderstehlichen Drang zum Konsum von Alkohol, Medikamenten oder illegalen Drogen leide, der nur durch eine Therapie überwunden werden könne, andererseits wird von ihm erwartet, vom ersten Tag der Behandlung an auf seine Rauschmittel zu verzichten. Obwohl die Patienten, die dieser Erwartung entsprechen, de facto durch ihr eigenes Verhalten die These vom unwiderstehlichen Drang widerlegen, durchschauen die meisten diesen Schwindel nicht.

Der Begriff “psychische Krankheit” ist Element der Alltagssprache geworfen. Seine unverdaute, oberflächliche Bedeutung lautet, dass der “psychische Kranke” ein Kranker wie jeder andere sei, der eben nur nicht an Herz oder Niere, sondern an der Psyche erkrankt sei. Auf oberflächlicher Ebene wird die Psyche also wie ein Organ behandelt. Es bietet sich an, es mit dem Gehirn zu identifizieren. Jeder Begriff gleicht aber einem Eisberg. Die Spitze des Eisbergs entspricht der oberflächlichen, der bewussten Bedeutung. Unter dem “Wasserspiegel” schleppt ein Begriff aber ein Fülle von zusätzlichen Bedeutungen mit, die sich mehr oder weniger der Reflexion entziehen.

Wird nun das Handeln von der oberflächlichen Bedeutung des Begriffs der “psychischen Krankheit” gelenkt, dann wendet sich der Betroffene an einen Psychiater oder an einen ärztlichen bzw. psychologischen Psychotherapeuten, dem es obliegt, die Art der “Krankheit” zu diagnostizieren, die Maßnahmen zur Überwindung des pathologischen Prozesses einzuleiten und die Fortschritte zu überprüfen. Dem Patienten fällt die Aufgabe zu, den Anweisungen des Arztes zu folgen und sich in Geduld zu üben.

Mag auch das Bewusstsein des Patienten in der Praxis des Arztes oder Psychologen von der oberflächlichen Bedeutung seines Leitbegriffes erfüllt sein, so macht sich doch die Unstimmigkeit seines Verhaltens halbbewusst oder unbewusst bemerkbar – und dies nicht zuletzt deswegen, weil der Heiler ihn von Anfang an so behandelt, als solle sich der Patient selbst helfen.

Dies gilt sogar dann, wenn der Arzt nur eine Pille verschreibt, sich oberflächlich also so verhält, wie man es von einem Körperarzt erwarten würde. Denn schließlich wirkt kein Psychopharmakon ursächlich, sondern allenfalls symptomatisch und ein erheblicher Teil seiner Wirkung ist der Placeboeffekt. Auch wenn der Arzt dies nicht zugibt: Er weiß es, und dieses Wissen bestimmt letztlich auch sein Verhalten gegenüber dem Patienten.

Der Widerspruch steckt also nicht nur im Begriff der “psychischen Krankheit” – er steckt auch in der Arzt-Patient-Interaktion. Gleichzeitig verhindert der Begriff jedoch, dass die Widersprüchlichkeit dieser Interaktion reflektiert wird. Es entgeht so dem kritischen Bedenken, dass der Arzt oder der Psychotherapeut medizinisches Handeln inszeniert, obwohl sein Verhalten de facto durch alle Merkmale einer moralischen Beeinflussung ausgezeichnet ist.

Bleibt diese Widersprüchlichkeit aber unreflektiert, so verharrt der Patient in einem Zustand der Konfusion. Dies ist kein angenehmer Zustand. Er erheischt zwingend der Entwirrung. Der Patient kommt ja nicht ohne Grund in die Behandlung. Er hat ein Problem. Er hat ein Problem, das mit seinem Verhalten und Erleben zu tun hat. Er muss es nun, in diesem Kontext, also in dem Kontext, den die doppelte Botschaft des Begriffs der “psychischen Krankheit” aufspannt, als ein medizinisches Problem darstellen und zugleich als eine Abweichung von einer sozialen Norm.

Sigmund Freud kommentierte die wilden Zuckungen und Gesten einer hysterischen Patientin dahingehend, dass diese “ihre Rolle in der dramatischen Wiedergabe einer Szene aus ihrem Leben spielte, deren Erinnerung während der Attacke unbewusst wirksam war.” (1)

Diese Patientin schlug also – “unbewusst” – zwei Fliegen mit einer Klappe, sie inszenierte einerseits ein sozial-psychisches Problem aus ihrem Leben und andererseits inszenierte sie eine medizinische Symptomatik, angelehnt an die Erscheinungsformen körperlicher Erkrankungen (hier: der Epilepsie).

Heute sind solche hochdramatischen Inszenierungen selten geworden. Etwas unfreundlich heißt es in einem Lehrbuch der Klinischen Psychologie, dass die Abnahme der Häufigkeit des Konversions-Syndroms mit der zunehmenden medizinischen Bildung in der Gesamtbevölkerung zusammenhänge. Diese Störung komme überwiegend nur noch bei der unbedarften Landbevölkerung vor (2).

Trotzdem werden natürlich auch heute noch “Erkrankungen” nach dem Muster inszeniert, das im Begriff der “psychischen Krankheit” vorgezeichnet ist. Die Inszenierungen wurden nur modernisiert und dem heutigen Publikumsgeschmack angepasst. Sie sind nicht mehr so grob, so krass: weniger Bauerntheater, mehr Woody Allen.

Der Psycho-Jargon erschöpft sich natürlich nicht im Begriff der “psychischen Krankheit”, sondern er überträgt sein Gift auf alle seine Abkömmlinge. Wenn beispielsweise jemand eine Depression hat, dann geht er zum Arzt. Der verschreibt ihm ein Antidepressivum oder unterzieht ihn einer Psychotherapie. Das Medikament wirkt aufs Nervensystem. Die Psychotherapie soll falsche Gedanken und Einstellungen korrigieren.

Aufgrund der doppelten Botschaft, die der Begriff der “psychischen Krankheit” in die Diagnose “Depression” eingesenkt hat, entfällt in aller Regel die aktive Auseinandersetzung mit dem, was in der realen Welt den Depressiven niederdrückt. Deprimere heißt niederdrücken. Getreu der doppelten Botschaft ist nämlich die Depression einerseits ein Hirnstörung und andererseits ein moralisches Versagen. Man darf sich eben von Umständen nicht niederdrücken lassen, egal, wie inakzeptabel, egal, wie menschenunwürdig sie auch sein mögen.

Ich möchte hier nicht der Reihe nach alle Begriffe des Psycho-Jargons analysieren und diese Aufgabe lieber dem nachdenklichen Leser überlassen. Vielmehr möchte ich mich der Frage widmen, was an die Stelle des Psycho-Jargons treten könnte. Er wurde als Barriere durchschaut, nun gut, was dann. Sprachlosigkeit?

An die Stelle des Psycho-Jargons sollte Klartext treten, was sonst? Wir müssen also unterscheiden zwischen einer Situation, in der wir Unerwünschtes erleben und tun, weil unser Nervensystem erkrankt ist, und einer Situation, in der wir Unerwünschtes erleben oder tun, weil unser Selbst dies veranlasst hat. Ist unser Nervensystem Ursache, dann bedürfen wir des Arztes. Ist aber unser Selbst verantwortlich, so bedürfen wir des Arztes nicht. Die hysterisch Gelähmten können aufstehen, die Depressiven können sich erheben und mit den Unterdrückern ringen – oder es zumindest versuchen.

Der Psycho-Jargon herrscht heute nicht nur in den Hallen der Psychiatrie vor; er ist im Grund zum Ersatz für die sonntägliche Predigt in der Kirche geworden, nein, weit mehr: Er wurde zu unserem ständigen Begleiter: ganz gleich, ob wir beim Arztbesuch in einer Illustrierten blättern, ob wir ein Wissenschaftsmagazin im TV anschauen, ob wir das Seminar eines Motivationstrainers besuchen, ob wir in der Elternsprechstunde mit Lehrern über den Nachwuchs reden, ja, sogar beim Smalltalk mit dem Nachbarn am Gartenzaun quillt der Psycho-Jargon plötzlich hervor wie Abwasser aus der Kanalisation bei einem Platzregen.

Wir haben im Grunde kein anderes Vokabular mehr, um über unsere Innenwelt nachzudenken, als dieses. Man könnte diesen Jargon als geistiges Fastfood bezeichnen, wobei allerdings bedacht werden muss, dass die meisten Menschen heute wissen, wie schädlich der Junk aus den Schnellrestaurants ist.

Was tun? Solange nicht bewiesen ist, dass störendes Verhalten und Erleben auf einem Nerven- oder einem sonstigen körperlichen Schaden beruht, ist der Betroffene gut beraten, zu unterstellen, dass dann das eigene Selbst dafür verantwortlich ist. Es gilt also, das eigene Selbst zu prüfen, denn nicht selten verbergen sich die wahren Motive in einem “blinden Fleck” unseres Bewusstseins. Wie gut sie aber auch immer sich verstecken: Die Verantwortung dafür liegt bei uns selbst. Bei wem auch sonst?

Anmerkungen

(1) Aus Metapsychologie, erstes Kapitel: “Einige Anmerkungen über den Begriff es Unbewussten in der Psychoanalyse”
(2) Butcher, J. N., Mineka, S. & Hooley, J. M. (2009). Klinische Psychologie. München: Pearson Studium

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Das Unbewusste

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Leute, die sich als “psychisch krank” empfinden, sind keine der Kritik enthobenen “heiligen Kühe”, sondern Menschen wie du und ich. Die schlimmste Verunglimpfung der so genannten psychisch Kranken besteht darin, ihnen die Verantwortungsfähigkeit abzusprechen und sie zu “Reaktionsautomaten” herabzustufen.

Eingerostete Theorien

Der ungarische Psychiater, Schüler, enge Mitarbeiter und persönliche Freund Sigmund Freuds, Sándor Ferenczi bemerkte in einem kleinen, aber sehr aufschlussreichen Aufsatz zur Erkenntnis des Unbewussten aus dem Jahre 1911 zur damaligen Psycho-Neurowissenschaft:

“Von dem irrigen Gesichtspunkte ausgehend, dass die Gegenstände der Psychologie ausschließlich vom Bewusstsein begleitete seelische Erscheinungen sein könnten, schlossen sie es a priori aus, dass die Schicht unter dem Bewusstsein anders als physiologisch verständlich zu machen sei. Umsonst sprachen gegen diese Auffassungen die bei der Hysterie und Hypnose gemachten Erfahrungen, umsonst ging aus diesen Erscheinungen hervor, dass unter der Schwelle des Bewusstseins Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und – abgesehen von der Bewusstseinsqualität – dem Vollbewusstsein beinahe ganz gleichwertige Fähigkeiten vorhanden sind. Man erledigte diesen Widerspruch entweder so, dass man die verwickelten psychischen Gebilde unter der Schwelle des Bewusstseins einfach zu einer ‘Gehirnleistung’ und dadurch zur Physiologie degradierte, oder aber es wurde, entgegen unzähligen, dem widersprechenden Tatsachen, einfach dekretiert, dass die unter dem Bewusstsein geleistete seelische Funktion immer ein wenig Bewusstsein besitzt, und man klammerte sich an die Annahme der ‘Halbbewusstheit’, der Unterbewusstheit auch dort, wo der zum Urteilen hierüber einzig Berufene, das Subjekt selbst, von deren Existenz gar nichts wusste oder fühlte. Mit einem Worte, wieder die Tatsachen waren es, die den kürzeren zogen, wo sie es wagten, mit eingerosteten Theorien in Konflikt zu geraten.” (3)

Ich bin nicht sehr glücklich mit Ferenczis Gegenüberstellung von Gehirnleistung und psychologischen Prozessen, denn aus meiner Sicht sind die von Ferenczi ins Feld geführten, angeblich unbewussten seelischen Funktionen ebenfalls physiologisch fundiert. Und ich bin davon überzeugt, dass seelische Funktionen, die scheinbar der Aufmerksamkeit entzogen sind, in der Tat immer auch ein wenig Bewusstsein besitzen müssen, weil sonst der komplexe Prozess von Entscheidungen sich nicht vollziehen könnte. Das “volitional attentional tracking”, das willentliche aufmerksame Verfolgen von Außenwelt- und Innenwelt-Ereignissen kann sich – so lautet auch die These, die Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” vertritt, in Abwesenheit von Bewusstsein nicht entfalten. Es ist aber die Voraussetzung der Übersetzung von Intentionen und Plänen in konkrete Handlungen und mentale Operationen.

Andererseits stimme ich aber uneingeschränkt mit der Beobachtung Ferenczis und anderer Psychoanalytiker überein, dass Menschen sich nicht selten so verhalten, als ob ihnen Teile ihrer Motivation nicht gegenwärtig seien. Durch dieses Als-ob entsteht der Eindruck einer Steuerung des Verhaltens durch unbewusste Prozesse. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich bei diesen Phänomenen aus meiner Sicht jedoch in Wirklichkeit um den Ausdruck eines geteilten Bewusstseins (4).

Ich stelle im Übrigen nicht das Unbewusste generell in Frage, sondern nur das Freudsche, dass angeblich durch Verdrängung entsteht. Natürlich vollziehen sich in unserem Gehirn zahllose Prozesse, die nicht bewusst werden, entweder wegen ihres Routine-Charakters oder weil sie nicht bewusstseinsfähig sind. Die Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses ist viel zu gering, um allen gleichzeitig ablaufenden mentalen Prozessen volle Aufmerksamkeit zu schenken. Doch das Freudsche Unbewusste müsste in der Lage sein, selbständig Entscheidungen zu fällen, um beispielsweise eine Zensur auszuüben, um zu bestimmen, welche Inhalte ins Bewusstsein gelangen dürfen und welche nicht. Dies halte ich für unmöglich.

Leider ist es immer wieder der Krieg, der Tatsachen des menschlichen Seelenlebens, in der zum Kratzen am Rost von Theorien gebotenen Schärfe, herauspräpariert.

Wenden wir uns also “unbewusster” Logik, “unbewusster” Intention, “unbewusster” Lüge, “unbewusstem” Selbstbetrug im Krieg zu. Drei Jahre, nachdem Sándor Ferenczi den Text, aus dem obiges Zitat stammt, zu Papier gebracht hatte, sollte der 1. Weltkrieg gleich zu Beginn schauerliche Beispiele dafür präsentieren,

  • wie sich, scheinbar unter der Schwelle des Bewusstseins,
  • Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und
  • mit dem Vollbewusstsein beinahe gleichwertigen Fähigkeiten
  • herauszubilden vermögen.

Ich zitiere aus einer Arbeit von Rivers, der einer der namhaftesten Militärpsychiater aus dieser Zeit ist:

“The suppression of pain and fear in the manipulative activity of Man is not necessarily accompanied by any failure of memory of the events which produced the reaction, or of the nature of the reactions themselves and their accompanying mental states. In some cases, however, as has not uncommonly happened in war, there is partial or complete amnesia for the period of activity. Soldiers have carried out, so skilfully as to earn the special commendation of their superiors, highly complicated processes of giving orders, directing operations, showing personal skill in attack and defence, while afterwards their memories have been a blank for the whole series of events and their own behaviour in relation to it. Moreover, there is abundant evidence that the experience which had thus lost direct access to consciousness is still present and may show itself in some indirect manner (1).”

Halten wir fest: Eine Erfahrung unter Extremstress (“Traumatisierung”) kann vollständig ins Unbewusste verdrängt werden, schreibt Rivers. Sie wurde aber nicht ausgelöscht, sondern sie zeigt sich in indirekter Weise. Wenn sie sich zeigt, beeinflusst sie in irgendeiner Form das Verhalten und Erleben des Betroffenen.

Charakteristisch für den 1. Weltkrieg war gleich zu Beginn ein massenhaftes Auftreten von “Kriegshysterien”, an allen Fronten, bei Freund und Feind. Männer, die in ihrem Zivilleben zuvor keinerlei psychische Auffälligkeiten gezeigt hatten, dekompensierten spätestens nach einigen Wochen an der Front, oft schon, sobald sie die Nachricht erhielten, dass sie dort zu kämpfen hatten. Typisch waren diverse “Symptome”, die man damals “hysterisch” nannte: Lähmungen unterschiedlicher Art, (selektive) Blindheit, Taubheit und, als besonders dramatisches Symptom, ein heftiges, unausgesetztes Zittern. Daher stammt der Name “Kriegszitterer”, der sich in dieser Zeit dem militärischen Sprachgebrauch anverwandelte.

Es ist natürlich auffällig, dass es sich bei diesen “Symptomen”, denen jede erkennbare physiologische Grundlage fehlte, um Einschränkungen handelte, die den Einsatz an der Front unmöglich machten. Diese Männer zeigten diese “Symptome”, obwohl sie genau wussten, dass sie vor dem Kriegsgericht und schlimmstenfalls vor einem Erschießungskommando landen würden, wenn man sie als Simulanten einschätzte.

In allen Staaten, die an diesem Krieg beteiligt waren und an deren Fronten sich diese Massenerscheinung zeigte, gelangten Psychiater jedoch zu der Erkenntnis, dass viele dieser Soldaten keineswegs eine Krankheit bewusst vortäuschten.

Der österreichische Militärpsychiater Wilhelm Neutra fasste den damaligen Erkenntnisstand der Militärpsychiatrie in seinem 1920 publizierten Werk “Seelenmechanik und Hysterie” prägnant zusammen: Das Verhalten dieser Soldaten sei, so schreibt er, der Ausdruck eines unbewussten Konflikts zwischen zwei Tendenzen:

  1. des Selbsterhaltungstriebs
  2. des Patriotismus und der militärischen Pflichterfüllung.

Nun ist es allerdings nicht plausibel anzunehmen, dass der Selbsterhaltungstrieb in schierer Form den Soldaten in die Glieder fährt und diese lähmt oder zum Zittern bringt. Es müssen vielmehr vermittelnde Prozesse angenommen werden. Die verborgene Botschaft der “Symptome” dürfte klar sein: Seht her, ich zittere, kann also nicht schießen. Seht her, ich bin blind, kann also nicht zielen. Sehr her, ich bin lahm, kann also nicht marschieren. Gleichzeitig lautet die offene Botschaft: Ich bin Patriot und möchte ja so gern fürs Vaterland in die Schlacht ziehen, aber ich bin krank, bitte heile mich, Herr Oberstabsarzt.

Aus meiner Sicht dürfte klar sein, dass hier zwei einander widerstrebende Absichten relevant sind, nämlich

  1. die Absicht, unbeschadet der Front zu entkommen und
  2. die Absicht, sich als tadelloser, aber invalider Soldat darzustellen.

Man muss sich das klarmachen: Diese Soldaten haben, oft über Wochen und Monate, wenn nicht Jahre, eine komplexe körperliche Erkrankung nachgeahmt, ohne dass ihnen dies scheinbar bewusst wurde. Zeigt dies nicht eindrucksvoll, wie sich unter der Schwelle des Bewusstseins Komplexe von hoher Zusammengesetztheit und mit dem Vollbewusstsein beinahe gleichwertigen Fähigkeiten herauszubilden vermögen? Sind das die Tatsachen, von denen Ferenczy sprach, Tatsachen, die leicht Gefahr laufen, den kürzeren zu ziehen?

Es würde mir schwerfallen, das Verhalten der “Kriegshysteriker”, die den Eindruck rechtschaffener Patrioten erweckten, anders zu erklären als durch bewusste Absichten. Zwar kann ich mir vorstellen, dass unbewusste Verhaltenssteuerungen eine Rolle dabei spielen, dass ein Soldat überhaupt “hysterisch” wird. In der akuten Stress-Situation an der Front wird vielleicht beispielsweise eine spontane Lähmung ausgelöst, die vom Betroffenen in dieser Situation unter keinen Umständen als symbolische Verweigerung des Kriegseinsatzes gedeutet werden kann. Dass aber die Nachahmung einer Krankheit, die auch bei strenger ärztlicher Überprüfung beibehalten wird, allein auf Basis unbewusster Motive erfolgen könnte, halte ich für ausgeschlossen.

Die Nachahmung einer Krankheit im Sinne der “Kriegshysterie” ist eine schauspielerische Aktivität, die eine beständige Situationsanalyse und Verhaltensanpassung auf höchstem intellektuellen Niveau erfordert und die den, allerdings nicht gerechtfertigten, Eindruck erweckt, als ob Teile ihrer Motivation vollständig unbewusst seien.

Gibt es wirklich unbewusste Absichten?

Der beste Weg, sich dem Problem der angeblich unbewussten Absichten zu nähern, ist eine Auseinandersetzung mit den so genannten Freud’schen Versprechern. Diese sind im Alltag allgegenwärtig und daher sind die mutmaßlich unbewusste Absichten für jedermann zum Greifen nahe.

Freud betont, dass beim Versprecher zwei Rede-Intentionen wirksam seien, eine bewusste und eine unbewusste. Bei der psychoanalytischen Arbeit leiste ihm das Versprechen daher wertvolle Dienste, weil es hier ja darum gehe, aus den Reden und Einfällen einen Gedankeninhalt aufzuspüren, der sich einerseits zwar verbergen wolle, sich aber gerade deswegen verrate. Freuds berühmte Schrift zur “Psychopathologie des Alltagslebens” ist reich an Beispielen für dieses Phänomen; ich möchte es aber an einem neueren Fall exemplifizieren:

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl sagte am 15. März 1989 gegenüber Journalisten folgenden Halbsatz:

„… wenn wir pfleglich miteinander untergehen …“

Eigentlich meinte er natürlich „umgehen“ statt „untergehen“.

Er bezog sich bei dieser Äußerung auf die weitere Zusammenarbeit zwischen den Koalitionspartnern CDU/CSU und FDP. Man muss kein Kenner der damaligen Verhältnisse sein, um zu ahnen, wie es in dieser Zeit um die Beziehung zwischen CDU/CSU und FDP bestellt war.

Dies könnte ein vortrefflicher Witz gewesen sein, wenn Kohl sich mit voller Absicht versprochen hätte. In Würdigung seines Charakters und der Umstände halte ich diese Interpretation jedoch für ausgeschlossen. Es gibt zwei alternative Interpretationsmöglichkeiten:

  1. In Kohls Unbewussten war eine Befürchtung virulent, die er aus seinem Bewusstsein verbannt hatte, weil er sie aus politischen Gründen nicht aussprechen durfte und die sich dann doch in Form des Versprechers bemerkbar machte.
  2. Kohls Bewusstsein war in zwei Kontexte gespalten. Der eine Kontext war die vorbereitete Rede. Dieser Kontext sah nicht vor, seine tatsächliche Überzeugung auszusprechen. Der andere Kontext war seine Befürchtung, die er nicht aussprechen wollte. Es gehörte zur Rolle ersten Kontexts, sich so zu verhalten, als ob ihm der zweite Kontext nicht bewusst sei. Zur Rolle des zweiten Kontexts hätte es gehört, seine Sorgen zu artikulieren. Beide Kontexte waren ko-bewusst. Der sub-dominante Kontext war jedoch stark genug, um eine Vermischung der Botschaften zu bewirken, den Freudschen Versprecher.

Gibt es unbewusste Diktate?

Psychoanalytiker glauben, dass Menschen maßgeblich unter dem Diktat ihres Unbewussten stünden. Ich glaube nicht, dass man von Diktaten sprechen kann. Meine Gründe dafür möchte ich am Beispiel der “Kriegshysteriker” darlegen. Den Symptomen dieser Soldaten lagen keine körperlichen Ursachen zugrunde. Sie wurden jedenfalls eingehend untersucht und die Ärzte konnten nichts dergleichen finden. Dennoch zeigten die Soldaten bei diesen Untersuchungen eine mitunter komplexe Symptomatik. Um diese zeigen zu können, muss man adäquat und situationsgerecht auf die ärztlichen diagnostischen Fragen und Maßnahmen reagieren. Dies setzt eine beachtliche schauspielerische Leistung voraus.

Deren Motivation kann nicht vollständig unbewusst sein, da sich die entsprechenden Absichten nur durch “volitional attentional tracking” bilden können und dieses Tracking sich nicht in Abwesenheit von Bewusstsein entfalten kann. Der “Kriegshysteriker” muss auf die Fragen und Untersuchungen des Arztes in einer Weise reagieren, die mit dem übergeordneten Ziel, als krank zu erscheinen, übereinstimmt.

Der Unterschied zwischen einem Kriegshysteriker und einem Simulanten im militärischen bzw. rechtlichen Sinn besteht also nicht darin, dass der letztere simuliert und der erstere nicht. Vielmehr liegt der Unterschied darin, dass der “Kriegshysteriker” scheinbar unbewusst schauspielert und der Simulant im strafrechtlichen Sinne eine Show abzieht.

Was heißt hier scheinbar? Wir haben es aus meiner Sicht mit zwei ko-bewussten Kontexten zu tun. Im ersten Kontext weiß der Betroffene genau, was er zu tun hat, um den Arzt von einer Krankheit zu überzeugen, die er, der Not gehorchend, vorzutäuschen trachtet. Im zweiten Kontext ist er ehrlich davon überzeugt, ein guter Patriot zu sein, der nur durch eine unglückselige Krankheit daran gehindert wird, an der Front seine Pflicht zu tun. Diese beiden Kontexte passen logisch nicht zusammen, zumindest nicht im Rahmen der aristotelischen Logik. Aber sie repräsentieren die beiden Seiten des Konflikts, unter dem diese Soldaten leiden.

Demgemäß, so könnte man nun denken, müssten sich die Soldaten für einen Kontext entscheiden, weil beide nicht gleichzeitig im Bewusstsein existieren könnten. Doch aus meiner Sicht können sie dies durchaus, weil das Bewusstsein nicht der aristotelischen Logik unterliegt. Es kann sich derart spalten, dass in einem seiner Teile der erste und in dem anderen der zweite Kontext gilt. Daher kann das Bewusstsein zwei Handlungsstränge mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Motiven gleichzeitig verfolgen.

Dass zwei Handlungsstränge verfolgt werden, ergibt sich aus folgenden Sachverhalten:

  • Wenn ein Soldat beispielsweise vor der schrecklichen Fronterfahrung keinerlei Anzeichen eines Augenleidens zu erkennen gab,
  • wenn er nach dieser Erfahrung, an die er sich evtl. nicht mehr erinnern kann, plötzlich erblindet und
  • wenn bei ihm trotz gründlicher Untersuchung keine körperlichen Ursachen seiner plötzlichen “Blindheit” zu identifizieren sind,
  • wenn er dann nach Kaufmanns Kur (Suggestivbehandlung mit sehr schmerzhaften elektrischen Strömen) wie durch ein Wunder binnen weniger Stunden wieder sehend wird,
  • dann darf man doch wohl vermuten, dass seine Blindheit eine Schauspielerei war, die den Eindruck erweckte, als ob Teile ihrer Motivation vollständig dem Bewusstsein des Betroffenen entzogen waren.

Sind die Symptome der “Kriegshysteriker” nicht doch psychosomatisch?

Es mag “psychosomatische Effekte” geben, aber sie spielen in diesem Fall definitionsgemäß keine Rolle. Denn bei einer psychosomatischen Störung ist immer ein somatischer Anteil vorhanden. Dieser ist bei den “Kriegshysterikern” laut ärztlicher Untersuchung aber stets ausgeschlossen. In den einschlägigen Lehrbüchern, die zur Zeit des 1. Weltkriegs im Schwange waren, wird viel Wert auf eine entsprechende Differenzialdiagnose gelegt.

Gegen die These einer psychosomatischen Erkrankung sprechen auch die “Wunderheilungen” hysterisch Gelähmter, Tauber und Blinder binnen weniger Stunden, die bestens dokumentiert und belegt sind. Sie erfolgten nach Anwendung sehr schmerzhafter elektrischer Ströme und entsprechender Suggestionen. Wilhelm Neutra nannte das “ärztliche Folterarbeit”. Man kann aber keine organische Schädigung, beispielsweise des Auges, durch ärztliche Folterarbeit heilen. Es handelt sich bei den chronischen “Symptomen” der “Kriegshysteriker” im Übrigen nicht um Verhaltensweisen in akuten und extremen Stress-Situationen. Selbstverständlich kann man in solchen Situationen vor Schreck zittern oder wie gelähmt sein, ohne dies bewusst zu intendieren. Doch die Symptome der Kriegshysteriker perseverieren fernab von der Front im Lazarett und sogar in der Heimat.

Aber diese Menschen sind doch Ihrer Krankheit ausgeliefert!

Aus meiner Sicht ist der Mensch kein Automat, kein Roboter. Dies gilt auch für “Kriegshysteriker”. Wer dies in Zweifel ziehen möchte, sieht sich dann allerdings vor die Herausforderung gestellt, die Erfolge der “ärztlichen Folterarbeit” zu erklären. Durch eine Kombination von Suggestionen mit schmerzhaften elektrischen Strömen wurden zahllose “Gelähmte”, “Taube” und “Blinde” innerhalb kürzester Zeit geheilt. In Frankreich wurde diese Methode beispielsweise von Clovis Vincent sowie von Roussy & Lhermitte eingesetzt, in Österreich von Wilhelm Neutra und Wagner-Jauregg, in Deutschland von Fritz Kaufmann, in Großbritannien von Yealland sowie von Hunderten weiterer Ärzte.

Und dies mit großen “Erfolg”, der kein Wunder ist, wenn man die Sache mit nüchternen Augen betrachtet. Man möge mich nicht falsch verstehen. Ich plädiere nicht für die Anwendung derartiger Methoden bei den so genannten “psychisch Kranken”. Mein Kampf gilt vielmehr den Bedingungen, die Menschen oft keine andere Wahl lassen, als sich unbewusst als “psychisch krank” darzustellen, gleichsam zu inszenieren. Dass die Methoden eines Kaufmann während des 1. und eines Panse während des 2. Weltkriegs, um Beispiele zu nennen, an Widerwärtigkeit nicht zu überbieten waren, steht außer Frage.

Dennoch zeigen die Wirkungen der “ärztlichen Folterarbeit”, was es mit “Kriegshysterien” auf sich hat – und ich denke, man kann dies auf beinahe alle so genannten psychischen Krankheiten übertragen. Vor diesen Erkenntnissen darf man nicht die Augen verschließen, auch wenn sie mit absolut verwerflichen Methoden gewonnen wurden. Es gibt eine Fülle von sorgfältigen Fallschilderungen, die den “Erfolg” dieser Methoden belegen. Sie genügen zwar nicht dem methodischen Standard, der heute an empirische Untersuchungen angelegt werden sollte; sie deswegen aber zu missachten, wäre nicht gerechtfertigt. Zum Glück ist es heute nicht mehr möglich, solche “Therapien” mit besseren Studien-Designs zu überprüfen. Es gibt also nichts anderes als das, was wir haben.

In seinem Buch “Choice Theory” bringt der amerikanische Psychiater William Glasser die Intentionalität menschlichen Verhaltens in bewundernswert schlichten Formulierungen auf den Punkt:

“Die Entscheidungstheorie erklärt, warum wir, bei allen praktischen Anliegen, alles, was wir tun, auswählen, einschließlich des Elends, das wir fühlen. Andere Leute können uns weder elend, noch glücklich machen. Alles, was wir von ihnen erhalten oder ihnen geben können, sind Informationen. Doch an sich können uns Informationen nicht dazu veranlassen, irgendetwas zu tun oder zu fühlen. Sie gehen in unser Gehirn, wo wir sie verarbeiten und dann entscheiden, was zu tun ist. Wie ich in meinem Buch detailliert beschreiben werde, wählen wir alle unsere Handlungen und Gedanken und, indirekt, beinahe alle unserer Gefühle und einen großen Teil unserer physiologischen Reaktionen aus.”

Fazit

Fassen wir noch einmal die wichtigsten Gesichtspunkte zusammen:

  1. Es fiel bei den so genannten hysterischen Symptomen auf, dass die von den Patienten geschilderten Beschwerden einer Alltagsmedizin von Laien folgten. Hysterische Lähmungen bzw. Gefühllosigkeit von Körperpartien wurden beispielsweise nicht entlang der einschlägigen Nervenbahnen, sondern willkürlich, dem laienhaften Verständnis entsprechend, berichtet. Kurz: Die Symptome waren nicht selten physiologisch unmöglich. Man entwickelte schon damals trickreiche Testgeräte, mit denen man eindeutig nachweisen konnte, dass beispielsweise die auf einem Augen Blinden de facto doch uneingeschränkt zu sehen vermochten.
    In einem Aufsatz aus dem Jahr 1910 (5) schrieb Sigmund Freud:
    “Sie wissen, man nimmt die hysterische Blindheit als den Typus einer psychogenen Sehstörung an. Die Genese einer solchen glaubt man nach den Untersuchungen der französischen Schule eines Charcot, Janet, Binet zu kennen. Man ist ja imstande, eine solche Blindheit experimentell zu erzeugen, wenn man eine des Somnambulismus fähige Person zur Verfügung hat. Versetzt man diese in tiefe Hypnose und suggeriert ihr die Vorstellung, sie sehe mit dem einen Auge nichts, so benimmt sie sich tatsächlich wie eine auf diesem Auge Erblindete, wie eine Hysterika mit spontan entwickelter Sehstörung. Man darf also den Mechanismus der spontanen hysterischen Sehstörung nach dem Vorbild der suggerierten hypnotischen konstruieren.”
    M. a. Worten: Es handelt sich bei den “kriegshysterischen” Symptomen, Freuds Erkenntnis folgend, um Autohypnosen, die durch widrige Umstände hervorgerufen und aufrecht erhalten wurden. Es sind also dissoziative Phänomene, die ich mit Hilgard als Formen des gespaltenen Bewusstseins deute.
  2. Dass es einander widersprechende Absichten bei Bewusstseinsspaltung tatsächlich gibt, zeigen hypnotische Experimente seit zwei Jahrhunderten bis auf den heutigen Tag. Die Ausführung eines posthypnotischen Befehls setzt gleich drei voraus, nämlich die Absicht, dem Befehl des Hypnotiseurs zu gehorchen, die Absicht, die befohlene Handlung zu vollziehen und die Absicht, sich an all dies nicht zu erinnern. Wären diese drei Absichten nicht dissoziiert, dann würde dies nicht funktionieren. Dieses Argument kann man nur knacken, wenn man die Realität von Hypnose insgesamt in Frage stellt. Mir sind nur wenige, sehr wenige ausgewiesene Kenner dieser Materie bekannt, die so weit gehen.
  3. Man kann sämtliche Phänomene einer “Kriegshysterie” bei hypnotisch begabten Menschen durch hypnotische Befehle hervorrufen – ohne dass dazu eine “schwere Traumatisierung” erforderlich wäre.
  4. Freud zitiert in der “Psychopathologie des Alltagslebens” einen Gewährsmann zur Kriegshysterie zustimmend mit folgenden Worten: “Das Erscheinen des Spitalskommandanten, der von Zeit zu Zeit die Genesenden sich ansieht, auf der Abteilung, die Phrase eines Bekannten auf der Straße: ‘Sie schauen ja prächtig aus, sind gewiss schon gesund’, genügen zur prompten Auslösung eines Brechanfalls.”

PS: Ich kann jeden Soldaten, der eine “posttraumatische Belastungsstörung” bekommt, nur zu gut verstehen. Er hat mein volles Mitgefühl. Mag es sich dabei auch nicht um eine Krankheit handeln, so hat dieses Phänomen dennoch sehr reale Ursachen, die vielen Betroffenen kaum eine andere Wahl lassen (jedenfalls keine gute), als die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. An der grundsätzlichen Willensfreiheit des Menschen ändert diese höchst eingeschränkte Wahlmöglichkeit jedoch nichts.

Anmerkungen

(1)  Rivers, W. H. R. (1920). Instinct and the Unconscious. A Contribution to a Biological Theory of the Psycho-Neuroses. Cambridge: Cambridge University Press, p. 60

(2) Martens, U., Ansorge, U. & Kiefer, M. (2011). Controlling the Unconscious: Attentional Task Sets Modulate Subliminal Semantic and Visuomotor Processes Differentially. Psychological Science 22(2) 282­ 291

(3) Ferenczi, S. (1978). Zur Erkenntnis des Unbewussten und andere Schriften zur Psychoanalyse. München: Kindler Taschenbücher

(4) Hilgard, E. R. (1977). Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action. New York: John Wiley & Sons.

(5) Freud, S. (1910). Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung. Ärztliche Standeszeitung Wien

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Eigene Schuld

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Gestern zitierte ich den von mir sehr geschätzten, leider unlängst in hohem Alter verstorbenen Psychiater William Glasser mit folgenden Worten:

“Die Entscheidungstheorie erklärt, warum wir, bei allen praktischen Anliegen, alles, was wir tun, auswählen, einschließlich des Elends, das wir fühlen. Andere Leute können uns weder elend, noch glücklich machen. Alles, was wir von ihnen erhalten oder ihnen geben können, sind Informationen. Doch an sich können uns Informationen nicht dazu veranlassen, irgendetwas zu tun oder zu fühlen. Sie gehen in unser Gehirn, wo wir sie verarbeiten und dann entscheiden, was zu tun ist. Wie ich in meinem Buch detailliert beschreiben werde, wählen wir alle unsere Handlungen und Gedanken und, indirekt, beinahe alle unserer Gefühle und einen großen Teil unserer physiologischen Reaktionen aus.”

Ein Mann rief an, wütend. Oh, wie wütend er war. Wenn einer, so rief er in die Muschel seines Telefons, wenn einer unter die Räuber gefallen sei, schuldlos, dann habe er sich nicht für das Elend, das er fühle, entschieden. Wenn einer auf Hartz-4 gesetzt werde, nach dreißig Jahren fleißiger Arbeit, weil die Firma pleite gemacht habe, dann habe er sein Elend nicht gewählt. Was mir einfiele, so empörte er sich in hohen und tiefen Tönen, mich in so verständnisloser Weise über Menschen zu äußern, die vom Schicksal gebeutelt worden und dafür nie und niemals verantwortlich seien. Ich sei einer dieser fürchterlichen Neoliberalen, die inzwischen überall ihre Finger im Spiel hätten und unser Land, ja, diese Welt in den Ruin trieben.

Zufällig lag mein eBook-Reader neben der Tastatur des Computer auf dem Schreibtisch. Ich öffnete die Klappe und las dem Manne aus einem Büchlein vor, das mich seit vielen Jahren begleitet und das mir eine Menge Kraft gibt – auch die Kraft, mich mit solchen Anwürfen ruhig auseinanderzusetzen:

“Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unseren Körper, unseren Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.
Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremdem Einfluss.
Denke also daran: Wenn du das von Natur aus Abhängige für frei hältst und das Fremde für dein eigen, so wird man deine Pläne durchkreuzen und du wirst klagen, die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum, was wirklich dir gehört, das Fremde hingegen, wie es tatsächlich ist, für fremd, dann wird niemand je dich nötigen, niemand dich hindern, du wirst niemanden schelten, niemandem die Schuld geben, nie etwas wieder Willen tun, du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.”

Diese Zeilen stammen aus dem “Handbüchlein der Moral” von Epiktet. Nun ist dieser Mann kein Neoliberaler, sondern er war ein antiker Philosoph, der etwa im Jahr 50 n. Chr. geboren wurde und im Jahr 138 starb. Er war zunächst Sklave, wurde dann freigelassen und begründete eine Philosophenschule, die er bis zu seinem Tode leitete. Da er stets ein ärmliches Leben führte, trifft ihn der Vorwurf, eine antike Variante des Neoliberalen gewesen zu sein, dann doch wohl nicht.

Was Epiktet lehrte, was Glasser schrieb, was auch ich glaube, dass wir nämlich über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten und daher nicht zum Unglücklichsein gezwungen werden können, ebenso wenig, wie unser Glück von äußeren Umständen abhängt, sollte eigentlich jedermann einsichtig sein, der sich der Sache in einer unaufgeregten Stunde widmet.

Ein anderer alter Grieche, Epikur (341 bis 271 v. Chr.) lehrte:

„Auch die Unabhängigkeit von äußeren Dingen halten wir für ein großes Gut, nicht um uns in jeder Lage mit Wenigem zufrieden zu geben, sondern um, wenn wir das Meiste nicht haben, mit Wenigem auszukommen, weil wir voll davon überzeugt sind, dass jene, die den Überfluss am meisten genießen, ihn am wenigsten brauchen, und dass alles Natürliche leicht, das Sinnlose aber schwer zu beschaffen ist und dass eine einfache Brühe die gleiche Lust bereitet wie ein üppiges Mahl…”

Wir sind keineswegs den Wechselfällen unseres Lebens ausgeliefert wie ein Blatt im Wind, und ein äußeres Missgeschick führt nicht zwangsläufig zum Gefühl des Elends. Wir haben es tatsächlich selbst in der Hand, ob wir unser Unglück wählen wollen oder nicht. Es mag nicht immer leicht sein, nach diesen Einsichten zu leben, vor allem am Anfang nicht, wenn man noch üben muss. Aber es ist wirklich falsch zu sagen, dass man nicht seines Glückes Schmied sei. Man ist natürlich nicht im neoliberalen Sinn seines Glückes Schmied. Keineswegs kann jeder Reichtümer anhäufen, wenn er nur fleißig und schlau ist. Im Gegenteil. Wir versuchen dann nur, über etwas zu gebieten, was sich schlussendlich unserer Macht entzieht, wie wir im “Handbüchlein der Moral” erfahren.

Wir sind unseres Glückes Schmied in dem Sinne, dass wir in der Tat über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten. Es liegt an uns, wie wir mit den Informationen, die auf uns einströmen, umgehen. Daher ist auch niemand gezwungen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Es mag zwar sein, dass wir an einer der seltenen körperlichen Krankheiten leiden, die gegen unseren Willen unser Verhalten und Erleben negativ beeinflussen. Doch dann leiden wir nicht an einer psychischen, sondern an einer körperlichen Krankheit. Und selbst dann haben die Betroffenen sehr oft noch den Spielraum, diese Impulse aus ihrem Inneren zu meistern.

Weil all dies so ist, empfinde ich es als wenig hilfreich, wenn den so genannten psychisch Kranken suggeriert wird, dass eine Störung ihres Gehirns ihr Elend verursache, dass sie an diesem unschuldig seien, dass sie an diesem vermutlich ein Leben lang leiden würden und dass ihnen allein die Pillen oder die heilenden Worte des Experten Linderung verschaffen könnten. Bei Epiktet: Das ist nicht wahr. Das wäre selbst dann nicht wahr, wenn es körperliche Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten gäbe. Ob es sie wirklich gibt, ist aber mehr als nur fraglich. Ziemlich unwahrscheinlich ist das. Seit Jahrzehnten versucht man mit immer besseren neurowissenschaftlichen Apparaten und Untersuchungsmethoden, solche Ursachen zu identifizieren, ohne Erfolg, ohne Erfolg.

Wenig hilfreich? Das ist im Grunde eine verharmlosende Redeweise. Wer diese negative Botschaft wirklich glaubt, der hindert sich selbst daran, die Ressourcen zur Überwindung seines Elends in sich selbst zu entdecken. Er mag dann das “Handbüchlein der Moral” lesen und sich sagen: “Das ist ja alles schön und gut und das frommt bestimmt auch den normalen Leuten, aber mir, dem Hirnkranken, kann so nicht geholfen werden.”

Aber, zum Glück: Niemand muss denen glauben, die dies behaupten. Über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden gebieten nur wir selbst. Die “biologische” Psychiatrie liefert Informationen. Wie sie damit umgehen, ist die Sache der Patienten.

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Ist Psychotherapie die bessere Form der Psychiatrie?

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Psychotherapie hilft den meisten Patienten

Im Auftrag der “Apotheken Umschau” befragte die “GfK Marktforschung Nürnberg” 2.129 ehemalige oder momentane Psychotherapie-Patienten ab 14 Jahren zu ihren Erfahrungen. Unter der Überschrift “Psychotherapie hilft den meisten Patienten” berichtete die Online-Ausgabe dieses Gesundheitsmagazins (23.04.2012) über die Ergebnisse dieser Umfrage. Mehr als zwei Drittel (69 Prozent), so schreibt das Blatt, kämen durch Psychotherapie mit ihren Problemen besser zurecht. Bei weiteren 13 Prozent hätten sich die Schwierigkeiten sogar völlig gelöst. Es handelt sich hier um die Selbstauskünfte der Studienteilnehmer. Daher ist der Titel dieses Berichts natürlich irreführend. Er müsste lauten: Die meisten der befragten Psychotherapie-Patienten bekundeten, dass ihnen Psychotherapie geholfen habe.

Im Titel steckt jedoch noch ein zweiter Denkfehler. Dieser wird deutlich, wenn ich die Überschrift ein weiteres Mal neu formuliere: Die meisten der befragten Patienten, die sich einer Behandlung unterziehen oder unterzogen haben, bekundeten, dass es ihnen besser gehe, und führten dies auf die Psychotherapie zurück. Dies mag auf den ersten Blick spitzfindig klingen. Doch bei genauerem Hinschauen sollte eigentlich einleuchten, dass die subjektiv empfundene Besserung ja auch durch andere Faktoren erklärt werden könnte, beispielsweise durch

  • verstärkte menschliche Zuwendung
  • erhöhte, schon vor Therapiebeginn bestehende Bereitschaft, sich zu verändern
  • das Verstreichen der Zeit (die bekanntlich wenn nicht alle, so doch viele Wunden heilt (1)).

Aus meiner Sicht handelt es sich bei solchen Studien in aller Regel um Psychotherapie-Marketing, denn die Grundsachverhalte wurden über Jahrzehnte sorgfältig empirisch erforscht, aussagekräftige Resultate liegen vor und erlauben eine realistische Einschätzung dessen, was Psychotherapie zu leisten vermag und was nicht (2).

Psychotherapieforschung

Der gegenwärtige Erkenntnisstand der Psychotherapieforschung lässt nur den Schluss zu, dass es keine aus wissenschaftlicher Sicht überlegenen Formen der Psychotherapie gibt. Die Patienten profitieren am meisten von einer Behandlung, wenn sie sich selbst dafür entschieden haben und wenn sie der Methode vertrauen, warum auch immer. Fakt ist: Die allen Psychotherapien gemeinsamen Faktoren – also jene Einflussgrößen, die unabhängig von der jeweiligen Methode sind – haben einen wesentlich größeren Einfluss auf das Therapie-Ergebnis als irgendwelche Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens.

Seit rund fünfzig Jahren wird die Psychotherapie mit den Methoden der empirischen und experimentellen Psychologie systematisch erforscht. Die wichtigsten Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen:

  1. Psychotherapie ist effektiv. Dies ergibt sich aus Vergleichen zwischen behandelten und nicht-behandelten Gruppen.
  2. Der Erfolg von Psychotherapie hängt nicht oder kaum von den Methoden ab. Dies ergibt sich aus dem Vergleich unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie etc.). (3)
  3. Psychotherapien sind effektiver als Placebobehandlungen und Placebobehandlungen sind wirksamer als keine Behandlung. Bei einer Placebobehandlung glaubt der Patient, er würde mit einem “echten” psychotherapeutischen Verfahren therapiert, wohingegen der Therapeut weiß, dass es sich um Hokuspokus handelt. Dies ist ein methodisch und philosophisch schwieriges Feld, dem ich mich in einem Anhang zu diesem Tagebucheintrag widme.
  4. Persönliche Merkmale des Therapeuten sind erheblich bedeutsamer als die sehr geringen methodischen Effekte. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der Effektivität verschiedener Therapeuten einer Ausrichtung sowie dem Vergleich der Effektivität verschiedener Methoden. Die Unterschiede zwischen den Therapeuten einer Schule sind deutlich größer als die Unterschiede zwischen den Therapieverfahren.
  5. Die Effektivität der Psychotherapie ist weitgehend unabhängig von der Ausbildung, der Fachrichtung (Arzt, Psychologe, keine Ausbildung) sowie von der Dauer der Berufserfahrung des Therapeuten. Dies ergibt sich aus Vergleichen der Effektivität von professionellen, semi-professionellen und nicht-professionellen Therapieanbietern. Laien sind tendenziell sogar erfolgreichere “Psychotherapeuten” als Profis.
  6. Den mit Abstand bedeutendsten Beitrag zum Therapieerfolg leisten die Selbstheilungskräfte des Klienten.

Wir erkennen also: Was tatsächlich wirkt bei einer Psychotherapie, verdient den Namen “Psychotherapie” überhaupt nicht, sofern man darunter eine wissenschaftlich fundierte, medizinisch orientierte Behandlung versteht. Vielmehr wird die angestrebte Veränderung durch allgemein menschliche Faktoren bewirkt:

Ein so genannter Patient hat den ernsthaften Wunsch, sind selbst zu verändern, er findet einen Helfer, einen so genannten Therapeuten, dem und dessen Methode er vertraut und dann mobilisiert der Patient seine psychischen Ressourcen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Der Therapeut begleitet diesen Prozess zwar, aber in Wirklichkeit hilft nicht er, sondern der Glaube des Patienten daran, dass der Therapeut ihm helfen könne, wolle und werde, ist der eigentliche Wirkfaktor des therapeutischen Prozesses.

Im Folgenden werde ich den Begriff “Psychotherapie” daher in Anführungszeichen setzen.

Ein alltägliches Geschehen

“Psychotherapie” erfordert weder hohes Wissen, noch ausgefeilte Qualifikationen auf Seiten des “Psychotherapeuten”. Sie ist also nichts Besonderes. Wenn sie dazu gemacht wird, dann handelt es sich um eine Verklärung, die eine realistische Sichtweise erschwert oder gar unmöglich macht. Diese Verklärung  kann allerdings mitunter durchaus den Prozess vorantreiben, etwa wenn Psychotherapie als heilendes, reinigendes, sakrales Ritual erlebt wird. Oft genug aber schadet sie dem Klienten, wenn er eigene Leistungen fälschlicherweise dem “Therapeuten” zuschreibt, was zu schlimmen Formen der Abhängigkeit führen kann. Die Erfolge motivieren dann nicht dazu, sich auf eigene Füße zu stellen, sondern zu schier endlosen “Therapien”.

“Psychotherapie” ist natürlich keine medizinische Behandlung. Schließlich ist  ja auch die Seele keine medizinische Kategorie. “Psychotherapie” ist mitmenschliche Begegnung zur Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts. Sie findet auch außerhalb von Therapieräumen statt:  z. B. in Kneipen, beim Friseur, im Zirkus und im Bett.

“Psychotherapien” sind ein alltägliches Geschehen, auch wenn sich die Mehrheit der Menschen gar nicht bewusst ist, wie oft sie an einer solchen Veranstaltung teilnehmen, als “Therapeut” oder als “Klient” oder beides wechselseitig. ”Therapiert” wird in allen Lebenslagen: Beim Friseur, im Wirtshaus, im Beichtstuhl, auf einer Parkbank, beim (und ganz besonders beim) Telefonieren, in der Mittagspause unter Kollegen… und an vielen Orten der Welt.

Das Grundmuster ist immer das Gleiche:

Ein Mensch (A) wendet sich vertrauensvoll an einen anderen (B). A hat ein Problem P. Er glaubt, dass B ihm bei der Lösung von P helfen könne. Wenn P durch eine Änderung der Einstellungen A’s, seiner emotionalen Reaktionen, seines Denkens, seiner Stimmungen und seines Verhaltens gelöst oder der Lösung näher gebracht werden kann, dann handelt es sich bei einer derartigen Interaktion um eine “Psychotherapie”. Sie besteht aus “psychotherapeutischen” Handlungen. Die Grundstruktur jeder Handlung, nicht nur der “psychotherapeutischen, ist die sog. TOTE-Einheit. Die Abkürzung steht für: “test – operate – test – exit.”

B: “Na wie geht’s?”
A: “Ach, weißt du…!”.
B: “Wieder Ärger mit dem Chef?”
A: “Mensch, du kennst dich doch da aus, bist doch Betriebsrat!”
B: “Um was geht’s denn?”
A: “Plötzlich schneiden mich die Kollegen, und ich glaube, der Boss steckt dahinter.”

So könnte das weitergehen. Das wäre eine “diagnostisches” Interview. B schlägt dem A dann einige Maßnahmen vor, die dieser in die Tat umzusetzen versucht (oder auch nicht) (operate). Wenn sie sich wieder treffen, erfolgt ein neuer Test:

B: “Wie hat’s geklappt?”

War die Aktion erfolgreich, ist das Problem gelöst (exit).

Sonst erfolgen weitere Tests und Operationen – bis zum hoffentlich glücklichen Ende.

Eine “Psychotherapie” besteht, wie jedes Handlungssystem, aus einer Vielzahl miteinander verbundener TOTE-Einheiten. Die Diagnosen (Tests) sind dabei völlig natürliche und zwangsläufige Elemente der “Behandlung”.

Selbst “Therapien”, die mit wenig Worten auskommen und überwiegend aus nicht-sprachlichen Handlungen bestehen, sind kommunikative Prozesse. Man stelle sich einen Klienten mit Höhenangst vor, der mit seinem Therapeuten einen Turm besteigt und der dann oben im Freien übers Geländer schauen soll.

Er steht unten hinter der Tür zum Treppenhaus, die erste Stufe vor sich.

Test: “Bin ich schon oben? Nein.”

Operate: Das Bein auf die erste Stufe stellen.

Test: “Bin ich schon oben? Nein? Bin ich schon tot? Nein.”

Und so weiter. Das Besteigen des Turms ist nicht nur ein körperlicher Vorgang. Er besteht aus TOTE-Einheiten mit einer spezifischen, “therapeutischen” Bedeutung, die in der “Therapie” auch kommuniziert wird. Der Sinn des gesamten Systems “therapeutischer” TOTE-Einheiten lautet im Kern: “Wenn ich einmal den Turm bestiegen und im Freien über die Brüstung geschaut habe, dann werde ich nie wieder Höhenangst haben. Dies sagt mein Therapeut, dies lehrt die Wissenschaft.”

Also: Auch nicht-verbale Handlungen dienen der Kommunikation. Der Klient teilt mit ihnen dem “Therapeuten”, vor allem aber sich selbst etwas mit. Ist der nächste Schritt auf eine höhere Stufe sehr forsch, kann dies bedeuten: “Seht her, ich kann’s, ich habe Mut.” Der folgende Schritt ist ein Test dieser Selbsteinschätzung. Ist er zögerlich, heißt dies vielleicht: “Oje, mir schwindet der Mut!” Der sich daran anschließende Schritt stellt dieses Urteil auf die Probe, usw.

“Psychotherapie” ist wirklich nichts Besonderes. Sie wird aber gern zu einem Mythos gemacht – aus vielen Gründen, aber vor allem auch zur Rechtfertigung der Bezahlung des Therapeuten. Heute allerdings sind formale “Psychotherapien”, also “Psychotherapien” auf Krankenschein leider oftmals verzerrte, suboptimale menschliche Interaktionen, weil durch die Diagnose einer “psychischen Krankheit” sowie die Auswahl angeblich wissenschaftlich bewährter Methoden Handlungsspielräume vorschnell eingeengt werden.

Psychodiagnosen

Wenn man Psychotherapie aus dem oben skizzierten Blickwinkel betrachtet, dann zeigt sich, dass die so genannten Psychodiagnosen, also die Verfahren zur Feststellung der Art und des Ausmaßes einer “psychischen Krankheit” überflüssig sind. Und sie sind nicht nur dies; sie sind gefährlich. Der Glaube, dass ein Klient an einer “psychischen Krankheit” leide, ist mit der Gefahr verbunden, die therapeutische Interaktion zum Schaden des Klienten einzuengen und ihn in Sackgassen zu führen. Denn die Psychodiagnose ist ja ein hypothetisches Konstrukt, eine wissenschaftlich, politisch und ökonomisch motivierte Erfindung, die in der Regel wesentliche Elemente der Situation des Klienten ausblendet und andere Aspekte übertreibt. Der Mensch wird in eine Schublade gepresst; er wird auf die Rolle des “Kranken” reduziert.

Besser wäre es,

  • eine Ist-Situation (I-S) zu diagnostizieren,
  • gemeinsam mit dem Klienten eine Soll-Situation (S-S) festzulegen,
  • nach Wegen von I-S nach S-S zu suchen und
  • dann die entsprechenden TOTE-Einheiten zu durchlaufen.

Das Problem eines Klienten in den ersten Stunden zu diagnostizieren, zu versuchen, es auf den Begriff zu bringen, ist sicher nichts Verwerfliches. Allein – eine  Psychodiagnose im Sinne psychiatrischer Klassifikationsschemata ist ein Begriff besonderer Art – der Psychiatrie-Kritiker Szasz bezeichnet ihn als “strategisches Etikett”. Mit diesem Etikett werden Weichen gestellt für das weitere Leben eines Menschen, dem dieses Etikett angeheftet wird.

Der Begriff ist dann kein unvermeidliches Moment in einem praktischen  Erkenntnisprozess mehr, sondern er wird aus diesem Prozess herausgelöst, wird verdinglicht, gewinnt eine Eigendynamik und bringt Folgen hervor, die jene Verhaltensweisen, auf die er verweist, allein und ohne ihn nicht gezeitigt hätten.Der Diagnostiziert wird durch die Diagnose “psychisch krank” stigmatisiert.

Ein “Spinner” beispielsweise, sanft wie ein Schaf, der sich hin und wieder vor den Ausgeburten seiner Phantasie fürchtet und dem dann das Etikett “Schizophrenie” – gleichsam von Amts wegen – durch die Psychiatrie angeheftet wird… dieser “Spinner” muss damit rechnen, dass ihm Menschen, dem allgemeinen Vorurteil entsprechend, so begegnen, als sei er potentiell gefährlich oder gewalttätig, obwohl seinem Naturell nichts ferner liegt als dies.

Die Menschen, die ihn so behandeln, glauben daran, dass Ärzte, Psychiater, Wissenschaftler dem “Spinner” tief ins Herz und Hirn geschaut und sein wahres Wesen mit ihrer Psychodiagnose zum Ausdruck gebracht hätten. Dass es sich dabei nur im ein “strategisches Etikett handelt, kommt ihnen nicht in den Sinn.

Was ist das Strategische an diesem Etikett? Es legt fest, es legt verbindlich fest, wie zukünftig mit einem Menschen umgegangen werden soll. Die Grundlage dieser Festlegung ist ein irrationaler Glaube, der sich als Wissenschaft tarnt. Es gibt de facto kein psychodiagnostisches Verfahren, dass mit hinlänglicher Sicherheit das Verhalten eines Individuums vorhersagen könnte.

Ich werde immer wieder einmal gefragt, ob man diesen oder jenen nicht als “Psychopathen”, “Borderliner”, “Schizophrenen” usw. bezeichnen könne, weil er sich so oder so verhalten habe. Der Hintergrund: Oft eine Scheidung mit Streit um das Sorgerecht, ein Todesfall mit Erbschaftsauseinandersetzungen, eine Entlassung u. ä. Man sieht hier deutlich, dass auch das Volk begriffen hat, was Psychodiagnosen auch sein können – nämlich strategische Etiketten, mit denen man Leute, mit denen man im Streit liegt, stigmatisieren, degradieren, unglaubwürdig, schlicht unmöglich machen kann.

Keine Form der Hilfe bei psychischen Problemen erfordert Psychodiagnosen im medizinischen Sinn. Es genügt, die Ist-Situation zu analysieren, Ziele zu definieren und dann Hypothesen zu entwickeln, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln man diese Ziele am besten erreicht. Man trägt nichts zur Problemlösung bei, wenn man den Betroffenen als depressiv, schizophren, narzisstisch persönlichkeitsgestört oder wie auch immer bezeichnet. Unsere Sprache ist reich an Möglichkeiten, Seelenzustände, soziale Situationen und Persönlichkeitsmerkmale zu beschreiben. Es gibt keinen vernünftigen Grund, mit pseudomedizinischen Begrifflichkeiten um sich zu werfen. Psychodiagnosen sind aber nicht nur darum verheerend, weil sie das Verhalten anderer unnötig negativ beeinflussen; sie haben auch destruktive Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten (4).

Rolle des “Psychotherapeuten”

Meines Erachtens erklärt die Handlungsstrukturanalyse von Psychotherapien die Befunde der empirischen Therapieforschung zur Bedeutung von formaler Qualifikation und Berufserfahrung in der “Psychotherapie”. Erfahrene und langjährig ausgebildete “Therapeuten” sind nicht effektiver als unerfahrene Laien, weil die erforderlichen “psychotherapeutischen” Handlungsschritte zur Alltagskompetenz jedes Menschen gehören.

Natürlich mag der eine “Therapeut” effektiver sein als der andere; dies aber liegt nicht daran, dass der erfolgreichere mehr Kurse absolviert und Schulungen durchlaufen hat als der weniger effektive; dies liegt auch nicht daran, dass sich der effektivere durch allgemein wertgeschätzte Charaktermerkmale von weniger erfolgreichen unterscheidet. Der Grund dafür besteht schlicht und ergreifend in der Tatsache, dass Menschen unterschiedlich gut dafür geeignet sind, als Hilfs-Ich für Leute zu fungieren, die sich ändern möchten. Diese Eignung beruht keineswegs auf besonders positiven Charaktermerkmalen, im Gegenteil: Häufig eignen sich ausgesprochene Hallodris und Scharlatane für diese Aufgabe besonders gut, wenn sie ein Talent dafür besitzen, mit beruhigender Stimme von oben herab Durchhalteparolen zu intonieren.

Die oben skizzierten Grundstruktur der “Psychotherapie” entspricht der universellen Struktur interaktiver Handlungen. “Psychotherapie” kann jeder (allerdings nicht jeder gleich gut), der guten Willens ist und ernsthaft helfen will. “Psychotherapeuten” – die “Psychotherapie” als professionelle, gar wissenschaftlich fundierte Dienstleistung, wenn nicht Krankenbehandlung inszenieren müssen – sind durch diese wirklichkeitsfremden Einschränkungen gegenüber dem Laien natürlich gehandikapt.

Aus der empirischen Psychotherapieforschung wissen wir definitiv, dass der Therapieerfolg von den gewählten Methoden, von der formalen Qualifikation und der Berufserfahrung des Therapeuten unabhängig ist. Die Persönlichkeit des Therapeuten spielt durchaus eine Rolle, aber keineswegs die dominierende.

Diese für den Laien auf den ersten Blick verblüffende, verwirrende und unglaubwürdige Erkenntnis wird verständlicher, wenn man sich die oben erwähnte Allgegenwart “psychotherapeutischer Prozesse” im Alltag vor Augen führt. Es ist im übrigen auch keineswegs so, dass psychische Störungen durch mechanische Einwirkungen behoben würden, so, wie ein Mechaniker ein defektes Auto repariert. Seelische Heilung ist immer Selbstheilung.Wenn der Klient nicht fähig oder willens ist, die angestrebten Ziele zu verwirklichen, dann scheitert die beste “Therapie” – da hilft dann auch kein Spitzen-Scharlatan mehr.

Der “Therapeut” kann Anregungen und Rückmeldung geben, kann neue Ideen einbringen, Perspektiven eröffnen, motivieren – aber das eigene Denken, Fühlen, Handeln verändern kann nur der “Klient” selbst. Darum zeigt ja auch die empirische Therapieforschung, dass der wesentliche Teil der Varianz der  ”Therapie”-Ergebnisse nicht durch die “therapeutischen” Ingredienzien – Methoden, “Therapeut”, die Tatsache, dass überhaupt “Therapie” stattfindet etc. – erklärt wird, sondern durch die Fähigkeit und Bereitschaft des Klienten, die “therapeutischen” Anregungen und sonstigen Umwelteinflüsse in Ressourcen zur Selbstveränderung zu verwandeln.

Eine Frage des Glaubens

“Psychotherapie” ist im Kern eine Frage des Glaubens. Den Glaubensakt moniere ich eigentlich nicht, nur eine besondere Art des “Glaubens”, die in “Psychotherapeuten”-Kreisen leider weit verbreitet ist: Hier wird der Glaube mitunter als eine höhere Form des Wissens (absolute Wahrheit plus unerschütterliche Gewissheit) betrachtet.

Ähnliches finden wir ja auch bei Theologen. Und dies ist kein Zufall. Der Glaube als Wissensersatz ist charakteristisch für autoritäre Systeme. Er ist infantil und beruht auf einem unbewussten Mechanismus, der sich in früher Kindheit herausbildete, als sich das hilflose Kind einen beschützenden Vater wünschte. Freud betrachtete diese frühkindliche Sehnsucht als Wurzel des Gottesglaubens; er vergaß aber hinzuzufügen, dass sie auch die Wurzel seines persönlichen Erfolges war.

Der Glaube im Sinne einer erhöhten subjektiven “a-priori-Wahrscheinlichkeit” von Hypothesen vor ihrer Prüfung ist demgegenüber ein wichtiger Motivator im “therapeutischen” Geschehen, ja, dies wäre ohne jenen nicht nur bar jeder Vernunft, sondern auch Leidenschaft.

Der Glaube als Motivator ist charakteristisch für innovative Systeme. Er ist erwachsen, reif und beruht auf der Erfahrung erfolgreicher Meisterung von Problemen mit vielen unbekannten Faktoren. Der Glaube muss in jedem Fall im Spiel sein, da man ja nie wissen kann, ob man von I-S ausgehend mit den gewählten Mitteln auf dem eingeschlagenen Weg tatsächlich nach S-S gelangen wird.

Damit die “Psychotherapie” vorankommt, müssen beide, “Therapeut” und Klient an den Erfolg der Mittel und die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges glauben. Sie müssen sogar, wider jede Vernunft und Erfahrung, felsenfest daran glauben, dass Weg und Mittel, für die sie sich entschieden haben, die besten aller möglichen Wege und Mittel seien.

Genau hier sitzt natürlich der Ansatzpunkt für das Eindringen einer irrationalen Form des Glaubens im Sinne einer höheren Form des Wissens, also im theologischen Sinn. Das ist die Schwachstelle. Sie ist die unerschöpfliche Quelle narzisstischer Versorgung, aus der sich alle Gurus und “psychotherapeutischen” Wundermänner nähren. Sie ist der fruchtbare Boden, auf dem die Wunderkuren wuchern.

Das Dilemma ist: In dieser Situation müssen “Therapeuten” und Klienten mit dem Feuer spielen. Wohl denen, die dies augenzwinkernd tun können. Sonst besteht die Gefahr, dass die Psychotherapie zu einer ko-narzisstischen Veranstaltung entartet, zu einem Nullsummenspiel, bei dem letztlich der Narzisst, also der “Psychotherapeut” gewinnt und der Ko-Narzisst, der Klient verliert.

Das Augenzwinkernde kann sich in unterschiedlichen Formen etablieren, das Entscheidende ist der Als-ob-Charakter: Man weiß, dass es eine Übertreibung ist, aber man lässt sich dennoch von ihr mitreißen. Das ist so wie in der Werbung. Uns ist durchaus klar, dass die Werbung lügt, aber wir lassen uns dennoch von den Werbesprüchen zum Kauf animieren. Ich beschreibe hier keine für die Psychotherapie im engeren Sinne spezifische Situation. Derartiges zeigt sich immer, wo Menschen einander  motivieren, dieses zu tun oder jenes zu lassen. Hier kommt, im günstigsten Fall, eine gutartige Form von Betrug und Selbstbetrug ins Spiel.

Doch leider wird unter der ideologischen Vorherrschaft des medizinischen Modells psychischer Krankheiten nur zu oft eine bösartige Form realisiert.

Mythen der Psychotherapie

Moderne Menschen brauchen keinen “Psychotherapeuten”, der wie eine Mischung aus Arzt, Pfarrer und Schamane auftritt. Sie brauchen keine “Psychotherapie”, die wie eine alleinseligmachende Amtskirche organisiert und staatlich abgesichert ist. Die heutige kassenfinanzierte “Psychotherapie” entspricht – von rühmlichen Ausnahmen abgesehen – weitgehend noch dem Menschenbild des 19. Jahrhunderts, das in unserer Gesellschaft immer noch nicht völlig überwunden ist und dass sich im psychiatrischen Bereich besonders hartnäckig hält.

Es ist ratsam, die Realität der Psychotherapie durch die Lupe der Mythentheorie zu betrachten. Die vorherrschenden Psychotherapie-Mythen haben folgende Struktur:

A. Typ “Kirche”.

Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:

  1. Es gibt eine alleinseligmachende Kirche.
  2. Es gibt eine reine Lehre.
  3. Die reine Lehre wird in hohen Schulen vermittelt.
  4. Es gibt eine formale Hierarchie der Priester.
  5. Um auf die höheren Ebenen der Hierarchie aufzusteigen, muss man die hohe Schule absolviert haben.
  6. Die Heilkraft des Priesters wächst mit der Höhe seiner Position in der Hierarchie.

(Beispiele: die Psychoanalyse, die Verhaltenstherapie)

B. Typ “Sekte”.

Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:

  1. Es gibt einen alleinseligmachenden Weg.
  2. Es gibt eine reine Lehre.
  3. Die reine Lehre wird von einem Wundermann vermittelt.
  4. Es gibt eine informelle Priester-Hierarchie der persönlichen Nähe zum Wundermann.
  5. Um auf die höheren Ebenen der Hierarchie aufzusteigen, muss man sich der Gunst des Wundermanns erfreuen.
  6. Die Heilkraft des Priesters hängt von der persönlichen Nähe zum Wundermann ab.

(Beispiele: Die Psychoanalyse zu Beginn der Karriere Freuds, diverse esoterische Psycho-Kulte, alle “Psychotherapie-Systeme, die stark auf eine Gründerfigur zugeschnitten sind)

In beiden Modellen gibt es eine strikte Trennung zwischen “Laien” und “Fachleuten”. Die “Fachleute” unterscheiden sich von den “Laien” dadurch, dass sie in eine Lehre eingeweiht wurden und in einer Hierarchie aufgestiegen sind. Sie verfügen über ein “okkultes” Expertenwissen, das angeblich nicht durch Bücher vermittelt werden kann, sondern auf höheren Einsichten aus numinosen Quellen (z. B. der eigenen Erfahrung und Praxis) beruht.

Die empirische Psychotherapieforschung stützt keine dieser beiden Psychotherapie-Mythen. Es gibt tausende von “Psychotherapie”-Studien. Auch wenn man skeptisch gegenüber der Wissenschaft ist, sollte man einräumen, dass sich niemand sonst außer der empirischen “Psychotherapie”-Forschung derart ausführlich und umfangreich mit diesem Gegenstand beschäftigt hat.

Es zeigte sich: Weder die Methoden, noch die Qualifikation des Therapeuten oder seine Berufserfahrung haben einen nennenswerten Einfluss auf das Ergebnis der “Psychotherapie”. Die Daten sprechen da eine ganz eindeutige Sprache. Beide psychotherapeutischen Mythen (“Kirche” und “Sekte”) beruhen auf Autorität. Bekanntlich nagt die empirische Forschung immer an den Fundamenten jeder Autorität. So auch hier. Die empirische Forschung zerstört den Mythos der Wissenschaftlichkeit aller gängigen “psychotherapeutischen” Verfahren. Alle kochen nur mit Wasser, so wie der Frisör, der Gastwirt, der Taxifahrer, denen Menschen ihr Seelenleid bekunden, auch.

Und nun sollte man einmal tief durchatmen und sich fragen, ob diese Befunde wirklich überraschend sind. Es ist sicher nicht überraschend, dass wir dazu neigen, ein menschliches Unternehmen, in dem es um Heil und Heilung geht, geistig nach uralten Mustern zu erfassen und einzuordnen, nämlich nach dem Muster “Kirche” oder “Sekte”, “Schamane” oder “Priester”. Diese Muster setzen eine Hierarchie voraus – und wir Menschen neigen dazu, unsere Verhältnis hierarchisch zu ordnen, sowohl gedanklich, als auch in der Wirklichkeit.

Wir schauen auf die oben in der Hierarchie und halten sie für besonders wichtig. “Die da unten”, das Fußvolk zählt nicht.

Sicher, ich höre den Einwand: “Kein Psychotherapeut betrachtet seine Patienten oder Klienten als Fußvolk, als minderwertig.”

Stimmt: Jeder “Psychotherapeut” wird betonen, wie groß seine Wertschätzung für Sie sei. Dennoch zögert er nicht, Ihnen Diagnosen anzuhängen, die, um es milde zu formulieren, nicht selten hochgradig beleidigend sind.

Wie auch immer: Viele Patienten bzw. Klienten lassen sich diese Diagnosen nur zu gern anhängen. Sie schauen zu ihren “Therapeuten” auf. So sind wir Menschen nun einmal gestrickt, vor allem, wenn es uns schlecht geht. Dann fehlt den meisten das Selbstbewusstsein, dass sie gerade in einer prekären Situation dringend benötigen würden.

Aber auch hier spricht die Psychotherapieforschung aber eine eindeutige Sprache: Der mit Abstand wichtigste Erfolgsfaktor der Psychotherapie ist die Selbstheilungskraft des Klienten oder Patienten. Die “Arbeit” machen, wie so oft, die Menschen “ganz unten”. Erfolge bei dieser “Arbeit” sollten eigentlich das Selbstbewusstsein der Klienten steigern. Doch in “Psychotherapie”-Systemen nach dem Muster “Kirche” oder “Sekte” ist dies nicht der Fall. In diesem wird der Erfolg auf die “Leistung” des “Therapeuten” bzw. des “Gurus” zurückgeführt. Das ist aber kontraproduktiv.

Die kirchen- bzw. sektenförmigen “Psychotherapien” haben dennoch nach wie vor eine nützliche Funktion – für Menschen, die in den überkommenen hierarchisch-autoritätsgläubigen Geisteshaltungen befangen sind, für Menschen, für die Erfolg weniger wichtig ist als Anpassung und Unterordnung. Diese Menschen, die das Leben über sich ergehen lassen, brauchen so etwas, natürlich. Nichts anderes.

Für alle anderen könnte sich ein neuer Mythos als hilfreich erweisen, der Mythos der Beratung.

C. Typ “Beratung”.

Dieser Typ ist durch folgende Glaubenssätze gekennzeichnet:

  1. Es geht nicht um “Heil” und “Heilung”, sondern um die Analyse eines Ist-Zustandes, die Bestimmung eines Soll-Zustandes und die Auswahl von Wegen und Mitteln, die zu diesem Soll-Zustand führen könnten.
  2. Die Weltsicht des Klienten ist entscheidend. Seine Maßstäbe, Werte, Vorlieben und Abneigungen zählen.
  3. Der Berater liefert Input (Wissen, Hypothesen, alternative Sichtweisen) und gibt Feedback (auf Basis der Werte des Klienten).
  4. Der Berater ist nicht “Arzt”, “Heiler” oder “Priester”, sondern der “Anwalt” seines Klienten.
  5. Die Beziehung zwischen Berater und Klienten beruht nicht auf Autorität oder “überlegenem Wissen”, sondern auf zuvor definierten Aufgabenverteilungen und Zielen.

(Beispiele: Common Factors Movement, buddhistische Beratung auf Basis der ursprünglichen Lehren Buddhas)

Buddhas Erben

Die Ergebnisse der modernen “Psychotherapie”-Forschung stützen eindeutig den Typus “Beratung”. Auch dieser Typ ist ein Mythos im Sinne einer konzentrierten Erfolgsgeschichte für moderne aufgeklärte Menschen, die selber denken können und wollen. Es ist eine Erfolgsgeschichte, an die man glauben kann, ohne mit Zahlen, Daten und Fakten in Widerspruch zu geraten. Es ist eine Erfolgsgeschichte, an die man glauben kann, ohne sich fragwürdigen Autoritäten unterordnen zu müssen. Ja, dieser Mythos ist Hoffnung, die enttäuscht werden kann. Aber er ist keine “leere Hoffnung” im Sinne des alten Spruchs: “Hoffen und Harren hält manche zum Narren.” Sie ist “docta spes” (Ernst Bloch), hat Hand und Fuß.

Vor 2500 Jahren sprach Buddha zu seinen Jüngern:

“Glaubt nicht an Rituale, Heilige Schriften und Autoritäten. Glaubt noch nicht einmal mir. Probiert alles selber aus. Was Leiden mindert, behaltet bei. Verwerft, was Leiden verstärkt.”

Patientenrechte

Es geht hier nicht nur um akademische Fragen, um Forschung und Wissenschaft. Es geht ans Eingemachte, um die Praxis, konkret: um die Beachtung der Patientenrechte. So ist ein “Psychotherapeut” z. B. verpflichtet, den Patienten bzw. Klienten über Behandlungsalternativen zu informieren.

Ein “Psychotherapeut”, der seine Aufklärungspflicht ernst nimmt, hätte seinen Klienten sinngemäß folgendes mitzuteilen:

“Auf Grundlage von ein paar tausend Therapiestudien und ein paar Jahrzehnten Forschungsarbeit kann als gesichertes Wissen gelten, dass der Erfolg der Psychotherapie nicht von der gewählten Methoden abhängt. Der Erfolg hängt auch nicht von der formalen Qualifikation des Therapeuten ab, von seinem Studium, von seiner Ausbildung, seiner Berufserfahrung. Auch die wissenschaftlichen Störungs- und Behandlungstheorien haben keinen Einfluss auf den Erfolg. Wir wissen heute, auf Basis von ein paar tausend Studien und ein paar Jahrzehnten intensiver Forschung, dass folgende Kriterien für Sie wichtig sind:

  1. Haben Sie Vertrauen zum Therapeuten (unabhängig von seinen Titeln, Orden und Ehrenzeichen)?
  2. Berücksichtigt der Therapeut Ihre Sicht der Dinge angemessen?
  3. Erscheint Ihnen sein Behandlungsvorschlag plausibel?
  4. Entsprechen die von ihm vorgeschlagenen Therapieziele Ihren Bedürfnissen?
  5. Gewährt er Ihnen genug Freiraum zur Entfaltung eigener, selbstbestimmter Initiative und Aktivität (sofern Sie dies wünschen)?
  6. Ist er Ihnen sympathisch genug, um gut mit ihm zusammenarbeiten zu können?”

Ein “Psychotherapeut”, der die Patientenrechte respektiert, hätte dem Patienten bzw. Klienten also zu sagen:

“Die beste Behandlungsalternative für Sie (und für jeden anderen Klienten), ist die Therapie (gleich welcher Art) bei einem Therapeuten, bei dem sie möglichst viele Fragen der obigen Art aus tiefstem Herzen mit “Ja!” beantworten können. Im übrigen gibt es Selbsthilfegruppen, die keine schlechteren Ergebnisse haben als professionelle Helfer. Manchmal genügt ein Selbsthilfebuch. Manche haben genug Kraft, ohne fremde Hilfe weiterzukommen. Auch bewusstseinsverändernde Substanzen (5) oder geistlicher Beistand können allein oder in Ergänzung zur Therapie hilfreich sein.”

Kontextuelles Modell

Die moderne “Psychotherapie”-Forschung stützt das kontextuelle Modell der Psychotherapie, das erstmals von Frank & Frank (1991) formuliert wurde. Dieses Modell erklärt die Wirksamkeit von “Psychotherapie” wie folgt:

  1. Es gibt eine emotionale, vertrauensvolle Beziehung zwischen einem Hilfesuchenden und einem Helfer.
  2. Die Beziehung findet in einem Handlungsfeld statt, dessen Mission die “Heilung” ist (“healing setting”).
  3. Der Hilfesuchende glaubt, dass der Helfer ihm in diesem Handlungsfeld helfen kann und will.
  4. Hilfesuchender und Helfer lassen sich von einer gemeinsamen Erklärung des Problems und der Wege zu seiner Überwindung leiten (wobei diese Erklärung keineswegs “wahr” sein muss).
  5. Hilfesuchender und Helfer vollziehen ein “Ritual” (praktizieren ein Verfahren, wenden Methoden an), um das Ziel des Hilfesuchenden zu erreichen.
  6. Helfer und Hilfesuchender sind davon überzeugt, dass sie das Problem des Hilfesuchenden gemeinsam meistern können.

Damit keine Missverständnisse entstehen, möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass unter einem “healing setting” keineswegs zwangsläufig das Behandlungszimmer eines “Psychotherapeuten” zu verstehen ist. Es kann auch der Stammplatz an der Theke sein, beispielsweise.

Es ist allerdings ein Missverständnis zu glauben, man könne auf Methoden verzichten, nur weil sie allesamt – statistisch betrachtet – gleich wirksam sind. Irgend eine Methode muss man immer anwenden, das gehört zum “Spiel” dazu. Das kontextuelle Modell legt nahe, Methoden auszuwählen, die u. a. mit

  1. dem Weltbild,
  2. der Kultur und
  3. den Hypothesen des Klienten zu den Ursachen der Störung und den besten Wegen zu ihrer Überwindung

soweit wie möglich übereinstimmen.

Auch das Gespräch am Tresen oder im Friseur-Salon wird einer besonderen Methode folgen, wenn es erfolgreich ist. Dies gilt auch dann, wenn der “Therapeut” in diesen Fällen gar nicht weiß, dass er ein “Therapeut” ist, geschweige denn, dass er einer Methode folgt. Manche Leute haben so etwas einfach im Blut. Dennoch unterscheiden sich hilfreiche, heilende Gespräche im Alltag von normalen Unterhaltungen. So etwas ist leider noch unzulänglich erforscht, man könnte viel daraus lernen.

Da es auf die Art der Methoden gar nicht ankommt, sondern darauf, dass der Klient “auf sie schwört”, kann man natürlich auch mit alternativen oder esoterischen Methoden arbeiten, wenn der Klient diesen Methoden vertraut und deren Anwendung wünscht. Generell gilt, dass alles, was die genannten Faktoren der Wirksamkeit von “Psychotherapie” verstärkt, verwirklicht werden sollte.

Es sollte unmittelbar einleuchten, dass eine “Psychotherapie” mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitert, wenn der “Therapeut”

  • dem Klienten eine Diagnose anheftet, mit der er sich nicht identifizieren kann,
  • ihm ein Störungsmodell mitteilt, dass ihm nicht plausibel erscheint,
  • ihn mit Methoden behandelt, die ihm widerstreben.

Der Klient wird dann kein Vertrauen zu seinem Therapeuten und keine Hoffnung auf Erfolg entwickeln und demgemäß kein gutes Arbeitsbündnis eingehen oder die “Therapie” abbrechen. Dies gilt für formale “Psychotherapien” genauso wie für Alltagsgespräche, die in problemlösender Absicht geführt werden.

Einer der Gründe dafür, dass Laien tendenziell die besseren “Psychotherapeuten” sind, liegt daran, dass sie es einfacher haben als psychoschulisch Verbildete, diese doch eigentlich recht einfachen Sachverhalte zu durchschauen. Professionelle “Psychotherapeuten” sind ja nur zu oft Opfer ihrer Ausbildung, weil sie die Lehren ihrer Psychoschulen nicht durchschauen.

Um was geht es in der “Psychotherapie”? Der Klient will sich verändern. Der Helfer kann ihm einen Rat geben, ihn auf Bewährtes hinweisen, ihn vor Gefahren warnen. Aber sich verändern, also die eigentliche Arbeit machen muss der Klient schon selber. Dazu kann er keine Theorie brauchen, die er nicht versteht oder die nicht mit seinem Denken und Fühlen übereinstimmt. Ihm nützen Methoden nichts, die seinen Lebenserfahrungen und seinen Erfahrungen mit sich selbst widersprechen.

Ihm nützen also keine Klugscheißer und Besserwisser als Helfer. Er braucht Leute, die ihn dabei unterstützen, seine inneren Hilfsquellen zu aktivieren und sinnvoll zu koordinieren. Wenn Tarot, I Ging und Astrologie dabei helfen… warum nicht? Wenn Psychoanalyse dabei hilft… warum nicht? Verhaltenstherapie… warum nicht. Es kommt darauf an, dass diese Mittel und Ideen als Instrumente eingesetzt werden, um das Vertrauen des Klienten auf die eigene Kraft zu verstärken. Wenn der “Therapeut” damit aber vor allem unter Beweis stellen will, was für ein “toller Hecht” er doch ist, dann kann die Veranstaltung nur in die Hose gehen.

Vor einiger Zeit fand ich in einem Internet-Gästebuch einer Suchttherapie-Einrichtung einen Eintrag eines ehemaligen, sehr, sehr dankbaren Patienten über den Leiter dieses Hauses, der mit dem Satz endete: “Zu Herrn Dr. X kann ich nur aufblicken!”

Ich traute meinen Augen kaum. Dieser Eintrag stand da, unkommentiert, und er stand da immer noch, als ich sechs Wochen später den Link zu diesem Gästebuch noch einmal anklickte. Der Patient, der diesen Eintrag verfasste, wusste vermutlich nicht, dass er damit ein vernichtendes Urteil über diese Einrichtung im Allgemeinen und über diesen Herrn Dr. X im Besonderen fällte.

Marketing-Leute wissen: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Was nützt dem Kunden ein Gerät mit tollen Funktionen, wenn er diese gar nicht braucht. Was nützt dem Klienten eine hochgeistige, wissenschaftlich durchgestylte “Psychotherapie”, wenn die mit seinen inneren Hilfsquellen, seinen Bedürfnissen und Zielen gar nichts zu tun hat? Was nützt einem Patienten eine “Therapie”, wenn er hinterher dankbar zum Personal aufschaut, anstatt sich selbst auf die Schulter zu klopfen, stolz zu sein, auf die eigene Leistung?

“Psychotherapie” ist bemerkenswert effektiv. Dies kann man trotz aller Kritik nicht sinnvoll bezweifeln. Es gibt zahllose Patientenbefragungen, die eindeutig die Ergebnisse der Studie des Apotheken-Blättchens bestätigen. Die große Mehrheit der Patienten zeigt sich zufrieden mit den Bemühungen ihrer “Psychotherapeuten”. Das ist besser als anderes herum, klar.

“Psychotherapie” könnte aber noch effektiver sein. Meines Erachtens ist der beste Weg zur Effektivitätssteigerung die bessere Beachtung und Erforschung der allgemeinen Faktoren des kontextuellen Modells.

Das Dilemma der Psycho-Experten

Nach dem bisher Gesagten könnte der Eindruck entstehen, dass ich “Psychotherapeuten” entweder für Naivlinge oder für Schlitzohren halte, wenn nicht gar für narzisstisch Gestörte, bei denen sich Geltungssucht mit Geschäftssinn paart. Doch so einfach ist das Leben nicht gestrickt. Selbstverständlich ist mir die Zwangslage bewusst, in der “Psychotherapeuten” unweigerlich gefangen sind – unabhängig davon, ob ihnen dies bewusst ist oder nicht. Es handelt sich hier um eine Zwangslage, mit der alle Psycho-Experten konfrontiert sind – ganz gleich, ob sie darunter leiden oder ob sich ganz glücklich damit sind.

Menschen, die psychologisches Wissen professionell anwenden, stecken in einem Dilemma: Sie müssen mit gefälschten Karten spielen, wenn sie ihre Kunden nicht betrügen wollen. Dieses Dilemma ist die Konsequenz eines Widerspruchs zwischen Selbst- und Fremdbild und der damit verbundenen Erwartungen.

  • Ein Unternehmer erwartet, dass psychologisch fundierte Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität oder zur Förderung der Kundenbindung mit Gewissheit oder an diese grenzender Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führen.
  • Ein “Psychotherapie”-Klient will Gewissheit, dass ihn die gewählte Methode auch von seinen quälenden Ängsten, Depressionen oder Zwängen erlöst.
  • Ein Militärstratege will sich darauf verlassen können, dass die Psycho-Trainings zur Förderung des Kampfeswillens auch die Zahl der getöteten Aufständischen bzw. Terroristen erhöhen.

Die Psycho-Experten (Psychiater, Psychotherapeuten, Trainer, Berater aller Arten) fühlen sich jedoch ihrer Wissenschaft verpflichtet. Sie sind stolz darauf, auf wissenschaftlicher, auf empirischer Grundlage zu arbeiten. Je ernster sie ihre Wissenschaft nehmen, je besser sie diese verstehen, desto deutlicher sehen sie aber auch, dass ihnen ihre Wissenschaft keine Gewissheiten zu bieten vermag. Diese entströmt noch nicht einmal dem Füllhorn der viel reiferen strengen Naturwissenschaften wie der Physik oder der Chemie. Die Psychologie kann daher nicht garantieren, dass auf ihrer Grundlage entwickelte Maßnahmen zur Veränderung menschlichen Verhaltens und Erlebens tatsächlich greifen.

Die Crux besteht darin, dass diese Maßnahmen, welcher Art auch immer, nur dann halbwegs realistische Erfolgsaussichten besitzen, wenn gleichermaßen Psycho-Experten und Kunden daran glauben. Die Maßnahmen zur Steuerung menschlichen Verhaltens und Erlebens sind schließlich keine mechanischen Eingriffe ins Räderwerk lebloser Maschinen. Sie sind vielmehr ein System von Impulsen, von Anregungen, die von Psycho-Experten und Kunden aufgegriffen werden müssen.

  • Der Wirtschaftspsychologe muss sich engagiert in Arbeitsprozesse einbringen, sich in Mitarbeiter und Vorgesetzte einfühlen, Visionen entwickeln und animieren; die Mitarbeiter und Vorgesetzten müssen, sich mitreißen lassen, sich neue Ideen anverwandeln, sich Strategien ausdenken und an sich arbeiten.
  • Der Psychotherapeut muss Empathie für seinen Patienten entwickeln, dessen inneren Widerstände gegen Veränderung überwinden, dessen Hoffnung verstärken; der Patient muss seine Selbstheilungskräfte entdecken, sich Ziele setzen und diese beharrlich anstreben.
  • Der Militärpsychologe muss sich in die Front-Situation hineinversetzen, muss die Bedürfnisse der Soldaten erspüren, ihre Hemmungen ergründen; die Soldaten müssen Phantasien im Sinne des Trainings entwickeln und das Gelernte auf die Realität im Einsatzgebiet übertragen.

Es ist offensichtlich, dass ohne einen starken Glauben an die gewählten Maßnahmen kein nennenswerter Effekt zu erwarten ist. Die Wissenschaft sagt unmissverständlich, dass die Validität psychologischer Erkenntnisse fast immer höchst fraglich ist. Je näher ein psychologisches Experiment dem Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis kommt, desto weniger lässt es sich auf das reale Leben übertragen. Je lebensnäher eine Studie jedoch ist, desto schwieriger ist es, aus ihr logisch zwingend allgemein gültige Erkenntnisse abzuleiten.

Die Folge dieses Dilemmas ist eine professionelle Dissoziation, eine Bewusstseinsspaltung. Ein Psycho-Experte, der sein Fach ernst nimmt, muss in der Praxis agieren, als besäße er die absolute Gewissheit, muss Vertrauenswürdigkeit ausstrahlen – in der Theorie aber muss er sich dem unausweichlichen methodischen Zweifel unterwerfen, darf Hypothesen nicht mit Beweisen verwechseln.

Manche Menschen meistern diesen Spagat dank eines elastischen Naturells mühelos; andere müssen sich jeden Tag aufs Neue überwinden. Manche flüchten aus dem Dilemma, indem sie sich aus der Praxis oder aus der Wissenschaft zurückziehen. Wir finden dann auf der einen Seite Professoren, die sich in mathematischen Modellen verlieren und hinterher gequält und lustlos nach empirischen Anwendungen für ihre Formeln und Zahlenwerke suchen. Auf der anderen Seite treiben Gurus und Zaubermänner ihr Wesen auf Grundlage uralter, esoterischer Weisheit.

Grenzen psychologischen Wissens

Es ist wahr: Das psychologische Wissen ist fehlerhaft, unvollständig, oft vage und oft viel zu simpel, um der Vielfalt des realen Lebens gerecht zu werden. Und es ist wahr: Die Psycho-Experten, die Psychologen, Psychiater, der Heilpraktiker und sonstigen zur Seelenheilkunde Berufenen sind nur zu oft narzisstisch Gestörte, die am Helfersyndrom leiden und oft sich selbst nicht helfen können. Ja, es ist wahr: Nicht selten biedern sich die Psycho-Experten geschmeidig und wohlfeil den Mächtigen an und vertreten in erster Linie deren Interessen, dann die eigenen und zuletzt, aber auch nur im günstigsten Fall, die Interessen ihrer Klienten. Wäre es nicht besser, diese Typen zum Mond zu schießen und andere Wege zum Seelenheil zu suchen?

Ich vergleiche die Situation der Psycho-Experten gern mit den Seefahrern in den Zeiten der großen Entdeckungen. Die Navigationsinstrumente waren unzulänglich, die Seekarten Ausgeburten überhitzter Phantasien und unausgegorener Sehnsüchte. Die Seefahrer waren nicht selten von der Gier nach Gold und Macht zerfressen, waren Piraten, waren skrupellose Seewölfe. Und doch entdeckten sie neue Welten, und doch brachten sie Schätze heim, und doch erweiterten sie das Wissen und die Möglichkeiten der Menschheit.

Der aufmerksame Leser wird sich fragen, ob man meine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt psychologischer Erkenntnis nicht auch auf die Befunde der modernen “Psychotherapie”-Forschung beziehen müsste. Vielleicht trifft es ja gar nicht zu, dass Methoden kaum eine Rolle spielen und dass der “Psychotherapeut” viel weniger zum Erfolg einer “Psychotherapie” beiträgt als der Klient oder Patient.

Natürlich muss man auch der “Psychotherapie”-Forschung mit Skepsis begegnen, denn ihre Methoden sind durchaus fragwürdig. Vielleicht liegt sie ja furchtbar schief. Vielleicht! Allein, das macht die Situation nicht besser. Die Ratlosigkeit wird größer, nicht kleiner durch diese allumfassende kritische Einstellung. Sie ist also kein Weg aus der geschilderten Zwangslage.

Seelenpolitik

Die “Psychotherapie” ist heute fest im Griff des medizinischen Systems, auch wenn sie von psychologischen “Psychotherapeuten” ausgeübt wird. Sie ist eine der beiden Hauptsäulen der Psychiatrie, neben der Behandlung mit Psychopharmaka. Dies bedeutet, dass ein kontextuelles Modell der “Psychotherapie” zur Zeit und vermutlich auch auf lange Sicht keine Chance hat. Die “Kirchen” und die “Sekten” werden weiterhin das Feld beherrschen, weil die Kräfte des Marktes und der Politik keine Alternativen (oder allenfalls als Randerscheinungen) dulden.

Unsere Gesellschaft betrachtet

  • Abweichungen von den Normen der Gesellschaft bzw. den Erwartungen der Mitmenschen
  • sofern sie, obwohl nicht kriminell,
  • rätselhaft sind
  • und mehr oder weniger bedrohlich wirken

als ein korrekturbedürftiges medizinisches Problem.

Wie wir gesehen haben, hat das tatsächliche Geschehen in der “Psychotherapie” nichts, aber auch gar nichts mit den sonst in der Medizin üblichen Abläufen zu tun. Auch die Rolle und Funktion der “Therapeuten” lässt sich nicht mit anderen Arbeitsfeldern der Medizin vergleichen. Aber unsere Gesellschaft hat sich entschieden, dass medizinische Institutionen für die Kontrolle von Normabweichungen, die nicht kriminalisiert werden können, zuständig sein sollen.

Seit Jahrzehnten wird der Bereich von Verhaltensmustern, die als medizinisch behandlungsbedürftig betrachtet werden, ständig ausgeweitet. Medizinkritiker behaupten, dies entspräche den Geschäftsinteressen der Pharma-Industrie, die bekanntlich mit Psychopharmaka sehr gute Geschäfte macht.

Für diese These spricht die Tatsache, dass die eine Hauptsäule der Psychiatrie, nämlich die Psychopharmaka-Behandlung, gegenüber der zweiten, der psychotherapeutischen Hauptsäule eine immer größere Bedeutung gewinnt. Schwerere Normabweichungen wie beispielsweise die so genannten Schizophrenien oder die diversen Formen der “Depression” bzw. der “manisch-depressiven Störungen” werden kaum noch oder höchstens begleitend psychotherapeutisch behandelt.

Doch aus meiner Sicht greift diese vordergründige, nur ökonomische Betrachtung zu kurz. Nach meinem Verständnis werden in unserer Gesellschaft immer mehr Verhaltensmuster pathologisiert, weil die moderne Industriezivilisation immer rigidere Verhaltenserwartungen an ihre Bürger stellt, denen immer weniger Mitmenschen gewachsen sind.

Dass die Pharmaindustrie über diese Entwicklung ebenso wenig unglücklich ist wie die Psychiatrie, will ich gern einräumen. Selbstverständlich versuchen diese Kräfte auch, die Entwicklung voranzutreiben. Aber die eigentlichen Ursachen der erwähnten Entwicklung sind nicht im Bereich der ökonomischen Interessen dieser Wirtschaftszweige zu suchen.

Der Hauptgrund ist darin zu sehen, dass der Anpassungsdruck auf die Individuen in immer stärkerem Maße identitätszerstörende Ausmaße annimmt und dass zugleich die identitätswahrenden Faktoren immer stärker abgebaut werden.

Einige Beispiele:

Einerseits wandeln sich die beruflichen Anforderungen durch technische und organisationsstrukturelle Neuerungen beständig, gleichzeitig wird die Identifizierung mit den Unternehmen immer schwieriger, weil sie nicht mehr patriarchalisch geführt werden, sondern anonymen Aktionären gehören, die ihre Top-Manager schneller auswechseln als Fußballvereine ihre Trainer.

Die Bedeutung des Nationalstaats nimmt beständig ab und die Macht überstaatlicher anonymer Bürokratien fortwährend zu. Dadurch wird die nationale Identität, einst ein Kernbereich der individuellen Identität, geschwächt.

Der Zwang zu häufigen Wohnortswechsel untergräbt die Bindung an die Heimat, die der identitätsprägende Faktor schlechthin ist.

Kurz: Der Anpassungsstress nimmt kontinuierlich zu und der entscheidende Schutzfaktor gegenüber diesem Stress, die eigene Identität wird immer brüchiger.

Dieser Prozess ist eindeutig gesellschaftlicher Natur und er betrifft in mehr oder weniger ausgeprägtem Maß alle Individuen. Der eine ist aufgrund seines Naturells resistenter gegenüber solchen Faktoren als der andere; aber niemanden lässt diese Entwicklung auf Dauer kalt. Und so steigt die Zahl der Menschen, die aufgrund mehr oder weniger skurriler Verhaltensmuster und Erlebnisweisen den Anforderungen ihres Lebens nicht mehr in dem Ausmaß gewachsen sind, das von ihnen erwartet wird.

Angesichts der heute vorherrschenden neo-liberalen Sicht, dass jeder seines Glückes Schmied sei (6), liegt es natürlich nahe, die Resultate des beschriebenen Prozesses zu pathologisieren und somit die Ursachen ins Individuum zu verlagern.

Stärker noch als die Psychopharmaka-Behandlung ist die so genannte professionelle “Psychotherapie” ein Garant des Gelingens dieser ideologischen Manipulation. Denn der Psychopharmaka-Patient kann sich sagen, dass etwas mit seinem Gehirn nicht stimme, was durch Medikamente korrigiert werden könne, wohingegen der durch eine Psychodiagnose stigmatisierte Psychotherapie-Patient gehalten ist, nach Ursachen in seiner Persönlichkeit zu suchen, die zu verändern er sich motiviert zeigen müsse – obwohl ihm gleichzeitig suggeriert wird, er leide unter Mechanismen, die sich seiner Kontrolle entzögen und die er nur mit der Hilfe von Experten überwinden könne. Double Bind vom Feinsten. Verwirrung pur. Jeder Manipulation sind Tür und Tor geöffnet.

Mehr nationale Solidarität, mehr Heimatverbundenheit, mehr Familiensinn, mehr Gespräche in der Stammkneipe und mit dem Friseur würden weniger Notwendigkeit zur “Psychotherapie” bedeuten. Das steht fest. Jeder sollte sich das klarmachen, ganz gleich, wo er politisch steht. Es liegt auf der Hand.

Zehn Thesen zur “Psychotherapie”

Die folgenden zehn Thesen beziehen sich nicht auf die “Psychotherapie” im Sinne des Beratungsmodells. Dieses Modell sprengt die Grenzen des herkömmlichen medizinischen Modells, fügt sich in den Rahmen des kontextuellen Modells und berücksichtigt die soziale Einbindung des Klienten. Sie degradiert ihn nicht zum “psychisch Kranken”, zum Reaktionsautomaten, der nur mit Hilfe von Experten zur “Normalität” zurückfinden könne.

Die folgenden zehn Thesen beziehen sich auf die “Psychotherapie” im Rahmen des medizinischen Modells psychischer Krankheiten.

  1. “Psychotherapien” stigmatisieren.Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, räumt dadurch zwangsläufig ein, “psychisch krank” zu sein. Damit die Krankenkasse diese Dienstleistung bezahlt, muss eine psychiatrische Diagnose erstellt werden. Auch wenn diese geheim bleibt, wird der Betroffene fortan alle negativen Einstellungen seiner Mitmenschen bezüglich “psychisch Kranker” im Allgemeinen und gegenüber Menschen mit seiner Diagnose im Besonderen auf sich beziehen. Es ist unmöglich, dies nicht zu tun.
  2. “Psychotherapien” deformieren das Selbstbild. Unter dem Druck der Stigmatisierung verändert sich das Selbstbild des Betroffenen schleichend im Sinne der gängigen Vorurteile. Sofern sich, was leider die Regel und letztlich auch nicht zu vermeiden ist, die “Psychotherapie” auf die (vermeintlichen) Schwächen des Patienten bezieht, wird diese Deformation des Selbstbildes sogar noch beschleunigt und verstärkt. Der Betroffene neigt zunehmend dazu, seine Gedanken, Stimmungen, Gefühle und Handlungen als Ausdruck seiner “Krankheit” zu betrachten.
  3. “Psychotherapien” schwächen natürliche soziale Bindungen. Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, hat oft niemandem, dem er wirklich vertraut, mit dem er sich aussprechen kann, der gewillt ist, ihm auch bei unerfreulichen und emotional belastenden Themen zuzuhören. In der “Psychotherapie” findet er nun einen Menschen, der ihm aus beruflichen Gründen seine volle Aufmerksamkeit widmet. Zwar muss sich der Patient an gewisse Spielregeln halten und sich diversen Anstrengungen unterwerfen. Aber es ist viel schwieriger, viel anspruchsvoller, viel zeitraubender und mitunter auch demütigender zu versuchen, wahre Freunde zu gewinnen. Der Besuch eines “Psychotherapeuten” gleicht in mancherlei Hinsicht dem Gang ins Bordell. Eingedenk der menschlichen Natur besteht die Gefahr, dass die bequeme Lösung die anspruchsvollere zunehmend verdrängt. Und diese Gefahr ist bei der “Psychotherapie” sogar noch größer als beim käuflichen Sex, weil letzteren die Kasse nicht bezahlt.
  4. “Psychotherapien” machen süchtig. Die meisten “Psychotherapiepatienten” erfahren nirgendwo sonst so viel Aufmerksamkeit für ihre persönlichen Belange. Sie sind, oftmals auch in Partnerschaften oder Ehen, einsam und fühlen sich unverstanden oder gar missachtet. Sie erleben daher die Stunden mit dem Psychotherapeuten als sehr befriedigend und lustvoll, auch wenn es nicht zum Äußersten kommt. Da die Zuwendung aber eine professionelle, keine authentische ist, hinterlässt sie ein schales Gefühl, das allerdings in der Regel nicht bewusst gemacht und reflektiert wird. Die erlebte Befriedigung ist also nicht tief und echt, sondern sie verblasst schnell wieder und hinterlässt keine dauerhaften Spuren in der Seele. Konstellationen dieser Art erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer Suchtentwicklung, verbunden mit dem Zwang zur Dosissteigerung und mit Entzugserscheinungen. Obwohl sonst keine menschliche Lebensregung psychiatrischer Erfindungsgabe entgeht, findet sich in den diagnostischen Manualen bezeichnenderweise nirgends die “Psychotherapiesucht”.
  5. “Psychotherapien” führen zu kognitiven Defiziten. Bevor sie süchtig geworden sind, gehen Menschen überwiegend wegen ihrer Lebensprobleme in eine Psychotherapie. Lebensprobleme sind Ausdruck komplexer Wechselwirkungen zwischen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten. Diese Wechselwirkungen spiegeln sich in der Psyche wieder, mehr oder weniger verzerrt. Art und Ausmaß der Verzerrungen hängen sicher auch von psychischen Faktoren ab (von den Erbanlagen und der bisherigen Lerngeschichte); dies ändert aber nichts an Tatsache, dass der Ursachenkern des jeweiligen Lebensproblems außerhalb der Psyche zu suchen ist. Die gesellschaftlichen Prozesse sind ungleich stärker als die Kräfte der Seele. Von diesem Strom werden wir alle mitgerissen – und wenn es uns auch gelingt, den Kopf über Wasser zu halten, dann sollten wir uns deswegen nicht einbilden, das wir Meister des Stromes werden könnten. Indem nun aber die “Psychotherapie” sich auf die Psyche konzentriert und die außer-psychischen Faktoren missachtet, richtet sie den Patienten dazu ab, sich vom Wesentlichen ab- und dem weniger Wichtigen zuzuwenden. Salopp formuliert: “Psychotherapien” verblöden.
  6. “Psychotherapien” vermindern die intrinsische Motivation. Wer intrinsisch motiviert ist, handelt aus eigenem Antrieb, verfolgt selbst gesetzte Ziele. Die intrinsische Motivation steigt, wenn Handeln aus eigenem Antrieb beim Verfolgen selbst gesetzter Ziele Erfolg hat. Wer aber nach einer Therapie Erfolg hat in Bereichen, in denen er zuvor nicht so erfolgreich war, der wird dies, sofern er an diesen Schwindel glaubt, der “psychotherapeutischen” Methode und der Kompetenz des Therapeuten zuschreiben. Dadurch wird die eigene Leistung, der eigene Anteil am Erfolg geschmälert und entsprechend weniger wird die intrinsische Motivation gefördert. Da aber empirisch erwiesen ist, dass die Kompetenz des Therapeuten und die psychotherapeutische Methode nur einen verschwindend geringen Einfluss auf den Erfolg der “Behandlung” haben, sondern dass vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft des Patienten, sich zu ändern, den Ausschlag gibt, schädigt eine Psychotherapie ihre Patienten motivational schwerwiegend. Denn wer in Lebensproblemen steckt, braucht intrinsische Motivation. Extrinsische Motivation, in Form von Druck durch Partner, Verwandtschaft, Arbeitgeber etc. hatte der Betroffene bereits genug und geholfen hat es nichts, im Gegenteil, sonst würde er sich ja nicht “psychotherapieren” lassen.
  7. “Psychotherapien” machen realitätsblind. Um Patienten zur Mitarbeit zu motivieren und vom Sinn der Veranstaltung zu überzeugen, neigen Psychotherapeuten dazu, vermeintliche Verbesserungen der Seelenlage und geringfügige Anpassungen ans erstrebte Verhaltensmuster zu großen Erfolgen oder gar Durchbrüchen emporzustilisieren. In einsichtsorientierten Therapien wird geradezu ein Kult der Aha-Erlebnisse zelebriert. Selbstverständlich haben solche Phänomene unter der “psychotherapeutischen” Käseglocke im frischen Wind des alltäglichen Lebens keine besonders große Bedeutung. Da sie aber mit einer hohen emotionalen Relevanz aufgeladen wurden, können sie den Blick für die schnöden Tatsachen des realen Daseins empfindlich trüben. Ein Beispiel für die Folgen sind behandelte Drogenabhängige, die in Bewerbungsgesprächen mächtig auftrumpfen, weil sie dies während der stationären Rehabilitation im Selbstbehauptungskurs “erfolgreich” so gelernt haben. Wenn sie damit auf den Bauch fallen, haben sie dies ihrer Psychotherapie zu verdanken.
  8. Psychotherapien machen unausstehlich. Wenn Menschen miteinander umgehen, dann ist es nicht verwerflich, wenn jedes Individuum auch die eigenen Interessen im Auge hat. Übertriebene Egozentrik jedoch stört die mitmenschliche Kommunikation und Kooperation erheblich. Wer mit Herzblut an einer gemeinsamen Sache hängt, ist immer wohlgelitten, selbst wenn er die eine oder andere störende Eigenart hat. Psychotherapien (und dies gilt auch für Gruppentherapien) sind vollständig auf das Individuum zentriert, denn definitionsgemäß geht es ja darum, eine “Erkrankung” zu heilen. Die Patienten werden in der “Psychotherapie” deswegen dazu verleitet, wenn nicht animiert, das Geschehen in einer Partnerschaft oder einer Gruppe von Menschen stets im Zusammenhang mit dem eigenen Befinden und Verhalten zu erleben und zu bedenken. Dadurch wird verhindert, dass die Patienten sich von der gemeinsamen Sache mitreißen lassen. Sie können ihre angebliche psychische Störung nicht vergessen; sie können nicht loslassen. Schließlich wurde die “Krankheit” in der “Psychotherapie” ja auch so furchtbar wichtig genommen.
  9. “Psychotherapien” verbarrikadieren die Zukunft. Fast alle Psychotherapien unterstellen, sich dem Hier & Jetzt zu widmen. Sogar die Psychoanalyse, die in dem Ruf steht, hemmungslos in der Vergangenheit zu wühlen, nimmt für sich in Anspruch, dass sie sich auf das Hier & Jetzt der Übertragungs- bzw. Gegenübertragungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut konzentriere. Allein das kann ja wohl stimmen, wenn es sich dabei um eine Krankenbehandlung handeln soll; denn Krankheiten sind Störungen, die irgendwann einmal in der Vergangenheit entstanden sind. Das unvermittelt erfahrene Hier & Jetzt ist das ganz und gar Unbestimmte, wie Hegel in seiner “Phänomenologie des Geistes” zeigte, es hat keinen konkreten Inhalt. Wird also eine Krankheit behandelt, so ragt stets die Vergangenheit bestimmend ins Hier & Jetzt hinein. Das therapeutische Hier & Jetzt erhält so seinen zentralen Inhalt durch das Vergangene. Dies ist bereits mit dem Begriff der “Psychotherapie” als Behandlung einer kranken Psyche gesetzt. Zwar kommt auch die Zukunft ins Spiel, aber nur als ein Zustand, in dem die Krankheit geheilt ist; und somit ist durch die Besonderheit der “Krankheit” auch vorgegeben, welche Aspekte der Zukunft interessieren. Man kann es drehen und wenden wie man will: Solange Psychotherapie eine Krankenbehandlung sein soll, ist sie an die mutmaßlichen Defizite und Defekte des Patienten gekettet und damit an seine Vergangenheit. Wollte sie sich den offenen Horizont der Zukunft erschließen, so müsste sie sich den Potenzialen des Klienten widmen, doch dann wäre sie im strengen Sinne keine Krankenbehandlung mehr, denn zukünftige Entfaltungsmöglichkeiten sind nun einmal nichts Krankes.
  10. Psychotherapien verstärken das Leiden. Wer sich in eine “Psychotherapie” begibt, leidet unter Lebensproblemen. Diese Lebensprobleme wurzeln in aller Regel in sozialen und ökonomischen Schieflagen, die der Betroffene, wenn überhaupt, nur in geringem Maß beeinflussen kann. In der “Psychotherapie” erfährt er nun, dass sein Leiden, wenngleich unter Umständen ausgelöst durch solche Lebensprobleme, Ausdruck einer “psychischen Krankheit” sei. Es gelte, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sich zu ändern, um dann wieder hoffnungsfroh in die Zukunft blicken zu können. Da man objektive Sachverhalte der Außenwelt nicht durch “Arbeit an sich selbst” verändern kann, bestehen die Erfolge der “Psychotherapie” allenfalls in einer positiven Reinterpretation der fortbestehenden miserablen Verhältnisse. Manche Therapeuten bekennen sich sogar offensiv dazu, ihren Patienten Scheuklappen aufzusetzen. Allein, dass solche Überzuckerungen des schnöden Daseins voraussichtlich den unausweichlichen Stürmen und Wolkenbrüchen nicht standhalten, bedarf keiner Begründung. Die Konsequenz besteht darin, dass die Patienten früher oder später aufgrund von Enttäuschungen zusätzlich leiden und sich womöglich sogar die Verantwortung für das Misslingen selbst zuschreiben, weil sie nicht genug an sich gearbeitet hätten.
    Es trifft zwar zu, dass jeder Mensch selbst entscheiden kann, ob er glücklich oder unglücklich sein will. Dies bedeutet aber nicht, dass miserable Lebensbedingungen verschwinden, wenn man sich dazu entscheidet, trotz alledem glücklich zu sein. Das Lebensproblem, das einen Menschen in eine “Psychotherapie” geführt hat, besteht jedoch in aller Regel nicht nur aus inneren Befindlichkeiten, sondern aus handfesten äußeren Schwierigkeiten. Diese weitgehend zu ignorieren, ist ein Charakteristikum von “Psychotherapie” nach dem medizinischen Modell. Man müsste schon ein Philosoph vom Range eines Epiktet sein, wenn man bei schweren Nackenschlägen dennoch auf Dauer glücklich bliebe. Viele ehemalige Psychiatriepatienten würden sich vermutlich dann doch wieder dafür entscheiden, erneut die Rolle des “psychisch Kranken” einzunehmen, weil ihnen dies als die beste aller verfügbaren Möglichkeiten erschiene.

Es handelt sich bei den vorangestellten zehn Punkten um Thesen, nicht um erwiesene Tatsachen. Sie ergeben sich aus den vorangestellten Ergebnissen empirischer Forschung und aus den daran anknüpfenden Überlegungen. Sie beanspruchen keineswegs, der Diskussion und Kritik enthoben zu sein; im Gegenteil: Einwände sind erwünscht.

Fazit: Der Mythos von der guten und der bösen Psychiatrie

Geheimdienste, militärische Spezialeinheiten und auch manche besonders hartgesottene Polizeitruppen praktizieren in Verhören mitunter die Methode des “guten” und des “bösen” Verhörers. Der “böse Verhörer” ist brutal, er schlägt und foltert die Betroffenen und lässt nichts unversucht, sie in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Der “gute Verhörer” hingegen ist verständnisvoll, sorgt sich um den Verhörten und weckt Hoffnung – die dann natürlich vom “bösen Verhörer” zunichte gemacht wird. Beide Verhörer sind Teil desselben Systems, doch die Methode wirkt dennoch. Je extremer der Stress ist, den der “böse Verhörer” hervorruft, desto intensiver ist das Bedürfnis des Verhörten, daran zu glauben, dass der “gute Verhörer” tatsächlich gut sei und helfen wolle.

Manche Menschen mit Psychiatrie-Erfahrung unterscheiden zwischen der “guten” und der “bösen” Psychiatrie. Die “böse” Psychiatrie wird mit Psychopharmaka, Elektroschocks, Fixierung etc., also mit Brutalität, Zwang und Gewalt identifiziert, während die “gute” Psychiatrie für “Psychotherapie” und soziale Hilfen steht. Die “böse” psychiatrische Ideologie ist aus dieser Sicht die Vorstellung, die “psychischen Krankheiten” seien Ausdruck eines chemischen Ungleichgewichts im Gehirn und dieses sei weitgehend angeboren. Entsprechend besteht die Glaubenslehre der “guten” Psychiatrie darin, dass psychische Traumata (sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung, emotionale Vernachlässigung) die “psychische Krankheit” ausgelöst hätten.

Die Psychiatrie, die mit Psychopharmaka arbeitet, und die “Psychotherapie” (im Rahmen des medizinischen Modells) sind natürlich Bestandteile desselben Systems. Aber viele Betroffene vermögen dies nicht zu erkennen. Je extremer der Stress ist, den die “biologistische” Psychiatrie hervorruft, desto intensiver ist das Bedürfnis der Behandelten, daran zu glauben, dass die “Psychotherapie” tatsächlich gut sei und helfen wolle.

Insofern aber die “Psychotherapie” integraler Bestandteil des psychiatrischen Systems ist, gehorcht sie auch der Logik dieses Systems und erfüllt dessen Aufgabe. Diese besteht darin, bestimmte Formen sozialer Devianz zu kontrollieren, die nicht kriminell sind oder wegen “Schuldunfähigkeit” als nicht kriminell gelten und deren Sinn die Mehrheit der Bevölkerung nicht versteht. Daher gibt es nicht die “gute” und die “böse” Psychiatrie. Die Psychiatrie ist schlicht und ergreifend die Institution in unserer Gesellschaft, der die Aufgabe obliegt, die oben beschriebenen Formen sozialer Devianz zu kontrollieren.

Man kann die Tätigkeit der Psychiatrie durchaus als Gehirnwäsche bezeichnen und im Falle des Zwangs auch als Folter – jedoch muss man sich vor Augen halten, dass diese Etikettierungen juristisch keinen Bestand haben – denn die Tätigkeit der Psychiatrie ist legal, beruht auf gesetzlicher Grundlage. Würde man diese gesetzliche Grundlage zum Gegenstand einer Volksbefragung machen, so stünde zu befürchten, dass sie von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung legitimiert würde.

Dies bedeutet freilich nicht, dass die gesetzliche Grundlage auch mit dem Grundgesetz und den Menschenrechten vereinbar sei. Daran wurden begründete Zweifel vorgetragen, die aber – jedenfalls im Augenblick – von der überwiegenden Mehrzahl kompetenter Juristen nicht geteilt werden. Aus meiner Sicht beruht die Mehrheitsmeinung unter Juristen ebenso wie die bereits erwähnte Haltung der Bevölkerungsmehrheit auf der Ideologie der “psychischen Krankheit”, deren angebliche wissenschaftliche Basis von der “Psychiatrie” erarbeitet wurde.

Die diagnostischen Kriterien, die in den maßgeblichen psychiatrischen Klassifikationssystemen den “psychischen Krankheiten” zugeordnet werden, beziehen sich eindeutig auf Verhaltensweisen bzw. auf Abweichungen dieser Verhaltensweisen von sozialen Normen und Rollenerwartungen. Die moderne Psychiatrie versteht sich als Neuro-Psychiatrie und behauptet, dass diese Abweichungen auf Störungen des Nervensystems beruhten. Die Kriterien der Diagnose-Manuale beziehen sich aber nicht auf diese mutmaßlichen “chemischen Ungleichgewichte” im Gehirn, sondern es handelt sich bei den entsprechenden Diagnosen eindeutig und unzweifelhaft um moralische Urteile über menschliches Verhalten. Bestimmte Verhaltensmuster werden als “krank” etikettiert, aber die angeblichen “Krankheitssymptome” spielen bei den entsprechenden Diagnosen keine Rolle.

Man sollte die einleitende Passage dieses Textes, in dem ich eine Verhörmethode von Geheimdiensten und Geheimpolizeien schilderte, nicht als effekthascherischen Sarkasmus missdeuten. Derartige Praktiken müssen politisch und moralisch kritisiert werden, auch wenn sie in einem anderen Kontext praktiziert werden. Eine unpolitische, nur moralische Kritik unterscheidet nur zu gern zwischen Folter, die den höheren Werten von Demokratie und Rechtsstaat dient und Folter, die den niedrigen Zwecken von Diktatoren und Gewaltherrschern entspricht. Aus politischer Sicht aber hat Folter immer die Funktion, einer bestimmten Moral mit Gewalt Geltung zu verschaffen, sie gegen eine andere Moral durchzusetzen. Sie kann daher nicht moralisch legitimiert werden, da sie ein Instrument ist, das sich über die Moral stellt. Sie kann sie ebenso wenig wissenschaftlich als notwendige medizinische Maßnahme rechtfertigen.

Anhang

Von Kritikern wird dem “Psychotherapie-Geschäft” gern vorgeworfen, dass es keine Placebo-Studien zur Absicherung der Wirksamkeit seiner Dienstleistungen verwirklicht. Schließlich würde dies ja auch von Pharma-Unternehmen verlangt, die neue Medikamente auf den Markt bringen wollen. Wie “Psychotherapeuten” nun einmal so sind, reagieren sie auf diesen Vorwurf meist sehr emotional und schlussendlich läuft ihr Lamento darauf hinaus, dass es unethisch sei, schwer leidende Patienten einer nur vorgetäuschten Behandlung auszusetzen. Dass ist natürlich Käse, denn durch den Placebo-Versuch will man ja gerade herausfinden, ob eine bisher nur mutmaßlich wirksame Maßnahme tatsächlich effektiv ist, um Kranke vor einer unzulänglichen Behandlung zu bewahren.

Dennoch haben “Psychotherapeuten”, die Placebostudien in diesem Bereich ablehnen, natürlich recht, wenngleich aus anderen Gründen. Bei Medikamenten soll durch Placebo-Studien der chemische vom psychologischen Effekt abgegrenzt werden. In der “Psychotherapie” könnten Placebos jedoch allenfalls dazu dienen, psychologische von psychologischen Effekten abzugrenzen, nämlich solche, die für die Behandlung spezifisch sind, von solchen, die sich aus anderen Quellen speisen. Dies lässt sich zufriedenstellend kaum lösen. Man denke überdies daran, dass natürlich der Goldstandard einer medikamentösen Placebostudie, die Doppelverblindung, hier nicht realisierbar ist. Der “Psychotherapeut” weiß immer, ob er eine Therapie verabreicht, von deren Wirkung er überzeugt ist, oder eine Fake-Behandlung, der er nur einen Placebo-Effekt zuschreibt.

Ich will die methodischen Probleme, die sich mit dem Placebotherapie-Ansatz verbinden, hier nicht weiter vertiefen, weil meines Erachtens die Lösung des Problems, die Effizienz von “Psychotherapien” zu bestimmen, auf einem ganz anderen Feld zu suchen ist.

Dass es Menschen nach einer “Psychotherapie” besser geht als davor, ist erstens empirisch erwiesen und erstaunt zweitens auch niemanden, der noch halbwegs bei Trost ist. Ein seelisch leidender Mensch begibt sich in eine soziale Situation, in der sein Leiden im Mittelpunkt als hilfreich verstandener Bemühungen steht – wie sollte dadurch auch nicht die Chance steigen, dass er sich danach erleichtert fühlt? Das ist banal und verdient es kaum, weiterhin wissenschaftlich erforscht zu werden; allenfalls zu Marketingzwecken könnte man derartige Studien ins Auge fassen.

Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Ist das Spezifische an dieser hilfreichen Bemühung tatsächlich hilfreich? Um dies herauszufinden, braucht man keine Fake-Behandlung. Und das ist auch gut so. Denn es ist in der Tat nicht möglich, eine Pseudo-”Psychotherapie” zu kreieren, die nur auf unspezifischen Faktoren beruht, zumal es ohnehin vorab nur theoretisch festgelegt werden könnte, was denn tatsächlich unspezifisch sei. “Unspezifisch” bedeutet, dass diese Faktoren für alle gängigen Therapieformen charakteristisch sind.

Bevor man Placebostudien realisiert hat, kann man das empirisch nicht wissen, denn erst durch diese könnte ja der Einfluss spezifischer Faktoren von der Wirkung unspezifischer Einflüsse abgegrenzt werden. Die Konstruktion experimenteller Fake-Therapien setzt dieses empirische Wissen aber schon voraus. Da beißt sich die Katze in den Schwanz und die Maus keinen Faden ab. Es sollen in der Forschung ja nur spezifische und unspezifische Merkmale eine Rolle spielen, die tatsächlich eine Wirkung haben und die unspezifischen Faktoren sollen diese Wirkung durchgängig in allen relevanten “Psychotherapie-Verfahren” entfalten.

Doch es geht auch einfacher, viel einfacher. Man muss sich nur klarmachen, was “Psychotherapie” eigentlich bedeutet. Es treffen zwei Menschen zusammen (oder mehrere, in Gruppentherapien, doch betrachten wir den einfachsten Fall, das Grundsätzliche wird auch in diesem deutlich) – also: Zwei Menschen treffen zusammen, A und B; B will sich verändern, bittet A um Rat und Unterstützung. Dies ist ein alltäglicher Vorgang. Die Provider würden viel weniger Flatrates absetzen, wenn so etwas, beispielsweise unter guten Freundinnen, nicht Usus wäre. Dass derartige Interaktionen erfolgreich sind, steht außer Frage. Es geht nicht allen, aber vielen Menschen nach einem derartigen Austausch besser als zuvor. Das ist banal. Ich weigere mich, darin ein Phänomen zu sehen, dass eigens wissenschaftlich untersucht werden müsste.

Die entscheidende Frage lautet nun, ob solche Interaktionen effektiver sind, wenn A ein “Psychotherapeut” ist (und nicht die allerbeste Freundin, die Friseuse, der Barmann, der Stammtischbruder etc.). Es gilt also nicht, echte mit Placebo-Behandlungen zu vergleichen, sondern echte mit unechten “Psychotherapeuten”. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen ist einfach: Man nehme auf der einen Seite “Psychotherapeuten”, die eine entsprechende, anerkannte Ausbildung durchlaufen haben, und auf der anderen Seite Laien, die dazu bereit sind, sich zum Wohle der Menschheit in einem Therapie-Experiment als “Psychotherapeuten” auszugeben und entsprechend zu agieren.

Mit diesem Untersuchungsdesign könnte man feststellen, ob “psychotherapeutische” Ausbildungen oder die Berufserfahrung eine signifikante Rolle hinsichtlich des Erfolgs einer Interaktion, die Rat und Unterstützung zur Veränderung bietet, zu spielen vermag oder ob es sich dabei nur um angemaßte Kompetenz handelt. Falls sich letzteres als zutreffend herausstellen sollte, so bedeutete professionelle “Psychotherapie” nicht nur eine überflüssige Geldverschwendung, sondern dann wäre professionelle “Psychotherapie” auch aus psychologischer Sicht äußerst fragwürdig, weil dann die Betroffenen fälschlicherweise den “Erfolg” einem Experten zuschreiben würden und nicht sich selbst bzw. ihrer Fähigkeit, jemanden zum (kostenlosen) Ausquatschen zu finden.

Es gibt zur Zeit nur wenige Studien dieser Sorte, und diese sprechen durchgängig dafür, dass Laien genauso gut psychotherapieren können wie Profis (7, 8, 9). Garb fand heraus, dass die Ausbildung professioneller Therapeuten ihr Urteil über Patienten im Vergleich zu Laien nicht verbessert; das gleiche gilt für die Berufserfahrung. Die empirische Basis sollte auf jeden Fall noch weiter ausgebaut werden; aber im Augenblick kann ich keinen vernünftigen Grund erkennen, warum sich am Tenor des Forschungsstandes durch weitere Untersuchungen etwas Grundsätzliches ändern sollte.

Dies mag viele Leser überraschen, aber wenn man genauer hinschaut, dann entdeckt man schon einige Aspekte des psychotherapeutischen Prozesses, die den Verdacht nahelegen, dass dies auch gar nicht anders sein kann.

  • Die menschliche Psyche ist kein Apparat, den man reparieren kann wie einen Computer. Computer wurden von Menschen gebaut, daher weiß man sehr genau, wie sie funktionieren, sonst hätte man sie ja nicht bauen können. Bei der Seele ist das eben anders.
  • Menschen verändern sich psychisch nur, wenn sie sich verändern wollen oder wenn sie der von außen inspirierten Veränderung keinen Widerstand entgegensetzen. Beispielsweise verändert Werbung das Kaufverhalten, auch wenn der Käufer dies nicht wahrhaben will; aber wenn er sich sagt: “So, diese dreiste Werbung wird bestraft!”, dann kann er auch darauf verzichten, für überflüssigen Schrott gutes Geld auszugeben. Genauso ist das mit “psychotherapeutischen” Einflüssen: Sie wirken nicht mechanisch, sondern nur auf dem Wege einer Stimulation zur Selbstveränderung.
  • Menschen verändern sich vor allem, wenn das Verhältnis zwischen fördernden und hemmenden Konstellationen in Um- und Innenwelt günstig ist. Es kommt also auf den richtigen Zeitpunkt an. Dieser richtige Zeitpunkt korreliert nicht mit der Ausbildung und Berufserfahrung des Helfers, der dann jeweils zur Stelle ist, um dem Veränderungswilligen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
  • Die Psychologie ist eine relativ junge Wissenschaft und allzu viel solide, erhärtete Erkenntnisse kann sie noch nicht vorweisen. Und selbst das wenige, was Bestand hat, besteht aus allgemeinen Erkenntnissen, die an einer größeren Zahl von Menschen gewonnen wurden. Dies ist kein Mangel, sondern Kennzeichen jeder empirischen Wissenschaft. Sie sucht nach allgemeingültigen Gesetzen. Inwieweit sich diese aber auf den Einzelfall übertragen lassen, ist stets zwangsläufig ungeklärt und muss aus situativen Bedingungen erschlossen werden, was oft kaum möglich ist. Aus diesem Grunde sind die Psychologie und der “psychotherapeutische” Erfahrungsschatz keine große Hilfe für den Psychotherapeuten in der Praxis. Daher hat er dem Laien-Psychotherapeuten in dieser Hinsicht nichts voraus.

Diese Liste erhebt, wie üblich bei meinen Listen, keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Was aber könnte im realen Leben einen Unterschied zwischen professionellen “Psychotherapeuten” und Laien-Psychotherapeuten ausmachen? Außerhalb eines experimentellen Rahmens müsste enthüllt werden, wenn eine Behandlung von einem Laientherapeuten vorgenommen wird. Damit hätte er ein Imageproblem. Er würde also tendenziell schlechter abschneiden wie der Profi, weil viele dumme, sogar saudumme Leute glauben, dass es Psycho-Experten mit besonderen Kräften gäbe. Denn in der Psychotherapie ist das eigentliche Placebo der Psychotherapeut, ganz gleich, wie er ausgebildet wurde, wie viel Berufserfahrung er hat oder gar ein Hochstapler ist. Daher vermute ich, dass Laien, wenn sie sich als Profi-Psychotherapeuten ausgeben, also hochstapeln, im Durchschnitt gesehen genauso erfolgreich sind wie “echte” Psychotherapeuten.

In diesem Geschäft ist also der Wurm drin. Wenn der Haupteffekt nur dadurch zustande kommt, dass manche Leute (auch uneingestandene) Ehrfurcht vor Experten empfinden, und nicht dadurch, dass diese Experten wirklich etwas tun, was diesen Status rechtfertigt, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht.

Literatur zur Psychotherapieforschung

Bohart, A. (2000). The client is the most important common factor. Journal of Psychotherapy Integration, 10, 127-149

Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14

Dawes, R. (1996). House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press

Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt/Main:  Eichborn Verlag

Frank, J. D. & Frank, J. B. (1991). Persuation and Healing: A Comporative Study of Psychotherapy. (3rd ed.). Baltimore: John Hopkins University Press

Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J. & London, Lawrence Erlbaum Ass, Pub.

Anmerkungen

(1) Dass Placebo-Effekte häufig mit dem Effekt verstreichender Zeit verwechselt werden, zeigen Meta-Analysen des Nordic Cochrane Centre:
Cochrane Database Syst Rev. 2003;(1):CD003974. Placebo treatment versus no treatment. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: The Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Department 7112, Blegdamsvej 9, Copenhagen Ø, Denmark, DK-2100. a.hrobjartsson@cochrane.dk
Cochrane Database Syst Rev. 2004;(3):CD003974. Placebo interventions for all clinical conditions. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Department 7112, Blegdamsvej 9, Copenhagen Ø, Denmark, DK-2100.
Cochrane Database Syst Rev. 2010 Jan 20;(1):CD003974. doi: 10.1002/14651858.CD003974.pub3. Placebo interventions for all clinical conditions. Hróbjartsson A, Gøtzsche PC. Source: The Nordic Cochrane Centre, Rigshospitalet, Blegdamsvej 9, 3343, Copenhagen, Denmark, 2100.

(2) Siehe Literaturangaben

(3) Über Verfahren, die nicht untersucht und erst recht nicht miteinander verglichen wurden, kann man natürlich keine Aussagen machen. Es gibt Hunderte von Psychotherapieformen und nur eine kleine Zahl davon wurde systematisch wissenschaftlich erforscht. Aus meiner Sicht gibt es aber keinen vernünftigen Grund, an der Übertragbarkeit der vorliegenden Ergebnisse auf diese Methoden zu zweifeln.

(4) Aus ähnlichen Erwägungen hat die “Division of Clinical Psychology” der “British Psychological Association” unlängst gefordert, sich vom medizinischen Modell psychischer Krankheiten in der Diagnostik zu lösen und stattdessen zu Einschätzungen des Klienten überzugehen, die seinen sozialen Kontext in den Brennpunkt rücken.

(5) Dies gilt generell nicht nur für Psychopharmaka, sondern für alle Drogen, einschließlich der illegalen. Der Konsum illegaler Drogen  ist aber grundsätzlich nicht anzuraten, weil man sich damit vermeidbaren Ärger einhandeln kann und weil Drogen ohnehin so toll nicht auch wieder nicht sind.

(6) Im philosophischen Sinne ist natürlich tatsächlich jeder seines Glückes Schmied, weil jeder selbst entscheiden kann, wie er auf seine Umwelt reagieren will, übel gelaunt oder trotz allem glücklich. Glück ist eine Entscheidung, wie Descartes einst schrieb, und viele andere vor ihm, beispielsweise Epiktet. Doch im neoliberalen Sinne meint dieser Spruch etwas anderes, nämlich, dass jeder reich und mächtig werden könne, wenn er nur fleißig und smart genug sei. In diesem Sinn ist der Spruch nicht nur falsch, sondern zynisch.

(7) Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14

(8) Wexler, H. K.: The success of Therapeutic Communities for substance abusers in American prisons. Journal of Psychoactive Drugs, 27 (3), 57-66, 1995

(9) Garb, H.N. (1989). Clinical judgment, clinical training, and professional experience. Psychological Bulletin, 105, 387–396

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Über den Luxus der eigenen Meinung

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Die verspottete Wahrheit

Beweise bitte!

Es ist immer wieder dasselbe Lied. Menschen rufen mich an, die von Pontius zu Pilatus gelaufen sind, doch niemand konnte oder wollte ihnen helfen. Sie haben eine wahre Odyssee hinter sich, von Psychiatern zu Psychotherapeuten, mitunter auch von Pfarrern zu Gurus, hin und her, vor und zurück. Niemand wollte ihnen glauben.

Der Psychiater diagnostizierte eine Psychose und offerierte ihnen ein Neuroleptikum. Der Psychotherapeut sprach von “narrativer Wahrheit” und bot ihnen an, sie behutsam in die Realität zurückzuführen. Der Priester meinte, ständiges Gebet könne die verwirrte Seele zurechtrücken. Der Guru schließlich zelebrierte esoterische Rituale. Doch niemand hörte wirklich zu.

Diese Menschen haben eine Geschichte, die wie ein Höllenfeuer in ihrer Seele brennt. Diese Menschen haben eine Geschichte, bei der sofort die Klappe herunterfällt, wenn sie davon berichten. Sogar Ehepartner, gute Freunde, verständnisvolle Mitmenschen schütteln den Kopf, blicken besorgt, empfehlen den Gang zum Psychiater und die Einnahme von Pillen.

Die heile Welt

Was ist nun das Unglaubwürdige, das Verrückte an diesen Geschichten? Die häufigsten Geschichten dieser Art, die ich zu hören bekomme, lassen sich in vier Kategorien einteilen:

  • Satanisch Ritueller Missbrauch
  • Manipulation durch Hypnose
  • Entführung durch UFOs
  • Beeinflussung des Erlebens durch Strahlung

Viele dieser Ratsuchenden fragen mich, ob ich Ihnen nicht helfen könne, ihre Geschichten zu beweisen. Manche meinen sogar, ich könne als Gutachter vor Gericht für sie aussagen, dass ihre Geschichten wahr und dass sie, die Ratsuchenden nicht verrückt seien.

Selbstverständlich muss ich diese Menschen enttäuschen. Sie haben sich in der Adresse geirrt. Ich bin kein Rechtsanwalt, kein Polizist, kein Detektiv und erst recht kein Strahlenexperte. Meine Aufgabe als Psychologe könnte allenfalls darin bestehen, den Anrufern zu helfen, mit dem vermutlich Unbeweisbaren zu leben – besser zu leben als zuvor.

Zu einem Ratsuchenden sagte ich:

“Wissen Sie, dass es gar nicht um Beweisbarkeit geht? Sie sind enttäuscht, verletzt, gekränkt, dass Ihnen sogar die besten Freunde, die Menschen, die Ihnen am nächsten stehen, nicht glauben wollen. Dies erleben Sie als Entwertung Ihrer Person. Ja, man hält Sie für verrückt. Nur, weil sie etwas erlebt haben, was sie nicht beweisen können!

Nur, weil Sie es nicht beweisen können? Darum geht es gar nicht. Ihre Mitmenschen glauben Ihnen tagtäglich alles Mögliche, was Sie nicht beweisen können. Problemlos. Gar kein Thema. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Nehmen wir einmal an, Sie fahren mit dem Auto eine einsame Landstraße entlang. Sie werden von einem Verkehrsrowdy belästigt, der fast einen Unfall verursacht. Sie fahren an den Straßenrand und sind so außer sich, dass Sie zehn Minuten Verschnaufpause brauchen, bevor sie weiterfahren können. Deswegen kommen Sie zu spät zu einem Termin. Als Entschuldigung berichten Sie über diesen Vorfall, und wenn Sie nicht als notorischer Lügner bekannt sind, wird man Ihnen vermutlich glauben. Beweisen können Sie diese Geschichte natürlich nicht. Es gab keinen Zeugen, keine Spuren. Und nun stellen Sie sich vor, der Verkehrsrowdy wäre ein halbwüchsiger Alien in einem UFO gewesen? Hätte man Ihnen geglaubt?”

“Sicher nicht, weil ich’s nicht beweisen kann!”

“Beweisen könnten Sie beide Geschichten nicht. Die meisten Ereignisse in unserem privaten Leben, fast alles, was uns als Individuum zustößt, können wir nicht beweisen. Das Beweisbare ist nur die Spitze des Eisbergs. Und unseren Mitmenschen geht es nicht anders. Unsere alltägliche Kommunikation beruht zum größten Teil auf Glauben, nicht auf Wissen und Beweisen.”

“Und warum wird dann das eine geglaubt und das andere nicht?”

“Dafür gibt es keine vernünftigen Gründe. Es geht auch nicht um Plausibilität und Wahrscheinlichkeiten? Wie wollen wir beispielsweise die Wahrscheinlichkeit berechnen, dass uns bei einer Fahrt auf einer Landstraße ein UFO begegnet? Geben Sie sich keine Mühe damit, nach Argumenten zu suchen, die Ihre UFO-Sichtung zumindest plausibel erscheinen lassen. Ihre Mitmenschen wollen Ihnen nicht glauben, Beweise hin oder her.

Ihre Mitmenschen wissen zwar, dass wir nicht in einer heilen Welt leben, in der es gerecht und vernünftig zugeht. Aber in Ihrem nahen Umfeld möchten sie, dass sie nicht mit Ereignissen konfrontiert werden, die allzu bizarr und / oder grausam sind. Ihre Mitmenschen wollen sich Ihre heile Welt erhalten – und um diese Lüge aufrecht erhalten zu können, werden Sie der Lüge oder Verrücktheit bezichtigt. Selbst wenn Sie gute Gründe für die Wahrheit Ihrer Geschichte, gar Beweise hätten, würden sich Ihre Mitmenschen mit Händen und Füßen dagegen wehren, Ihnen zu glauben. Tatsachen werden nur zu gern ignoriert, wenn sie nicht ins Wunschbild passen.”

Realitätstunnel

Kein Mensch ist der absoluten Wahrheit teilhaftig. Oft glauben wir, die Wahrheit zu kennen – meist, weil niemand daran zweifelt. Das ist vielfach ja auch ganz vernünftig, vor allem im Bereich der Naturwissenschaften. Doch in anderen Bereichen haben wir die Möglichkeit der Überprüfung und des Beweisens nicht – oder nicht in diesem Ausmaß wie in den Naturwissenschaften. Dann ist es hochgradig unvernünftig, die eigene Wahrheit zu verabsolutieren und andere, die sie nicht teilen, für verrückt zu erklären.

Unser Nervensystem hat keinerlei Kontakt mit der Wirklichkeit, wie sie “an sich” ist. Unsere Sinnesorgane nehmen vielmehr Energien wahr (Schallwellen, Licht etc.) und unser Gehirn versucht, Regelmäßigkeiten in den wahrgenommenen Energieschwankungen zu erkennen, denen es dann Bedeutungen zuschreibt. Aus diesen dürftigen Erkenntnissen aus der Außenwelt konstruiert unser Gehirn ein ganzes Universum. Jedes individuelle Gehirn erzeugt auf diese Weise sein eigenes Weltall. Ist es da nicht erstaunlich, dass wir überhaupt in der einen oder anderen Frage übereinstimmen?

Wenn uns ein Mitmensch eine Geschichte erzählt, die wir für nicht plausibel halten, dann sollten wir immerhin die Möglichkeit einkalkulieren, dass diese Geschichte einfach nur nicht in unseren Realitätstunnel passt, dass unser Tunnelblick die Wahrheit der Geschichte des anderen bisher nur übersehen hat. Wer einen gedeihlichen Dialog mit anderen führen möchte, ist gut beraten, die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass auch der andere Recht haben könnte.

Die eigene Wahrheit als Ressource

Mir sind sehr selten Menschen mit derartigen “unglaubwürdigen” Geschichten begegnet, die nicht gleich zweifach schreckliche Erfahrungen zu verarbeiten hatten. Sie wurden erstens schmerzlich überwältigt von den Erlebnissen, von denen ihre Geschichten erzählen und sie mussten zweitens die üblen Reaktionen vieler ihrer Mitmenschen auf diese Geschichten ertragen. Besonders schwierig zu bewältigen waren häufig die Reaktionen der sogenannten Fachleute, also von Psychiatern, Psychotherapeuten, Sozialarbeitern und ähnlichen Experten.

Die Reaktionen der Laien bestehen nämlich meistens aus Unverständnis und Spott; die Fachleute aber stehen natürlich über diesen menschlich-allzumenschlichen Grausamkeiten und setzen an die Stelle vulgärer Abwertung die sich wissenschaftlich gerierende Psychodiagnose.

Eine psychiatrische Diagnose ist jedoch nur ein Etikett, das einen Menschen fürs Leben zeichnen kann. Sie kann Ehen zerstören, arbeitslos machen, ja, man kann durch sie seine Freiheit verlieren und mitunter muss man sogar Folter erdulden, die als medizinische Hilfe getarnt ist. Wer eine “unglaubwürdige” Geschichte auf Lager hat und seinen Mitmenschen erzählt, läuft Gefahr, dass der dadurch verursachte Schaden unter Umständen größer ist als der Schaden, der mit den Erlebnissen verbunden ist, von denen die Geschichte erzählt.

Dabei ist es gar nicht entscheidend, dass die Geschichte erzählt wird. Man kann das Erzählen der Geschichte durchaus unbeschadet überleben. Es kommt darauf an, wie sie erzählt wird. Es gibt selbstgefährdende Formen des Erzählens solcher Geschichten. Zu diesen Formen neigen wir, wenn wir von dem Wunsch beseelt sind, dass die Mitmenschen uns doch bitte, bitte, um Himmelswillen glauben möchten. Und so rate ich jedem Betroffenen, diesem missionarischen Streben zu entsagen. Es kommt doch gar nicht darauf an, ob andere uns glauben. Niemand steht in unseren Schuhen. Niemand steckt in unserer Haut. Entscheidend ist, die eigenen Wahrheiten als Ressourcen zu nutzen, als Hilfsquellen zur Lösung unserer Probleme.

Nach Beweisen streben?

Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir aufhören sollten, nach Beweisen zu streben. Natürlich: Wenn schon sonst niemand an uns glaubt, dann sollten wir zumindest selbst an uns glauben. Doch Tatsache ist es nun einmal, dass niemand vor Irrtümern gefeit ist. Darum sollten wir die Stimme des Zweifels in uns nicht unterdrücken. Der Zweifel ist ein wertvolles Korrektiv unseres seelischen Lebens. Er zwingt uns, Hypothesen zu überprüfen, Fakten zu sammeln und aus ihnen logische Schlüsse zu ziehen. Selbstverständlich können wir auch die Meinungen von Mitmenschen einholen – aber Fakten und logische Schlüsse sind allemal wichtiger als die Meinungen anderer.

Vor allem jedoch sollten wir die eigenen Erfahrungen ernst nehmen. Sie sind die Grundlage unseres Wissens. Sie sind die Basis unseres Universums. Wir haben nichts anderes, wonach wir uns richten könnten. Letztlich müssen wir alles selbst überprüfen. Darum ist es auch nicht so wichtig, ob andere uns glauben. Wenn andere versuchen, uns Maßstäbe für unser Verhalten aufzunötigen, dann sollten wir uns höflich, aber entschieden dagegen verwahren (es sei denn, der Nötigende hätte die Macht, uns einzusperren oder uns sonstwie gravierend zu schaden).

Jeder nämlich hat in einer freien Gesellschaft das grundgesetzlich verbriefte Recht, nach eigener Fasson selig zu werden. Gute Maßstäbe für unser Verhalten und Erleben finden wir nur in uns selbst. Niemand, niemand steht in unseren Schuhen, kennt unsere Innenwelt besser als wir selbst, kann besser als wir selbst wissen, was gut und was schlecht für uns ist. Verlässliche Informationen sollten uns immer willkommen sein; aber was wir dann auf Grundlage dieser Informationen entscheiden, das muss man uns schon selbst überlassen.

Die besten Informationen sind im Übrigen jene, die von subjektiver Meinung unabhängig sind. Diese bietet die methodisch saubere empirische und am besten experimentelle Forschung. Deren Ergebnisse sind unabhängig von Lehrmeinungen, von den Glaubensbekenntnissen der Autoritäten. Sie besitzen nur Gültigkeit, wenn die Studien repliziert werden konnten, von anderen Forschern in unterschiedlichen Institutionen und Weltgegenden.

Du darfst

Ermutigung für Leute, die so bleiben wollen, wie sie sind

Wenn ein Mensch den Erwartungen seiner Mitmenschen nicht mehr entspricht, wenn er von der Norm abweicht, wenn diese Abweichungen störend und rätselhaft sind und wenn dieser Mensch nicht zu den Spitzen der Gesellschaft zählt oder ein Vorgesetzter ist, dann erhält er heutzutage häufig den Rat: Geh zum Psychiater!” Es wird offenbar als Krankheit betrachtet, so zu sein, wie man ist und nicht so, wie man angeblich sein sollte.

Ein Nullsummenspiel

Viele Menschen leiden heute unter tatsächlichen oder eingebildeten Abweichungen von sinnvollen oder unsinnigen Normen: Sie empfinden sich als zu dick oder zu dünn, sie halten sich für zu schüchtern oder zu forsch, zu ängstlich oder zu draufgängerisch, für zu aufgekratzt oder zu trübselig.

Manche meinen, ihre Abweichungen von Normen seien Ausdruck einer “psychischen Krankheit”, die eventuell sogar in ihren Erbanlagen verankert sei. Diesen Menschen bietet der Buchmarkt eine Fülle von psychologischen Ratgebern zur raschen und schmerzlosen Korrektur der Normabweichungen. Ratgeber, die ihren Lesern auch nur in zarten Andeutungen empfehlen, die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, sich selbst so anzunehmen, wie sie sind, werden Interessierte vergeblich suchen. “Sich ändern lernen!”, ist das Leitmotiv all dieser gut gemeinten Ratgeber.

Doch mit wem meinen es diese Ratgeber gut? Mit den Menschen, die unter ihren Normabweichungen leiden oder mit jenen Zeitgenossen, die sich dadurch gestört fühlen? Vielleicht profitieren ja alle, irgendwie. Doch mit Vernunft betrachtet, ist die Korrektur von Normverletzungen ein Nullsummenspiel: Die Umwelt, die sich gestört fühlt, gewinnt, weil eine Störquelle ausgeschaltet wurde. Die “geheilten” Störer aber verlieren in dem gleichen Maße, nämlich einen Teil ihrer Identität.

Wer sich – warum auch immer – nicht ändern möchte, muss sich an einen anderen Ratgeber wenden. Dieser Ratgeber will Menschen helfen, sich erfolgreich gegen Zumutungen zur Wehr zu setzen. Wenn wir von anderen beispielsweise dazu gedrängt werden,  ab- oder zuzunehmen; uns nach der neuesten Mode oder nach dem Geschmack des Ehepartners zu kleiden; langsamer oder schneller Auto zu fahren; die eine oder die andere Partei zu wählen, uns einer Glaubensgemeinschaft anzuschließen oder uns von ihr fernzuhalten – dann sagt dieser Ratgeber: “Stopp, was willst denn eigentlich du?” Dieser Ratgeber ist unsere innere Stimme, die Stimme unseres wahren Selbsts.

Der Drang zum Höheren und das Gedränge in der Mitte

Autoren von Sachbüchern und teilweise auch von Ratgebern untermauern ihre Thesen in der Regel durch Zitate und Studien. Auch ich folge dieser Konvention in vielen meiner Schriften. In diesem Text aber verzichte ich bewusst darauf, denn ich möchte Ihnen, lieber Leser, nichts beweisen oder Sie mit wissenschaftlicher Autorität beeindrucken. Wer sich selbst treu bleiben will, braucht keine objektiven Fakten, sondern Argumente anderer Art.

Wer standfest bleiben will, muss sich der subjektiven Stimmigkeit der eigenen Haltung gewiss sein. Hier geht es nicht um Fakten, Wissenschaft, Objektivität, sondern um Stimmungen, Gefühle, persönliche Erfahrungen, um Vorlieben und Abneigungen, Wünsche, Sehnsüchte und Ideale, kurz: Es geht um den Eigensinn.

Wer will schon normal sein? Machen Sie ein Experiment: Fragen Sie Freunde und Bekannte, wie sie ihre Leistungsfähigkeit einschätzen. Sie werden feststellen, dass im oberen Drittel der Skala ein ziemliches Gedränge herrscht und dass sich die überwiegende Mehrheit der Befragten für überdurchschnittlich hält.

Wer will schon abnorm sein? Wer von der Norm abweicht, ist ein Außenseiter, ein Sonderling, ein Spinner oder gar ein “psychisch Kranker”.

Machen Sie ein Experiment: Fragen Sie Ihre Mitmenschen, wie sie sich hinsichtlich des Merkmals “Eigensinn” (Sturheit, Rechthaberei etc.) einstufen. Diesmal werden Sie keine drängende Enge im oberen Drittel der Skala feststellen; die überwiegende Mehrheit der Befragten wird sich nicht als überdurchschnittlich halsstarrig, renitent, zickig usw. einstufen.

Bei dieser Frage dürfen sie vielmehr mit einer großen Bescheidenheit rechnen. Hin und wieder, ja, man habe seine Ecken und Kanten, hin und wieder beharre man schon auf seiner Meinung, sei bockig oder zickig, aber mit Sicherheit sei das nicht häufiger der Fall als bei anderen Leuten. In diesem Fall also herrscht das Gedränge in der Mitte; man findet wesentlich weniger Über- oder Unterdurchschnittliche, als dies nach Adam Riese zu erwarten wäre.

Normopathie

Sie werden vermutlich auf diese Experimente verzichten, weil sie die von mir vorhergesagten Ergebnisse nicht anzweifeln. Sie werden die mutmaßlichen Reaktionen der Befragten für normal halten. Es scheint normal zu sein, bei derartigen Befragungen zu bekunden, dass man überdurchschnittlich leistungsfähig und durchschnittlich angepasst sei.

In der Fragebogenforschung wird die Neigung von Befragten, sich mit ihren Antworten in ein möglichst günstiges Licht zu rücken, als Tendenz zur sozialen Erwünschtheit bezeichnet und als “Antwort-Verzerrung” betrachtet. Dies setzt voraus, dass diese Menschen wahre Meinungen haben, die in ihrer Kultur oder ihrem Umfeld negativer bewertet werden als die bekundeten Überzeugungen.

Es könnte aber auch sein, dass viele Menschen gar keine Meinungen mehr in sich aufkeimen lassen, mit denen sie anecken könnten. Die “politische Korrektheit” ist nicht nur ein Schlagwort, sondern soziale Realität; nicht wenige Menschen haben die entsprechende Geisteshaltung ja bereits verinnerlicht.

Kritische Zeitgenossen meinen, dass der zwanghafte Versuch, möglichst normal zu sein, selbst eine Krankheit sei, nämlich eine “Normopathie”. Wer an einer Normopathie leidet, ist demgemäß “psychisch krank” und somit anormal. Die Normalität ist offenbar ein wankelmütiger Wegweiser, der in viele Richtungen weist und manche Leute scheinbar heillos überfordert. Nicht jedem gelingt die Kunst, im Sinne der sozialen Erwünschtheit zugleich normal und nicht normal, gewöhnlich und außergewöhnlich zu sein.

Sind wir zu dem Versuch gezwungen, diese Dialektik der Anpassung zu meistern oder gibt es auch einen anderen Weg – jenseits der Normalität -, der nicht geradewegs ins soziale Abseits oder gar ins Irrenhaus führt? Oder sind normale Verhältnisse selbst das Irrenhaus, dem es zu entkommen gilt?

Vom Sinn der Normen

Wer sich Gedanken über sein Verhältnis zu sozialen Normen macht, hat bereits ein Problem damit, denn solange sich unsere Gedanken, Gefühle, Absichten und Handlungen im Einklang mit den sozialen Normen befinden, gibt es keinen Grund, darüber nachzudenken. Dazu sehen wir uns erst gezwungen, wenn wir darauf hingewiesen wurden, dass wir angeblich etwas gesagt oder getan hätten, was man nicht sagt oder tut. Mit dem “Man” wird das Ich in seine Schranken verwiesen. Häufig wird der Hinweis auf einen Normverstoß nicht in Worten ausgesprochen; oft genügt ein Blick, die Miene, betretenes Schweigen.

Die meisten Menschen wurden im Lauf ihres Lebens unzählige Male aufgefordert, soziale Normen einzuhalten – von Eltern, Kindergärtnern, Lehrern, Lebenspartnern und Arbeitgebern, von Freunden und Bekannten, aber auch von Fremden. Manchen Menschen, die sich weigerten oder trotz guten Willens dazu nicht in der Lage waren, wurde geraten, sich in psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um die Neigung zur Normverletzung korrigieren zu lassen. Keineswegs werden nur Normverletzungen beanstandet, die andere unmittelbar beeinträchtigen – wie beispielsweise ruhestörender Lärm. Es kann auch sein, dass bestimmte Einstellungen oder Überzeugungen, die im Grunde niemandem schaden, als Normverletzungen empfunden oder gar als “Wahn” aufgefasst werden.

Verlust des Maßstabs

Soziale Normen üben eine gewaltige Macht auf unser Verhalten und Erleben aus, obwohl, oder gerade weil sie meist sehr vage, sehr unbestimmt sind. Ein Beispiel: Der Ehepartner stirbt. Der Hinterbliebene trauert. Das wird von ihm erwartet. Trauerte er nicht, so würde dies vermutlich auch missbilligt. Zu trauern, wenn man seinen Ehepartner verloren hat, ist also normal – nicht zu trauern anrüchig oder gar verwerflich (1). Da die Zeit bekanntlich alle Wunden heilt, überwindet der Hinterbliebene seine Trauer, findet vielleicht sogar einen neuen Lebensgefährten. Auch das ist normal.

Doch was ist, wenn der Hinterbliebene nach einem, zwei, fünf Jahren immer noch trauert? Ab welchem Zeitpunkt wird aus einer natürlichen Traurigkeit eine pathologische Depression, die behandelt werden muss? Es gibt offenbar eine normale Dauer der Trauer nach einem Verlust. Die Reaktionen des sozialen Umfelds verändern sich jedenfalls im Zeitverlauf, wenn ein Trauernder “übermäßig” lange trauert. Aus Verständnis wird Unverständnis.

Vom Trauernden wird erwartet, dass er nach einer angemessenen Zeit wieder neuen Lebensmut fasst. So will es die vage bestimmte Trauer-Norm. Diese Norm bestimmt im Übrigen nicht nur die Dauer, sondern auch die Intensität und den Ausdruck der Trauer. Doch niemand kann und will exakt festlegen, wie lange man trauern darf.

Diese Norm ist wie alle sozialen Normen eine Sache der Interpretation. Daher ist ein Mensch, der sich den Normen zu fügen versucht, um auf der sicheren Seite zu stehen, immer zugleich verunsichert, weil die Normen dehnbar sind.

Soziale Normen sind zweifellos nützlich, ja, unerlässlich, wenn es gilt, das Verhältnis der Menschen zueinander friedvoll und produktiv zu gestalten. Sie geben Orientierung. Sie werden jedoch höchst destruktiv, wenn sie an die Stelle der Maßstäbe in der eigenen Innenwelt treten. Wer sich bemüht, normal zu sein, setzt seine Identität aufs Spiel.

Leider steht Prinzipientreue heute nicht mehr besonders hoch im Kurs. Wer “in” sein und im Trend liegen will, muss sich wechselnden Moden anpassen und auch sein Inneres marktgerecht “stylen”. Es mag ja sein, dass man nur so erfolgreich sein kann – im globalisierten Turbo-Kapitalismus. Doch woran misst man den Erfolg, wenn man sein inneres Maß verloren hat? Und wer soll den Erfolg genießen, wenn du nicht mehr du selber bist?

Anmerkung

(1) Deswegen haben die Autoren des DSM-5, der neuesten Version der amerikanischen Psychiater-Bibel, ja auch helle Empörung geerntet, weil sie die Trauer selbst in der unmittelbaren Zeit nach dem Todes des Liebsten zur Depression, also zur Krankheit erklärten.

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Im Wunderland der Drogen

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Anwalt des Teufels

In unserer Kultur haben Drogen einen schlechten Ruf. Sie machten süchtig, heißt es, und sie zerstörten die Gesundheit. Besonders übel seien die illegalen Drogen. Diese könnten uns im schlimmsten Falle ins Gefängnis bringen. Es ist sogar bei Strafe verboten, andere zum Konsum illegaler Drogen zu verleiten.

Unter mittelalterlichen christlichen Gelehrten und Mönchen bestand eine Methode zur Festigung des Glaubens darin, die heiligen Überzeugungen auf den Prüfstand der Vernunft zu stellen und über sie zu Gericht zu sitzen. Ein Mönch übernahm die Rolle des Anwalts Gottes (”advocatus dei”), ein anderer war der “advocatus diaboli”, der Anwalt des Teufels. Die Standpunkte des “advocatus dei” in Sachen Drogen können Sie auf den staatstragenden Websites zur Drogenaufklärung nachlesen. Ich möchte nun, um Sie, lieber Leser, in Ihrer Ablehnung der Drogen zu festigen, den Anwalt des Teufels spielen.

Stellen Sie sich also ein wenig Höllenfeuer und Schwefelduft als Illumination für folgendes Plädoyer vor:

Drogen rufen, im rechten Geiste genommen, keine Abhängigkeit hervor. Sie schenken uns vielmehr Freiheit.

  • Mit einem Gläschen Wein verwandeln wir uns in stille, vergnügten Genießer, die sich sanft entspannt der Wahrheit öffnen.
  • LSD erlaubt uns, tief greifende mystische Erfahrungen zu sammeln, uns selbst zu ergründen und die ursprüngliche Schönheit der Welt zu erblicken.
  • Ecstasy (MDMA) führt uns in das Reich unserer wohlwollenden Gefühle, fördert eine gesunde Selbstliebe und bringt uns unseren Mitmenschen näher.
  • Opiate lindern nicht nur körperliche Schmerzen, sondern auch seelische Pein. Sie machen gelassen und versetzen uns in Hochstimmung. Sie helfen uns, Ängste und Gemütsverstimmungen zu meistern und unsere Gedanken zu ordnen, wenn unsere Gefühle und unser Denken verwirrt sind.

Diese Liste könnte ich nach Belieben verlängern; ich müsste nicht lange überlegen, um zu jeder psychoaktiven Drogen eine Reihe von Segnungen und handfesten Vorteilen aufzuschreiben. Drogen vergrößern unsere Kontrolle über unser Bewusstsein und damit über unser Leben.

So spricht der “advocatus diaboli”.

Und diese Worte, liebe Leser, offenbaren die Macht des Teufels. Er zeigt uns die irdischen Paradiese, will uns damit zu einem sündigen Leben verführen und uns blind machen für die Tatsache, dass es uns, Wohlverhalten vorausgesetzt, erst im Jenseits, nach dem Tode gut gehen darf. Wappnen Sie sich vor diesen Versuchungen, indem sie sich die vielen großartigen Vorzüge des Drogenkonsums unerschrocken vor Augen führen. Nur wer den Feind kennt, kann ihn besiegen. Bleiben sie stark und gesetzestreu. Dann steht Ihnen das himmlische Paradies offen, wenn die Erde auf ihren Sarg fällt.

Doch Scherz beiseite!

Die Strafverfolgung von Dealern und Süchtigen verursacht gigantische Kosten, ohne dass die Drogensucht so in den Griff zu bekommen wäre. Im Gegenteil: Die Kriminalisierung der Drogenabhängigen und die Drogenprohibition führen zur Beschaffungskriminalität, verschlechtern die gesundheitliche Situation der Betroffenen und verursachen somit zusätzliche, vermeidbare Kosten für das Gesundheitssystem. Mit einem Federstrich, nämlich durch die Legalisierung aller Drogen, könnte viel Geld für sinnvolle Maßnahmen gegen die Drogensucht gespart werden. Mit diesen Mitteln könnte man an den Ursachen ansetzen, statt, wie bisher, erfolglos an den Symptomen herumzupfuschen.

Was wurde nicht gerätselt, wer oder was an der Drogensucht schuld sei: der Erziehungsstil der Eltern, sexueller Missbrauch, mangelnde Autorität der Lehrer, fehlende Lehrstellen, Kulturzerfall, Verlust der religiösen Orientierung oder die Gene, Geburtsschäden und was weiß ich nicht noch alles. Kaum eine gesellschaftliche Interessengruppe fühlte sich nicht berufen, mehr Geld zu fordern,  um mit ihrem Allheilmittel gegen die Drogensucht die Menschheit zu retten.

Dabei ist längst bekannt, welche Kräfte die Drogensucht antreiben. Es sind – mitunter kaum reflektierte, aus dem Bewusstsein verbannte, mental abgewehrte und kompensierte – Ängste, Gemütsverstimmungen und quälende Langeweile. Zu diesen Triebkräften gesellt sich eine anthropologische Konstante; die tief ins Erbgut eingesenkte Lust des Menschen am Rausch. Doch sie allein könnte keine Sucht auslösen, denn es gibt Gegenkräfte, zu denen die ebenfalls tief ins Erbgut eingesenkte Schaffensfreude sowie das Streben nach Effizienz zählen. Nein, die Lust am Rausch reicht als Erklärungsmodell für Drogensucht nicht aus; es müssen jene Faktoren hinzutreten, die nicht für alle Gesellschaftsformen charakteristisch sind, wohl aber, mehr oder weniger, für unsere, die kapitalistische, deren Atmosphäre durch Angst, Gemütsverstimmungen und quälende Langeweile gekennzeichnet ist. Auch andere Systeme, die den Kapitalismus nachäffen, haben sich dieses Klima eingehandelt.

Legalisieren wir also die Drogen. Sparen wir dadurch viel, viel Geld. Setzen wir dieses Geld gezielt und sinnvoll ein, nämlich zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ängste, Gemütsverstimmungen und quälende Langeweile schüren. Die Erfolge würden sich in kürzester Zeit zeigen. Gehen wir mit offenen Augen durch die trostlosen Wohngebiete an der Peripherie unserer Großstädte, gönnen wir uns ein paar Körnchen Phantasie und denken darüber nach, welche Wunder man mit ein bisschen Geld hier wirken könnte, indem man die Kids auf andere Gedanken bringt.

War on Drugs

Seit Jahrzehnten wird ein “War on Drugs” geführt. Ohne Erfolg.

Die Drogenprohibition ruft aufgrund der Illegalität und des damit verbundenen Risikos zu einer erheblichen Verteuerung des Stoffs hervor. Erst dadurch wird der Drogenhandel für das organisierte Verbrechen interessant. Die hohen Kosten bewirken, dass die Substanzen vielfach gestreckt und damit verunreinigt werden. Dies ist mit extremen Gefährdungen der Gesundheit der Endverbraucher verbunden. AIDS würde unter Drogenabhängigen eine weitaus geringere Rolle spielen, wenn der Konsum nicht unter den oft abenteuerlichen Bedingungen der Illegalität stattfände.

Um den durch Illegalität extrem verteuerten Stoff zu finanzieren, sind die Abhängigen zu Prostitution und Beschaffungskriminalität gezwungen. Die Kriminalisierung lässt gigantische Kosten bei der Polizei, im Justizsystem, im Strafvollzug entstehen. Weitere, erhebliche Kosten bei den Sicherheitssystemen sind bedingt durch die Verstärkung des Terrorismus, der sich teilweise durch Drogengeschäfte finanziert.

Demgegenüber bringt die Drogenprohibition keinerlei Nutzen. Der Konsum unterliegt gewissen Schwankungen, die aber nicht auf verstärkte oder abgeschwächte polizeiliche Aktivität, sondern auf Faktoren der Mode bzw. des Zeitgeistes zurückzuführen sind. Es ist also keineswegs so, dass die Drogenprohibition den Drogenkonsum vermindern würde. Er findet dennoch statt. Wer Stoff haben will, bekommt ihn auch – sogar im Gefängnis.

Prohibition ist hochgradig irrationale Politik – für den überwiegenden Teil der Menschheit. Dies hat sich bereits bei der Alkoholprohibition in den USA gezeigt. Damals war man vernünftiger und hat sie, als das Scheitern nicht mehr zu verleugnen war, schließlich aufgegeben. Das war ein schwerer Schlag für das organisierte Verbrechen. Dass sie aufgegeben wurde, lag wohl daran, dass hier nicht nur eine Minderheit der Repression unterworfen war, sondern die Mehrheit der Amerikaner, die ganz gern dem Alkohol zusprechen. So etwas kann ein demokratischer Staat nicht lange durchhalten.

Das bringt mich zum entscheidenden Punkt. Wenn Drogenprohibition auch hochgradig irrational ist, so ist sie durchaus rational für eine Teilgruppe der Menschheit, nämlich für all jene, die daran verdienen. Drogenanbau und Drogenhandel sind heute ein wesentlicher Faktor der Weltwirtschaft, das ist ein Milliardengeschäft. Es bräche zusammen, wenn man Drogen legalisieren würde. Man möge sich da nichts vormachen: Das sind Geldströme, die in die Wirtschaften der Industriestaaten fließen. Den Bauern in den Anbaugebieten bleibt so gut wie nichts.

In den Industriestaaten werden die Drogenmilliarden gewaschen und investiert. Wer auch nur einen blassen Schimmer von Volkswirtschaftslehre hat, wird die Drogenprohibition mit anderen Augen betrachten, wenn er sich das klarmacht. Es geht hier um eine gigantische Umverteilung. Die Drogenabhängigen beschaffen sich das Geld für Drogen letztlich durch Kleinkriminalität, ziehen es also der großen Masse der Bürger aus der Tasche. Und dann landen die Drogendollars irgendwann und irgendwie in den Taschen der Superreichen. Man könnte diesen Spuk beenden. Durch Legalisierung der Drogen. Legal hergestellt, wären sie um ein Vielfaches billiger als heute. Extra-Profite, die für Kriminelle und deren Hintermänner interessant wären, könnten nicht mehr realisiert werden. Eine Schattenwirtschaft, die der Weltökonomie in erheblichem Maß schadet, würde zusammenbrechen.

Das Spiel

Psychoaktive Substanzen sind Mittel der Bewusstseinskontrolle. Es gibt aber auch Formen der Bewusstseinskontrolle, die ohne Substanzen auskommen. Wenn beispielsweise Menschen in Massen zusammenströmen, um einem Popstar oder Politiker zu huldigen, dann sind sie auch ohne psychoaktive Substanzen im Rausch.

Wer sich befreien will, sollte Mittel und Methoden der Bewusstseinskontrolle grundsätzlich kritisch sehen und sich nach Möglichkeit von ihnen fernhalten.

Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol, nehme keine sonstigen Drogen, bin in keiner Sekte oder Amtskirche, gehöre keiner politischen Partei oder weltanschaulichen Gruppe an und Fernsehen schaue ich nur, wenn überhaupt, auf einem Nagelkissen sitzend. Massen meide ich. Manche fragen mich, wie ich denn das Leben ohne all dies überhaupt ertrüge. Die Frage kann ich zurückgeben: wie kann man das Leben mit all dem überhaupt aushalten?

Der marxistische Soziologe und Sozialanthropologe Leo Kofler prägte den Begriff des apollinischen Eros. Dies ist eine Haltung, in der Lusterfahrungen (Sex, Drogen, Konsum) zur Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit in technisch-naturwissenschaftlich bestimmten Arbeitsgesellschaften funktionalisiert wird. Gelegentlich Exzesse (Karneval, Fußballturniere etc.) haben eine Ventilfunktion, damit das unterdrückte Dionysische gelegentlich einmal den Überdruck ablassen kann.

In den frühen Gesellschaftsformen der Menschheit, wie sie sich bis ins 20 Jahrhundert beispielsweise bei den afrikanischen Buschleuten erhalten hatten, bildeten das Apollinische und das Dionysische eine dialektische Einheit. In der kapitalistischen Gesellschaft, so Kofler, sei diese ursprüngliche dialektische Einheit zerrissen. Drogenkonsum, Alkoholismus, sexuelle Exzesse, Gewaltexzesse seien die Folge der Zerstörung dieser natürlichen Harmonie des Dionysischen und des Apollinischen. Wir alle könnten aber noch einen Anflug dieser Einheit erleben, nämlich im Spiel.

Das Spiel sei eine Synthese aus Freiheit und Ordnung, Leidenschaft und Vernunft. Es sei daher das Paradigma einer freien und humanen Gesellschaft. In einer solchen Gesellschaft hätte das Leben einen überwiegend spielerischen Charakter – wie bei den Buschleuten oder anderen Ethnien auf dieser Entwicklungsstufe, die nur 40 bis 50 Prozent ihrer wachen Lebenszeit für die Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts aufwenden mussten. Und dies, obwohl sie häufig in einer natürlichen Umgebung lebten, die ihren Gabentisch nicht gerade üppig ausstattete.

Fazit

Natürlich, das ist eine Utopie – eine Utopie freilich, die zu rund 95 Prozent der Zeit, die Homo sapiens auf diesem Planeten bisher zubrachte, durchaus real war. Die Urerinnerung an diese Zeit ist in den archaischen Schichten unseres Unbewussten immer noch lebendig. Sie ist die Quelle des “Unbehagens an der Kultur”, von der Freud sprach.

Die Legalisierung von Drogen ist freilich ein komplexes Thema. Vor- und Nachteile springen ins Auge. Und schlimmer: Man ahnt, dass man sich damit unvorhersehbare Komplikationen einhandeln könnte. Dies allerdings gilt auch für den Fall, dass alles so weiterläuft wie bisher. Damit nämlich kann niemand zufrieden sein, der die Fakten kennt.

Fassen wir also zusammen:

1. Die Drogenprohibition ist gescheitert. Sie richtet mehr Schaden an, als sie Nutzen stiftet.
2. Die Drogenprohibition ist ungerecht. Leute dürfen sich zwar volllaufen lassen, bis die Birne platzt, aber wenn einer einen Joint raucht, verstößt er gegen das Gesetz. Dies schadet dem Rechtsbewusstsein und hat damit gravierende Konsequenzen, die sich die meisten Befürworter des Drogenverbots gar nicht klarmachen.
3. Die Drogenprohibition ist illiberal. Einschränkungen von Freiheitsrechten sind aus meiner Sicht nur dann legitim, wenn sie zum Schutz der Allgemeinheit erstens notwendig und zweitens auch wirksam sind. Diese beiden Bedingungen erfüllt die Drogenprohibition aber nicht.
4. Auch wenn ich keine Drogen nehme, fühle ich mich nicht berechtigt, sie anderen nicht zu gönnen.

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Neurowissenschaften: Ein toter Lachs und eine dressierte Ziege

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Bahnbrechende Durchbrüche

Immer wieder einmal, und in den letzten Jahren immer häufiger, geistern Meldungen durch die Presse, dass Forscher Anomalien in den Gehirnen “psychisch Kranker” entdeckt hätten. Gern interviewen die Medien dann einen Gelehrten der Neurowissenschaften, der oft von “bemerkenswerten Resultaten”, gar von einem “Durchbruch” fabuliert und davon, dass nun der Entwicklung neuer, durchschlagender Medikamente nichts mehr im Wege stünde.

Man sollte sich von solchen Meldungen nicht irre machen lassen. Die Welt ist auch so schon verrückt genug. Es gibt keinen Anlass zur Sorge. Die punktgenaue Manipulation des Gehirns durch Chemie liegt noch in weiter Ferne. Bis auf Weiteres ist immer noch lustiges Schrotflintenschießen angesagt. Trotz “Neuroimaging” weiß niemand so genau, wie Psychopharmaka im Gehirn wirken, was sie bewirken und ob das, was sie auslösen, in irgendeinem Zusammenhang mit einer angeblichen “psychischen Krankheit” steht.

Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging (1).”

Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden. Die Autoren üben sich nach diesem Präludium in einer Kunst, die der Hirnforscher John Eccles “Schuldschein-Materialismus” genannt hat: Wenn man nur eifrig die Methoden und die Veröffentlichungspraxis verbessere, dann könne man auch irgendwann einmal zu klinisch relevanten Ergebnissen gelangen. Klartext: Zur Zeit wird noch geschludert und gemogelt, was nicht passt, wird nicht publiziert. Aber wenn das erst einmal abgestellt worden sei, dann habe das psychiatrische “Neuroimaging” eine glanzvolle Zukunft.

Der Neurowissenschaftler William R. Uttal formuliert seine Kritik wesentlich besonnener als ich; aber auch er gelangt zu einem unmissverständlichen Fazit: Die bunten Bilder des Neuroimaging verführen uns dazu, organisierte Muster der Aktivierung zu sehen, wo in Wirklichkeit u. U. nur eine zufällige Aktivierung herrscht (6).

Ein Toter, ganz lebendig

Forscher kauften einen Lachs auf dem Wochenmarkt, legten ihn in eine Gehirndurchleuchtungsmaschine und zeigten ihm Bilder. Der Lachs war tot. Dennoch fanden die Wissenschaftler signifikante Zusammenhänge zwischen der Hirnaktivität des toten Lachses und den Bildern.

Die Wissenschaftler schreiben:

“With the extreme dimensionality of functional neuroimaging data comes extreme risk for false positives. Across the 130,000 voxels in a typical fMRI volume the probability of a false positive is almost certain. Correction for multiple comparisons should be completed with these datasets, but is often ignored by investigators. (2)

Aufgrund der gewaltigen Menge statistischer Vergleiche, die zur Auswertung von Brain Scans erforderlich sind, kommt es unausweichlich zu falsch positiven Resultaten. Es gibt statistische Korrekturverfahren, die bei multiplen Tests angewendet werden können. Jeder Psychologiestudent lernt das im Grundstudium. Allein, psychiatrische Neuroforscher kennen diese Verfahren oftmals entweder nicht oder sie möchten sich durch deren Anwendung nicht den Spaß verderben lassen.

Statistik – Glücksache

Der Lachs ist immer und überall. Das statistische Niveau der Veröffentlichungen in medizinischen Fachzeitschriften ist atemberaubend niedrig. Die Studien stecken voller methodischer Mängel, Schwächen und Fehler. Dies ist nicht nur meine Meinung, sondern dies wurde inzwischen empirisch nachgewiesen (3).

In einem Artikel des Spiegels (“Statistik-Know-how: Warum viele Ärzte ihre Patienten falsch beraten”, 15.07.2012) heißt es, dass viele Ärzte nicht in der Lage sind, Statistiken richtig zu interpretieren und dass deswegen diagnostische Fehler unausweichlich sind, die u. U. sogar Menschenleben gefährden. Der Artikel kommt zu dem Schluss, dass die ärztliche Ausbildung nicht in ausreichendem Maß Statistik-Kenntnisse vermittele und dass auch die medizinische Fachliteratur Ärzte in statistischen Fragen schlecht unterrichte.

Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass man eine solide statistische Ausbildung braucht, um empirische Literatur in Psychiatrie und Psychologie angemessen würdigen, um die Spreu vom Weizen trennen zu können. Daher rate ich jedem Patienten eines Psychiaters oder eines Psychotherapeuten, den Heiler nach seinen Statistik-Kenntnissen zu befragen. Wenn er hier Schwächen einräumt, dann weiß man, wie es um die Weiterbildung dieses Menschen bestellt ist. Dieser Mensch ist dann nämlich darauf angewiesen zu glauben, was man ihm erzählt. Denn aus der Fachliteratur kann er selbständig keinen Nutzen ziehen.

Der Arzt und Statistiker John Ioannidis bringt den Stand der Dinge bündig auf den Punkt. In einem Artikel zeigt er mit beeindruckender Stringenz, warum die meisten medizinischen Forschungsergebnisse falsch sind. Dies liegt an mangelhafter Forschungmethodik, die zu Schein-Signifikanzen führt. Und kaum einer merkt es; oder will es merken (7).

In der Röhre

Es gibt viele Gründe, warum man Brain Scans skeptisch betrachten sollte. Die Statistik ist nur einer davon. Wer schon einmal in einer “Röhre” gelegen hat, ahnt vermutlich bereits, wovon ich spreche. Es ist verdammt eng dort, und auch ein wenig unheimlich. Wer garantiert mir, dass sich dort das Gehirn genauso verhält wie im realen Leben? Klaustrophobie? Kein Problem?

Die Probanden in der Röhre müssen den Kopf still halten, weil sonst die Aufzeichnungen verzerrt werden. Das psychiatrische Neuroimaging arbeitet aber oft genug mit Menschen, deren Selbstkontrolle eingeschränkt ist. Kleine Kinder, alte Menschen und “clinical patients” zeigen signifikant stärkere Kopfbewegungen als andere Versuchspersonen, heißt es in einem Forschungsbericht zu methodischen Problemen des “Neuroimaging” (4). Würde man bei diesen “problematischen” Versuchspersonen den Kopf fixieren, so würde die Situation dadurch selbstredend noch unnatürlicher.

Seeing is believing!

Angesichts dieser offenkundigen Schwierigkeiten, die damals nicht kleiner waren als heute, war ich doch recht überrascht, als mir 1998 in einer Buchhandlung des Flughafens von Toronto ein Buch mit dem Titel “Change your brain, change your life” in die Hände fiel. In diesem Buch behauptet der amerikanische Psychiater Daniel G. Amen, er könne alle erdenklichen psychiatrischen “Krankheiten” auf Brain Scans erkennen und wisse dann auch sofort, mit welchen Psychopharmaka man sie am besten behandeln könne.

“Seeing is believing”, schreibt er. “Seeing these scans caused me to challenge many of my basic beliefs about people, character, free will, and good and evil that had ingrained in me as a Catholic schoolboy.” (5)

Der Mann betreibt auch heute noch Kliniken in den USA und behandelt psychiatrische Patienten auf Basis von Brain Scans. Die Washington Post (9.8.2012) schreibt über ihn, er sei der populärste Psychiater in den Vereinigten Staaten. In seinen Kliniken werden monatlich 1200 Patienten therapiert. Einige seiner Bücher wurden Bestseller. Er ist ein “Distinguished Fellow” der amerikanischen Psychiatrievereinigung APA. “Excellence, not mere competence, is the hallmark of a Distinguished Fellow” – so erklärt die APA diesen Begriff. Eine Einführungssitzung in den Kliniken dieses Mannes, zwei Scans inbegriffen, kostet schlappe $ 3.500. Amen behauptet, durch Brain Scans mehrere Untertypen von Depression, Angststörungen und Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung entdeckt zu haben.

Obwohl “Distinguished Fellow” der APA, wird sein diagnostischer Ansatz von keiner nennenswerten Psychiatervereinigung oder einschlägigen Forschungsinstitution akzeptiert. Fachlich, wissenschaftlich wird er einhellig abgelehnt. Aber 2011 erwirtschaftete der Psychiater mit seinen Kliniken 20 Millionen Dollar. Das tröstet den “Distinguished Fellow” bestimmt über den Unverstand der Fachwelt hinweg.

Excellence, not mere competence. „Bestimmte Symptome unter bestimmte Begriffe zu subsumieren, kann auch jede dressierte Ziege”, sagte einst der weltberühmte Psychiater Gert Postel zur psychiatrischen Diagnostik. Ob man wohl auch einer Ziege das Interpretieren von Brain Scans beibringen kann? Am klügsten ist es wahrscheinlich, sie zunächst mit einem toten Lachs zu trainieren.

Warum?

Warum werden keine Kosten und Mühen gescheut, um mit ungeeigneten Methoden nach den Ursachen “psychischer Krankheiten” zu suchen. Gibt es keine Zielgebiete, wo man leichter fündig werden und relevantes Material ans Licht bringen könnte? Gibt es beim gegenwärtigen Forschungsstand überhaupt einen triftigen Grund, von “psychischen Krankheiten” zu sprechen? Wer profitiert davon? Solche Diagnosen beziehen sich ja oft durchaus auf reale Phänomene, auf teilweise erheblich unangepasstes, mitunter auch unangemessenes Verhalten und Erleben. Doch diese Phänomene könnten durchaus auch anders interpretiert werden, denn als Ausdruck einer Krankheit.

Wer profitiert also vom Begriff der “psychischen Krankheit”?

  1. Die Medizin. Wer krank ist, bedarf der ärztlichen Behandlung.
  2. Die Pharma-Industrie. Wer krank ist, bekommt in aller Regel Medikamente.
  3. Die Politik. Wer krank ist, der ist Opfer seiner Biologie und nicht etwa Opfer unerträglicher gesellschaftlicher Verhältnisse, an denen man nichts ändern will.
  4. Angehörige. Wer Opfer seiner Biologie ist, dessen “Symptome” sind keineswegs Ausdruck eines Protests gegen familiäre Schwierigkeiten, die anders nicht mitgeteilt werden können.
  5. Arbeitgeber. Ich muss das nicht erläutern.

Das sind objektive Zusammenhänge. Ich behaupte nicht, dass diese Zusammenhänge allen Beteiligten bewusst sind und dass die Diagnose gestellt oder gutgeheißen wird, um die mit ihren Folgen verbundenen Vorteile zu genießen. Entgegen anders lautenden Gerüchten bin ich kein Verschwörungstheoretiker, sondern ich stelle einfach nur fest, was ist.

Natürlich manipuliere ich gnadenlos mit meinen Tagebucheinträgen. Wenn der Leser demnächst an die Neurowissenschaften denkt, so wird ihm unerbittlich der tote Lachs in den Sinn kommen, und beim Gedanken an die psychiatrische Diagnostik fällt ihm die dressierte Ziege ein. So einfach soll man es sich aber nicht machen: Diese modernen Wissenschaften sind kein Zoo oder landwirtschaftlicher Betrieb. Der geneigten Leser wurde von mir schon genug manipuliert, und so überlasse ich es ihm, selbst einen passenden Vergleich zu finden. Ich hoffe, dies wird von den einschlägig interessierten Kreisen auch anerkannt.

Anmerkungen

(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(2) Neural correlates of interspecies perspective taking in the post-mortem Atlantic Salmon: An argument for multiple comparisons correction. Craig M. Bennett, Abigail A. Baird, Michael B. Miller, and George L. Wolford Psychology Department, University of California Santa Barbara, Santa Barbara, CA; Department of Psychology, Vassar College, Poughkeepsie, NY; Department of Psychological & Brain Sciences, Dartmouth College, Hanover, NH, Poster; Bennett, C. M. et al. (2010). “Neural Correlates of Interspecies Perspective Taking in the Post-Mortem Atlantic Salmon: An Argument For Proper Multiple Comparisons Correction” Journal of Serendipitous and Unexpected Results, 2010, (1) 1, 1-5

(3) Alexander M. Strasak, Qamruz Zaman, Karl P. Pfeiffer, Georg Göbel, Hanno Ulmer: Statistical errors in medical research – a review of common pitfalls. Swiss Med Wkly 2007; 137: 44–49

(4) Lazar, N. A. et al. (2001). Statistical Issues in fMRI for Brain Imaging , International Statistical Review, Issue 1, pages 105–127

(5) Amen, D. G. (1998). Change your brain, change your life. The breakthrough program for conquering anxiety, depression, obsessiveness, anger, and impulsiveness. Ney York: Times Books, Random House, Seite 7

(6) Uttal, W. R. (2012). Review – Reliability in Cognitive Neuroscience. A Meta-Meta-Analysis. Cambridge, Mass.: MIT Press

(7)  Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124

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Die Psychiatrie, die Psychopharmakologie, Enttäuschung, Hoffnung

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H. Christian Fibiger ist kein Unbekannter in der Welt der Psychopharmakologie. Der Chemiker und Psychologe ist heute “Chief Scientific Officer” bei MedGenesis Therapeutix. Zuvor nahm er leitende Funktionen u. a. bei Biovail Laboratories International, Amgen und Eli Lilly wahr. Außerdem war er Professor and Leiter der Abteilung für Neurologische Wissenschaften sowie Vorsitzender des Graduiertenprogramms für Neurowissenschaften der Universität von British Columbia in Vancouver, Kanada.

Wenn ein Mann wie Prof. Fibiger einen Aufsatz in einer international respektierten Fachzeitschrift erscheinen lässt, der mit dem Satz beginnt: “Die Psychopharmakologie ist in der Krise”, dann werden Psychiatrie- und Pharmaindustrie-Kritiker gleichermaßen hellhörig. Schließlich ist der Mann in wirtschaftlicher und in wissenschaftlicher Hinsicht ein Insider. Der Titel seines Aufsatzes, der im Schizophrenia Bulletin (vol. 38 no. 4 pp. 649–650, 2012) erschien, klingt noch vergleichsweise harmlos: “Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics.” So ähnlich klingen viele Überschriften von Aufsätzen, in denen die Interessen des Marketings und der Wissenschaft eine makellose Synthese eingehen.

Nachdem er die Krise konstatiert hat, folgt im zweiten Satz die Begründung: “Die Daten sind da, und es ist klar, dass ein gewaltiges Experiment gescheitert ist.” Obwohl über Jahrzehnte geforscht und Milliarden ausgegeben wurden, konnte in den letzten dreißig Jahren nicht ein einziges, hinsichtlich des Wirkmechanismus’ neues Medikament in den psychiatrischen Pharma-Markt eingeführt werden. Aus diesem Grunde hätten fast alle bedeutenden Hersteller von Psychopharmaka die Suche nach solchen Substanzen entweder eingestellt oder die Mittel dafür stark reduziert. Verständlich, weil andere Bereiche profitabler erscheinen: Krebs und Immunologie beispielsweise. Dorthin werden nun die Forschungsmittel kanalisiert.

Das Erstaunlichste sei, schreibt Fibiger, dass sich die Industrie nicht schon viel früher aus diesem Bereich zurückgezogen habe. Hier seien nämlich keine Erfolge im Feld der Psychopharmakologie mehr zu erwarten, solange die Psychiatrie keine grundlegenden Fortschritte mache.

“What the field lacks is sufficient basic knowledge about normal brain function and how its disturbance underlies the pathophysiology of psychiatric disease.”

Der Psychiatrie fehlt ein hinlängliches Basiswissen darüber, wie das normale Gehirn funktioniert und in welcher Weise Hirnfunktionsstörungen der “Pathophysiologie psychiatrischer Krankheiten” zugrunde liegen.

Dies wirft im Übrigen, am Rande bemerkt, ein bezeichnendes Licht auf die Frage, ob man zu recht von “psychischen Krankheiten” sprechen darf. Denn wie will man etwas als krank bezeichnen, wenn man nicht weiß, was gesund ist? Man brauchte ein Modell der natürlichen, ungestörten Funktionsweise des Gehirns; doch von einem solchen Modell sind die Neurowissenschaften Lichtjahre entfernt. Sie wissen noch nicht einmal, welche Fragen sie hierzu stellen sollten, geschweige denn sind Antworten in Sicht.

Ein entscheidendes Hindernis des Fortschritts der psychiatrischen Wissenschaft sei der der augenblickliche Zustand der Nosologie, also der Klassifikation “psychischer Krankheiten”.

“Today, few would argue that syndromes such as schizophrenia and depression are single, homogeneous diseases. And yet when it comes to clinical research, including clinical trials, both are still almost always treated as such. For example, studies continue to be published on the genetics of both of these syndromes despite the fact that there never will be a robust genetics of either condition as the nature and severity of specific symptoms are too heterogeneous across individuals to have any consistent genetic correlates. Similarly, while DSM conceptualizations of psychiatric disease may have utility in current clinical practice, when it comes to research, they too are a barrier to progress.”

Nur wenige Fachleute, meint Fibiger, würden heute noch behaupten, dass Schizophrenie oder Depression einzelne, homogene Krankheiten seien. Doch in der Forschung, auch in klinischen Tests, würden sie so behandelt, als wären sie es. So würden immer noch Studien zur genetischen Basis dieser beiden Störungen publiziert. Tatsache sei jedoch: Die Menschen mit diesen Diagnosen sind viel zu unterschiedlich, als dass man jemals eine gemeinsame, robuste Konfiguration von Genen bei ihnen finden könnte. Auch wenn die Konstrukte des DSM, also des Diagnoseschemas der amerikanischen Psychiatrie, sich in der Praxis als hilfreich erweisen sollten, seien sie in der Forschung eine Barriere des Fortschritts.

Dies schreibt nicht irgendwer, dies schreibt kein ewig nörgelnder Pharmakritiker und auch kein Aktivist der Antipsychiatrie, sondern ein reichlich mit namhaften Preisen bedachter Neurowissenschaftler, Psychopharmakologe und eine Führungspersönlichkeit der Pharmaindustrie.

Fibiger meint, dass man die psychiatrischen Diagnosen in einzelne Komponenten zerlegen und dann nach den neurophysiologischen Korrelaten dieser Aspekte menschlichen Verhaltens und Erlebens suchen sollte. Man dürfe nicht erwarten, eine einheitliche Grundlage für Schizophrenie zu finden, aber man dürfe sich Hoffnung machen, die neurophysiologische Basis von Halluzinationen, Wahnvorstellungen u. ä. zu entdecken.

“Given that there cannot be a coherent biology for syndromes as heterogeneous as schizophrenia, it is not surprising that the field has failed to validate distinct molecular targets for the purpose of developing mechanistically novel therapeutics. Although it has taken our field too long to gain this insight, we seem to be getting there.”

Nun ist die Katze aus dem Sack. Es kann beispielsweise gar keine einheitliche Grundlage für eine so heterogene Störung wie die Schizophrenie geben. Daher ist es nicht überraschend, schreibt Fibiger, dass die Forschung mit ihrem Versuch scheiterte, abgegrenzte molekulare Ziele für Medikamente mit neuen Wirkmechanismen zu finden.

Man kann sicher nicht, wenn man weiterhin als bei Trost gelten möchte, die Existenz der Phänomene bestreiten, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Wohl aber, und mit guten Gründen, darf man bezweifeln, dass es sich bei diesen Phänomenen um Krankheiten handelt.

Die psychiatrische Diagnostik, schreibt James Davies in seinem Buch “Cracked. Why Psychiatry Is Doing More Harm Than Good”, gleiche in ihrem gegenwärtigen Zustand den Sternbildern. Die Sterne gebe es ja durchaus, aber die Sternbilder seien willkürliche Verbindungslinien zwischen ihnen.

Fibiger begrüßt es, dass – eingedenk dieser Erkenntnisse – das National Institute of Mental Health (NIMH) der Vereinigten Staaten ein Forschungsprogramm gestartet hat, das die Kriterien des DSM vollständig ignorieren wird. (Am Rande sei bemerkt, das natürlich das in Deutschland gebräuchliche Diagnose-Schema ICD dieselben Probleme aufweist wie das DSM.) Unter dem Titel “Research Domain Criteria” (RDoC) wird das NIMH das vorhandene Wissen über normale Funktionsweisen des Gehirns zum Ausgangspunkt der Forschung machen.

“RDoC begins with current knowledge of brain circuits underlying specific domains of normal behavior and subsequently attempts to link them to clinical phenomena. Going forward, it will be fascinating to see how psychosis, including hallucinations, delusions, and thought disorder are addressed in the RDoC framework.”

Das RDoC ist die große Hoffnung der Psychiatrie und Psychopharmakologie, zumindest jener Vertreter dieser Disziplinen, die wissen, das sie ein erhebliches Problem haben. Das erhebliche Problem lässt sich auf folgende Formel bringen: Obwohl die Psychiatrie psychische Störungen wie Schizophrenie oder Depression als Krankheiten behandelt, die angeblich auf (weitgehend angeborenen) Störungen des Gehirns beruhen, befindet sie sich die psychiatrische Forschung diesbezüglich bisher auf dem Holzweg.

Wir müssen abwarten, ob RDoC nun die ersehnten Erfolge bringen oder ob sich dieses Projekt ebenfalls als Holzweg erweisen wird. Ich begrüße dieses Forschungsprogramm mit großem Nachdruck. Wenn es tatsächlich biologische Ursachen psychischer Krankheiten geben sollte, dann wäre es natürlich gut, so viel wie möglich über sie und über Heilungsmöglichkeiten zu erfahren. Allerdings wünsche ich den Verantwortlichen für dieses Projekt auch die Weisheit zu erkennen, wann man ein Forschungsprogramm als gescheitert betrachten muss und aufgeben sollte. Dass ist nach Imre Lakatos, dem bedeutenden Mathematiker und Wissenschaftstheoretiker, dann der Fall, wenn sich ein besseres Forschungsprogramm entwickelt, das mehr zutreffende Vorhersagen machen kann. Zur Pseudowissenschaft degeneriert ein Forschungsprogramm, wenn  es keine neuen Fakten mehr vorherzusagen vermag.

Wenn man Fibigers Analyse der gegenwärtigen Psychiatrie für zutreffend hält, so wird man wohl oder über zu dem Schluss kommen müssen, dass es sich bei dieser in ihrer gegenwärtigen Form inzwischen um eine Pseudowissenschaft handelt. Thomas Insel, der Direktor des National Institute of Mental Health, der RDoC nach Kräften fördert, darf also durchaus als ein Mensch verstanden werden, der sich als Retter in der Not versucht, der eine Kurskorrektur der Psychiatrie (weg von willkürlichen, auf Mehrheitsmeinungen in Psychiatergremien beruhenden Diagnosen) erzwingen möchte (hin zu einer naturwissenschaftlich fundierten Diagnostik, wie sie heute allgemein in der Medizin üblich ist).

Man sollte nicht vorschnell den Stab über dieses Vorhaben brechen. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass ein konkurrierendes Forschungsprogramm, das psychologisch-sozialwissenschaftliche nämlich, von der biologischen Psychiatrie seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts (mit maßgeblicher Unterstützung durch die Pharmaindustrie) an den Rand gedrängt wurde. Die biologische Psychiatrie muss nun liefern. In einem angemessenen Zeitraum. Im Augenblick jedenfalls richtet sie eindeutig mehr Schaden an, als sie Nutzen zu stiften vermag.

Der gegenwärtigen psychiatrischen Praxis werfe ich vor allem vor,

  • dass ihre Aufklärung über die “Schizophrenie”, die “Depression” und eine ganze Reihe anderer Störungen
  • bei Betroffenen, Angehörigen, den Medien und ihren Konsumenten nach wie vor den Eindruck hinterlässt,
  • dass diese Phänomene auf einem “chemischen Ungleichgewicht”im Hirn beruhten,
  • dem durch Medikamente entgegengewirkt werden könnte.

Die Forschung deckt diese These eindeutig nicht. Psychopharmaka haben nicht dieselbe Funktion wie Insulin bei Diabetikern. Wer diesen Eindruck erweckt, führt Menschen in die Irre. Aufklärung über Krankheiten, die in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständliche Pflicht der Mediziner ist, muss unbedingt nach bestem Wissen und Gewissen der Wahrheit entsprechen. Es gibt durchaus berechtigte Gründe, daran zu zweifeln, ob sich Psychiater stets an diesen Grundsatz halten.

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Psychiatrie, Diagnostik, Fehlerquellen

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Die psychiatrischen “Krankheitsbilder” beruhen nicht auf empirischer Forschung, sondern auf der Mehrheitsmeinung in Psychiatergremien. Weder das amerikanische DSM, noch der psychiatrischer Teil der ICD (WHO) wurden jemals validiert. Die diagnostischen Kategorien kamen teilweise unter haarsträubenden Bedingungen zustande, wobei beispielsweise mitunter der Lautstärkste darüber entschied, ob eine “Krankheit” in das diagnostische Handbuch aufgenommen wurde oder nicht. Dies wird in den Bücher von Davies (19) und Greenberg (20) sorgfältig dokumentiert. Da es also keine objektiven Verfahren gibt, die eine psychiatrische Diagnose stützen könnten, ist der Arzt vor allem auf die folgenden drei Informationsquellen angewiesen:

  1. Beobachtung de Verhaltensweisen des Patienten im Arztzimmer oder in der Klinik
  2. Auskünfte des Patienten über sich selbst und seine Weltsicht
  3. Informationen aus dritter Hand (Angehörige, Vorbehandler, Polizei etc.)

Es dürfte sich also von selbst verstehen, dass eine psychiatrische Diagnose unter diesen Bedingungen nur subjektiv sein kann. Es mag zwar auch objektive Daten geben, wie beispielsweise rechtskräftige Verurteilungen oder Erkrankungen; aber dabei handelt es sich keinesfalls um Biomarker einer „psychischen Störung“. Dies bedeutet zwangsläufig, dass psychiatrische Diagnosen denselben potenziellen Verzerrungen unterliegen wie die Wahrnehmung und Beurteilung von Personen im Allgemeinen. Die folgende Exkursion ist nur ein Streifzug durch die wundersame Welt der kognitiven und affektiven Verzerrungen, die ein Psychiaterhirn, wie jedes andere auch, beeinträchtigen können.

  • Bestätigungsfehler (1). Hierunter verstehen wir die Tendenz, nur noch nach Informationen zu suchen, die eine einmal gefasste Meinung bestätigen. Entsprechend werden Informationen, die diese widerlegen, ignoriert oder entwertet und schnell wieder vergessen. Die Bedeutung dieses Fehlers in diagnostischen Prozessen wurde eindrucksvoll durch das Rosenhan-Experiment belegt. Hier wurden, um den Wert psychiatrischer Diagnostik zu testen, “normale” Menschen, ohne Wissen der behandelnden Ärzte, als Pseudo-Patienten in psychiatrische Kliniken geschickt. Um aufgenommen zu werden, täuschten die Patienten einmalig auditive Halluzinationen vor. Die meisten Psychiater hielten hartnäckig an ihrer Ursprungsdiagnose fest, obwohl sich die „Patienten“ nach ihrer Aufnahme im Hospital völlig normal verhielten, was auch von einigen “echten” Mitpatienten bemerkt wurde, nicht aber von den Experten. Die Pseudo-Patienten protokollierten beispielsweise ihre Beobachtungen zunächst heimlich und dann, weil dies vom Personal nicht beachtet wurde, öffentlich. In den Protokollen der Anstalten wurde dies dann üblicherweise als „pathologisches Schreibverhalten“ gedeutet (2).
  • Ambiguitätseffekt (3). Menschen neigen bei Entscheidungen unter Unsicherheit dazu, Optionen zu wählen, die mit ihnen bekannten Wahrscheinlichkeiten verbunden sind. Wenn wir also beispielsweise die Wahl zwischen drei Restaurants (A, B, C) haben und wissen, dass in Restaurant A 70 % der Gäste zufrieden waren, wohingegen wir von den anderen nichts über die Zufriedenheit der Gäste wissen, so tendieren wir dazu, uns für A zu entscheiden. Dies ist natürlich irrational, denn selbst bei A wissen wir ja nicht, ob wir nicht zu den 30 % gehören werden, denen es nicht geschmeckt hat. Aber der Mensch schätzt offenbar irrationale Entscheidungen; deswegen sind ja auch Hotel- oder Ärztebewertungen im Internet so beliebt. Da Psychiater bekanntlich auch nur Menschen sind, unterliegen sie in der diagnostischen Entscheidungssituation ebenfalls dem Ambiguitätseffekt. Nehmen wir an, ein Psychiater wähne, sich mit den Wahrscheinlichkeiten rund um die Diagnose A gut auszukennen, wohingegen ihm die Wahrscheinlichkeiten rund um die Alternativdiagnosen B und C nicht so besonders gut vertraut sind – was glauben Sie wohl, lieber Leser, wenn Sie da der Patient wären, welche Diagnose würden Sie vermutlich mit der größten Wahrscheinlichkeit erhalten?
  • Anker-Effekt (4). Menschen tendieren dazu, sich bei Entscheidungen zu stark auf einen einzelnen Gesichtspunkt, ein einzelnes Merkmal aus einem komplexen Gefüge, leiten zu lassen. Dieser Anker überstrahlt dann alle anderen, möglicherweise viel gewichtigeren Aspekte der Angelegenheit. Darum ist es beispielsweise nicht ratsam, einem Psychiater zu erzählen, man höre Stimmen, die sonst niemand hört, es sei denn, man wolle als „schizophren“ diagnostiziert werden. „Multiple Persönlichkeiten“ beispielsweise hören viel häufiger Stimmen als „Schizophrene“, aber das wissen die meisten Psychiater nicht. Möchte man also gern als „multiple Persönlichkeit“ diagnostiziert werden, sollte man lieber von Flashbacks sprechen, von plötzlichen, quälenden Erinnerungen an Gewalt und Missbrauch in der Kindheit. Dann klappt’s auch mit der Diagnose. Doch Scherz beiseite: Der Anker-Effekt spielt allein schon wegen des Zeitdrucks, unter dem heute viele Ärzte arbeiten müssen, vermutlich eine in vielen Fällen ausschlaggebende Rolle.
  • Aufmerksamkeitsverzerrung (5). Es gibt ja immer verschiedene Möglichkeiten, beispielsweise beim Suizid:

    A: Menschen kündigen einen Selbstmord an und bringen sich um.
    B. Menschen kündigen einen Selbstmord an und bringen sich nicht um.
    C. Menschen kündigen keinen Selbstmord an, töten sich aber selbst.
    D. Menschen kündigen keinen Selbstmord an und bringen sich auch nicht um.

    Viele neigen dazu, sich in solchen Situationen auf die emotional bedeutsamen Alternativen zu konzentrieren und die anderen zu vernachlässigen, selbst wenn sie eine höhere Wahrscheinlichkeit haben. Sagen Sie, lieber Leser, also niemals auch nur im Scherz: „Wenn der jetzt das Tor jetzt nicht reinmacht, dann nehm’ ich mir ‘nen Strick.“ Der Mann im Stadion neben Ihnen – ja, ich meine den mit dem biederen Hut und dem gepflegten Vollbart – genau der könnte ein Psychiater sein, also Vorsicht! Dasselbe gilt auch für die Drohung mit Gewaltanwendung; die Möglichkeit, dass man diese nicht unbedingt für bare Münze nehmen muss, könnte der Aufmerksamkeit des Psychiaters gerade entzogen sein.

  • Verfügbarkeits-Heuristik (6). Menschen bevorzugen bei Entscheidungen Informationen, nach denen sie nicht lange im Gedächtnis kramen müssen, sondern die ihnen unmittelbar in den Sinn kommen. Aus diesem Grunde halten die meisten Zeitgenossen die so genannten psychisch Kranken auch für gefährlicher, als sie tatsächlich sind. Schließlich sind die Zeitungen voll mit Berichten über „psychisch kranke“ Gewalttäter, die in die Psychiatrie gebracht wurden. In einer Studie zeigte sich beispielsweise, dass 46 Prozent der Berichte in der britischen Presse über “psychisch Kranke” das Thema „Gewalt“ betrafen (7). Über friedfertige „psychisch Kranke“ wird viel seltener berichtet, wenn überhaupt. Man muss nur das Stichwort „Psychiatrie“ in „Google News“ eingeben, um sich davon zu überzeugen, dass dies in Deutschland auch nicht anders ist. Da Psychiater bekanntlich auch nur Menschen sind, unterliegen sie ebenfalls dieser Verzerrung, selbst wenn sie die einschlägigen Statistiken kennen sollten. Dies dürfte eine zumindest teilweise Erklärung für die bereits erwähnte Überschätzung der Gefährlichkeit von Probanden durch psychiatrische Prognostiker sein.
  • Verfügbarkeits-Kaskade (8). Eine Behauptung wird umso glaubwürdiger, je häufiger sie im öffentlichen Diskurs als zutreffend behauptet wird. Dies ist die Geschäftsgrundlage der Psychiatrie. Weil immer und immer wieder Abweichungen von sozialer Norm als „psychisch krank“ bezeichnet werden, wird dieses Deutungsmuster schließlich zur unumstößlichen Wahrheit. Psychiater glauben umso lieber daran, als dieser Glaube ihnen ja ein schönes Leben in Saus und Braus ermöglicht. Dies gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff der „psychischen Krankheit“, sondern auch für die entsprechenden Erklärungsmodelle. Dank eines beträchtlichen Marketingaufwandes wurden die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie und die Serotonin-Hypothese der Depression durch eine Verfügbarkeits-Kaskade zum Allgemeingut und gelten auch heute noch als gesichertes Wissen, obwohl sie längst unumstößlich widerlegt wurden (21).
  • Gegenschlag-Effekt (9). Menschen neigen dazu, angesichts von Informationen, die gegen die eigene Überzeugung sprechen, umso inbrünstiger daran zu glauben. Dies zeigt sich gerade auch in der Psychiatrie, die im Augenblick als Wissenschaft bekanntlich vor einem Scherbenhaufen steht. Wer nun aber wähnt, dass man in diesen Kreisen angesichts des Unbestreitbaren in sich ginge, hat sich gewaltig in den Finger geschnitten. Im Gegenteil: Man trumpft auf wie nie zuvor. Ein besonders dramatisches Beispiel ist das „klinische Urteil“ des erfahrenen Experten. Obwohl seit mehr als fünfzig Jahren ein empirischer Beleg nach dem anderen dafür angehäuft wird, dass dieses „klinische Urteil“ nicht valide ist, weigern sich viele Experten nach wie vor, die erwiesenermaßen haushoch überlegenen statistischen Modelle (Regressionsgleichungen) auch nur in Erwägung zu ziehen (10).
  • Gruppendenken (11). Man glaubt, was viele glauben, weil es viele glauben. Die Geschichte der Psychiatrie ist eine Geschichte der Moden. Viele Jahre glaubten alle an Jean-Martin Charcot, den „Napoleon der Neurosen“. Dann glaubten alle an Sigmund Freud, den „Entdecker des Unbewussten“. Dann glaubten viele lieber an Burrhus Frederic Skinner, den Herrn der Ratten. Heute glauben alle an Brain Scans, die wie Rorschach-Tintenkleckse gedeutet werden. Man nennt dies auch den Bandwagon-Effekt. Der “Bandwagon” ist der Wagen in einer Parade, auf dem die Kapelle sitzt und dem deswegen die größte Aufmerksamkeit zuteil wird. Und wenn dort Sigmund Freud die Musik macht, dann ist man halt Psychoanalytiker. Heute ist man Neuropsychiater oder Neuropsychologe.
  • Barnum-Effekt (12). Menschen neigen dazu, Beschreibungen ihrer Person zu glauben, die angeblich auf sie zugeschnitten sind, obwohl sie gleichermaßen auf viele andere Personen zutreffen. Wenn also ein Diagnostiker dem Diagnostizierten eine Lehrbuchdiagnose stellt und der Diagnostizierte dem Barnum-Effekt unterliegt, dann wird der Diagnostiker die Zustimmung des Diagnostizierten u. U. fälschlicherweise als Bestätigung seiner Diagnose auffassen.
  • Basis-Raten-Fehlschluss (13). Nehmen wir einmal an, in einem Staat lebten eine Million Menschen. Davon seien hundert potenzielle „psychisch kranke“ Massenmörder. Es wird nun ein Testverfahren entwickelt, um diese potenziellen Massenmörder zu identifizieren und sie rechtzeitig einzusperren. Jeder Test hat natürlich eine Fehlerquote. Er kann potenzielle Massenmörder nicht entdecken und er kann harmlose Bürger fälschlich als potenzielle Massenmörder identifizieren. Unterstellen wir, die Fehlerquote sei in beiden Fällen 1 Prozent. Dies bedeutet: Wenn potentielle Massenmörder den Test machen, wird er in 99 Prozent der Fälle dies auch erkennen, in einem Prozent der Fälle nicht. Wenn normale Bürger den Test machen, wird er in 99 Prozent der Fälle keinen Befund ergeben und sie in einem Prozent der Fälle fälschlicherweise als potenzielle Massenmörder einstufen. Dieser Test wird nun bei Fritz M. angewendet und das Ergebnis lautet: potenzieller Massenmörder. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich dabei tatsächlich um einen solchen handelt? Wer mit der Bayes-Statistik nicht vertraut ist, wird vermutlich eine falsche Antwort geben. Die richtige lautet: Die Wahrscheinlichkeit liegt bei ungefähr 1 Prozent.
    99 der „psychisch kranken“ Massenmörder haben ein positives Testergebnis, aber auch 9999 der 999900, die keine psychisch kranken Massenmörder sind. Deshalb haben insgesamt 10098 ein positives Testergebnis, unter denen sich 99 tatsächliche „psychisch kranke“ Massenmörder befinden. Und so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine positiv getestete Person tatsächlich ein „psychisch kranker“ Massenmörder ist, gleich 99 geteilt durch 10098, und das ist weniger als 1 Prozent.
    Nach jedem Massenmord, der von den Massenmedien ausgeschlachtet wird, melden sich Psychiater zu Wort, die Massenuntersuchungen fordern, um „psychisch kranke Gewalttäter“ vor ihren Taten auszusondern und zu behandeln. Dass diese Psychiater gut beraten wären, einen Volkshochschulkurs zu den Grundlagen der Statistik und Wahrscheinlichkeitslehre zu belegen, liegt auf der Hand, dass diesem Rat nur wenige folgen werden, erklärt sich durch die anderen der hier aufgeführten und weiteren Verzerrungen ihrer Urteilskraft.
  • Blinde-Fleck-Verzerrung (14). Menschen neigen dazu, sich selbst als weniger anfällig für Denkfehler zu halten als andere Menschen. Psychiater werden behaupten, dass ihnen aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Erfahrung weniger Fehlurteile über Menschen unterlaufen als dem Rest der Bevölkerung. Diese Auffassung hat der empirischen Überprüfung zwar nicht standgehalten, wird aber dennoch von Psychiatern und anderen Experten hartnäckig vertreten (15).
  • Entscheidungslegitimierende Verzerrung (16). Darunter verstehen wir die Tendenz, die Konsequenzen einer eigenen Entscheidung positiver zu bewerten, als sie es bei objektiver Betrachtung tatsächlich sind. Aus diesem Grund ist es angezeigt, Berichte zu Therapieerfolgen, bei denen die Einschätzung von den Therapeuten selbst stammten, mit allergrößter Skepsis zu betrachten. Ein drastisches Beispiel ist die Lobotomie. Sie wurde von den Operateuren überwiegend als hilfreich eingeschätzt, wohingegen die Ergebnisse – da ist sie sogar die „Fachwelt“ heute einig – weitgehend verheerend waren. Vielfach diagnostizierten sie die von ihnen massakrierten Patienten als „gebessert“, obwohl sie in einem kläglichen Zustand dahinvegetierten (17).

Die Liste der potenziellen emotional-kognitiven Verzerrungen unserer Wahrnehmung, unseres Denkens und Urteilens will schier kein Ende nehmen. Man könnte ein eigenes Buch mit ihnen füllen und hätte dennoch nicht das Gefühl, dieses Thema erschöpfend behandelt zu haben. Daher ist es auch nicht mein Anliegen, dem Leser hier einen vollständigen Überblick über alle relevanten Faktoren zu geben, die das subjektive Urteil eines Psychiaters von den objektiven Gegebenheiten abweichen lassen. Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass subjektive Urteile einer Vielzahl verzerrender Einflüsse unterliegen, gegen die sich kein Mensch wappnen kann, auch ein Psychiater nicht, niemand.

Bei der Durchsicht meiner Liste fällt mir allerdings auf, dass ich noch einen sehr entscheidenden Trugschluss vergessen habe, nämlich den Trugschluss des eingebildeten Konsensus (18). Viele Psychiater argumentieren, vor allem wenn sie ihre Diagnosen und Behandlungsvorschläge verteidigen, ziemlich vehement so, als seien sie das Sprachrohr einer einheitlichen Lehrmeinung. Beliebte Formulierungen, die diesem Trugschluss Ausdruck verleihen, beginnen mit „Wir Psychiater sprechen von…“ oder „Wir Psychiater bezeichnen dies als…“ Dies ist allerdings eine Neigung, der viele Menschen unterliegen. Sie glauben, dass ihre Meinungen von der Mehrheit oder doch zumindest von einer großen Zahl von Gleichgesinnten mitgetragen würden. Nur zu oft ist das ein Irrtum. Auch Psychiater streiten sich mitunter wie die Kesselflicker über Theorien und Therapien und werden sich oft auch hinsichtlich ein und desselben Patienten nicht einig.

Anmerkungen

(1) Plous, S. (1993). The Psychology of Judgment and Decision Making. New York: McGraw-Hill

(2) Rosenhan, D. (1973): On Being Sane in Insane Places. In: Science, 179, 250-8 

(3) Frisch, D., & Baron, J. (1988). Ambiguity and rationality. Journal of Behavioral Decision Making, 1, 149-157

(4) Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). “Judgment under uncertainty: Heuristics and biases”. Science, 185, 1124–1130

(5) Nisbett, R.E., & Ross, L. (1980). Human inference: Strategies and shortcomings of social judgment. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall

(6) Tversky, A; Kahneman. D. (1973). “Availability: A heuristic for judging frequency and probability”. Cognitive Psychology 5 (1): 207–233

(7) Ward, G. (1997). Making Headlines: Mental Health and the National Press. London: Health Education Authority

(8) Kuran, T. & Sunstein, C. (1999). Availability Cascades and Risk Regulation, Stanford Law Review, Vol. 51, No. 4, http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=138144

(9) Nyhan, B & Reifler, J. (2010). When Corrections Fail: The Persistence of Political Misperceptions. Political Behavior 32 (2): 303–330

(10) Dawes, R. M. (1989). Experience and validity of clinical judgment: The illusory correlation. Behavioral Sciences & the Law, Volume 7, Issue 4, pages 457–467, Autumn (Fall)

(11) Asch, S.E. (1951). Effects of group pressure on the modification and distortion of judgments. In H. Guetzkow (Ed.), Groups, leadership and men (pp. 177–190). Pittsburgh, PA: Carnegie Press

(12) Forer, B.R. (1949). The fallacy of personal validation: A classroom demonstration of gullibility. Journal of Abnormal and Social Psychology (American Psychological Association) 44 (1): 118–123

(13) Bar-Hillel, M. (1980). The Base Rate Fallacy in Probability Judgments, Acta Psychologica 44, pp. 211-233

(14) Pronin, E. & Kugler, M. B. (July 2007). Valuing thoughts, ignoring behavior: The introspection illusion as a source of the bias blind spot. Journal of Experimental Social Psychology (Elsevier) 43 (4): 565–578

(15) Dawes, R. M. (1996). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press

(16) Mather, M., Shafir, E., & Johnson, M. K. (2000). Misrememberance of options past: Source monitoring and choice. Psychological Science, 11, 132-138

(17) Hill, J. (1992). Der frontale Griff an das Gehirn und die Entwicklung der Psychochirurgie. Hamburg: Lit

(18) Ross, L. & Greene, D. (1977) The “false consensus effect”: An egocentric bias in social perception and attribution processes. Journal of Experimental Social Psychology, Volume 13, Issue 3, May 1977, Pages 279–301

(19) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry Is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(20) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

(21) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

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Zum aktuellen Stand des Nichtwissens in der Psychiatrie

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Ungeklärt?

Auf einer  Webseite der Charité (Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie) heißt es zur Frage, ob es biologisch messbare Veränderungen im Gehirn von Schizophrenen gebe:

“In den letzten beiden Jahrzehnten gelang es durch neue Technologien in der modernen Bildgebung, der Neurochemie und der Elektrophysiologie Erkenntnisse bezüglich pathologischer körperlicher Grundlagen und Veränderungen bei der Schizophrenie deutlich zu erweitern. Ob diese Veränderungen aber ursächlich für die Schizophrenie oder das Ergebnis dieser Erkrankung darstellen ist bis heute ungeklärt.” (Zeichensetzung und Grammatik unverändert übernommen, HUG.)

Die Bezeichnung “ungeklärt” ist allerdings eine sehr schmeichelhafte Kennzeichnung des gegenwärtigen Stands der Forschung. Auf einer Website des amerikanischen “National Institute of Mental Health” wird der augenblickliche Erkenntnisstand nicht nur für die Schizophrenie, sondern für alle so genannten psychischen Krankheiten unmissverständlich mit folgenden Worten zusammengefasst:

“As it turns out, most genetic findings and neural circuit maps appear either to link to many different currently recognized syndromes or to distinct subgroups within syndromes.”

Es hat sich also herausgestellt, dass die meisten Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen und genetischen Forschung entweder mit mehreren “psychischen Krankheiten” übereinstimmen oder aber nur mit Aspekten einzelner dieser angeblichen und offenbar willkürlich zusammengewürfelten “Syndrome”. Mit anderen Worten. Die üblichen psychiatrischen Diagnosen wie “Schizophrenie” oder “Depression” finden sich in den Ergebnissen der einschlägigen Studien gar nicht wieder. Es korrelieren zwar Prozesse im Nervensystem mit bestimmten Mustern des Verhaltens und Erlebens, aber diese Korrelationen verweisen nicht auf eine gemeinsame biologische Grundlage einzelner Psychiatrie-Diagnosen.

Daraus folgt: Die Behauptung vieler Psychiater, dass “Schizophrenien”, “Depressionen” oder was auch immer eine biologische Grundlage hätten, verdient angesichts des gegenwärtigen Forschungsstandes nicht etwa das Etikett “ungeklärt”, sondern sie muss als wissenschaftlich längst überholte Vorstellung eingeschätzt werden müssen. Um es deutlich zu sagen: Aus neurowissenschaftlicher Sicht und angesichts der Befundlage in der Humangenetik, gibt es die Krankheiten der Psychiatrie gar nicht. Unverdrossen aber behaupten Psychiater, im Einklang mit biologischen Erkenntnissen zu handeln.

Ursache oder Folge?

Richtig ist allerdings das Statement der Charité, die Frage der Kausalität sei ungeklärt. Es gibt zwar empirische Hinweise darauf, dass bestimmte Hirnparameter mit beobachtbarem Verhalten und bekundetem Erleben korrelieren (wenngleich sich solche Befunde häufig nicht replizieren lassen), aber man weiß definitiv noch nicht, was Ursache, was Wirkung ist.

  • Wenn beispielsweise ein Mensch als schizophren diagnostiziert wird und wenn er die verordneten Neuroleptika regelmäßig über einen längeren Zeitraum einnimmt, dann werden sich dadurch Veränderungen in seinem Nervensystem einstellen, die verheerend und irreversibel sein können. Sie sind dann aber nicht die Ursache der Erkrankung, sondern die Folge der psychiatrischen Diagnose und ihrer Konsequenzen.
  • Wenn beispielsweise ein Mensch, der als schizophren und selbstmorgefährdet eingestuft wurde, sich gegen eine Behandlung wehrt und gewaltsam an ein Bett gefesselt wird, dann kann der damit verbundene Extremstress zu einer Schädigung seines Gehirns führen. Diese ist dann allerdings nicht die Ursache der “Schizophrenie”, sondern die Folge der bei uns herrschenden Rechtslage und psychiatrischer Gewaltanwendung.

Mythen und Diagnosen

Die Schlüssel-Information, die Angehörigen und Betroffenen in aller Regel gegeben wird, läuft darauf hinaus, dass es sich bei der Schizophrenie, der Depression oder was auch immer um eine Stoffwechselstörung des Gehirns handele, die teilweise angeboren sei und deren Verlauf durch Umwelteinflüsse ausgelöst, verstärkt oder abgeschwächt werden könne. Diese “Aufklärung”, so glatt und eindeutig sie auch klingen mag, ist dennoch falsch, weil sie mit dem Stand der Forschung nicht übereinstimmt. Es gibt für keine der “psychischen Krankheiten” eine bekannte biologische Grundlage und beim Stand der Forschung ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie jemals gefunden wird.

  • Dies liegt nicht nur daran, dass die psychiatrischen Diagnosen nicht hinlänglich mit neurowissenschaftlichen und genetischen Erkenntnissen übereinstimmen.
  • Dies liegt auch daran, dass sie ebenso wenig durch die verhaltenswissenschaftliche Forschung erhärtet werden. Sie beruhen nicht auf einer umfassenden empirischen Zusammenschau problematischen Verhaltens und Erlebens, die dann durch Kategorienbildung mit statistischen Methoden geordnet wurde.
  • Die psychiatrischen Diagnosen sind vielmehr das Ergebnis der Verhandlungen internationaler und nationaler Psychiatrie-Gremien.
  • Psychiatrie und Psychotherapie sind keine Wissenschaften mit einheitlicher Lehrmeinung; diese Disziplinen zerfallen vielmehr in eine Fülle unterschiedlicher Schulen und Denkansätze.
  • Daher entsprechen die diagnostischen Kategorien der einschlägigen Manuale dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
  • Sie haben keine theoretische, sondern nur eine politische Grundlage, die man auch – etwas unfreundlich, aber zutreffend – als faulen Kompromiss bezeichnen könnte.

Dies sollte jeder wissen, der eine psychiatrische Diagnose erhalten hat:

  • Diese Diagnose beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.
  • Sie beruht im Wesentlichen auf dem, was der Psychiater bei seinem Patienten wahrgenommen und was dieser ihm über sich und seine Welt erzählt hat.
  • Das psychiatrische Urteil ist also völlig subjektiv und hängt von den Wertmaßstäben des Diagnostikers ab.
  • Selbst wenn der Psychiater oder der Psychotherapeut den Menschen, der ihn konsultiert, für völlig normal hält, wird er geneigt sein, ihm eine Diagnose zu verpassen und diese als “gesichert” einzustufen, weil ihm sonst die Krankenkasse nicht für seine Leistung bezahlt.

Komplexe Strukturen

Wenn der “Patient” nun ein “Medikament” verschrieben bekommt,

  • so wird ihm in aller Regel suggeriert,
  • dass diese chemische Substanz der Störung seines Stoffwechsels in seinem Gehirn entgegenwirke,
  • die seiner “Krankheit” zugrunde liege.

Dass dies, angesichts des oben Gesagten, nicht der Fall sein kann, dürfte auf der Hand liegen. Wenn ein Patient allerdings dieser Suggestion unterliegt, dann wird sich durch diese Diagnose und durch diese Medikamentenverschreibung sein Selbstbild verändern. Er glaubt dann, dass ihn – unter Stress, in widrigen Umständen – seine angeborene Stoffwechselstörung dazu zwinge, allerlei Blödsinn zu treiben. Er wird davon überzeugt sein, dass er dagegen im Wesentlichen nichts anderes tun könne, als Pillen zu schlucken.

Allein, diese Veränderung des Selbstbildes ist ein Motor der Chronifizierung von seelischen Problemen, die sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit episodisch bleiben würden. Man hat dann eine Ausrede für Fehlverhalten, ist nicht mehr verantwortlich dafür und kann selbst auch nichts Eigenständiges dagegen tun.

Ein weiterer, wichtiger Faktor der Chronifizierung sind natürlich die so genannten Nebenwirkungen der Psychopharmaka selbst. Es gehört zu den Mythen der Psychiatrie, dass die Behandlung mit Psychopharmaka der Chronifizierung psychischer Störungen entgegenwirke. Das Gegenteil ist der Fall. Dies hat der amerikanische Medizinjournalist Robert Whitaker in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” eindrucksvoll anhand von Langzeitstudien dokumentiert.

Wenn es nun dem behandelten Psychiater gelingt, die Angehörigen eines Menschen, den sie als psychisch krank diagnostiziert haben, von ihrer “biologischen Theorie” und der Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung zu überzeugen, dann verwandeln sie das soziale Nahfeld dieses “Patienten” u. U.  in eine Chronifizierungsagentur. Der Mythos des biologischen Fundaments psychischer Störungen macht es schwierig, diese Zusammenhänge zu durchschauen.

Selbstverständlich hat jedes Verhalten und Erleben biologische Grundlagen. Dies gilt aber gleichermaßen für das so genannte gesunde und normale, wie für das als psychisch krank diagnostizierte Verhalten und Erleben. Dies bedeutet aber nicht, dass irgendwelche Normabweichungen im Nervensystem zwangsläufig Ursache von Unterschieden des Verhaltens und Erlebens sein müssten. Bei Taxifahrern in London wurde festgestellt, dass bei ihnen im statistischen Schnitt eine Hirnstruktur, der Hippocampus deutlich vergrößert ist, verglichen mit Busfahrern in derselben Stadt. Daraus folgt aber nicht zwingend, dass diese Menschen wegen ihres vergrößerten Hippocampus zu Taxifahrern und nicht zu Busfahrern wurden. Viel wahrscheinlicher ist es, dass sich ihr Hippocampus erst infolge ihrer Berufspraxis und der damit verbundenen Aufgaben vergrößerte, die sich eben von denen der Busfahrer unterscheiden.

Das menschliche Nervensystem ist die komplexeste uns bekannte Struktur im Universum. Seriöse Forscher räumen ein, dass wir darüber bisher nur sehr wenig wissen. Es wurden in den letzten Jahren, dank moderner, bildgebender Verfahren und hoch entwickelter Computertechnik, dank des Fleißes emsiger Forscher, zwar beachtliche Fortschritte erzielt. Aber eine solide Grundlage zur Analyse, gar zur Behandlung menschlichen Verhaltens und Erlebens bilden diese Erkenntnisse nicht, definitiv nicht – was immer auch die Marketingabteilungen der Pharmaindustrie dazu sagen mögen.

Medikamente?

Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist die weltweit größte und einflussreichste Forschungsinstitution für psychische Störungen. Es untersteht dem amerikanischen Gesundheitsministerium. Ihr Direktor ist der Neurowissenschaftler und Psychiater Thomas Insel. Er schreibt:

“Existing antidepressants and antipsychotics have many proposed molecular targets, but none that have been shown to be necessary or sufficient for their clinical effects. Amazingly, after three decades of broad use of these medications, we still don’t know how they work when they are effective. And we lack effective pharmacologic treatments for too many patients and for some major sources of disability, like the cognitive deficits of schizophrenia or the social deficits of autism.”

Also:

  1. Für die existierenden Antidepressiva und Antipsychotika (Neuroleptika)  wurden viele molekulare Ziele vorgeschlagen.
  2. Bei keinem dieser Ziele konnte gezeigt werden, dass sie notwendig oder ausreichend sind, um den klinischen Effekt zu erzielen.
  3. Auch nach drei Jahrzehnten des umfassenden Einsatzes dieser Medikamente ist unbekannt, wie sie wirken, sofern sie wirken.
  4. Es gibt noch keine effektiven Medikamente für zu viele Menschen und für einige zentrale Quellen von Behinderung, wie beispielsweise für die kognitiven Defizite bei “Schizophrenie” oder für die sozialen Defizite bei “Autismus”.

Man mag nun einwenden, diese Medikamente hülfen doch und das sei wichtiger als das Wissen darum, warum sie helfen. Hierzu Insel:

“Medications developed over the past five decades have been prescribed widely but have not been sufficient for reducing the morbidity and mortality of mental disorders.”

Kurz: Die Leistungsbilanz dieser Medikamente ist durchweg unbefriedigend.

Den unbefriedigenden “Hauptwirkungen” stehen teilweise massive “Nebenwirkungen” gegenüber. Der amerikanische Psychiater Peter Breggin schreibt:

  • Antidepressiva verursachen eine emotionale Betäubung, manchmal auch Euphorie und führen zu einer nur flüchtigen und künstlichen Besserung des Leidens.
  • Neuroleptika erzeugen eine chemische Lobotomie, rufen Apathie und Indifferenz hervor, machen emotional gestresste Menschen unterwürfig und gefühlsarm.

Und hierbei handelt es sich nur um die häufigsten “Nebenwirkungen”, die sofort sichtbar werden. Manche langfristige Nutzer solcher Drogen, die man eigentlich nicht “Medikamente” nennen sollte,  erleiden schwere körperliche Schäden, die teilweise irreversibel (unheilbar) sind.

Nun mag man einwenden, dass es – trotz Unwissenheit und “Nebenwirkungen” – für viele Patienten keine Alternative zu den Drogen gebe. Dies trifft aber nicht zu. Folgende Studie spricht für das Gegenteil:

Harrow M, Jobe TH, Faull RN.: Do all schizophrenia patients need antipsychotic treatment continuously throughout their lifetime? A 20-year longitudinal study. Psychol Med. 2012 Feb 17:1-11

Hier zeigt sich, dass es den Patienten, die kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden, deutlich schlechter geht als anderen, die nicht kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden.

“SZ (SZ = Schizophrenie) patients not on antipsychotics for prolonged periods were significantly less likely to be psychotic and experienced more periods of recovery; they also had more favorable risk and protective factors. SZ patients off antipsychotics for prolonged periods did not relapse more frequently.”

Eine neuere Studie von Lex Wunderink, die sich durch ein deutlich verbessertes Design auszeichnet, bestätigt dieses Ergebnis eindrucksvoll.

Irvin Kirsch und Mitarbeiter konnten nachweisen, dass selbst bei schwer “Depressiven” die Wirkung von Antidepressiva kaum größer ist als der Placebo-Effekt. Dies bedeutet im Klartext, dass eine eventuelle Verbesserung der Befindlichkeit fast ausschließlich von Faktoren abhängt, die nichts mit den pharmakologischen Eigenschaften der Antidepressiva zu tun haben. Sehr real sind aber die möglichen unerwünschten Wirkungen, wie die Auslösung von Manien, erhöhte Suizidalität, sexuelle Funktionsstörungen und Gewichtszunahme.

Compliance

Unter “Compliance” (manchmal auch: Adherence) versteht man die Bereitschaft von Patienten, sich den Anweisungen ihres Arztes zu fügen. Non-Compliance ist natürlich das Gegenteil. Non-Compliance ist ein erhebliches Problem bei Patienten, die als “psychisch krank” diagnostiziert wurden. Zwei Drittel der Patienten, denen Psychopharmaka verschrieben werden, unterbrechen die Einnahme im Lauf des ersten Jahres, häufig aus eigener Entscheidung und ohne ihren Arzt darüber zu informieren. Die Non-Compliance ist besonders ausgeprägt bei Menschen, die Neuroleptika oder Antidepressiva nehmen sollen. (1)

Unter diesen Bedingungen darf man wohl voraussetzen, dass die Compliance bei Patienten am ausgeprägtesten ist, die nicht wissen, ja, noch nicht einmal ahnen, dass ihre Psychiater nichts wissen. Denn angesichts des desolaten Zustandes psychiatrischen und psychopharmakologischen Wissens muss ein Patient blind vertrauen, um sich ohne Zweifel und Unsicherheit den Anweisungen seines Arztes fügen zu können.

Unter Psychiatern gilt es als ratsam, die Angehörigen der Patienten zum Zwecke der Complianceförderung einzubeziehen. Allein, zwar nimmt die Kraft zu, die auf einen Gegenstand ausgeübt wird, wenn mehrere an einem Strang ziehen und viele können erreichen, wozu ein Einzelner nicht in der Lage ist. Doch dies gilt nicht im Fall von Unwissenheit. Wenn Psychiater und Angehörige ahnungslos sind, dann werden sie auch nicht mit vereinten Kräften zum Durchblick gelangen. Und so tritt an die Stelle der Überzeugungskraft sozialer Druck.

Unter den gegebenen Bedingungen darf man wohl voraussetzen, dass der Druck unter sonst gleichen Bedingungen bei Angehörigen am ausgeprägtesten ist, die nicht wissen, ja, noch nicht einmal ahnen, dass die Psychiater nichts wissen. Denn angesichts des desolaten Zustandes psychiatrischen und psychopharmakologischen Wissens muss ein Angehöriger blind vertrauen, um, ohne Zweifel und Unsicherheit, Partner oder Familienmitglieder zur Einnahme von Antidepressiva oder Neuroleptika drängen zu können.

Alternativen

Das medizinische Modell der so genannten psychischen Krankheiten ist gescheitert. Manche meinen, dass man dies nur behaupten dürfe, wenn man eine Alternative hätte. Das ist fraglos Quatsch. Das medizinische Modell ist unabhängig davon gescheitert, ob eine Alternative existiert oder nicht. Natürlich wurden Alternativen vorgeschlagen, die ohne oder mit wenig Medikamenten auskommen, bei denen die Selbsthilfe und die semi-professionelle Hilfe im Vordergrund steht. Diese Alternativen haben sich auch als erfolgreich herausgestellt, aber sie stießen – mit Ausnahmen – auf wenig Gegenliebe in der Psychiatrie.

Sie beruhen auf

  • Hoffnung – anstelle der Furcht, ein Leben lang Psychopharmaka schlucken zu müssen
  • Sicherheit – anstelle des Damoklesschwerts der Zwangseinweisung und -behandlung, dass über jedem, ich wiederhole: jedem “psychisch Kranken” schwebt
  • dem Selbst, der eigenen Sicht der Dinge – anstelle eines pseudowissenschaftlichen Konzepts “psychischer Krankheit”
  • unterstützenden Beziehungen zwischen gleichermaßen Beeinträchtigten – anstelle hierarchischer Beziehungen in psychiatrischen Anstalten
  • Autonomie – anstelle medizinischer Bevormundung
  • Bewältigungsstrategien – anstelle psychopharmakologischer Ruhigstellung
  • Sinn – anstelle einer Degradierung zum Objekt medizinischer Leistungen.

In diesen Ansätzen (Recovery Approach) spielt die Compliance keine Rolle, denn es gibt keine Ärzte, die Anweisungen geben, und es gibt keine Patienten, die ihnen gehorchen müssten.

Was wirklich zählt

Warum öffnen wir nicht einfach unsere Augen und stellen uns den Tatsachen?

  • Es gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die den Arbeits- und Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft mental und emotional nicht gewachsen sind.
  • Menschen, die durch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen mental und emotional überfordert sind, hat es vermutlich schon immer gegeben, wenngleich diese Problematik nunmehr durch eine historisch beispiellose Dramatik gekennzeichnet ist.
  • Immer schon haben die Menschen nach Erklärungen und Lösungen für dieses Problem gesucht. So glaubte man z. B. in früheren Zeiten, die seltsamen Verhaltensweisen mental und emotional überforderter Mitmenschen seien durch Dämonen verursacht, die es folglich auszutreiben galt.
  • Heute sind es angeblich Stoffwechselstörungen, denen durch Pillen entgegengewirkt werden soll.
  • All diese Erklärungen haben gemeinsam, dass sie nur vor dem Hintergrund der in einer Gesellschaft vorherrschenden Ideologien plausibel sind.

Vor einem anderen als vor dem ideologischen Hintergrund der Herrschenden,  könnte man allerdings auch auf die Idee kommen, unsere Gesellschaft zu humanisieren, damit eine steigende Zahl von Menschen in ihr einen Platz findet, dem sich die Betroffenen auch gewachsen zeigen können. Bei diesem Denkansatz spielt es im Übrigen keine Rolle, ob man biologische Gründe dafür vermutet, dass Menschen sich den gegebenen Verhältnissen nicht anpassen können. Eine Allergie hat bekanntlich biologische Grundlagen, aber wenn es keine Allergene gibt, dann treten auch keine Symptome auf.

Die Ultrareichen, die etwa ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen und die auf dieser schönen Erde das Sagen haben, ließen bisher noch keine Neigung erkennen, eine Veränderung von Verhältnissen, auf denen ihr unermesslicher Reichtum beruht, auch nur hinzunehmen. Mitunter allerdings beglücken sie Stiftungen, die den Armen helfen sollen, mit ihren Milliarden, um auch in diesem Bereich die Kontrolle ausüben zu können.

Was sonst aber könnte die herrschende Klasse tun? Beispielsweise könnte man – im Gegensatz zu den Pollen, die Heuschnupfen auslösen – unzumutbare Arbeitsbedingungen, die Gemütsverstimmungen begünstigen, durchaus beseitigen. Vielleicht sehen es die Superreichen aber lieber, wenn sich die Leute als “psychisch krank” (beispielsweise “depressiv”) empfinden und nicht als Opfer brutaler Ausbeutung und menschlicher Entfremdung.

Der Mensch tut, was er tut, weil er ist, wie er ist. Darauf, wie er ist, hat er allerdings nur begrenzten Einfluss. Seine Erbanlagen kann er gar nicht verändern und seine Umwelt häufig bestenfalls geringfügig. Erbanlagen und Umwelt bestimmen in erheblichem Maße mit, wie er ist und somit, was er tut. Im Rahmen seiner jeweils objektiv gegebenen Möglichkeiten hat jeder Mensch dennoch einen mehr oder weniger großen Entscheidungsspielraum, den er kraft seines freien Willens nutzen kann.

Der Einfluss auf die Umwelt ist variabel. Wer sehr viel Geld hat, kann diese in stärkerem Maß umgestalten als ein armer Schlucker. Aber wenn sich arme Schlucker dazu entscheiden, sich solidarisch zusammenschließen, dann wachsen auch ihre Möglichkeiten zur Umweltveränderung. Dies sollten “psychisch Kranke” bedenken und einen Weg wählen, der eine dauerhafte und natürliche Verbesserung ihrer Lage verspricht.

Anmerkung

(1) Alex J. Mitchell & Thomas Selmes: Why don’t patients take their medicine? Reasons and solutions in psychiatry. Advances in Psychiatric Treatment (2007), vol. 13, 336–346

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Depression

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Keine Werbung bitte

Im deutschen Heilmittelwerbegesetz (§ 10 Abs. 2 HWG) heißt es:

“Für Arzneimittel, die dazu bestimmt sind, bei Menschen die Schlaflosigkeit oder psychische Störungen zu beseitigen oder die Stimmungslage zu beeinflussen, darf außerhalb der Fachkreise nicht geworben werden.”

In Amerika ist das anders. Dort ist es der Pharmaindustrie erlaubt, den Endverbraucher direkt zu anzusprechen. Gefragt sind also einfache Werbebotschaften. Einer dieser Slogans lautet sinngemäß: Depressionen sind die Folge eines Serotoninmangels im Gehirn. So wie der Zuckerkranke Insulin benötigt, braucht der Depressive ein Mittel, das den Serotoninspiegel steigert.

Nach einer Analyse der Psychiater Jeffrey R. Lacasse und Jonathan Leo (1) hat sich die Serotonin-Hypothese in den Köpfen vieler amerikanischer Verbraucher festgesetzt. Es sei daher zu vermuten, dass viele Patienten sich deswegen einbildeten, sie litten an einen Serotoninmangel. Dies würde sie motivieren, ihren Arzt um ein Antidepressivum zu bitten.

In ihrem Artikel weisen die Autoren allerdings nach, dass die Werbebotschaft durch den Stand der wissenschaftlichen Forschung nicht bestätigt wird. Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass die Serotonin-Hypothese zutrifft; im Gegenteil: Viele Befunde stehen eindeutig  in Widerspruch zu ihr. Wenn es noch nicht einmal, so schreiben die Autoren, eine wissenschaftlich anerkannte Theorie des chemischen Gleichgewichts beim Serotonin gebe, wie könne man da von einem chemischen Ungleichgewicht sprechen – Fragezeichen!

Dass die Serotonin-Hypothese falsch ist, weiß man im Übrigen schon lange. So schrieben Wissenschaftler des National Institute of Mental Health (NIMH), einer dem amerikanischen Gesundheitsministerium unterstellten Behörde, bereits 1984:

“Elevations or decrements in the functioning of serotonergic systems per se are not likely to be associated with depression.”

In seinem Buch “Blaming the Brain” (1998) unterzog der Neurowissenschaftler Elliot Valenstein auch die Serotonin-Hypothese einer kritischen Überprüfung, gelangte zu einem vernichtenden Urteil und nahm bereits den Grundgedanken der Studie von Lacasse & Leo vorweg:

“Drug development is driven more by market considerations than by any clearer understanding of what causes depression or how drugs sometimes alleviate this condition (3).”

Zu einem ähnlichen Befund gelangt in neuerer Zeit der dänische Arzt und Leiter des Nordic Cochrane Centre, Peter Gøtzsche, der, gestützt auf zahlreiche seriöse Studien, die Serotonin-These (ebenso wie die Dopamin-These der Schizophrenie) als Schwindel im Interesse der Pharmaindustrie bezeichnet (10). Der britische Psychologe James Davies schlägt in dieselbe Kerbe: “… nach beinahe fünfzig Jahren der Forschung zur Theorie der chemischen Gleichgewichtsstörungen gibt es nicht ein Stück überzeugender Evidenz, dass diese Theorie korrekt ist (11).

Was hilft?

Eine systematische Auswertung von Studien zur Wirksamkeit diverser Formen der Behandlung von “Depressionen” (4) ergab:

“In conclusion, our results indicate that in acute depression trials using blinded raters the combination of psychotherapy and antidepressants may provide a slight advantage whereas antidepressants alone and psychotherapy are not significantly different from alternative therapies such as exercise and acupuncture or active intervention controls such as bibliotherapy or sham acupuncture. These data suggest that type of treatment offered is less important than getting depressed patients involved in an active therapeutic program.”

Wenngleich die Kombination von Antidepressiva und Psychotherapie geringfügig überlegen war, unterschieden sich Psychotherapie bzw. Psychopharmaka allein nicht von alternativen Therapien wie Sport und Akupunktur  oder aktiven Interventionskontrollen wie Bibliotherapie oder vorgetäuschter Akupunktur. Der entscheidende Faktor besteht offenbar darin, die Patienten in irgendeine “Therapie” einzubeziehen, die sie aktiviert, gleich welche.

Die leichte Überlegenheit der Kombination von Psychotherapie und Antidepressiva erkläre ich mir mit der Arithmetik des Placeboeffekts. Es ist bekannt, dass Placebos, die als sehr stark angepriesen werden, besser helfen als solche, die angeblich mittelstark sind und diese wieder effektiver sind als die so genannten schwachen. Und so könnte natürlich auch in den Köpfen der Patienten, die gleichzeitig Medikamente und Psychotherapie erhalten, die Erwartung entstehen, dass beides zusammen auch besser helfe. Genau diese Erwartung aber ist der Placeboeffekt. Vergleicht man die Kombination nun mit einer Placebobehandlung, die nur eine Maßnahme enthält, so ist bei der Kombination selbstredend auch ein stärkerer Placeboeffekt zu erwarten.

Schmidt

In Deutschland ist, wie bereits erwähnt, die Publikumswerbung für Antidepressiva nicht zulässig. Natürlich müssen die Menschen dennoch aufgeklärt werden. Dazu eignen sich gemeinnützige Stiftungen ganz hervorragend. Eine dieser mildtätigen Einrichtungen ist die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Kein Geringerer als Harald Schmidt ist der Schirmherr dieser Stiftung. “Vier Millionen Depressive in Deutschland – das kann nicht nur am Fernsehprogramm liegen!“, scherzt er.

Unter der Rubrik “Wissen” findet sich in der Website der Depressionshilfe folgender Absatz:

“Von der großen Zahl depressiv Erkrankter erhält nur eine Minderheit eine optimale Behandlung. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Fehlende Hoffnung und mangelnde Energie der Betroffenen, um sich Hilfe zu holen, diagnostische und therapeutische Defizite auf Seiten der Ärzte, sowohl Unterschätzung der Schwere als auch Stigmatisierung der Erkrankung. Da mit Psychotherapie  und Pharmakotherapie wirksame Behandlungsverfahren zur Verfügung stehen, ergibt sich aus dieser Situation dringender Handlungsbedarf. Depression ist behandelbar.”

Da stellt sich doch gleich die Frage nach den Ursachen. Folgender Absatz ist aufschlussreich:

“Nach Ansicht vieler Wissenschaftler ist während einer Depression der Stoffwechsel des Gehirns gestört: Die Botenstoffe Serotonin und/oder Noradrenalin, die für die Übertragung von Impulsen zwischen den Nervenzellen verantwortlich sind, sind aus der Balance geraten. Sie sind entweder in zu geringer Konzentration vorhanden oder aber die Übertragung funktioniert nicht richtig. Weiter sind die Stresshormone und die genetische Veranlagung als mögliche Faktoren zu nennen. Letztere hat Einfluss darauf, ob ein bestimmter Mensch dazu neigt, z. B. unter Stress depressiv zu erkranken.” (Für Noradrenalin gilt im Übrigen dasselbe wie für Serotonin; eine Rolle im Ursachenbündel der so genannten Depression lässt sich nicht nachweisen. Auch die Rolle der Erbanlagen ist ungeklärt. HUG).

Allerdings, so heißt es in der Website weiter, sei neben der gestörten Hirnfunktion auch die psychosoziale Seite zu betrachten.

“So individuell wie die Symptome einer Depression, so unterschiedlich können auch die Auslöser sein. Bei vielen Patienten ist auch kein Auslöser identifizierbar.”

Was schlägt die Website vor?

“Die wichtigsten Säulen der Behandlung einer Depression sind die Pharmakotherapie (Behandlung mit Antidepressiva) und die Psychotherapie. Oft ist es sinnvoll, beide Behandlungsformen zu kombinieren. Die Pharmakotherapie mit Antidepressiva gilt inzwi­schen als unverzichtbares und wirksames Heilverfahren. Antidepressiva beeinflussen die Botenstoffe im Gehirn. Sie machen entge­gen vieler Vorurteile und im Gegensatz zu Beruhigungs- und Schlafmitteln nicht süchtig. Nimmt ein Gesunder ein Antidepressivum ein, so wird er davon nicht ‘high’.”

Klar: Antidepressiva allein und Psychotherapie allein sorgen nur für die einfache Placebo-Wirkung. Erst die Kombination beider Behandlungsmethoden garantiert den Super-Mega-Effekt.

Der Entdecker der Tatsache, dass Antidepressiva, wenn überhaupt, kaum effektiver sind als Placebos, ist der Psychologe Irvin Kirsch. James Davies befragte ihn zu dem Vorwurf, es sei falsch gewesen, diese Tatsache zu enthüllen, weil man damit den Betroffenen den Glauben an ihre Medikamente raube und derart ihre hilfreichen Illusionen zerstöre. Kirsch antwortete: “Ohne zutreffendes Wissen, können Patienten und Ärzte keine informierten Behandlungsentscheidungen fällen, Forscher werden falsche Fragen stellen und Politiker werden auf falschen Informationen beruhende Maßnahmen implementieren (11).”

Tardive Dysphorie?

Als in den sechziger Jahren der Hype mit den Antidepressiva begann, war die Depression in aller Regel eine vorübergehende Erscheinung, wie man in der Fachliteratur aus dieser Zeit nachlesen kann. Heute ist sie zu einem Massenphänomen mit chronischem Verlauf geworden – trotz oder gerade wegen der Antidepressiva (5)?

Eine versuchsweise Antwort auf diese Frage bieten der Neurowissenschaftler Rif S. El-Mallakh und seine Mitarbeiter (6). Sie meinen, dass der langfristige Gebrauch von Antidepressiva zu Veränderungen im Gehirn führt, die zu einer Chronifizierung von Gemütsverstimmungen beitragen. Diese Auswirkung des Medikamenteneinsatzes nennen sie “Tardive Dysphorie”. Mit anderen Worten: Die Antidepressiva erzeugen auf lange Sicht eine neurologisch bedingte Stimmungsverdüsterung, also jene Krankheit, die sie zu bekämpfen vorgeben. Diese These ist allerdings, wenngleich plausibel, nicht bewiesen. Tatsache aber ist, dass sich trotz der – laut Stiftung Deutsche Depressionshilfe angeblich vorhandenen – “wirksamen Heilverfahren” das “Depressionsproblem” beständig verschärft.

Niemandem – auch nicht den Verantwortlichen in der Pharmaindustrie oder der Medizin – will ich unterstellen, dass er in Sachen Antidepressiva die eigenen Interessen über die der Betroffenen stellt. Wir können nicht wissen, von welchen Motiven die Akteure geleitet werden und so sind wir, gute Erziehung vorausgesetzt, natürlich geneigt, das Beste und ganz allein das Beste anzunehmen. Uns bleibt nur, die Tatsachen, vorurteilsfrei die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und auf das zu achten, was vor unseren Augen abläuft. Antidepressiva sind ein gigantisches Geschäft. Umso dankbarer müssen wir jenen sein, die dennoch anständig bleiben.

In einem Übersichtsartikel zum Stand der Forschung (7) plädieren der Psychologe David Antonuccio und der Psychiater David Healy dafür, die Medikamente zur Behandlung der Depression umzubenennen. Und dies aus den folgenden Gründen:

  1. Für die überwiegende Mehrheit der Patienten, die Antidepressiva erhalten, sind diese Medikamente nicht wirksamer als Placebos.
  2. Bei diesen Medikamenten überwiegen die unerwünschten Nebenwirkungen die erwünschten, eigentlich angestrebten Hauptwirkungen.
  3. Die internationale Fachwelt ist sich weitgehend einig, dass Antidepressiva die Suizidalität erhöhen können.
  4. Antidepressiva können Angstzustände und Manie hervorrufen.
  5. Diese Medikamente führen häufig zu Sexualstörungen.
  6. Sie stehen in Verdacht, dass sie bei langfristiger Einnahme durch Veränderungen des Gehirns eine so genannte “tardive Dysphorie” hervorrufen, also zur Chronifizierung der “Depression” beitragen.

Die Autoren belegen ihre Behauptungen mit einer großen Zahl empirischer Studien. Sie schlagen vor, die Antidepressiva in Antiaphrodisiaka, Unruhe-Verstärker, Schlaflosigkeitsförderer, Selbstmordgefährder oder Manie-Stimulatoren umzutaufen.

Eine Studie

Das Bundesgesundheitsblatt 2012 (8) referiert die ersten Ergebnisse einer Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit in Deutschland, die am 14. Juni 2012 während eines Symposiums in Berlin vorgestellt wurde. 8152 Erwachsene nahmen an dieser Befragung teil. Sie wurde in den Jahren 2008 bis 2011 verwirklicht.

Im Bundesgesundheitsblatt heißt es:

“Eine aktuelle Depression (depressives Syndrom, PHQ-9 ≥10) besteht bei 8,1 % der Teilnehmer (Frauen: 10,2 %; Männer: 6,1 %). Die Prävalenz ist bei den 18- bis 29-Jährigen mit 9,9 % am höchsten und im Alter ab 65 Jahren mit 6,3 % am niedrigsten. Die Häufigkeit von Depressionen sinkt mit der Höhe des sozioökonomischen Status (SES): Bei niedrigem SES beträgt sie 13,6 %, bei mittlerem 7,6 %, bei hohem 4,6 % (Seite 8).”

Ein Fragebogen

Die aktuelle “Depression” wurde mit dem Depressionsmodul des “Patient Health Questionaire”, einem Gesundheitsfragebogen zum Selbstausfüllen für Patienten erfasst. Die Befragten mussten einschätzen, wie häufig folgende Statements auf sie zutrafen:

  • Wenig Interesse oder Freude an Ihren Tätigkeiten
  • Niedergeschlagenheit, Schwermut oder Hoffnungslosigkeit
  • Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen oder vermehrter Schlaf
  • Müdigkeit oder Gefühl, keine Energie zu haben
  • Verminderter Appetit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen
  • Schlechte Meinung von sich selbst; Gefühl, ein Versager zu sein oder die Familie enttäuscht zu haben
  • Schwierigkeiten, sich auf etwas zu konzentrieren, z.B. beim Zeitunglesen oder Fernsehen
  • Waren Ihre Bewegungen oder Ihre Sprache so verlangsamt, dass es auch anderen auffallen würde? Oder waren Sie im Gegenteil „zappelig“ oder ruhelos und hatten dadurch einen stärkeren Bewegungsdrang als sonst?
  • Gedanken, dass Sie lieber tot wären oder sich Leid zufügen möchten (9).

Es handelt sich hier also um Abweichungen von sozialen Normen. Wer diesen Statements zustimmt, bekundet, dass er mehr oder weniger häufig von den Erwartungen abweicht, die andere an ihn richten oder die er selbst meint, erfüllen zu müssen.

Eine Erklärung

Die meisten Menschen betrachten diese Phänomene als Ausdruck einer so genannten “psychischen Krankheit”. Wie bereits dargelegt, gibt zwar Theorien zur “Biochemie” der “Depressionen”, aber keine ist wissenschaftlich erwiesen. Es gibt sogar gute Gründe dafür zu vermuten, dass es sich bei der Serotonin-These der “Depression” um eine Marketing-Strategie handelt. Bevor wir also den Menschen, die im Übermaß zu obigen Mustern des Verhaltens und Erlebens neigen, eine “psychische Krankheit” unterstellen, sollten wir uns diese Muster einmal genauer anschauen und uns fragen, ob es dafür auch andere Erklärungsmöglichkeiten gibt.

  • Wenn jemand wenig Interesse oder Freude an seinen Tätigkeiten hat, so mag dies daran liegen, dass diese Tätigkeiten tatsächlich uninteressant sind oder einem gar jeden Spaß am Leben rauben. Es ist vielleicht nicht gerade mordsmäßig spannend, pausenlos am Fließband dieselben Bewegungen zu vollziehen oder jeden Tag eine aussichtslose Bewerbung loszuschicken.
  • Ist jemand niedergeschlagen, schwermütig oder hoffnungslos, so mag dies daran liegen, dass er tatsächlich keine realistische Chance im Leben mehr hat. Ein Jugendlicher aus einem problematischen Milieu, der partout keine Lehrstelle und, wenn überhaupt, auch nur kurzfristig einmal eine schlecht bezahlte Hilfsarbeit findet, der muss sich keine rosigen Zukunftsaussichten ausmalen – und ein allein stehender Kleinstrentner in einem schlechten Altersheim auch nicht.
  • Wer Schlafprobleme hat, wohnt unter Umständen in einem Haus mit einem hohen Lärmpegel oder in einer billigen Wohnung ohne ausreichend isolierte Fenster an einer Hauptverkehrsstraße.
  • Wenn jemand immer müde ist und das Gefühl hat, keine Energie zu haben, dann fehlt ihm vielleicht die motivierende Zuwendung, weil er, um eine Stelle anzunehmen, allein in eine fremde Stadt gezogen ist, während Frau und Kinder zu Hause auf ihn warten.
  • Verminderter Appetit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen können eine Reaktion auf Demütigungen am Arbeitsplatz darstellen (Mobbing, Bossing).
  • Mangelndes Selbstwertgefühl könnte sich als Folge von Werbung und neoliberaler Propaganda einstellen, die darauf hinausläuft, dass nur die Jungen, Schönen und Erfolgreichen etwas wert sind.
  • Konzentrationsschwierigkeiten werden nicht selten durch Stressoren wie Lärm, berufliche Überforderung, Nachbarschafts- und Partnerschaftskonflikte ausgelöst.
  • Verlangsamungen und Beschleunigungen von Bewegungen und Sprache können sich einstellen, wenn Menschen umständehalber entweder beständiger Hetze und Hektik oder aber sozialer Isolierung in beengten Verhältnissen unterliegen.
  • Suizidgedanken schließlich können durch ein Übermaß an den oben geschilderten Umwelteinflüssen plausibel erklärt werden.

Wenn es sich bei der “Depression” nicht um ein biochemisches Ungleichgewicht im Nervensystem des Betroffenen handelt, was ist sie dann?

Aus meiner Sicht ist sie oft ein Generalstreik des wahren Selbsts. Der Betroffene weiß nicht mehr ein, noch aus. Er glaubt, an einer “psychischen Krankheit” zu leiden. Dass die “Depression” eine psychische Krankheit sei, wird denn Menschen ja pausenlos eingehämmert. Also kommt der “Depressive” gar nicht erst auf die Idee, über die sozialen Komponenten seines Verhaltens und Erlebens nachzudenken. Dies macht seine Hilflosigkeit komplett. Der Generalstreik, die totale Verweigerung ist das einzige Ausdrucksmittel, das dem wahren Selbst noch verblieben ist. Und so entscheidet er sich, die Rolle des “Depressiven” zu spielen, weil er seine Gemütsverstimmung nicht mehr im Kontext seiner Lebensumstände zu begreifen vermag.

Ach ja, bevor ich’s vergesse. Der letzte Satz meines Zitats aus dem Artikel im Bundesgesundheitsblatt spricht für meine These.

Anmerkungen

(1) Lacasse, J. R. & Leo, J. (2005). Serotonin and Depression: A Disconnect between the Advertisements and the Scientific Literature PLoS Medicine |  December | Volume 2 | Issue 12 | e392, 1211 – 1216

(2) Maas, J. (1984). Pretreatment neurotransmitter metabolite levels and response to tricyclic antidepressant drugs. American Journal of Psychiatry141, 1159-71.

(3) Valenstein, E. S. (1998). Blaming the Brain. New York: The Free Press, 110

(4) Khan, A. et al. (2012). A Systematic Review of Comparative Efficacy of Treatments and Controls for Depression, PLoS ONE | July | Volume 7 | Issue 7 | e41778, 1-11

(5) Whitaker, R.: Now Antidepressant-Induced Chronic Depression Has a Name: Tardive Dysphoria, Psychology Today

(6) Rif S. El-Mallakh ⇑, Yonglin Gao, R. Jeannie Roberts: Tardive dysphoria: The role of long term antidepressant use in-inducingchronic depression. Medical Hypotheses 76 (2011) 769–773

(7) Scientifica Volume 2012 (2012), Article ID 965908, 6 pages

(8) Bundesgesundheitsbl 2012, DOI 10.1007/s00103-011-1504-5, © Springer-Verlag 2012

(9)  PHQ-9

(10) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

(11) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry Is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

PS: Zur Einordnung der geschilderten Sachverhalte in einen umfassenden Zusammenhang empfehle ich die Lektüre des Buchs Anatomy of an Epidemic von Robert Whitaker. Ähnliches lässt sich nämlich auch über andere “psychische Krankheiten” und über andere Gruppen von Psychopharmaka sagen. In Whitakers Buch finden sich die entsprechenden Argumente und Hinweise auf einschlägige empirische Studien.

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Der Spiegelfechter, Julia Bonk und die Deutsche Direkthilfe

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Der “Spiegelfechter” brachte unlängst ein Stück über Julia Bonk. Dort heißt es über mich:

Was steckt nun aber wirklich hinter der Zwangseinweisung? Eine Verschwörung gegen eine kritische Politikerin, die in der „Klappse“ mundtot gemacht werden soll? Oder die Sorge um einen Menschen, der unter starken psychischen Problemen leidet? Dass es Julia Bonk in letzter Zeit nicht gut ging, scheint unbestreitbar. Doch war ihr Zustand so schlecht, dass sie ihre Arbeit nicht mehr machen konnte? Und warum sagt sie selbst nichts? Auf der Seite „Pflasterritzenflora“ schreibt der Betreiber Dr. Hans Ulrich Gresch: „Selbstverständlich muss die Privatsphäre Julia Bonks geschützt werden. Aber sie ist nicht nur Privatperson, sondern sie ist eine demokratisch gewählte Abgeordnete des Sächsischen Landtags. Die Öffentlichkeit hat ein Recht zu erfahren, warum sie an der Ausübung ihres Mandats gehindert wird und wie lange dieser Zustand voraussichtlich noch andauern soll.“
Der sogenannte „Genesungsprozess“ ist für Gresch nur ein Vorwand, in Wirklichkeit gehe es darum, Bonks „Leben zu ruinieren“. Auch die Linkspartei bekommt ihr Fett weg. Sie erwecke, so ist nachzulesen, „seit geraumer Zeit den Eindruck, sie mache sich für die Aufhebung psychiatrischer Sondergesetze stark. Da macht es sich wohl nicht so gut, dass nun ausgerechnet ein hochrangiges Mitglied dieser Partei Opfer dieser Sondergesetze geworden zu sein scheint.“ Um den Schutz Bonks gehe es der Linken wohl nicht, der sei Bonks “Genossen egal – oder warum verbarrikadieren sie sich hinter dem ‘Genesungsprozess’?“

Was ich am 14. Oktober 2013  u. a. schrieb:

Meines Wissens wurde noch nie ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete des Bundestages oder der Landtage gegen seinen oder ihren Willen hinter psychiatrischen Gittern eingekerkert. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass die Verantwortlichen in diesem Fall auf einen derartigen Vorgang nicht vorbereitet waren. Vielleicht hat sie ein Gefühl der Hilflosigkeit beschlichen. Es könnte durchaus sein, dass sie den “Genesungsprozess” nicht zum Schutz der Abgeordneten, sondern aus Eigeninteresse vorbringen.

Man verschanzt sich hinter dem “Genesungsprozess”, um dort ungestört um Sprachregelungen zu ringen. Schließlich erweckt die Partei “Die Linke” seit geraumer Zeit den Eindruck, sie mache sich für die Aufhebung psychiatrischer Sondergesetze stark. Da macht es sich wohl nicht so gut, dass nun ausgerechnet ein hochrangiges Mitglied dieser Partei Opfer dieser Sondergesetze geworden zu sein scheint. Und wie verhält sich die Linke? Der Fraktionschef im Sächsischen Landtag bittet die Presse um “Zurückhaltung”.

Man mag einwenden, dass man den Ärzten eben vertrauen müsse. Regelmäßige Zeitungslektüre macht uns dieses Vertrauen nicht leicht – dies gilt für die Medizin allgemein, nicht nur für die Psychiatrie. Um die Linke nicht in Verlegenheit zu bringen, traut man sich ja kaum, an dieser Stelle mit dem berühmten Lenin-Zitat aufzuwarten: “Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!” Eine wichtige, im Grunde die entscheidende Funktion öffentlicher Kontrolle erfüllen die Medien. In Sachen Julia Bonk versagen sie; man hält sich zurück.

Derweil dampft und zischt es in der Gerüchteküche. Die Zurückhaltung dient nicht etwa dieser Abgeordneten, sondern sie trägt aus meiner Sicht dazu bei, ihr Leben zu ruinieren. Ist dies ihren Genossen egal – oder warum verbarrikadieren sie sich hinter dem “Genesungsprozess”? Mir ist so manches Gebräu aus der Gerüchteküche vorgesetzt worden, aber hier halte selbst ich mich zurück. Was not tut: Nicht subjektive Meinungen, Einschätzungen, Verunglimpfungen, sondern Tatsachen, Nachprüfbares.

Hier behaupte ich als keineswegs, dass der “Genesungsprozess” nur ein Vorwand sei, und dass es in Wirklichkeit darum gehe, das Leben der Abgeordneten zu ruinieren. Sondern vielmehr betone ich, dass Zurückhaltung angesichts der Gerüchteküche dazu beiträgt, ihr Leben zu ruinieren und ich frage, ob dies den Genossen egal sei. Dies ist etwas anderes, als der Autor des Spiegelfechters suggeriert.

Der Spiegelfechter schreibt weiterhin:

Auf Greschs Seite steht:
„DIE ERSTEN FRAGEN eines jeden Menschen müssen sich um das Wohlergehen und um die Freiheit von Julia Bonk kümmern.
ERST DANN die politischen Fragen: Wer hat einen Nutzen, wenn Julia hinter den Gittern eines psychiatrischen Gefängnis sitzt? Woran hat sie gearbeitet? Welchen Zugang hatte sie zu geheimen Dokumenten? Auf welchen Ebenen der Republik wurde sie eventuell gefährlich? Hat sie Dinge erfahren, die das Zusammenspiel von diesem Land und die USA betreffen?“

Hier könnte der Eindruck entstehen, dass obiges Zitat von mir stamme. Dies ist aber keineswegs der Fall. Derartige Fragen stelle ich mir nicht. Vielmehr wurden sie in einem Kommentar zu meinem Text gestellt. Dies vergisst der Autor des Spiegelfechter-Artikels leider zu erwähnen. Er fährt fort:

Schöne Worte, aber das Wohlergehen scheint hier eben nicht im Vordergrund zu stehen. Wäre dem so, würde man sich so lange in Zurückhaltung üben, bis konkrete Informationen bekannt geworden sind.

Das ist wirklich grotesk: Der Spiegelfechter ist es doch, der keine Zurückhaltung übt und einen spekulierenden Artikel über Julia Bonk ins Netz stellt. Wer im Glashaus sitzt… In meinen Augen ist all dies wahrlich keine journalistische Glanzleistung des Spiegelfechters.

Er fragt:

Vielleicht – und das wäre ein zum wiederholten Male ungeheuerliches Unrecht – ist Julia Bonk wegen ihrer kritischen politischen Einstellungen und Aktivitäten zwangseingewiesen worden.
Vielleicht aber auch, weil sie Hilfe braucht. Und vor einer Öffentlichkeit, die ihren Heilungsprozess behindern oder gar verhindern würde, geschützt werden soll. Vor einer Öffentlichkeit, die wertet, bewertet, urteilt, verurteilt, einer Öffentlichkeit, die sich ihr Bild von Julia Bonk selbst macht. und unter Umständen kräftig daneben liegt.

Ja, vielleicht. Ich schrieb dazu:

Dass aber Menschen aufgrund einer Fehldiagnose in solchen Kliniken einsitzen, ist keineswegs eine Ausnahme, sondern die Regel. Zu dieser Einschätzung wird man unabhängig davon gelangen, ob man an das Konstrukt der “psychischen Krankheit” glaubt oder nicht.
Denn die psychiatrische Diagnostik und Prognostik sind erwiesenermaßen nicht valide. Das heißt: Es gibt keine objektiven Methoden, “psychische Krankheit” und Gefährlichkeit bzw. Suizidalität festzustellen. Nicht valide diagnostische und prognostische Verfahren führen aber zwangsläufig zu einer sehr großen Zahl falsch positiver und falsch negativer Einstufungen.

Hier sieht man, um was es mir in dem Artikel wirklich geht: nicht um Verschwörungstheorien, sondern allein um die Frage, ob die Abgeordnete wider Willen in einer psychiatrischen Anstalt sitzt. Denn dies halte ich in keinem Fall für gerechtfertigt, ganz gleich, um wen es sich handelt und welche Prognose oder Diagnose ihm gegeben wurde.

Inzwischen wurde auf der Website der Deutschen Direkthilfe eine Nachricht von Johannes Bonk verbreitet, in der es heißt:

“Liebe deutsche Direkthilfe,
Danke an Euch für den Kontakt und die Fürsorge.
Herzliche Grüße zurück
J. Bonk

An alle, die auf Antwort von Julia warten: Wir geben Grüße und Telefonnummern weiter, Julia braucht aber Zeit für ihre Behandlung und schätzt ein, welchen Input sie verkraften kann und was nicht, wie weit sie voll reagieren kann bzw. wo sie sich noch nicht stark genug fühlt. Bitte seid da nicht nachtragend. Danke für die vielen verständnisvollen Worte nach unserer Meldung im Netz und nochmals einen großen Dank an die deutsche Direkthilfe, ich habe den Eindruck, dass Vorstand und Mitarbeiter kompetent mit beiden Beinen in der Realität und im Netz stehen.

Mit freundlichen Grüßen Johannes Bonk”

In einer weiteren Nachricht heißt es:

Wir, die Eltern von Julia Bonk, danken allen die sich Sorgen um unsere Tochter machen. Bitte nehmt, nehmen Sie darauf Rücksicht, dass eine Erkrankung eine private Angelegenheit ist. Es gibt keinerlei restriktive oder politische Gründe die es rechtfertigen von einer Verschwörung zu sprechen. Die Nachfrage ist uns verständlich, auch dass gerade öffentliche Kontrolle zur funktionierenden Demokratie gehört, und wir finden, dass Eure, Ihre Aufmerksamkeit gelebte Demokratie ist.

Ich sehe keinen vernünftigen Grund dafür, an der Echtheit dieser Dokumente zu zweifeln. Ich habe auch keinen Anlass, über eine politische Verschwörung zu spekulieren. Eine solche erscheint mir sogar nach Lage der Dinge höchst unwahrscheinlich zu sein. An die Stelle meiner anfänglichen Skepsis gegenüber der Partei “Die Linke” ist große Ratlosigkeit getreten. Es ist wohl nicht so leicht, eine rationale Einstellung zur Psychiatrie zu gewinnen, auch wenn man sich darum bemüht.

Es war niemals meine Absicht, mich in die Privatangelegenheiten der Abgeordneten bzw. ihrer Familie zu mischen. Julia Bonk ist allerdings nicht nur eine Privatperson, sondern eine Abgeordnete des Sächsischen Landtags, und wenn der Verdacht entsteht, eine durch Immunität geschützte, demokratisch gewählte Person sei wider Willen hinter psychiatrische Gitter gesperrt worden, so darf, ja muss sich die Öffentlichkeit dafür interessieren, unabhängig von der Person der Betroffenen.

Dieser Verdacht entstand durch einen Bericht der Bildzeitung sowie durch weitere Artikel in Zeitungen. Selbst wenn es jemals sinnvoll gewesen sein sollte, zum Schutz ihrer Persönlichkeit die mutmaßlichen Probleme der Abgeordneten geheim zu halten, so waren derartige Versuche vom Augenblick dieser Veröffentlichungen an sicher kontraproduktiv.

Aus meiner Sicht ist die Geschichte eine Zwickmühle: Was auch immer man tut, es wird in der einen oder anderen Hinsicht falsch sein. Ich wünsche allen Betroffenen viel Kraft, um das durchzustehen.

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Ist die Psychiatrie noch zu retten und wenn ja, von wem?

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Die Psychiatrie vorm Scherbenhaufen

Manche meinen, die Psychiatrie habe sich ihr eigenes Grab geschaufelt. Durch eine allzu vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Psychopharmaka-Produzenten sei sie zu einer Marketingagentur dieser Branche geworden. Mit dieser Behauptung habe zwar bereits 1998 der bedeutende kritische Psychiater und Pionier der Soteria-Bewegung, Loren Mosher seinen Austritt aus der “American Psychiatric Association” (APA) begründet – “The major reason for this action is my belief that I am actually resigning from the American Psychopharmacological Association” - , aber inzwischen sei dies nicht mehr nur eine, allenfalls plausible, Meinung, ein Glaubensbekenntnis, sondern eine erwiesene Tatsache. Die Psychiatrie habe sich heillos kompromittiert. Davon könne sie sich nicht mehr erholen; sie würde sich über kurz oder lang in die Neurologie und einige andere medizinische Spezialdisziplinen auflösen. Sie sei nicht mehr zu retten.

Und in der Tat kann der Einfluss von Pharma-Unternehmen auf die wissenschaftliche Entwicklung und gleichermaßen auf die Praxis der Psychiatrie nicht bestritten werden. Er war u. a. Gegenstand von Gerichtsprozessen, bei denen die Pharmaindustrie nicht gerade gut aussah. Doch der britische Psychiater, Philosoph und Journalist Ben Goldacre konnte in seinem akribisch recherchierten (und dennoch gut lesbaren) Buch “Bad Pharma” nachweisen, dass sich dieses Phänomen nicht nur auf die Psychopharmaka und die Psychiatrie beschränkt. Die gesamte Medizin ist betroffen.

Sein Fazit: Aufgrund des verheerenden Einflusses der Pharmaindustrie auf die medizinische Forschung und Praxis haben heute weder Patienten und Politiker, noch Ärzte und sogar die Forscher an Universitäten und staatlichen Forschungsinstitutionen einen Überblick über die Effektivität sowie die Risiken und Nebenwirkungen der gebräuchlichen Medikamente: Und dies kostet Menschenleben. Die Pharmaindustrie, so Goldacre, neige nachweislich dazu, nur Forschungsberichte zu veröffentlichen, die für ihre Medikamente sprächen, Nebenwirkungen zu verschweigen oder zu verharmlosen und durch methodisch fragwürdige (wenn nicht haarsträubende) Studien Wissenschaftler sowie interessierte Laien gleichermaßen zu desorientieren (1).

In seinem Buch “Deadly Medicines and Organized Crimes” haut Peter Gøtzsche, Leiter des “Nordic Cochrane Centre” und Mitbegründer der “Cochrane Collaboration” in dieselbe Kerbe. Die Pharmaindustrie insgesamt treibe ein eigennütziges und skrupelloses Spiel mit der medizinischen Forschung, aber die Psychiatrie sei ihr wahres Paradies (8). Dies sei u. a. der Tatsache geschuldet, dass es keine validen psychiatrischen Diagnosen gäbe und man daher die Zahl der “Kranken” beinahe nach Belieben vergrößern könne.

Optimisten könnten angesichts dieses Sachstandes argumentieren, dass die Psychiatrie nicht bis ins Mark verderbt, sondern nur einem dämonischen Einfluss erlegen sei, dem die gesamte medizinische Zunft nicht standgehalten habe. Wenn erst einmal der Aggressor durch effektive staatliche Maßnahmen in seine Schranken gewiesen sei, dann könne und würde auch die Psychiatrie sich wieder frei zu Nutz und Frommen der Patienten entfalten.

Sobald sie erst ihre Fixierung auf höchst zweifelhafte medikamentöse Behandlungen psychischer Störungen überwunden habe, so würden sich auch wieder Räume eröffnen für eine menschengerechte Psychiatrie, die das Innenleben der Erkrankten respektiere und ernst nehme. Zu diesen Optimisten zählt beispielsweise eine Gruppe von Ärzten um den britischen Psychiater Pat Bracken, die für eine Überwindung des heute in der Psychiatrie vorherrschenden technologischen Paradigmas plädiert, um diese medizinische Spezialdisziplin zu retten.

Einen vergleichbaren Ansatz trägt der amerikanische Psychologe Bruce E. Wampold in seinem Buch “The Great Psychotherapy Debate” vor, in dem er die bisherige empirische Forschungsliteratur zur Effektivität und zu den Wirkmechanismen der Psychotherapie einer kritischen Analyse unterzieht (2). Er spricht nicht vom “technologischen Paradigma”, sondern vom “Medical Model”, aber dabei handelt es sich offenbar um eng verwandte Konzepte.

In der Argumentation Wampolds zeigt sich sehr eindrucksvoll, was ungebrochener Optimismus in diesem Feld anzurichten vermag. Zunächst weist er wissenschaftlich sauber nach, dass die Methoden der Psychotherapie keinen nennenswerten Einfluss auf das Behandlungsergebnis haben, das weitgehend von unspezifischen Faktoren bestimmt wird. Dies ist natürlich aus Sicht von Psychotherapeuten, die mit ihrer Methode als “Unique Selling Proposition” (USP) auf dem Markt agieren, ein höchst unbefriedigender Befund. Überdies: Wenn die Methoden, das Proprium der Psychotherapie also, keine Rolle spielen – was unterscheidet dann die “unspezifischen Wirkungen” recht eigentlich von einem “Placebo-Effekt”?

Wampold versucht, sich geschickt aus der Affaire zu ziehen. Die bisherige Psychotherapieforschung, so schreibt er, habe sich überwiegend am medizinischen Modell der psychischen Krankheiten orientiert, und dieses sei nicht in der Lage, die Wohltaten der Psychotherapie angemessen zu erklären. Das medizinische Modell in der Psychotherapie sei eine Analogie zum medizinischen Modell körperlicher Erkrankungen. Bei den körperlichen Erkrankungen unterscheide die Medizin zwischen einem spezifischen Effekt, der auf den direkten ärztlichen Eingriff (durch Medikamente, Skalpell etc.) zurückzuführen sei, und einem Placebo-Effekt, der von den Erwartungen des Patienten abhänge.

In diesem Sinne betrachte das medizinische Modell in der Psychotherapie die psychotherapeutische Methode als Urheber des spezifischen Effekts, von dem methoden-unspezifische Effekte (wie beispielsweise der Glaube des Patienten und des Therapeuten an die Wirksamkeit der Behandlung) zu unterscheiden seien. Mit anderen Worten: Aus Sicht des medizinischen Modells sind die Effekte der Psychotherapie im Lichte der empirischen Forschung überwiegend nicht als eigentliche medizinische Leistungen zu interpretieren; wären sie Medikamente, so dürften Psychotherapien mangels ausreichender spezifischer Wirkungen nicht zugelassen werden. Sie wären als Placebo-Therapien zu betrachten.

Demgegenüber ist das “kontextuelle Modell”, das Wampold favorisiert, nicht methodenfixiert, sondern es weist der Psychotherapie Aufgaben und Funktionen zu, die sich im Wesentlichen auf folgende unspezifische Aspekte konzentrieren:

  • emotionalisierte, vertrauensvolle Beziehung zwischen einem Ratsuchenden und einem Helfer
  • ein heilendes Setting, in dem der Klient dem Helfer ein Leiden in der Hoffnung vorträgt, dass der “Therapeut” zu dessen Linderung beitragen könne
  • ein Mythos, der das Leiden und die Wege zu seiner Überwindung plausibel erklärt
  • ein Heilungsritual (Seite 25)

Da die empirische Forschung der Psychotherapie (unabhängig von den Methoden) tatsächlich Effizienz bescheinigt und da die obigen, vagen Gesichtspunkte offenbar unspezifische Wirkungen hervorrufen, meint Wampold, dass sich psychotherapeutische Evaluation und Praxis vom medizinische Modell ab- und dem kontextuellen Modell zuwenden solle. Dieses würde dem tatsächlichen Geschehen besser gerecht. Man müsse die Psychotherapien nicht geringschätzen, weil sie keine methodenspezifischen Wirkungen hätten; dies sei, im rechten, im kontextuellen Licht betrachtet, sogar ihre Stärke.

Ich habe hier Wampold sowie die Autorengruppe um Bracken nur stellvertretend für eine größere Zahl von Kritikern des bisherigen Zustandes in der Psychiatrie herausgegriffen, die sowohl für die Psychotherapie, als auch für die medikamentöse Behandlung eine stärkere Berücksichtigung des menschlichen Faktors fordert. Die realen Lebensprobleme, die sozialen und ökonomischen Umstände, die Innenwelt und die subjektiven Bedürfnisse des Patienten sollten in den Mittelpunkt gerückt werden. Es müsse der Eindruck vermieden werden, dass man die Sorgen und Nöte, die Eigentümlichkeiten und Defizite des Patienten auf gestörte Hirnprozesse reduziere, die am besten durch direkte Eingriffe (durch Medikamente, Elektrokrampftherapie oder gar durch Hirnchirurgie) zu normalisieren seien.

Diese Kritiker befinden sich allerdings in einem Dilemma: Je enger sich die Psychiatrie dem kontextuellen Modell anschließt, desto weiter entfernt sie sich von einer medizinischen Spezialdisziplin. Dies ist zumindest solange der Fall, wie die gegenwärtige Medizin ihr Selbstverständnis als naturwissenschaftlich fundiertes, evidenzbasiertes Projekt aufrecht erhält.

Ein Paradigmenwechsel wird zwar von Alternativmedizinern gefordert; aber ich halte es für sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sich die Mehrheit der Ärzte für diese Forderung begeistern lässt. Zwar liebäugelt so mancher Arzt (vermutlich aus ökonomischen Gründen) mit allerlei Wundermitteln aus der esoterischen Ecke, aber einen authentischen Gesinnungswandel haben nur die wenigsten vollzogen und daran wird sich wohl auch in Zukunft nichts ändern. Das Prestige der Naturwissenschaften und der medizinischen Apparate ist einfach zu groß.

Selbstverständlich ist die Kritik am medizinischen Krankheitsmodell durchaus gerechtfertigt. Es ist eindeutig verfehlt, dieses Denkschema Lebensproblemen überzustülpen, die auf inneren oder äußeren Konflikten beruhen, die meist sozialen oder ökonomischen Schieflagen entspringen und bei denen kulturelle Imperative eine erhebliche Rolle spielen. Wenn beispielsweise jemand im Beruf seine Ziele nicht erreicht und “depressiv” wird, weil er sich im Sinne der neoliberalen Ideologie als Versager empfindet, dann halte ich es für ausgesprochen pervers, hier von einer Krankheit zu sprechen, denn dies hieße im Grunde nicht anderes, als die “Depression” zu verstärken – aus Ignoranz, ärztlicher Geldgier oder purer Niedertracht.

Dies ist offensichtlich, und dies war immer schon offensichtlich. In der Aufbruchstimmung der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts war linke Psychiatriekritik durchaus en vogue und riss auch manchen Vertreter dieser Disziplin mit. Doch mit dem vorübergehenden Siegeszug der biologischen Psychiatrie wurde es still um die Psychiatriekritik aus den eigenen Reihen. Nunmehr aber, nachdem die Krise der biologischen Psychiatrie, angesichts offensichtlicher Erfolglosigkeit, nicht mehr geleugnet werden kann, nimmt die Zahl der kritischen Zunftgenossen wieder zu, die andere, humanere Wege beschreiten wollen; allein, nur die wenigsten sind bereit, sich den Konsequenzen ihrer Einsichten zu stellen.

Denn wenn das medizinische Modell inadäquat ist, dann sind auch alle Organisationsstrukturen und Berufsrollen, die sich auf dieses Modell beziehen, nicht angemessen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Mit anderen Worten: Eine Reform der Psychiatrie, die auf einer ehrlichen und grundsätzlichen Bestandsaufnahme ihrer theoretischen und praktischen Unzulänglichkeiten beruhte, würde die Psychiatrie abschaffen. Es gäbe keine Psychiater mehr, keine psychiatrischen Hilfskräfte, keine psychiatrischen Krankenhäuser, keinen Maßregelvollzug, keine psychiatrischen Praxen, auch keine Praxen psychologischer Psychotherapeuten, nichts, nichts bliebe übrig. Es verschwände die psychiatrische Diagnostik und Prognostik und auch die pharmakologische sowie die Psychotherapie.

Die Psychiatrie kann also durch Reformen ebenso wenig gerettet werden wie die Sowjetunion durch Glasnost und Perestroika. Der Zug war bereits abgefahren, als 1872 Jean-Martin Charcot, der Begründer der modernen Psychiatrie, zum Inhaber eines Lehrstuhls für Neurologie und Psychiatrie ernannt wurde. Wenn alles mit rechten Dingen zuginge, dann müsste der Beruf des Psychiaters nun bald ebenso verschwinden wie der des  - beispielsweise – Hexenstechers. Doch, ach, man gestehe es sich ein: Dies sind Träume. Die Psychiatrie muss ihren Untergang nicht befürchten. Wer steht ihr zur Seite, wird sie ggf. retten?

Treue Retter in der Not

Schenkt man den Verlautbarungen der psychiatrischen Marketingagenturen Glauben, so erkrankt jährlich etwa ein Drittel der Bundesbürger an einer psychischen Störung. Die Bundespsychotherapeutenkammer beziffert diese Zahl der Erkrankten auf 31 Prozent, davon sind 37 Prozent Frauen und 25 Prozent Männer. Vergleichbare Prozentwerte, die angeblich wissenschaftlichen Studien entnommen wurden, werden von einschlägigen Interessenten in allen europäischen Staaten sowie Nordamerika lanciert. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen

  • Angststörungen (14,4 %)
  • somatoforme Störungen (psychisch bedingte körperliche Störungen) (11,0 %)
  • affektive Störungen (Depressionen) (10,9 %)
  • Suchterkrankungen (vor allem Alkoholismus) (4,9 %).

Man mag diesen horrenden Zahlen bezweifeln. Fakt ist, dass es sich hier um Schätzwerte handelt, die auf Vermutungen beruhen. Denn es gibt keine objektiven Testverfahren, mit denen man das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” nachweisen könnte. Die psychiatrischen Diagnosen entsprechen dem subjektiven Urteil des Diagnostikers. Selbst bei wohlwollender Betrachtung des psychiatrischen Gewerbes wird man einräumen müssen, dass derartige Daten nicht besonders zuverlässig sind.

Auch wenn die Diagnosen willkürlich anmuten, so kann man die Auswirkungen teilweise doch deutlich präziser veranschlagen. So betrug beispielsweise 2009 der Anteil der Psychisch-krank-Diagnosen an den Arbeitsunfähigkeitsdiagnosen 11,3 Prozent. Zur Zeit wird mehr als jede dritte Rente (37,7 %) wegen verminderter Arbeitsfähigkeit mit einer “psychischen Krankheit” begründet.

Angesichts solcher Zahlen stimmt es schon bedenklich, dass der Kenntnisstand vieler Bürger zu Fragen der Psychiatrie überaus dürftig ist. Viele Menschen kennen den Unterschied zwischen Psychiatern, Psychotherapeuten und Psychologen nicht. Das gängige Psycho-Stereotyp hat sich seit Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Es bezieht sich gleichermaßen auf Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten. Unter einem Psycho-Experten stellt man sich einen Mann vor, der wie Sigmund Freud aussieht und seine Patienten mit den Mitteln der Psychoanalyse auf der Couch behandelt. Hinsichtlich seiner Persönlichkeit ist man zwiespältig: Einerseits werden die Psycho-Experten als warmherzig väterliche Figuren wahrgenommen, also positiv, andererseits aber auch negativ als zerzauste inkompetente Neurotiker oder als gefährliche, manipulierende Gestalten (4).

Dies ist natürlich ein Zerrbild. Psychologen, Psychiater und Psychotherapeuten sind sehr häufig weiblich, zumeist keine Psychoanalytiker und selbst Freud-Adepten behandeln ihre Patienten nicht mehr wie zur Zeiten des Meisters auf der Couch. Zur Persönlichkeit und den Motiven dieser Leute möchte ich mich nicht äußern; das Stereotyp ist in dieser Hinsicht ohnehin weniger durch die Realität, als vielmehr durch Medienberichte und Filme geprägt; es oszilliert zwischen John Hustons Freud-Filmbiographie und den Dr.-Mabuse-Streifen.

Während der fiktive Charakter der Spielfilme offenkundig ist und von den Produzenten auch nicht verschleiert wird, erheben die Medien natürlich den Anspruch, objektiv über die Psychiatrie zu berichten. Interessierte Laien informieren sich über dieses Thema in aller Regel nicht durch Fachjournale, sondern sie beziehen ihr Wissen aus Zeitungen und Publikumszeitschriften. Diese Medien haben also einen entscheidenden Einfluss auf den Kenntnisstand der Bevölkerung in Sachen “Psychiatrie”, “Behandlungsmethoden” und “Krankheitsbilder”.

Es stellt sich daher die Frage, ob das entsprechende Informationsniveau wegen oder trotz der Berichterstattung in den Medien so flach ist. Diese Frage ist wissenschaftlich noch weitgehend ungeklärt. Eine der wenigen relevanten Studien widmet sich der Frage, ob die populären Medien den aktuellen Erkenntnisstand der psychiatrischen Forschung angemessen widerspiegeln (5).

François Gonon und sein Forschungsteam gingen hier speziell der Frage nach, ob die Forschung zur so genannten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in den Medien unverzerrt dargestellt wurde. Bekanntlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass empirische Erkenntnisse im medizinischen Bereich durch nachfolgende Studien widerlegt werden, zum Teil erheblich größer als eine Bestätigung der Befunde (6). Berichten die Medien also gleichermaßen über scheinbare bzw. tatsächliche Erkenntnisse und über deren potenzielle Widerlegung?

Die Wissenschaftler recherchierten in einschlägigen Datenbanken und fanden 47 wissenschaftliche Studien zum Thema ADHS, die in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts publiziert wurden, sowie 347 Zeitungsartikel, die sich auf diese Forschungen bezogen. Sie wählten nunmehr die zehn Studien (“Top-Ten-Studies”) aus, die in den 90er Jahren den größten Widerhall in den Medien fanden. Zu diesen zehn Untersuchungen wurden alle Nachfolgestudien bis 2011 identifiziert. Es wurde geprüft, ob diese Replikationsversuche die ursprünglichen Ergebnisse bestätigten, abschwächten oder widerlegten. Abschließend wurde das Medienecho auf die Top-Ten-Studien mit der Resonanz auf die Wiederholungsversuche verglichen.

Sieben der zehn Top-Ten-Publikationen waren Initialstudien. Davon wurden sechs in den Nachfolgeuntersuchungen widerlegt oder ihre Ergebnisse wurden stark abgeschwächt. Von den drei Studien, die keine Initialuntersuchungen waren, wurde zwei später bestätigt und eine wurde abgeschwächt. Die Medien berichteten wesentlich häufiger über die Top-Ten-Publikationen (223 Artikel) als über die 67 Überprüfungsstudien (57 Artikel). Nur einer der letztgenannten Artikel erwähnte, dass eine der Top-Ten-Untersuchungen durch die korrespondierende Nachfolgestudie in Zweifel gezogen wurde. Die Medien berichteten also über angeblich neue Erkenntnisse der ADHS-Forschung, verschwiegen in aller Regel aber, dass diese Befunde sich später als falsch oder als zum Teil erheblich übertrieben erfolgreich herausstellten.

Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Erkenntnisse der Studie von François Gonon und Mitarbeitern nicht nur auf die ADHS-Forschung, sondern auf alle Bereiche der psychiatrischen Forschung zutreffen. Sie ist meines Wissens allerdings noch nicht repliziert worden, weder im ADHS-Bereich, noch sonstwo. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass diese Studie die allgemeinen Verhältnisse in der psychiatrischen Forschung widerspiegelt, da ich seit rund vierzig Jahren psychiatrische Fachzeitschriften lese und die einschlägige Berichterstattung in den Medien verfolge. Daher hat mich die Studie Gonons nicht überrascht. Schon lange vorher hatte ich den Eindruck gewonnen, dass unsere Medien den Stand der Erkenntnis in der Psychiatrie beschönigen, haarsträubend beschönigen.

So erscheinen beispielsweise sehr häufig unkritische Berichte über Studien mit bildgebenden Verfahren, die angeblich den Zusammenhang zwischen Hirnstörungen und “psychischen Krankheiten” belegen. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen demgegenüber unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” (7)

Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden.

Der “Focus” schreibt:

“Der Gehirnstoffwechsel von Schizophrenie-Kranken ist anders als der von Gesunden. So arbeitet zum Beispiel der Neurotransmitter Dopamin während einer akuten Episode auf Hochtouren. Dieser Botenstoff verursacht vermutlich eine Übererregbarkeit, die zu Symptomen wie Halluzinationen führt. An diesem Punkt setzen viele Medikamente an: Sie dämpfen die Wirkung von Dopamin und lindern so Halluzinationen und Wahn.”

Der Direktor des weltweit größten psychiatrischen Forschungszentrums, des US-amerikanischen “National Institute of Mental Health“, Thomas Insel schreibt:

“While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated.”

Im Licht der neurowissenschaftlichen Forschung ist die Theorie, dass Dopamin bei der “Schizophrenie” eine kausale Rolle spiele, als antiquiert zu betrachten.

Zu den Medikamenten schreibt Insel:

“Existing antidepressants and antipsychotics have many proposed molecular targets, but none that have been shown to be necessary or sufficient for their clinical effects. Amazingly, after three decades of broad use of these medications, we still don’t know how they work when they are effective. And we lack effective pharmacologic treatments for too many patients and for some major sources of disability, like the cognitive deficits of schizophrenia or the social deficits of autism.”

Es ist also gar nicht bekannt, warum und wie psychiatrische Medikamente und also auch die Medikamente gegen “Schizophrenie” wirken – sofern sie überhaupt wirken.

Derartige Schnitzer sind nicht nur im “Focus” zu finden, sondern sie wiederholen und häufen sich in beinahe allen bundesdeutschen Presseorganen und Fernseh-Features. Man muss kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass diese Fehler in der Berichterstattung über psychiatrische Themen auf Interviews mit Psychiatern und vor allem auf Pressemeldungen psychiatrischer Krankenhäuser oder Hochschul-Institute beruhen. Spekulationen darüber, dass Pharma-Schmiergeld fließen könnte, überlasse ich gern den Verschwörungstheoretikern.

Wie auch immer: Fakt ist, dass die wichtigsten einschlägigen Informationsquellen, nämlich die Tageszeitungen, Publikumszeitschriften und Fernsehsender, den ohnehin dürftigen Informationsstand der Bevölkerung zu psychiatrischen Fragen nicht etwa heben, sondern im Gegenteil dazu beitragen, dass die Rezipienten krass überholte Vorstellungen beibehalten. Artikel oder Features zu dieser Thematik haben oftmals den Charakter der Hofberichterstattung. Der Leser oder Fernsehzuschauer muss den Eindruck gewinnen, dass die Forschung – auch dank moderner Technik – beständig Triumphe feiert und die Behandlungen kontinuierlich erfolgreicher werden.

Journalisten, die sich nur auf die Pressemeldungen von Universitäten und Kliniken stützen, werden diesen Eindruck vermutlich auch reinen Gewissens vermitteln – es sei denn, der völlige Verzicht auf eigenständige Recherchen oder der fehlende Verzicht auf andere Sachen würde Gewissensbisse hervorrufen. Wenn sie auch nur einen oberflächlichen Blick in die psychiatrische und neurowissenschaftliche Fachliteratur werfen würden, dann müsste ihnen allerdings das Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Stand der Forschung und den Pressemeldungen ins Auge springen.

Selbstverständlich bestreite ich nicht, dass die Medien hin und wieder auch Kritisches zur Psychiatrie vortragen. Doch dabei handelt es sich in aller Regel um Berichte über Missstände, über Skandale, über das Versagen Einzelner. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die sich auf die mangelnde Wissenschaftlichkeit und Effizienz des Gesamtsystems bezieht, sucht man leider vergeblich.

Und nun?

Ist die Psychiatrie noch zu retten? Keine Frage, ja, selbstredend. Sie kann unbesorgt so weitermachen wie bisher, trotz aller Krisen, unbeschadet aller Kritik. Denn sie wird ja gebraucht. Die Medien lieben sie, der Staat will sie erhalten, die Bevölkerungsmehrheit hält sie für unverzichtbar. Dabei spielt es keine Rolle, dass sie ihre offiziellen Ziele, nämlich die Überwindung oder Linderung von Leiden, allenfalls, wenn überhaupt, nur unzulänglich erreicht. Es kommt ja doch nur auf die heimlichen Ziele des psychiatrischen Systems an. Störer, Außenseiter, unbelehrbar Eigensinnige sollen ruhig gestellt und, wenn das nicht geht, weggesperrt werden. Dies ist der eigentliche, tiefere Sinn dieser Veranstaltung. Oder irre ich mich da?

Gibt es ein Leben nach der Psychiatrie; oder wird die Welt, in ein paar Milliarden Jahren, voll psychiatrisiert in einem schwarzen Loch verschwinden? Ich erlaube mir zu träumen. Vor meinem inneren Augen sehe ich den blauen Himmel, eine Wiese mit Blumen und einem plätschernden Bach am Rande, bin erfüllt vom Duft der Erde und vom Klang tirilierender Vögel, und ich weiß, während ich mich behaglich im Grase ausstrecke, dass nirgendwo, nirgendwo mehr auf diesem Planeten Menschen im Morgengrauen in ihrer Wohnung aufgegriffen, in psychiatrische Anstalten gefahren, an Betten geschnallt und mit Nervengiften traktiert werden.

Ja, aber, so ruft es von überall her, ja aber, die Psychiatrie, die hat schon so einiges auf dem Kerbholz, keine Frage, aber was soll denn mit all den Irren geschehen, sollen die wohl frei herumlaufen, überall die Hosen herunterlassen, in Akten scheißen und mit Messern stechen, bevor sie sich im Wahn selbst entleiben? Man könnte es sich einfach machen und auf diese bange Frage antworten, dass die “psychisch Kranken” sich in Luft auflösen würden, wenn es keine Psychiatrie mehr gäbe, die Menschen nach Gutdünken als “psychisch krank” etikettiert. Aber diesen Gefallen tue ich meinen Kritikern nicht, denn dieser Einwand wäre ja nun wirklich irre. Wenn eine gute Fee die Psychiatrie hinwegzaubern würde, dann hinterließe sie uns den Anblick eines großen Haufens Sorgen, der bisher hinter psychiatrischer Fassade mehr oder weniger gut versteckt bzw. getarnt war.

Irgendwo las ich unlängst, dass in Deutschland jährlich rund 1,2 Millionen Menschen stationär psychiatrisch behandelt würden, davon 150.000 zwangsweise (3). Genaue Zahlen sind vermutlich nicht bekannt, doch darauf kommt es auch nicht an. Die Dimension ist jedenfalls gewaltig. Es gibt also eine reale und erhebliche Nachfrage nach psychiatrischen Angeboten – und zu den Nachfragern zählen der Staat, die Angehörigen, Arbeitgeber, sonstwie direkt oder indirekt Betroffene und nicht zuletzt große Teile der “Kranken” selbst.

Diese reale Nachfrage verschwindet nicht, wenn man den Anbieter vom Markt nimmt. Selbst wenn man behauptet, niemand brauche psychiatrische Dienstleistungen wirklich, so wäre dies ein unzulängliches Argument; denn wie viel Mist wird gekauft, den objektiv niemand braucht, ebenso wenig wie die Werbung, die für ihn gemacht wird?

Daher muss sich jeder grundsätzliche Psychiatriekritiker die Gretchenfrage stellen und gefallen lassen: Was soll an die Stelle der Psychiatrie treten? Meine bündige Antwort lautet: eine freie und soziale Gesellschaft mit einer Justiz, die Menschen gemäß ihrer Taten bestraft und nicht aufgrund von Mutmaßungen über ihre Persönlichkeit, ihre Motive oder hypothetische Defekte in ihren grauen Zellen.

Dies bedeutet im Klartext, dass man die Psychiatrie nicht Knall auf Fall abschaffen kann. Man muss einer verlogenen, selbstgerechten und bequemen Gesellschaft die Psychiatrie Schritt für Schritt entziehen. Es handelt sich hier um eine schwere Abhängigkeit, die man nicht durch einen kalten Entzug kurieren kann. Eine Gesellschaft, in der Psychiatrie abgebaut wird, müsste schrittweise lernen, abweichendes Verhalten zu tolerieren, solange es niemandem in unzulässiger Weise schadet. Es geht um soziale Deeskalation, um Friedensstiftung. Modelle, wie dies bewerkstelligt werden könnte, kann man nicht aus dem Ärmel schütteln und auch nicht am Reißbrett entwerfen. Sie lassen sich aber verwirklichen; man muss es nur wollen. Die psychologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen für Veränderungsprozesse dieser Art wurden längst erarbeitet. Es gilt, sie konsequent anzuwenden.

Ja, ich weiß, ich träume schon wieder.

Anmerkungen

(1) Goldacre, B. (2012). Bad Pharma: How drug companies mislead doctors and harm patients. Fourth Estate: London (UK)

(2) Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum Associates

(3) Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie, Zeit online

(4) von Sydow, K. (2007). Das Image von Psychologen, Psychotherapeuten und Psychiatern in der Öffentlichkeit. Psychotherapeut, September 2007, Volume 52, Issue 5, pp 322-333

(5) Gonon F, Konsman J-P, Cohen D, Boraud T (2012) Why Most Biomedical Findings Echoed by Newspapers Turn Out to be False: The Case of Attention Deficit Hyperactivity Disorder. PLoS ONE 7(9): e44275. doi:10.1371/journal.pone.0044275

(6) Ioannidis JPA (2005) Why Most Published Research Findings Are False. PLoS Med 2(8): e124. doi:10.1371/journal.pmed.0020124

(7) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(8) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

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Psychische Krankheit und Gesundheit als Rollenspiele

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Unbewusste Inszenierungen

Meine Behauptung, die so genannten psychischen Krankheiten würden von den Betroffenen inszeniert, stößt häufig auf Kopfschütteln, Unverständnis, mitunter sogar auf hasserfüllte Ablehnung. Oft genügt es allerdings, abmildernd zu betonen, dass es sich dabei um unbewusste Inszenierungen handele. Meist beruhigen sich die angesprochenen Gutmenschen dann wieder, wenn auch nicht vollends, Skepsis bleibt. Wenn das Unbewusste im Spiel ist, kann der Betroffene aber immerhin nichts dafür, so denkt man, dann handele er nicht mit Absicht, er simuliere nicht, sondern er sei richtig krank. So interpretieren viele der von mir Aufgestörten, die es nicht gleich zum Eklat kommen lassen wollen, beschwichtigend meine Rede.

Mitunter erlaube ich mir den Spaß, anschließend darauf hinzuweisen, das Unbewusste sei ein sehr unbestimmter Begriff. Er bedeute aus meiner Sicht nur, dass der von unbewussten Motiven geleitete Mensch sich seine Handlungen nur noch nicht so genau überlegt habe. Oftmals hätten, so gieße ich Öl ins Feuer, die Betroffenen durchaus vermerkt, was ihre wahren Gründe seien, aber sie zögen es vor, dies nicht zum Thema ausführlichen Nachdenkens werden zu lassen.

“Wollen Sie damit etwa sagen, dass sich die psychisch Kranken ihre Krankheit nur einbilden und sich aus purer Denkfaulheit weigern, sich diese Tatsache klarzumachen?” Das Spektrum reicht von ungläubigem Staunen ist hin zu geschwollenen Adern auf der Stirn.

“Ich sage, dass sich Menschen dazu entscheiden, die Rolle des ‘psychisch Kranken’ zu übernehmen, wobei diese Entscheidung meist nicht sehr gut durchdacht ist.”

Der Wechsel des Themas ist noch die mildeste der möglichen Reaktionen; vielfach setzt dann ein heftiges Brüllen und Kreischen ein, aus dem Sätze wie “Und Sie als Psychologe sagen so etwas!” hervorschießen wie Raubtierkrallen.

Die Besonnenen jedoch, mit denen zu rechnen ich mir im Lauf der Jahre schon fast abgewöhnt habe, versuchen, mich mit Argumenten widerlegen.

  • Sie räumen ein, dass eine “psychische Krankheit” dem Betroffenen auch Vorteile biete, einen “Krankheitsgewinn”. Der Kranke könne Schonung beanspruchen, und dies sei für seelisch Überlastete durchaus ein Anreiz, in der Krankenrolle zu verharren.
  • Es sei aber offensichtlich, dass dieser “Krankheitsgewinn” nicht die primäre Ursache der Krankheit sein könne, denn niemand wünsche sich jenes zum Teil erhebliche Leid, das mit psychischen Krankheiten verbunden sei.

Diesen Einwand kann ich gut nachvollziehen, denn viele der so genannten psychisch Kranken bieten tatsächlich ein herzzerreißendes Bild des Jammers. Man hat dabei auch nicht das Gefühl, dass dieses Bild vorgetäuscht, nicht echt sei – zumindest drängt sich bei oberflächlichem Hinschauen der Eindruck auf, man hätte es mit einem Menschen zu tun, der Spielball grausamer Kräfte geworden ist, die sich seiner Kontrolle entziehen.

Zu den Menschen, die sich nicht mit dem ersten Blick begnügen, zählte Sigmund Freud. Er beobachtete bei manchen seiner Patienten eine negative psychotherapeutische Reaktion.

“Wenn man ihnen eine Symptomlösung mitgeteilt hat, auf die normalerweise ein wenigstens zeitweises Schwinden des Symptoms folgen sollte, erzielt man bei ihnen im Gegenteil eine momentane Verstärkung des Symptoms und des Leidens. Es reicht oft hin, sie für ihr Benehmen in der Kur zu belobigen,  einige hoffnungsvolle Worte über den Fortschritt der Kur zu äußern, um eine unverkennbare Verschlimmerung ihres Befindens herbeizuführen. Der Nicht-Analytiker würde sagen, er vermisse den Genesungswillen; nach analytischer Denkweise sehen Sie in diesem Benehmen eine Äußerung des unbewussten Schuldgefühls, dem Kranksein mit seinen Leiden und Verhinderungen eben recht ist.” (1)

Ein “unbewusstes Schuldgefühl” kann fraglos ein starkes Motiv für eine Selbstinszenierung als “psychisch krank” darstellen, dem das Leiden der “Kranken” keineswegs widerspricht; im Gegenteil. Das Leiden ist sogar das Salz in der Suppe” dieser Inszenierung.

Man könnte nun einwenden, dass in diesen Fällen das unbewusste Schuldgefühl das Pathologische sei. Sich als “psychisch krank” zu inszenieren und einer “Heilung” Widerstand entgegenzusetzen, sei eben ein Ausdruck “psychischer Krankheit”. Hier stellt sich dann natürlich die Anschlussfrage: Welchem Krankheitsprozess entspringt das unbewusste Schuldgefühl und das mit ihm verbundene Selbstbestrafungsbedürfnis?

Ich fahre zunächst mit einer milderen Variante meiner Interpretation dieses Sachverhalts fort:

Aus meiner Sicht findet im menschlichen Unbewussten eine Abwägung der in einer Situation gegebenen Möglichkeiten, unter Berücksichtigung der eigenen Präferenzen, Stärken und Schwächen, statt, wobei sich diese Abwägung natürlich nur auf das implizite Wissen beziehen kann, das dem Unbewussten momentan zur Verfügung steht. Im Allgemeinen wird sich das Unbewusste dann für jene Handlungsweise entscheiden, die ihm als die Sinnvollste erscheint. Dies bedeutet keineswegs, dass die Wahl zwingend auf jene Alternative fällt, die bei vollständiger Kenntnis aller relevanten Faktoren tatsächlich die vernünftigste wäre.

Daraus folgt, dass die Inszenierung einer “psychischen Krankheit” im oben skizzierten Sinn für das betroffene Individuum die beste Lösung ist. Würde die “psychische Krankheit” bewusst inszeniert, so müsste sich der Schauspieler als Simulant fühlen, und dieses Gefühl würde bei vielen Menschen das Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Also ist die beste Lösung in aller Regel die unbewusste Inszenierung. Das Schuldgefühl und das Strafbedürfnis erscheinen in dieser Sichtweise nunmehr in einem neuen Licht. Es handelt sich um unbewusste Mechanismen der Selbstkorrektur, die gewährleisten sollen, dass sich das Individuum auch rollenkonform als leidend verhält und somit die beste aller Lösungen auch zu realisieren vermag.

“Aber ist das denn nicht krank?”, rufen meine Kritiker unisono.

“Nein, nein!”, rufe ich zurück, nun bereits die härtere Variante meiner Erklärung in Erwägung ziehend. “Das ist nicht krank, das ist das Leben. Das ist die Natur. Sie geht immer den Weg des geringsten Widerstands.”

Und wenn mir der Teufel im Nacken sitzt, füge ich hinzu: “Es gilt auch zu bedenken, dass wir das Unbewusste nicht unzulässig verdinglichen dürfen. Es ist kein Akteur, der den betroffenen Menschen zu irgendetwas zwingt. Das Unbewusste ist nur eine ungenaue Redeweise dafür, dass der Mensch wähnt, nicht anders handeln zu können, obwohl er es niemals ernsthaft versucht hat. Wäre ‘psychische Gesundheit’ in einer gegebenen Situation allerdings zweckdienlicher, dann würden dieselben Individuen, die nun schwer leidend “psychisch krank” sind, plötzlich ihr Bett nehmen und wandeln. Es handelt sich in diesen Fällen aber nicht um Wunderheilungen, den Heiland müsste man dafür nicht eigens herabbemühen. Solche “Spontan-Remissionen” sind schlicht und ergreifend die beinahe zwingende Folge veränderter Bedingungen in der Innen- und in der Außenwelt.(2)”

Psychisch krank zu sein bedeutet also, die Rolle des psyçhisch Kranken zu spielen. Es handelt sich dabei aber nicht um Schauspielerei im üblichen Sinne. Ein Schauspieler weiß ja, dass er nur eine Rolle spielt und nicht tatsächlich King Lear oder Faust ist. Der “psychisch Kranke” aber darf nicht wissen, dass er diese Rolle nur spielt, weil er sie sonst nicht spielen könnte.

Rollentheorie

Rollentheoretisch lässt sich der “psychisch Kranke” recht gut mit einem Hypnotisanden vergleichen, sofern man die Rolle des letzteren im Sinne der “Role-taking Theory” von Theodore Sarbin interpretiert. Ebenso, wie der “Hypnotisierte” so handelt, als ob er hypnotisiert, so handelt der “psychisch Kranke” so, als ob er psychisch krank wäre. Und beide handeln in diesem Sinn, weil sie bereit sind, sich in eine Situation zu fügen, in der dieses “Als-ob-Handeln” angemessen ist und voraussetzt, dies nicht zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen. Wenn also der situative Anforderungscharakter sich ändert oder wenn der “psychisch Kranke” nicht mehr bereit ist, sich diesen Zumutungen zu unterwerfen, dann ist der “psychisch Kranke” wieder “gesund”.

Hier zeigt sich allerdings ein gravierender Unterschied zur Hypnose. Der Hypnotiseur kann einen Hypnotisanden recht einfach wieder “aufwecken”, durch eine hypnotische Suggestion. Bei “psychisch Kranken” ist das in aller Regel nicht so simpel. Denn die Rolle des “psychisch Kranken” ist kein Bestandteil eines “Psycho-Spiels”, wie dem der Hypnotisierung, sondern sie ist eingebettet in die sozio-ökonomische Struktur unserer Gesellschaft – sie dient der Kontrolle aller Formen von erheblich störenden Abweichungen, für die das Justizsystem nicht zuständig ist. Solche Rollen haben eine große Haltekraft. Wer einmal in sie hineingerutscht ist, kommt so schnell nicht wieder heraus.

Stigmatisierung und andere Hoffnungsschimmer

Manche räumen ein, dass solche Inszenierungen bei “psychischen Krankheiten” durchaus eine Rolle spielen könnten, aber die psychiatrische Forschung sei nun einmal nicht bei Sigmund Freud stehengeblieben. Man wisse heute, dass zum Ursachenbündel dieser Erkrankungen maßgeblich Hirnstörungen gehörten, die zu einem erheblichen Anteil angeboren seien. Meist werde ich zum Beweis dieser These auf Berichte in Zeitungen und Zeitschriften sowie auf einschlägige Fernseh-Features in den Dritten Programmen oder auf Arte verwiesen.

Wer sich allerdings über den aktuellen Forschungszustand, beispielsweise in der Pflasterritzenflora, informiert, wird unschwer erkennen, dass es sich bei diesen angeblich neuesten Erkenntnissen aus Funk und Fernsehen um Spekulationen handelt. Es gibt in Wirklichkeit keinerlei Beweise dafür, dass

  • psychische Störungen durch chemische Ungleichgewichte im Gehirn verursacht werden
  • gestörte Hirnschaltkreise psychische Störungen auslösen
  • psychische Störungen auf defekten Genen beruhen
  • die Umwelt (beispielsweise Traumata, Armut, Verwahrlosung) für psychische Störungen verantwortlich ist
  • psychiatrische, also subjektive Diagnosen mit irgendwelchen objektiv messbaren Biomarkern korrelieren.

All dies sind nur höchst umstrittene Hypothesen. Ein Teil der empirischen Studien spricht dafür, ein anderer Teil dagegen. Die meisten dieser Studien sind methodisch unzulänglich; ihre Aussagekraft ist größtenteils erheblich eingeschränkt. Die genannten Faktoren können zwar eine Rolle spielen, aber sie reichen bei weitem nicht aus, um jene Phänomene zu erklären, die von der Psychiatrie aus “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden.

Es gibt zudem auch keinerlei Beweise dafür, dass

  • psychiatrische Medikamente mehr nutzen als schaden
  • Psychotherapien wirksamer sind als Placebo-Behandlungen
  • es psychiatrisch Behandelten durchschnittlich auf lange Sicht besser geht als Nicht–Behandelten.

Ist das nicht wunderbar?

Ist es nicht wunderbar, dass

  • die so genannten “psychisch Kranken” immer noch massiv stigmatisiert werden
  • viele der Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden, sich nicht freiwillig in die Obhut von Psychiatern begeben
  • sich ein großer Teil von ihnen weigert, psychiatrische Medikamente zu nehmen, sogar dann, wenn sie an ihre Diagnose glauben
  • für psychiatrische Maßnahmen Milliarden ohne erkennbare positive Resultate verausgabt, also vergeudet werden?

Ja, das ist wunderbar und erfüllt mich mit großer Freude. Denn all dies lässt mich hoffen. Zwar gibt es in zunehmender Zahl Menschen, die der Verlockung zur Übernahme der Rolle des psychisch Kranken erliegen; aber dennoch leisten viele, die für diese Rolle vorgesehen sind, mehr oder weniger hartnäckig Widerstand. Sie ahnen, dass trotz vieler Vorteile irgendetwas nicht stimmt mit dieser Inszenierung.

Wenn es nämlich anders wäre, wenn die Psychiatrie tatsächlich effektiv menschliches Verhalten und Erleben steuern könnte und zwar so, dass die Gesteuerten damit sogar vollends zufrieden wären, dann würden

  • Menschen unter erbärmlichen Arbeitsbedingungen glücklich optimale Leistungen erbringen
  • Ehefrauen ihren prügelnden Männern leidenschaftliche Geliebte und ihren missratenen Kindern vorbildliche Mütter sein
  • sexuell missbrauchte und misshandelte Kinder in der Schule dem Unterricht brav und strebsam folgen sowie Spitzenleistungen erbringen
  • Soldaten an der Front im Stahlgewittern wie Roboter funktionieren
  • kurz: jeder, der auch nur den Anschein erweckt, seelisch unter den Folgen sozialer Konflikte und ökonomischer Schieflagen zu leiden, erhielte eine Pille und alles wäre wieder gut.

Unter den gegebenen Machtverhältnissen ist die Psychiatrie ein Reparaturbetrieb für schlecht laufende Rädchen im Getriebe – und wenn die Psychiatrie perfekt wäre, dann hätten diese Rädchen aus Fleisch und Blut jede Chance verloren, sich ihrer Lage bewusst zu werden. Zumindest zur Zeit sind aber selbst jene, die freiwillig die Rolle des “psychisch Kranken” gewählt haben, tagtäglich mit den Schattenseiten dieser Entscheidung konfrontiert. Die Nachteile lasten auf ihnen, auch wenn sie diese, angesichts der Vorteile, als unausweichlich hinzunehmen bereit sind und nicht weiter darüber nachdenken.

Krankheit ist oft mit Leiden verbunden, aber nicht jeder, der leidet, ist auch krank. Es ist völlig normal, seelisch unter unerträglichen Lebensbedingungen zu leiden. Wenn jedoch seelisches Leiden stets als “psychische Krankheit” aufgefasst wird, dann liegt es nahe, den Leidenden ausnahmslos Psychopharmaka zu verabreichen. Wären diese dann auch noch effektiv und ohne Nebenwirkungen, die der Konsument erkennen kann, dann hieße es schnell: Der Zweck heiligt die Mittel.

Man könnte nun wirklich fragen, was denn daran so schlimm sei, dass fragwürdige Verhältnisse nicht geändert würden, wenn es einen chemischen Weg gebe, das Leiden daran zu lindern oder gar auszumerzen. Unter dem Gesichtspunkt von Kosten und Nutzen könnte die chemische Lösung doch die vernünftigste sein, und zwar für Individuum und Gesellschaft gleichermaßen.

Es gibt Menschen mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit. Das ist keineswegs ein Glück. Diese Menschen fügen sich selbst häufig schwere Schäden zu, weil sie zu spät bemerken, dass sie sich verletzen. Eine chemisch induzierte Unempfindlichkeit für seelische Schmerzen hätte dieselben verheerenden Folgen, wenngleich diese Folgen nicht unmittelbar sichtbar würden.

  • Wer aufgrund eines Gendefekts keinen Schmerz verspürt, der verbrennt sich vielleicht, weil er nicht fühlt, dass ein Gegenstand heiß ist – aber er wird dies an den Spuren der Verbrennung schnell bemerken.
  • Doch bei einem seelisch Schmerzunempfindlichen ist dies nicht der Fall. Vielmehr werden Probleme nicht in Angriff genommen, weil nichts dazu drängt. Die Konsequenzen, die eine perfekte Psychiatrie für die Gesellschaft hätte, wären alptraumhaft.

Ja, es ist wunderbar, dass “psychisch Kranke” stigmatisiert werden – vor allem, wenn sie darunter leiden. Das zeigt nämlich, dass sie es noch können.

Ein Ratgeber zur Vorbeugung psychischer Krankheiten

Spätestens nunmehr habe ich mir den Vorwurf eingehandelt, unerträglich zynisch zu sein. Immer nur zu kritisieren, sei destruktiv und defaitistisch; wer von der Praxis keine Ahnung habe und auch keine Lösung wisse, solle besser die Klappe halten.  Derlei Anwürfe muss ich nicht auf mir sitzen lassen. In Theorie und Praxis bin ich mit dem Problemfeld bestens vertraut. Die Früchte meiner Erfahrungen und Erkenntnisse habe ich hier in knappen Worten zusammengefasst:

Wenn in Ihnen, verehrte Leserin und ggf. Leser, auch nur der leiseste Verdacht aufkeimt, Sie hätten eine “psychische Krankheit”, dann ist schnelles Handeln geboten. Dieser Verdacht ist nämlich ein untrügliches Anzeichen dafür, dass bei Ihnen eine Psychodiagnostizitis im Anzug ist. Doch keine Panik! Sie haben es in der Hand. Uralte Weisheit und neue Erkenntnisse der Wissenschaft helfen Ihnen. Durch einige einfache Tricks können Sie den Ausbruch der Krankheit verhindern. Bitte bedenken Sie: Je schneller Maßnahmen ergriffen und je konsequenter sie verwirklicht werden, desto größer sind die Erfolgsaussichten. Also, nur Mut! Fangen Sie sofort damit an, sich vor größerem Schaden zu bewahren. Nehmen Sie die Sache nicht auf die leichte Schulter.

  1. Lesen Sie ab sofort keine Artikel in Zeitungen oder Zeitschriften mehr, die sich mit “psychischen Krankheiten” beschäftigen. Diese Texte sind Gift für Sie. Achten Sie auch darauf, dass sie nicht durch lieblich duftende und süß schmeckende Berichte über Lust und Leid von Prominenten in die Falle gelockt werden; auch diese Artikel bergen sehr oft, gut versteckt, die Keime der Krankheit. Das Psychodiagnostizitis-Virus lauert überall da, wo es um Herz und Schmerz, Triumph und Niederlage der Reichen und Schönen geht. Meiden Sie ebenso Fernsehsendungen und Kinofilme, die geeignet sind, das Virus zu verbreiten.
  2. Geben Sie von nun an keine psychiatrischen Diagnosen mehr in die Suchmaschinen des Internets ein. Sie wissen ja, dass Sie sich im Internet all die gefährlichen Viren einfangen können, die Ihren Computer gefährden – viel schlimmer noch als jedes Computervirus ist ein Virus, das ihr Selbstbild infiziert, nämlich das Psychodiagnostizitis-Virus. Wahrscheinlich haben Sie schon davon gehört, dass Krankenhäuser ein Dorado von Keimen sind; daher meiden Sie die Websites psychiatrischer Kliniken, psychotherapeutischer Praxen oder psychosomatischer Einrichtungen. Ihr Organismus ist ja bereits geschwächt und die Ansteckungsgefahr ist viel zu groß. Falls Sie versehentlich auf eine Website mit psychodiagnostischen Begriffen stoßen sollten, surfen Sie sofort weiter; es sei denn, sie würden auf Seiten mit dem Qualitätssiegel “Pflasterritzenflora” stoßen. Seiten mit dieser Kennzeichnung sind garantiert keimfrei.
  3. Suchen Sie ab sofort nicht mehr das Gespräch mit Partnern, Freunden, Bekannten und Verwandten über psychische Krankheiten im Allgemeinen oder Ihren Verdacht, sie selbst seien betroffen, im Besonderen. Achten Sie darauf, nicht in derartige Gespräche hineingezogen zu werden. Wechseln Sie sofort das Thema. Wenn die Grippe grassiert, dann lassen Sie sich ja auch nicht anhusten, wenn es sich vermeiden lässt. Seien Sie gewarnt: Bereits vom Psychodiagnostizitis-Virus Infizierte neigen krankheitsbedingt dazu, ihre Opfer mit unverfänglichem Gesprächsstoff zu umgarnen, um sich dann Schritt für Schritt, sehr zart fühlend, an ihr eigentliches Anliegen heranzutasten, nämlich die Weitergabe ihres Virus, das ihren Geist voll im Griff hat.
  4. Wenn eine Erkältung im Anzug ist, soll man viel trinken, beispielsweise Kräutertee mit Honig. Droht der Ausbruch der Psychodiagnostizitis, soll man viel lesen, nämlich Texte, die abhärten und das seelische Immunsystem stärken. In ihre seelische Hausapotheke gehören beispielsweise die Schriften des amerikanischen Psychiaters Thomas Szasz. Während seines langen Lebens hat er Tausende und Abertausende von Seelen gerettet, von denen viele ohne ihn wohl für immer verloren gewesen wären. Versichern auch Sie sich seiner Hilfe. Die Anwendungen sollten möglichst regelmäßig erfolgen, auf jeden Fall aber vor einem Treffen mit der besten Freundin oder ähnlichen Infektionsquellen. Lassen Sie sich vom zunächst bitteren Geschmack dieser Medizin nicht abschrecken: Sie werden sich daran gewöhnen und nach geraumer Zeit wollen Sie auf dieses geistige Heilmittel nicht mehr verzichten.
  5. Es ist für Sie vermutlich selbstverständlich, für Sauberkeit in Ihrer Wohnung oder an Ihrem Arbeitsplatz zu sorgen. Aber wie steht es um Ihre Innenwelt? Achten Sie darauf, dass keine schmutzigen Gedanken dort ihre Spuren hinterlassen. Sobald Ihnen ein Begriff aus dem thematischen Feld der “psychischen Krankheiten” in den Sinn kommt, sollten Sie die Technik des Gedankenstopps anwenden. Wenn Sie allein sind, rufen Sie bei solchen Gedanken laut “Stopp!”; in Gegenwart von anderen, machen Sie mit diesem dann nur gedachten Stopp im Stillen möglichst viel Lärm. Seien Sie konsequent: Sobald sich ein Gedanke auf eine “psychische Krankheit” bezieht: Stopp!
  6. Falls die Psychodiagnostizitis bereits weiter vorangeschritten ist, wird Ihnen krankheitsbedingt der Gedanke kommen, fremde, gar professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Hier hilft die Technik der kognitiven Umstrukturierung. Sie müssen es nur versuchen: Wenn Sie es an Beharrlichkeit und Selbstvertrauen nicht fehlen lassen, dann werden Sie nach geraumer Zeit oft eine Vielzahl von Möglichkeiten entdecken, wie Sie an die Stelle der Hilfe durch Fremde die Selbsthilfe treten lassen können. Die Gewissheit, dass fremde Hilfe bei psychischen Problemen ohnehin nicht funktioniert, wird Sie zur Anwendung dieser Technik der kognitiven Umstrukturierung motivieren.
  7. Falls Sie das Gefühl haben sollten, dass Ihre Kräfte beim Kampf gegen den Ausbruch der Psychodiagnostizitis erlahmen, helfen alte Hausmittel, wie beispielsweise kalte oder warme Wadenwickel. Gute Erfolge werden auch erzielt, wenn man sich einfach nur wiederholt an den Kopf greift. Ist man allein, kann man zusätzlich ausrufen: “Ja, bin ich denn bescheuert?” Falls möglich, packen Sie Ihre Koffer und ab geht’s in den Urlaub. Sie werden sich dort, aller Voraussicht nach, weniger an den Kopf greifen müssen. Weniger aufwändig sind guter Sex, ein Besuch im Lieblingsrestaurant; andere bekannte Hausmittel, wie das Ärgern des Nachbarn, sind nicht ohne Tücken und vorsichtig zu dosieren.
  8. Die Psychodiagnostizitis kann jeden befallen; aber das Virus sucht sich vor allem jene Zeitgenossen aus, die innerlich geschwächt sind. Machen Sie also Ordnung in Ihrer Innenwelt. Wenn Ihr Selbstbild keine dunklen Stellen hat, dann kann sich das Virus auch nicht einnisten. Um Karies und Parodontose zu vermeiden, reicht es ja auch nicht, sich die Zähne nur mit der normalen Bürste zu putzen, nein, die potenziellen Nistplätze der kariogenen Keime in den Zahnzwischenräumen müssen ebenfalls peinlich rein gehalten werden. Dafür gibt es Interdentalbürstchen. Und so ist es auch mit Ihrer Seele. Lassen Sie, aus Furcht und Scham, keine unklaren Bereiche in ihrem Innenleben bestehen. Setzen Sie sich mutig mit diesen unerforschten Zonen ihres Selbsts auseinander; sonst droht die Seelenfäule, die Psychodiagnostizitis. Beim Zahnarzt mag die regelmäßige professionelle Zahnreinigung sinnvoll sein; im Falle der Seelenfäule können aber nur Sie selbst einer Erkrankung vorbeugen, denn die Stellen, um die es hier geht, können allein Sie selbst erreichen.
  9. Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Es ist heutzutage ja Mode, anderen Leuten eine “psychische Krankheit” anzudichten, um sie zu kränken, zu diskreditieren oder aus dem Weg zu räumen. Oft werden solche Aggressionen als Rat und wohlmeinende Sorge um den lieben Nächsten getarnt. Lassen Sie sich dadurch nicht täuschen. Es handelt sich hier immer um eine Attacke gegen Sie – sei es aus Arglist und Niedertracht, sei es aus Ignoranz und Oberflächlichkeit. Sie müssen stark bleiben und zur Not zurückschlagen. Wehren Sie sich mit allen Mitteln gegen diese Etikettierung.
  10. Lassen Sie sich nicht verführen. Wenn einem die Arbeit über den Kopf wächst, wenn man sich zukünftigen Aufgaben nicht gewachsen fühlt, ist es verlockend, sich eine “psychische Krankheit” zuzulegen. Und es ist leicht, mit diesem Betrug und/oder Selbstbetrug durchzukommen. Körperliche Krankheiten kann man meist nachweisen, wohingegen es das Charakteristikum der psychischen Krankheiten ist, dass man sie eben nicht nachweisen kann. Diese Diagnosen sind subjektiv, nicht objektivierbar. Sie haben also, ein wenig schauspielerisches Talent vorausgesetzt, leichtes Spiel, wenn sie gern eine solche Diagnose erhalten möchten. Lassen Sie dennoch die Finger davon. Wenn Sie dies nicht tun, dann verhalten Sie sich wie eine Alkoholikerin oder ein Alkoholiker. Sie nehmen für einen kurzfristigen Nutzen einen langfristig unvergleichlich größeren Schaden in Kauf (sofern Sie sich noch Ihren Stolz bewahrt haben). Halten Sie Disziplin. Wehren Sie sich gegen Ihre Neigung zur verantwortungslosen Bequemlichkeit.

Nehmen Sie die Psychodiagnostizitis nicht auf die leichte Schulter. Es handelt sich um eine schwere Erkrankung. Die Betroffenen werden mutlos, von anderen abhängig, trauen sich nichts mehr zu, übersehen Lebenschancen und werden schlussendlich völlig verantwortungslos gegenüber sich selbst und ihren Mitmenschen.

Hier handelt es sich um eine Krankheit der besonderen Art. Sie bedarf des Arztes nicht. Da sie eine iatrogene Krankheit ist, muss der Arzt sogar gemieden werden. Definitionsgemäß ist hier die Selbsthilfe der einzige Erfolg versprechende Weg zur seelischen Gesundheit. Unterstützend wirken die von Dr. Szasz wiederentdeckten Naturheilmittel, wie man sie beispielsweise in der Pflasterritzenflora pflücken kann. Bitte zehn Minuten ziehen lassen und heiß lesen.

Welche Rolle soll man spielen?

Scherz beiseite: Die “psychische Gesundheit” ist ebenso wie die “psychische Krankheit” ein Rollenspiel. Wenn Sie die Rolle des “psychisch Gesunden” spielen, werden weiterhin die Stürme des Lebens an Ihnen zausen und Sie nur zu oft niederdrücken. Häufig genug werden sie Grund haben, sich elend und allein zu fühlen, nicht selten werden Sie dazu verführt werden, sich eine “Depression” oder etwas Ähnliches zu genehmigen. Und ich weiß nicht, ob dies nicht vielleicht besser für Sie wäre. Die Rolle des “psychisch Gesunden” zu spielen, kann wesentlich anstrengender sein als die des “psychisch Kranken”, und ob sie größeren Ertrag abwirft, bleibt dahingestellt.

Eine Garantie dafür, dass man als “psychisch Gesunder” besser fährt, denn als “psychisch Kranker”, gibt es nun einmal nicht. Daher kann ich hier auch nicht mit gutem Rat aufwarten. Krank oder gesund? Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wenn Sie sich nicht entscheiden können, welche Rolle sie spielen möchten, dann kann ich Ihnen allerdings eine Variante empfehlen, die soweit wie möglich die Vorzüge beider Rollen miteinander vereint. Das geht so: Verteufeln Sie die Psychiatrie. Werfen Sie ihr vor, sie als “psychisch krank” zu verunglimpfen. Weisen Sie dies weit von sich. Bezeichnen Sie Psychiater als Nazis und als käufliche Handlanger der Pharmaindustrie. Zugleich machen Sie für all Ihre Missgeschicke neben der Psychiatrie weitere finstere Mächte verantwortlich, z. B. Täter, die Sie in Kindheit und Jugend traumatisiert haben, die Hartz-4-Behörden, die Illuminaten, die Bilderberger, die Männer, die Frauen, die Besendung durch umgebaute Mikrowellenherde, wen und was auch immer. Jedoch achten Sie darauf, dass kein Schatten auf Sie selbst fällt.

Ich weiß nicht, welche der genannten Rollen die beste ist. Es kommt wohl immer auf den Einzelfall an. Einen Rat, noch einmal, nein, den weiß ich nicht, wirklich nicht. Kierkegaard schrieb in “Entweder – Oder”:

“Verheirate dich, du wirst es bereuen; verheirate dich nicht, du wirst es auch bereuen. Heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen. Verlache die Torheiten der Welt, du wirst es bereuen; beweine sie, beides wirst du bereuen. Traue einem Mädchen, du wirst es bereuen; traue ihm nicht, du wirst auch dies bereuen. Fange es an, wie du willst, es wird dich verdrießen. Hänge dich auf, du wirst es bereuen; hänge dich nicht auf, beides wird dich gereuen. Dieses, meine Herren, ist der Inbegriff aller Lebensweisheit.”

Anmerkungen

(1) Freud, S. (1933). Angst und Triebleben. In: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Seite 152
(2) Markus: Die Heilung eines Gelähmten

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Ist die Psychiatrie ein notwendiges Übel?

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Das gute Haar

Manche werfen mir vor, ich sei ein polemischer, einseitiger, feindseliger, unausgewogener Kritiker der Psychiatrie und ließe kein gutes Haar an dieser. Scherzhaft könnte ich auf diesen Anwurf mit einem Spruch des Schauspielers und Kabarettisten Wolfgang Neuß antworten:

“Ein gutes Haar würde ich ihr ja gern lassen, allein, ein Haar macht sich nicht gut auf einer Glatze.”

Scherz beiseite: Wenn man eine Institution, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für notwendig gehalten wird, nicht nur wegen einzelner Missstände, sondern fundamental angreift, dann muss man schon verdammt gute Gründe dafür haben. Schließlich kümmert sich die Psychiatrie zweifellos um leidende Menschen sowie deren Angehörige, Freunde, Arbeitgeber, Lehrer usw.

Angesichts all dieses Leides fällt es manchen Leuten schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich auf sachliche Argumente zu beschränken. Mit persönlichen Angriffen, oft der widerlichsten Art, muss jeder rechnen, der die Psychiatrie grundsätzlich in Frage stellt. Schnell wird man als Scientologe, als uneinsichtig psychisch krank oder als durchgeknallter Verschwörungstheoretiker verdächtigt.

Wer nicht von starken Überzeugungen oder gar missionarischem Eifer beseelt ist, wird sich von derlei Angriffen in aller Regel mundtot machen lassen. Obzwar nämlich die allermeisten Psychiatriekritiker weder Scientologen, noch uneinsichtig psychisch krank oder durchgeknallte Verschwörungstheoretiker sind, sehen sie sich schnell in die Rolle des Verteidigers in eigener Sache gedrängt und ihr eigentliches Anliegen gerät aus dem Blick.

Die Vehemenz der Angriffe, trotz sachlich vorgetragener Psychiatriekritik, zeigt allerdings, dass sie, ganz gleich, was sie aufs Korn nimmt – Diagnostik, Psychotherapie, medikamentöse Behandlung, Elektrokrampftherapie, Forensik, Zwang etc. – stets empfindlich wunde Punkte berührt. Mich erstaunt es immer wieder, welche Aufwallungen Psychiatriekritik hervorzurufen vermag – trotz der gewaltigen Macht, durch die sich dieses System ungebrochen auszeichnet und durch die es vor Angriffen eigentlich geschützt sein sollte. Wenn man den Rest der Medizin kritisiert, muss man jedenfalls nicht mit Empörung dieses Ausmaßes rechnen, bei weitem nicht.

Auch wenn man vielleicht nicht alles, was dort geschieht, für gut hält, so betrachtet die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Psychiatrie dennoch für unverzichtbar. Und wenn auch einige der wortreichsten Verteidiger der Psychiatrie und Pharmaindustrie hier im Internet wohl auf den Gehaltslisten einschlägig interessierter Kreise stehen, so dürften doch die meisten ihrer Fürsprecher in Foren, Netzwerken oder im Usenet uneigennützig ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass eine fundamentale Psychiatriekritik den Interessen leidender Menschen schade und daher zu unterbleiben hätte.

Wer dennoch unverdrossen Psychiatriekritik übt, hat entweder ein dickes Fell oder er ist sehr leidensfähig. Ich habe weder das eine, noch bin ich das andere. Um also Attacken gegen mich möglichst abzumildern, trage ich meine Kritik an der Psychiatrie stets in den moderatesten Tönen vor, mildere sie ab, wo es eben nur geht und meide mitunter sogar allzu verfängliche Problemzonen. Auch im weiteren Verlauf dieses Textes werde ich meine Argumente gleichsam in Watte packen, damit sie empfindliche Gemüter nicht verletzen können.

Psychisch krank?

Der übergeordnete Ansatz einer fundamentalen Psychiatriekritik ist der Begriff der “psychischen Krankheit”. Mitunter spricht man auch von einer “psychischen Störung mit Krankheitswert”. Nur wenige Zeitgenossen zweifeln an der Existenz solcher Krankheiten. Und in der Tat existieren diese ja auch, nämlich als Begriffe, Vorstellungen, Mutmaßungen. Sie haben den ontologischen Status des berühmten Einhorns. Niemand hat dieses Fabelwesen in der Realität jemals gesehen, aber es existiert fraglos in der Fantasie.

Würde ein solches Tier jemals entdeckt und von Biologen eindeutig als eigenständige Spezies klassifiziert, so hörte es auf, ein Fabelwesen zu sein. Entsprechendes gilt für die so genannten psychischen Krankheiten. Würden jemals Hirnstörungen als Grundlage eines Musters abweichenden Verhaltens identifiziert, so hörte die entsprechende “psychische Krankheit” auf, eine bloße Fiktion, ein Fantasiegebilde zu sein. Wir hätten es dann mit einer realen neurologischen Krankheit zu tun.

Aber selbst eine solche, durch neurologische Befunde objektivierte Krankheit wäre kein wertfreier wissenschaftlicher Begriff. Denn unabhängig von der vorliegenden Hirnstörung wäre die Einstufung des entsprechenden Verhaltensmusters als Krankheit eine Bewertung, und zwar eine negative. Wird nämlich ein Verhaltensmuster als Ausdruck einer Krankheit eingestuft, so bedeutet dies, dass man es für notwendig erachtet, dieses Verhaltensmuster zu verändern, es durch ein “gesundes” zu ersetzen.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnte für keine der gängigen “psychischen Krankheiten” eine Hirnstörung nachgewiesen werden. In den Medien werden zwar immer wieder Kausal-Hypothesen als erwiesene Erkenntnisse verkauft, aber in der psychiatrischen Fachliteratur wird eingeräumt, dass die biologischen Grundlagen dieser “Erkrankungen” bisher ungeklärt sind. Dies gilt nicht nur für die selbst in Psychiaterkreisen umstrittenen Störungen wie beispielsweise die “Dissoziative Identitätsstörung” oder die “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung”, sondern dies trifft auch auf die etablierten Diagnosen wie beispielsweise Schizophrenie, Depressionen und die bipolaren Störungen zu. Näheres und wissenschaftliche Belege hierzu finden sich beispielsweise in meinem Tagebucheintrag: “Die psychiatrische Diagnostik“. Bei all diesen angeblichen Krankheiten sind also die biologischen Grundlagen nach wie vor unbekannt und wären sie bekannt, dann müsste man sie logischerweise als neurologische und eben nicht als psychische Krankheiten einstufen.

Man könnte nun einwenden, dass man auch dann legitimerweise von Krankheit sprechen dürfe, wenn keine Störungen des Gehirns für die Symptome verantwortlich seien. Die Schwierigkeiten, die mit dieser Auffassung verbunden sind, zeigen sich besonders eindrücklich bei den so genannten Depressionen.

In der neuesten Version des diagnostischen Handbuchs DSM (Version 5) der amerikanischen Psychiatervereinigung “American Psychiatric Association” (APA) wurde gegenüber der Vorgängerversion u. a. bei dieser Diagnose eine Änderung vorgenommen. Galt früher die Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen als normal, sofern sie nicht übermäßig lang ausgedehnt wurde, so wird sie heute bereits als Anzeichen einer depressiven Störung aufgefasst, wenn sie zwei Wochen überdauert (was üblicherweise der Fall sein dürfte). Da es keine objektiven Tests gibt, mit denen man das Vorliegen einer “depressiven Erkrankung” feststellen könnte, ist es natürlich eine philosophische Frage, ob man Trauer als depressiv oder als notwendiges Anzeichen eines “gesunden” seelischen Bewältigungsprozesses auffasst.

Gegen philosophische Diskurse habe ich nichts einzuwenden; auch nichts gegen Debatten über Werte oder den Sinn des Lebens. Der medizinische Diskurs ist aber nicht als ein philosophischer angelegt, sondern, heute noch viel ausgeprägter als in früheren Zeiten, als Diskurs einer angewandten Naturwissenschaft. Der naturwissenschaftliche Diskurs zeichnet sich durch das Signum der Objektivität aus, und dies zu recht, weil die Naturwissenschaft experimentiert, systematisch beobachtet und ihre Hypothesen einer empirischen, intersubjektiven Überprüfung unterzieht.

Wenn nun die Psychiatrie einen “philosophischen” Krankheitsbegriff in diesen naturwissenschaftlichen Diskurs einbringt, so suggeriert sie eine Objektivität, die einer philosophischen Wertediskussion naturgemäß nicht innewohnt. Dadurch wird die Psychiatrie, unabhängig vom guten Willen der beteiligten Psychiater, zu einer dogmatischen Disziplin, weil sie die philosophische Natur ihres Krankheitsbegriffs nicht reflektiert.

Wir erkennen dies besonders krass an den psychiatrischen Diagnosen. Da man ja das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” nicht mit objektiven, naturwissenschaftlich fundierten Tests überprüfen kann, ist die psychiatrische Diagnose nichts weiter als eine Bewertung, als eine subjektive, durch Tatsachen nicht begründbare Meinung des Diagnostikers. Die Psychiatrie versteckt diesen unbestreitbaren Sachverhalt hinter einer Fassade aus Autorität und “klinischer Erfahrung”.

Es kommt im Übrigen nicht gerade selten vor, dass ein Mensch von mehreren Psychiatern voneinander abweichende Diagnosen erhält. In diesen Fällen ist es allerdings nicht möglich, beispielsweise anhand von Biomarkern zu entscheiden, welche der divergierenden Diagnosen zutrifft. Es gibt keine Möglichkeit, dies objektiv festzustellen. Doch damit nicht genug. Das diagnostische Denken der Psychiatrie lässt es gar nicht zu, dass eine Diagnose durch Fakten widerlegt werden kann. Denn die Psychiatrie räumt sich das Recht ein, auch dann vom Vorliegen einer psychischen Krankheit zu sprechen, wenn der angeblich Erkrankte die für diese “Krankheit” charakteristischen “Symptome” gar nicht zeigt. Der Psychiater behauptet dann unter Umständen und nach Belieben, dass der “Kranke” die “Krankheit” dissimuliere.

Wer heilt, hat recht

Dieser alte Spruch trifft, wenngleich er häufig zur Rechtfertigung von Hokuspokus missbraucht wird, durchaus uneingeschränkt zu. Wer heilt, hat recht, sofern er tatsächlich geheilt hat, und ihm die Heilung nicht nur zugeschrieben wird. Die Psychiatrie ruht auf zwei Säulen, nämlich der Psychopharmaka-Behandlung auf der einen und der Psychotherapie auf der anderen Seite.

  • Die positiven Wirkungen eines Medikaments setzen sich stets aus zwei Komponenten zusammen, nämlich dem pharmakologischen und dem Placebo-Effekt. Dies bedeutet, dass auch bei einem pharmakologisch effektiven Medikament immer auch ein zusätzlicher Placebo-Effekt zur Gesamtwirkung beiträgt. Staatlich finanzierte Studien zeigen nun, dass bei den Antidepressiva der pharmakologische Eigenanteil an der Gesamtwirkung winzig und vielfach gar nicht vorhanden ist. Auch bei den anderen Psychopharmaka ist er nicht sehr bedeutsam. Die schädlichen Nebenwirkungen sind aber dennoch sehr real und keineswegs eingebildet. Langzeitstudien haben ergeben, dass die so genannten Neuroleptika zur Behandlung von Psychosen den Betroffenen langfristig mehr schaden als nutzen. Der dänische Arzt und Gründer des Nordic Cochrane Centre vertritt die Auffassung, dass sämtliche Psychopharmaka vom Markt genommen werden müssten (1). Das Nordic Cochrane Centre gehört zum Verband der Cochrane Collaboration, einer weltweiten Institution zur medizinischen Qualitätssicherung.
  • Die Psychotherapieforschung hat gezeigt, dass die Effekte der Psychotherapie weitgehend von den eingesetzten Therapieformen unabhängig sind und dass der entscheidende Faktor ebenfalls im Bereich des Glaubens zu suchen ist: Der Erfolg hängt überwiegend davon ab, ob Therapeut und Patient davon überzeugt sind, dass die Behandlung ein Erfolg sein wird. Näheres und empirische Belege hierzu finden sich in meinem Tagebucheintrag: “Ist Psychotherapie die bessere Form der Psychiatrie?”

Wer heilt, hat recht. Zweifellos. Wir sehen hier aber, dass weder in der Psychopharmaka-Behandlung, noch in der Psychotherapie der Psychiater oder Psychotherapeut diesbezüglich die entscheidende Rolle spielt. Was auch immer nach einer Behandlung Positives geschehen mag – dies hängt im Wesentlichen nicht vom Produzenten der medizinischen Dienstleistungen, sondern von ihren Konsumenten ab. Die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit der “Patienten” entscheidet letztlich darüber, ob die Behandlung ein Erfolg wird.

Anders ist dies bei den so genannten unerwünschten Nebenwirkungen. Bei diesen ist nur zum Teil der Patient selbst beteiligt, wenn er nämlich einem Nocebo-Effekt unterliegt (indem er beispielsweise durch eine “biologische” Erklärung seiner “Krankheit” entmutigt wird). Ein erheblicher Teil der Schadwirkungen aber tritt völlig unabhängig vom Bewusstsein des Patienten als Folge beispielsweise der chemischen Eigenschaften eines “Medikaments” ein.

Im Reich der Fantasie

Die moderne Psychiatrie gaukelt ihren Patienten zwar vor, an einer körperlich begründeten Krankheit zu leiden, die mit biologischen Mitteln behandelt werde, aber in der Praxis spielt nach wie vor die Seele die entscheidende Rolle. Die Psychiatrie ist eine Seelenlandschaft, die sich zwischen den Polen von Placebo und Nocebo, von Verführung und Zwang entfaltet. Immer dann, wenn hier der Körper ins Spiel kommt, dann vor allem als Objekt von Maßnahmen, die ihm teilweise erheblich schaden können. Das Entscheidende aber, um das es, zumindest vordergründig, geht, die Einwirkung auf die Psyche nämlich, findet im Reich der Fantasie statt.

Dies ist weniger überraschend, als es auf den ersten Blick scheint. Man kann nämlich mit den Mitteln der Hypnose sämtliche Symptome “psychischer Erkrankungen” suggerieren. Man kann – zuvor völlig normale, geistig gesunde – Menschen dazu bringen, visuell zu halluzinieren, Stimmen zu hören, an Wahnideen zu glauben, man kann ihnen psychotische Ängste einjagen und sie zutiefst depressiv stimmen, man kann sie hyperaktiv und lethargisch machen (2).

Hypnose funktioniert aber nur, wenn der Hypnotisierte sich dazu bereitfindet, sich den Willen des Hypnotiseurs zu eigen zu machen. Dies bedeutet, dass die Symptome der so genannten psychischen Krankheiten ein Produkt der Fantasie des angeblich Kranken sind. Dass man bisher keine Hirnstörungen ausfindig machen konnte, die für diese Symptome verantwortlich sind, ist daher nicht weiter erstaunlich. Die Hypnose ist ein kommunikativer Prozess.

Es ist im Übrigen keineswegs erforderlich, dass sich Hypnotisand und Hypnotiseur bewusst sind, einen hypnotischen Prozess zu durchlaufen bzw. ihn zu begleiten. Dieser muss auch nicht absichtlich angestrebt werden. Es kommt einzig und allein darauf an, ob das hypnotische Rollenspiel stattfindet. Ein Hypnotisand in einem entspannten, rezeptiven Zustand lauscht einer autoritativen, suggerierenden Stimme und unterwirft sich freiwillig dem Willen, der sich in dieser Stimme ausdrückt – genauer, er identifiziert sich mit diesem Willen, so, als ob es der eigene wäre.

Die so genannten psychischen Krankheiten sind kommunikative Prozesse. Gehorsam spielt dabei eine gewaltige Rolle. Ohne Suggestionen gäbe es keine “psychischen Krankheiten”. Sie beruhen jedoch nicht nur auf Fremdsuggestionen, sondern auch auf Autosuggestionen. Die Autosuggestionen sind sogar der Motor, der die Betroffenen dazu bringt, sich selbst als Akteure in einem therapeutischen Theater zu inszenieren. Sie leiden unter seelischen Konflikten, die in sozialen und ökonomischen Schieflagen wurzeln, und sie unterliegen der Suggestion, dass sie als “psychisch Kranke” (also als Unvernünftige, Irre, heillos Verzweifelte, Traumatisierte) diese Konflikte am besten bewältigen könnten. Und so führen sie sich dann auch auf.

In der Realität

All dies liegt weit jenseits der Themenfelder, die der medizinisch-naturwissenschaftliche Diskurs aufspannt. Dogmatismus, gleich welcher Art, hilft hier nicht weiter, erst recht der psychiatrische nicht. Es geht hier nicht um Krankheiten, sondern um Lebensprobleme und um Lebensstile, die sich als Reaktion darauf eingestellt haben. Diese Lebensstile können riskant, mitunter auch gefährlich für die Mitmenschen des jeweiligen Akteurs sein, durchaus. Den Akteur deswegen als “psychisch krank” einzustufen, ist aber höchst kontraproduktiv, denn dieses Etikett

  • stigmatisiert die Betroffenen, kann Partnerschaften, Ehen, Freundschaften zerstören, zum Verlust des Arbeitsplatzes und zum sozialen Tod führen
  • entlastet den “Patienten” von der Verantwortung für sein Verhalten und demotiviert ihn
  • zwingt ihn zur Übernahme einer Krankenrolle und deformiert dadurch sein Selbstbild
  • vermindert die ohnehin meist erheblich beeinträchtigte Selbstachtung.

Doch die Auswirkungen der Psychiatrie sind nicht nur für einzelne Individuen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt fatal. Über jedem Bürger nämlich schwebt das Damoklesschwert einer psychiatrischen Diagnose. Da psychiatrische Diagnosen subjektiv, also objektiv nicht überprüfbar sind, kann es jeden treffen. Jeder weiß oder kann wissen, dass es auch ihn erwischen kann, wenn er sich für andere rätselhaft aufführt, wenn er andere stört oder wenn er gar den Reichen und Mächtigen in die Quere kommt.

Auch wenn den Menschen dieses Damoklesschwert nicht immer bewusst ist, so wirkt es dennoch, Tag und Nacht, unbewusst und kontrolliert das Verhalten und Erleben. Dies verstärkt den Konformismus, die Homogenisierung der Gesellschaft und dies trägt damit zur Sterilität und zum Verlust von Kreativität bei. Das Leben wird öde und langweilig, angepasst und spießig – und in den Tiefen manch derart malträtierter Seele brodelt Unbehagen, Hass, Lebensüberdruss.

Zwar bestreite ich die Existenz psychischer Krankheiten, nicht aber das Vorliegen von Mustern des Verhaltens und Erlebens, auf die sich diese Diagnosen beziehen. Es gibt selbstverständlich Menschen, die durch psychische Probleme belastet sind und auch für andere zur Belastung oder gar zur Bedrohung werden.

All diese Menschen könnten sich selber helfen, wenn sie nur erkennen würden, dass der von ihnen, als Antwort auf ihre Lebensprobleme, gewählte Lebensstil nicht der einzig mögliche und keinesfalls ein wirklich sinnvoller ist. Ob sie sich nach dieser Erkenntnis ändern wollen, ist eine andere Frage. Dies müssen sie selbst entscheiden und ggf. für die jeweiligen Konsequenzen einstehen.

Hilfe

Aus pragmatischer Sicht muss man aber einräumen, dass eine beträchtliche Zahl dieser Menschen mit fragwürdigen Lebensstilen nicht in der Lage ist, diese zu überwinden, selbst wenn sie es möchten oder dies zumindest vorgeben. Wer, wenn nicht die Psychiatrie, soll ihnen die nachgefragte und mitunter auch erforderliche Hilfe bieten?

Leute und Organisationen, die sich gern an die Stelle der Psychiatrie setzen möchten, gibt es ja genug. Der Esoterikmarkt boomt, Kulte und Sekten haben Zulauf. Manche Psychokulte, wie beispielsweise Scientology, gerieren sich sogar als direkte Konkurrenz zur Psychiatrie und bieten “Technologien” zur “Klärung” eines “unklaren” Geistes an. Wer meinen Ausführungen bisher gefolgt ist, kann sich vermutlich ausmalen, was ich von diesen “alternativen” Angeboten halte.

Esoterik und Psychokulte verfehlen das Problem nicht minder als die Psychiatrie, nur ein klein wenig anders, das ist das “Alternative” daran. Ob nun das Heil in der fernen Geisteswelt Indiens oder im Reich der Schamanen oder, wie bei Scientology, in Hollywood gesucht wird, spielt keine Rolle; man wird es dort ebenso wenig finden wie im Hirn, von dessen Störungen die Psychiatrie fabuliert.

All diese Ansätze und die Psychiatrie eint der Glaube, dass die Individuen im Brennpunkt aller Bemühungen stehen müssten, weil deren “Krankheit” ein Prozess sei, der in ihrem Inneren ablaufe. Zur Art dieses Prozesses mag man unterschiedlicher Meinung sein – die einen glauben an feinstoffliche Energien, die anderen an chemische Ungleichgewichte -, im Grundsätzlichen aber stimmt man überein: Die maßgeblichen Ursachen der “Krankheit” sind im Individuum zu suchen.

Allein: Dass sie tatsächlich dort liegen, konnten bisher weder die Psychiatrie, noch ihre Konkurrenten in esoterischen Gefilden nachweisen. Und es gibt auch keinerlei Anzeichen, die darauf hindeuten, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern könnte. Aus meiner Sicht ist es vielmehr an der Zeit, es einmal mit einem Wechsel der Perspektive zu versuchen. Nicht das als psychisch krank missverstandene Individuum, sondern die sozialen Mikrosysteme sollten im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Denn im Alltag dieser Mikrosysteme entstehen die Muster des Verhaltens und Erlebens, die heute als “psychische Krankheiten” oder als “psychische Störungen mit Krankheitswert” missdeutet werden.

  • Es ist schlicht und ergreifend katastrophal, wenn beispielsweise versucht wird, disziplinarische Probleme in der Schule durch Psychopharmaka zu lösen, anstatt durch eine Überprüfung und ggf. Änderung schulischer Organisationsformen und Abläufe.
  • Katastrophal ist es, schlicht und ergreifend, wenn Drogenprobleme durch Methadon-, Heroinprogramme oder Umerziehungslager gelöst werden sollen und nicht durch eine sinnstiftende Gestaltung des Milieus, in dem Kinder und Jugendliche aufwachsen.
  • Grauenvoll und unbegreiflich jedoch ist es, wenn alte Leute in schlecht geführten Heimen mit Neuroleptika ruhiggestellt und übers Wochenende mit falschen Diagnosen in die Psychiatrie abgeschoben werden, nur weil sich eine ansprechende Gestaltung des Heimes und ausreichend Personal aus wirtschaftlichen Gründen verbieten.

Gutsherrenart

Es liegt mir fern zu behaupten, dass soziale und ökonomische Bedingungen die Ursachen für “psychische Krankheiten” wären. Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, kann unschwer erkennen, dass dies nicht der Fall sein kann; zu verschieden reagieren unterschiedliche Menschen auf vergleichbare Bedingungen. Wohl aber lässt sich feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome psychischer Krankheiten” missdeutet werden, in Abhängigkeit von Umweltbedingungen steigt oder sinkt. Hier kann, hier muss man also eingreifen.

Die moderne Psychiatrie ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Damals wurden die gesellschaftlichen Strukturen durch den Industrialismus durcheinandergewirbelt und man versuchte, die dadurch verursachten Probleme des Verhaltens und Erlebens mittels der alten Methoden, nämlich nach Gutsherrenart durch eine strenge Hand und Gängelung der desorientierten Menschen zu lösen. Dieser Versuch war zum Scheitern verurteilt und seine Exzesse, von der Folter bis hin zur Ermordung “Geisteskranker” im Dritten Reich, waren keine zufällige Begleiterscheinung.

Die Kosten, die durch die Psychiatrie und ihre Begleitindustrie (Pharma-Wirtschaft) verursacht werden, sind gigantisch. Demgegenüber ist die Effektivität dieser Branche überaus fragwürdig. Es spricht also auch aus ökonomischer Sicht viel dafür, neue Ansätze auszuprobieren.

Echte Alternativen

Sozialarbeit und Sozialpädagogik sollten nicht mehr als Saugnäpfe der Psychiatrie fungieren, sondern eigenständig im Alltag vor Ort Hilfen anbieten, Strukturen modifizieren, Abläufe gestalten, wenn sich Schieflagen zeigen, die sich verändern lassen, auch ohne gleich das gesamte Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen müssen (was vielleicht wünschenswert wäre, aber als utopisch hier nicht erwogen werden soll).

Dabei wären die Interventionen natürlich nicht nach dem Muster des Arzt-Patienten-Verhältnisses zu gestalten, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe. Hier der aktive, wissende Arzt – dort der unwissende, folgsame Patient -: diese Art der Beziehung ist Gift, wenn es gilt, Menschen zur Eigenverantwortung und zur selbständigen Problemlösung zu ermutigen und ggf. anzuleiten.

Ob dieser Ansatz, in großem Stil betrieben, effektiver wäre als die psychiatrische Lösung, könnte sich erst herausstellen, wenn er denn verwirklicht würde; ich glaube fest daran, dass er es ist, und zwar erheblich. Sicher ist jetzt schon, dass er deutlich billiger wäre. Sogar großzügig ausgestattete Selbst- bzw. sozialarbeiterisch, sozialpädagogisch und semiprofessionell angeleitete Hilfe ist nun einmal kostengünstiger als eine Armee von Psychiatern mit ihren Hilfskräften sonder Zahl. Warum nicht umschwenken, warum keine einschneidende Kurskorrektur? Was hat denn die Psychiatrie an nachweisbarer Leistung zu bieten?

Gute und schlechte Geschichten

Die Pflasterritzenflora ist voll von Belegen dafür, dass die Psychiatrie, im Lichte der unabhängigen empirischen Forschung betrachtet, vor einem Scherbenhaufen steht. Die Liste der Fehlleistungen ist lang und die Leistungsbilanz erscheint nur solange positiv, wie man nicht genauer hinschaut. Leider tun dies viel zu wenige. Die meisten Menschen schauen sogar nicht nur nicht hin, sondern ostentativ weg. Sie haben nichts mit der Psychiatrie zu tun, wollen dies auch nicht und sehen keinen Grund, sich mit dieser unerquicklichen, aber als notwendig erachteten Angelegenheit auseinander zu setzen.

Unter denen, die sich als direkt oder indirekt Betroffene damit beschäftigen müssen, sind die Ansichten gespalten. Die einen bewundern, ja, sie lieben ihn: den hemdsärmeligen, raubeinigen Psychodoc, der sich mit Pillenschleuder und elektrokrampftherapeutischer Stun Gun seinen Weg durch den Dschungel des Wahnsinns freikämpft und sich schließlich mit “compliant patients” zu Füßen fürs Trophäenfoto ablichten lässt.

Die anderen hassen ihn, halten ihn für ein Monster. Sie schwärmen stattdessen für den netten Irrenflüsterer, der mit guten, heilenden Worten vom Himmelreich der seelischen Gesundheit fabuliert und der seinen Patientinnen gelegentlich Postkarten aus dem Urlaub schickt, auf denen er, im Lotossitz zu Füßen seines indischen Meisters sitzend, hochglänzend zu bestaunen ist.

Selbst unter denen, die bereits Zwangseinweisungen und -behandlungen hinter sich haben, finden sich Leute, erstaunlich viele Leute, die zumindest halbwegs ihren Frieden mit der Psychiatrie gemacht haben, und die es als ihr Schicksal ansehen, gelegentlich gegen ihren Willen hinter psychiatrische Gitter verfrachtet zu werden. Nicht wenige dieser Menschen sind letztlich während des größten Teils ihres Lebens mit diesen Maßnahmen sogar einverstanden. Nur eine vergleichsweise kleine Minderheit dieser Betroffenen leistet Widerstand, organisiert sich in den Verbänden der Psychiatrieerfahrenen.

Der Mythos von der guten Psychotherapie scheint ebenso unausrottbar zu sein wie der Mythos des seelischen Apparates, der durch mechanische Eingriffe (mittels chemischer Keule) zu adjustieren sei. Es handelt sich in beiden Fällen in der Tat um Mythen, denn es gibt nicht die Spur eines Beweises dafür, dass raubeinige Psychiater oder säuselnde Psychotherapeuten mehr Gutes zu bewirken vermögen als ein Placebo und es gibt jede Menge Hinweise darauf, dass sie schlussendlich und auf lange Sicht mehr schaden als nutzen. Dies ist zumindest die Lehre, die ich aus meiner rund vierzigjährigen, methoden- und ideologiekritischen Beschäftigung mit der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur sowie aus meinen Erfahrungen und Beobachtungen in diesen Arbeitsfeldern ziehe.

Auch bei Zwangseinweisungen und -behandlungen, die bemerkenswerterweise schlecht erforscht sind, kann der Verdacht nicht von der Hand gewiesen werden, dass sie unterm Strich und auf lange Sicht mehr Menschenleben gefährden als retten.

Nach bisherigem Kenntnisstand, sind wir Menschen die einzigen Wesen in diesem Universum, die einander Geschichten erzählen. Es mag in den Weiten des Weltalls Kreaturen geben, die dies auch tun, aber davon wissen wir nichts. Was wir vom Geschichtenerzählen wissen, das wissen wir von unserer eigenen Spezies und aus eigener Erfahrung. Wir geben unserem Leben Sinn, indem wir Geschichten über uns selbst erfinden und sie anderen erzählen.

Beim Geschichtenerzählen werden wir nicht nur durch unsere eigenen Erlebnisse beeinflusst, sondern auch durch die Berichte und Erfahrungen anderer Leute. In unsere Geschichten fließen nicht nur Tatsachen ein, sondern auch Fantasien, die entweder von uns selbst stammen oder die andere uns vorschwärmten oder zuraunten. Schlussendlich beinhalten die Geschichten über uns selbst zahllose Mythen, deren Herkunft nicht einzelnen Personen zugeschrieben werden kann, sondern die gleichsam in der Luft liegen.

Zu diesen Mythen zählen auch die psychiatrischen, zum Beispiel der Mythos der psychischen Krankheit, der Mythos der gestörten Gehirnchemie, der Mythos der effektiven Psychopharmaka oder der Mythos der alleinseligmachenden psychotherapeutischen Methode. All diese und viele andere Mythen können in unsere Geschichten über uns selbst einfließen, sich mit Fakten und Fantasien verbinden und damit in entscheidendem Maße das Bild prägen, dass wir uns von uns selbst machen und anderen mitteilen.

Dies ist keineswegs so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheint. Denn die Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen, prägen zugleich die Wahrnehmung unserer Welt und ihrer Möglichkeiten und Grenzen.

  • Wer an den Mythos der gestörten Hirnchemie glaubt und sich selbst als depressiv erfährt (sowie entsprechende Geschichten erzählt), der wird viel weniger auf soziale, ökonomische, kulturelle Faktoren achten, die eventuell mit den seelischen Verstimmungen verbunden sein könnten.
  • Wer an den Mythos der alleinseligmachenden Psychotherapiemethode sowie den Worten seiner Psychotherapeutin glaubt und sich selbst als multiple Persönlichkeit fühlt, der wird in seinen Erinnerungen z. B. nach Satansroben und sexuellen Anzüglichkeiten des Vaters kramen und das Fantasiefutter, das aus den Mundwinkeln der freundlichen Psychotherapeutin quillt, eher nicht kritisch reflektieren.
  • Wer an den Mythos des Traumas als Hauptursache seelischer Krankheit glaubt und sich für eine Borderline-Persönlichkeit hält, der wird sich immer wieder die erlittenen seelischen Verletzungen vor Augen führen und sein Augenmerk von all den Vorteilen abwenden, die mit dem Ausleben der “Störung” verbunden sein können.

Dies sind nur drei Beispiele aus einer unerschöpflichen Fülle ähnlich gestrickter Zusammenhänge. Die durch psychiatrische Mythen verengte Wahrnehmung führt natürlich auch zwangsläufig dazu, dass bestimmte Handlungsalternativen in alltäglichen Lebenssituationen von vorneherein ausgeschlossen oder, ohne vernünftigen Grund, als weniger Erfolg versprechend eingeschätzt werden.

Warum sollte ein Mensch, der sich einbildet, an einer “gestörten Hirnchemie” zu leiden, allzu große Mühe darauf verwenden, unerträgliche Lebensumstände zu verändern? Welchen Zweck sollte das haben?, wird er sich fragen. Warum sollte ein Mensch, der sich einbildet, er sei als Kind vorsätzlich und wiederholt zu heiß gebadet worden, sich kritisch mit seinen eigenen Strategien zur Lebensbewältigung auseinandersetzen? Welchen Sinn, so wird er sich fragen, sollte dies denn haben, wenn ich ja doch nur das wehrlose Opfer einer frühkindlichen Abrichtung durch Gewalt und Missbrauch bin?

Die Maßnahmen der Psychodocs werden natürlich wie die entsprechenden Mythen in die Geschichten, die Menschen sich selbst und anderen über sich selbst erzählen, eingewoben. Im schlimmsten Fall wird die richtige Pille oder die richtige Psychotherapie zur einzigen Alternative, um dem eigenen Leben eine Wendung zum Guten zu geben und jedes Scheitern, jede Niederlage in alltäglichen Situationen werden als Beweis dafür gedeutet, dass die Maßnahmen noch besser angepasst, intensiviert oder wieder aufgenommen werden müssen.

Der Patient hat keine Möglichkeit, all dies rational zu überprüfen. Wenn mich ein Zipperlein plagt und ich tue dieses oder jenes dagegen, dann kann ich nie wissen, ob dieses oder jenes dafür verantwortlich war, dass es mir wieder besser geht, oder irgendetwas anderes, und sei es auch nur das Verstreichen der Zeit. Mangels objektiver Maßstäbe wird sich der Patient vielmehr daran orientieren, ob die Geschichte, die er sich und anderen über sich selbst erzählt, in sich stimmig ist und ihm ein gutes Gefühl gibt oder nicht. Erfolgreiche Psychodocs wissen das und helfen ihren Patienten dabei, sich selbst und anderen Geschichten über sich selbst zu erzählen, in denen der Psychodoc die Funktion einer guten Fee wahrnimmt.

Angesichts der Bedeutung solcher Geschichten nimmt es nicht wunder, dass sich auch die Meister des Marketings auf diesem Felde tummeln. Großen schwarzen Vögeln gleich, hüllen sie das Feld der freien Forschung mit ihren Schwingen ins Dunkel, während sie aus lichter Höhe des Kommerzes den (potenziellen) Konsumenten psychiatrischer Leistungen direkt ins Hirn scheißen. Wie anders sollte man es sich beispielsweise erklären, dass immer noch Dopamin- und Serotonin-Hypothesen von Medien aus Pressemeldungen abgeschrieben werden, obwohl diese definitiv wissenschaftlich widerlegt sind? Wie anders sollte man es sich beispielsweise erklären, dass immer noch von den Medien aus Pressemeldungen abgeschrieben wird, wie wichtig die Qualifikation des Psychotherapeuten sei, obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass diese allenfalls eine höchst untergeordnete Rolle spielt?

Es drängt sich der Verdacht auf, dass die Medien Vorlagen produzieren, nach denen die Rezipienten und potenziellen Konsumenten die Geschichten über sich selbst gestalten sollen. Die eigene Identität wird zum Malbuch, dessen Figuren man nur noch mit den empfohlenen Farben ausmalen muss. Dieses Identitätsmalbuch unter den wachsamen Augen des Psychodocs zu gestalten, ist Bestandteil psychiatrischer “Kunsttherapie” mit dem Ziel der “Krankheitseinsicht”.

Psychiatrische Maßnahmen, gleich welcher Art, wirken sich nicht nur auf bestimmte Symptome aus, haben nicht nur die auf den Beipackzetteln oder in Psychotherapieratgebern aufgelisteten Nebenwirkungen – psychiatrische Maßnahmen erfassen stets, auf dem Wege des Geschichtenerzählens, die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, der zu ihrem Objekt wird.

Fazit

Die Psychiatrie ist aus Sicht der Betroffenen kein notwendiges Übel, sondern ein Übel ohne Not. Nichts von dem, was für Betroffene, die Hilfe brauchen, Sinnvolles getan werden könnte, benötigt zwingend einen medizinischen Rahmen. Es gibt keinen vernünftigen Grund, merkwürdige Phänomene, die infolge von Lebensproblemen auftreten, als “Symptome einer psychischen Krankheit” zu deuten. Diese Deutung ist vielmehr eine Stigmatisierung, der keinerlei Nutzen gegenübersteht.

Die psychiatrischen Mythen haben in unheilvoller Weise die Geschichten verändert, die Menschen einander über ihre Innenwelten erzählen. Dies gilt gleichermaßen für jene, die sich als “psychisch krank” empfinden, wie auch für die so genannten Normalen. Leiden wird zunehmend nicht mehr als Botschaft und Chance zum Neuanfang begriffen, sondern als biologisch verursachtes, sinnloses Geschehen, das mit Pillen und Psychotherapie beseitigt werden kann und muss.

Echte Alternativen zur Psychiatrie müssten nicht erst entwickelt werden; es gibt sie schon. Zahllose psychiatrieferne Hilfen haben weltweit ihre Leistungsfähigkeit bereits unter Beweis gestellt. Es wurde demonstriert, dass als unheilbar eingestufte “Schizophrene” auch ohne Medikamente von ihren Leiden genesen können. “Alkoholiker” haben in Selbsthilfegruppen ihren Weg zur Abstinenz gefunden. “Depressive” haben sich, z. B. dank guter Bücher und guter Musik, am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen. All diese hoffnungsvollen Ansätze könnte man fördern und ausbauen, wenn man nur wollte. Ein kleine Auswahl von alternativen Projekten zur Hilfe für Menschen in besonderen Problemlagen findet sich hier.

Für einen Bruchteil des Geldes, das heute für das psychiatrische System verausgabt wird,  könnte man Hilfsangebote entwickeln, die soweit wie irgend möglich die Eigeninitiative der Menschen mit Lebensproblemen nutzen und ggf. wecken. Der Beweis dafür, dass dies bei allen  betroffenen Menschen auch funktioniert, konnte bisher aus verständlichen Gründen noch nicht erbracht werden. Noch schlechter jedoch als die der Psychiatrie könnten die Leistungen alternativer Projekte der erwähnten Art wohl kaum sein.

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(2) Davon kann man sich in jedem beliebigen Lehrbuch der Hypnose überzeugen, beispielsweise hier: Hilgard, E. R. (1977). Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action. New York: John Wiley & Sons

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Psychiatrie, Ökonomie, Politik

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Fabriken, Rohstoffe

“Patienten” sind der Rohstoff der medizinischen Fabrik. Ohne “Patienten” können Ärzte kein Einkommen generieren. Sie brauchen also “Patienten” wie das tägliche Brot. Dies gilt natürlich auch für Psychiater. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist jener Rohstoff vorzuziehen, der, bei ausreichender Eignung für das Produktionsziel, die geringsten Kosten verursacht. Ein Rohstoff, der mit erhöhter Wahrscheinlichkeit Funktionsstörungen im Produktionsprozess auslöst, ist unter diesem Gesichtspunkt weniger beliebt als einer, der glatt durchläuft.

Die Psychiatrie befindet sich in dieser Hinsicht in einer etwas günstigeren Situation als beispielsweise die Stahlproduzenten. Diese können nicht jedes Erz zu Eisenerz erklären, obwohl dies vielleicht wünschenswert wäre, weil es billiger und leichter zu verarbeiten ist. Nein, es muss Eisenerz sein. Ähnliches gilt auch für richtige Ärzte: Auch sie können nicht von jedermann nach Belieben behaupten, er habe Krebs, Magengeschwüre oder Diabetes.

Man kann nicht nach Gutdünken jedes Erz als Eisenerz ausgeben. Dies widerspräche der Natur der Sache und müsste zum Fiasko führen. Anders die Psychiater. Diese können im Prinzip nach Gutdünken jeden Menschen als “psychisch krank” diagnostizieren. Selbst wenn ein Mensch völlig unauffällig zu sein scheint, kann man ihm unterstellen, er dissimuliere seine Krankheit nur, täusche Gesundheit vor und sei deswegen erst recht schwer gestört.

Die Prüfung der Rohstoffe

Wer das nicht glaubt, kann sich ein einschlägiges psychiatrisches Diagnose-Manual vornehmen und sich dann fragen, ob er in der Fülle des Angebots nicht das eine oder andere “Krankheitsbild” findet, das wunderbar auf den Nachbarn, den Chef, einen beliebigen Politiker, den Autohändler, Friseur oder gar auf den eigenen Ehepartner passt. Selbst wenig Fantasiebegabte dürften damit keine Probleme haben. Auch wenn das eine oder andere vorschriftsgemäße Merkmal bei der einen oder anderen Person fehlt, könnte man immer noch eine Dissimulation, ein absichtliches Verbergen von Symptomen, in Betracht ziehen und sich dennoch mit Ihrer Diagnose auf der sicheren Seite wähnen.

Wenn Laien, so könnte man einwenden, mit solchen Manualen willkürliche Ergebnisse produzierten, dann sei dies kein Wunder, denn sie seien ja nicht, wie Fachleute, geübt im Umgang mit solchen diagnostischen Instrumenten. Doch dieser Einwand sticht nicht, denn die Experten gelangen mit diesen Manualen ebenfalls häufig nicht zu kongruenten Urteilen über eine Person. Und diesbezüglich geben sie sich offenbar auch keinen Illusionen hin. Kliniker, die in einer Studie zur Reliabilität psychiatrischer Diagnosen im Normalbetrieb befragt wurden, waren mehrheitlich davon überzeugt, dass diese erheblich zu wünschen übrig ließe (1).

Und dieser subjektive Eindruck entspricht auch den Ergebnissen wissenschaftlicher Studien, in denen die Übereinstimmung der Diagnosen von jeweils zwei Diagnostikern hinsichtlich eines Probanden unter experimentellen Bedingungen überprüft wurde. Die ohnehin geringe Reliabilität hat sich über einen Zeitraum von dreißig Jahren nicht verbessert (2). Im Gegenteil: Die Reliabilität der Diagnosen des DSM-5, der neuesten Version der amerikanischen Diagnose-Bibel, ist sogar noch schlechter als die ihrer Vorgängerversion DSM-IV (3).

Da die Trennlinie zwischen den einzelnen “Krankheitsbildern”  unscharf und  die Grenzen zwischen dem “Gesunden” und dem “Kranken” in den Manualen fließend sind, kann der Psychiater also jeden Menschen in einen “Patienten” und somit in Rohstoff für die psychiatrische Maschine verwandeln. Anders als der Stahlerzeuger kann er diesen humanen Rohstoff allerdings nicht kaufen. Er muss ihn entweder überzeugen, freiwillig in die psychiatrische Produktion zur Generierung ärztlichen Einkommens einzugehen oder er muss ihn dazu zwingen. Die Vergrößerung der Zahl psychiatrischer Krankheitsbilder von Version zu Version des DSM und die Senkung der Schwellen für einzelne Diagnosen bedarf im Licht dieser Zusammenhänge keiner weiteren Interpretation. Die Zahl der “psychischen Krankheiten” stieg im DSM von 106 im Jahre 1952 auf 374 heute (4).

Psychiatrische Diagnosen sind zwar willkürlich, in dem Sinne, dass es einzig und allein von der Entscheidung des Psychiaters abhängt, ob jemand “psychisch krank” ist oder nicht. Aber sie sind selbstverständlich nicht willkürlich in dem Sinne, dass sie der Psychiater nach Lust und Laune fällen würde. Nein, Psychiater haben, wie Angehörige anderer Stände ja auch, ein spezifisches Beuteschema. Dieses ist teilweise angeboren (Menschen neigen instinktiv dazu, andere in der Dimension Stärke-Schwäche einzustufen). Es ist aber zunächst relativ grob und wird im Laufe der beruflichen Entwicklung, mit zunehmender ärztlicher Erfahrung, beständig der Realität, genauer: den jeweiligen Machtverhältnissen und sozio-ökonomischen Bedingungen, angepasst.

Ärztliche Kunst

Mitunter sind Nachwuchskräfte allerdings überfordert, wenn es gilt, die nahrhaften Opfer von den allzu dicken Brocken zu unterscheiden, die einem nur zu leicht im Halse stecken bleiben. So besuchte einmal ein beruflich gut etablierter Diplompsychologe eine Bekannte in einer geschlossenen Abteilung. Der Diplompsychologe hatte dieser Frau mit Nachdruck von einer Dauerbehandlung mit Neuroleptika abgeraten. Diese Patientin sagte daraufhin der behandelnden Psychiaterin, dass ein Freund sie davor gewarnt habe, Neuroleptika kontinuierlich einzunehmen, weil diese mit hoher Wahrscheinlichkeit, so sei er zu betonen nicht müde geworden, zu gravierenden Langzeitschäden führten; und dies sei empirisch nachgewiesen.

Diese Psychiaterin war anwesend, als der Diplompsychologe seine Bekannte erstmals in der psychiatrischen Anstalt aufsuchte. Sie bat den ihr unbekannten Besucher in ihr Besprechungszimmer. Sie glaubte offenbar, der Mann sei ein, ebenfalls als psychisch krank etikettierter, Leidensgenosse ihrer Patientin. Sie forderte ihn auf, seine Bekannte zu drängen, sich freiwillig, kontinuierlich und auf Lebenszeit mit Neuroleptika behandeln zu lassen. Als sich der Psychologe weigerte, sagte sie, er solle ihre Macht nicht unterschätzen. Sie könne ihn auch dabehalten, das solle er sich klarmachen. Sie könne ihn ganz leicht zwangseinweisen, sie müsse nur behaupten, er habe sie angegriffen.

Der Besucher lächelte milde, gab sich als Psychologe zu erkennen, nannte den Namen seines Chefs, der ihn im Falle einer Zwangseinweisung vermissen werde, und sagte, dass sein Chef und ihr Chef in demselben lokalen Rotary-Club Mitglieder seien. Er habe unlängst sogar mit ihrem Chef telefoniert, und am Gegenstand des Gespräches erkannte die junge Dame nun endlich, dass sie keinen Paranoiker vor sich hatte, sondern einen Menschen, mit dem im Zweifelsfall nicht gut Kirschenessen war. Was soll ich sagen, wie die Geschichte wohl ausging? Ich weiß, ich weiß, da werden einige behaupten, diese Geschichte sei frei erfunden. Meine Phantasie ist ja bekanntlich beachtlich. Ich könnte zahllose Geschichten dieses Kalibers erzählen – und Schlimmere.

Wir sehen also, dass die Psychodiagnostik beachtliches Fingerspitzengefühl erfordert, auch wenn sie willkürlich ist. Das ist die ärztliche Kunst. Auch Ingenieure brauchen ein gutes Augenmaß bei der Auswahl ihrer Rohstoffe und der Überwachung ihrer Produktionsprozesse. Für Psychodiagnosen kommen bevorzugt Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten in Frage, die keine gut entwickelten Netzwerke haben, die sie zu schützen fähig und willens sind. Dies richtig einzuschätzen, ist die eigentliche ärztliche Kunst im psychiatrischen Bereich.

Die Kunden

Es zeigt sich also, dass bereits zu Beginn des psychiatrischen Vorgehens, mit der Diagnose, wirtschaftliche Erwägungen eine zentrale Rolle spielen. Dies wird auf der höchsten Ebene in Psychiatergremien, die über die Aufnahme eine “Krankheit” in ein Diagnose-Manual entscheiden (5), ebenso deutlich wie auf der untersten Ebene im Sprechzimmer des Arztes, der ein Diagnosekürzel notiert und “gesichert” dazuschreibt.(Nur dann bezahlt die Krankenkasse die Behandlung.) Money. Die Diagnose ist der Startschuss. Dann klingeln die Kassen. In der Psychiatrie. In der Pharmaindustrie. Überall da, wo eine willkürliche Diagnose in pures Gold verwandelt werden kann.

Gegen diese politökonomische Position könnte man einwenden, dass es auch in den verblichenen sozialistischen Staaten wie der Sowjetunion oder der DDR psychiatrische Institutionen gegeben habe. Daher sei es unmöglich, die Funktion der Psychiatrie und die Abläufe in ihr nur auf Basis wirtschaftlicher Interessen zu erklären.

Es trifft zwar zu, dass es in der Sowjetunion und ihren Satelliten keine Marktwirtschaften im westlichen Sinne gab. Doch dies widerlegt die obigen Gesichtspunkte keineswegs. Trotz fehlender Marktwirtschaft nämlich spielten in diesen Systemen wirtschaftliche Gesichtspunkte eine erhebliche Rolle, und dies natürlich auch in der “kommunistischen” Psychiatrie.

Auch in den so genannten sozialistischen Staaten hätten Psychiater kein Einkommen generieren können ohne das Konstrukt der “psychischen Krankheit”. Wo es keine Krankheit gibt, gibt es auch nichts zu kurieren und zu verdienen, nirgendwo. Dies gilt also für jedes System. Daher bestimmte auch in den so genannten sozialistischen (in Wirklichkeit faschistischen und staatskapitalistischen) Staaten das ökonomische Interesse maßgeblich die Psychodiagnostik. Dass trotzdem auch politische Interessen einen Rolle spielen, ist selbstverständlich. Beides lässt sich bekanntlich wunderbar miteinander verbinden.

Die Psychiatrie orientierte sich in den so genannten sozialistischen Staaten, wie jeder Dienstleister, an den Bedürfnissen der Kundschaft, und die Kundschaft war in den stalinistischen Systemen der Staat, der die Gehälter der Psychiater bezahlte. Es ist recht simpel, im Grunde. Der Kunde, der so genannte sozialistische Staat, wollte psychiatrische Behandlungen, die Psychiatrie bediente ihn zu seiner Zufriedenheit und wurde dafür entlohnt.

Man könnte nun einwenden, in kapitalistischen Systemen sei der Kunde nicht der Staat, sondern der Patient – und die meisten dieser Patienten würden nicht gezwungen, sie ließen sich freiwillig behandeln.

Das ist sicher nicht ganz falsch, widerspricht aber keineswegs meinem Ansatz. Schauen wir uns einmal die Verhältnisse in Deutschland an: Wer ist Kunde psychiatrischer Dienstleistungen? Auf den ersten Blick scheint dies der “Patient” zu sein. Er ist es aber nur in den seltensten Fällen, nämlich dann, wenn er den Dienstleister direkt für seine Dienstleistung bezahlt (so genannte Selbstzahler). In aller Regel ist der Konsument psychiatrischer Dienstleistungen nicht unmittelbar Kunde der Psychiatrie. Er ist vielmehr Kunde einer Krankenkasse oder, seltener, einer privaten Krankenversicherung.

Für deren Versicherungsleistung zahlt er einen Versicherungsbeitrag. Die eigentlichen Kunden der Psychiatrie sind also die Krankenkassen, die privaten Krankenversicherungen sowie andere Kostenträger, wie z. B. die Rentenversicherungsträger bei der so genannten medizinischen Rehabilitation von Abhängigkeitskranken. Wenn wir also bei der Erklärung psychiatrischen Verhaltens den Bedarf der Kunden beachten wollen, dann müssen wir die Bedürfnisse der genannten Kostenträger ins Auge fassen, denn diese bezahlen die Zeche.

Die Krankenkassen bzw. die anderen zuständigen Kostenträger verausgaben enorme Summen dafür, dass die Psychiatrie bestimmte Menschen als “psychisch krank” etikettiert und anschließend diese frei erfundenen Krankheiten “behandelt”. Die Psychiatrie diagnostiziert niemanden als psychisch krank, behandelt deswegen auch niemanden, wenn sie dafür nicht bezahlt wird. Und damit sie bezahlt wird, muss sie den Behandelten als psychisch krank diagnostizieren, weil Krankenkassen und Privatversicherungen ohne eine solche Diagnose nicht für eine Behandlung aufkommen.

Sollte beispielsweise ein niedergelassener Psychiater nach einem Gespräch mit einem potenziellen Patienten zu dem Eindruck gelangt sein, der Mensch sei gesund und schickt er ihn dann ohne Befund nach Hause, so erhält er kein Geld für seine Bemühungen. Er muss ihn vielmehr eine einschlägige Diagnose geben und diese als “gesichert” bezeichnen, um einen Ausgleich für seine Bemühungen zu erhalten. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Mir ist leider keine Statistik bekannt, wie hoch der Prozentsatz der Psychiatriekunden ist, die nach einem Erstkontakt ohne einschlägige Diagnose wieder heimgeschickt werden.

Kundennutzen

Warum also setzen die genannten Kostenträger für viel, sehr viel Geld die psychiatrische Maschine in Gang. Sind sie Opfer von Irreführungen? Natürlich: Anbieter von Produkten oder Dienstleistungen neigen dazu, vorhandene Bedürfnisse zu verstärken bzw. sogar neue zu kreieren, um den Absatz ihrer Produkte und Dienstleistungen zu fördern. Man nennt dies Marketing. Die Psychiatrie und die mit ihr geschäftlich verbundene Pharma-Branche betreiben ein exzessives und exzellentes Marketing, und nicht immer bewegen sie sich dabei im Rahmen der Legalität (6).

Doch dies allein vermag aus meiner Sicht nicht die Tatsache zu erklären, dass die Krankenkassen bzw. die anderen Kostenträger den psychiatrischen Apparat finanzieren. Die in diesem Bereich federführenden gesetzlichen Krankenkassen sind Körperschaften öffentlichen Rechts und man darf wohl sagen, dass sie auf Grundlage staatlicher Interessen agieren. Es liegt also nahe anzunehmen, dass die Finanzierung des psychiatrischen Apparats staatlichen Zielen entspricht. Der “König Kunde” ist letztinstanzlich also der Staat, der zudem auch durch flankierende Gesetze dafür sorgt, dass die psychiatrische Produktion seinen Bedürfnissen entspricht. Die privaten Krankenversicherungen dürfen mitverdienen, sie bestimmen den Kurs aber nicht.

Daraus folgt, dass es im staatlichen Interesse liegen muss, bestimmte Abweichungen von sozialen Normen zu psychiatrisieren, d. h. für krank zu erklären. Das staatliche Interesse wäre – wirtschaftlich betrachtet – ein irrationales, wenn dem beträchtlichen Aufwand kein entsprechender Ertrag gegenüberstünde. Staatliches Handeln ist zweifellos mitunter irrational, aber es ist kaum anzunehmen, dass die Psychiatrie durch die Jahrzehnte aus irrationalen Motiven aufrechterhalten wurde und wird. Sie muss sich irgendwie rechnen für den Staat. Auf den ersten Blick erscheint es natürlich irrsinnig, Krankheiten zu erfinden und sie dann für teures Geld behandeln zu lassen.

Man könnte einwenden, dass Normabweichler mitunter staatliches Handeln erzwingen und dass dies auch dann Kosten verursachen würde, wenn die Kontrolle der Devianz nicht der Psychiatrie obläge. Dies trifft zwar zu, aber Devianz könnte mit Sicherheit genauso gut, wenn nicht besser, und bestimmt nicht weniger human kontrolliert werden durch nicht medizinisches Personal. Die medizinische Variante ist vielmehr eine ausgesucht kostspielige Form der Kontrolle sozialer Devianz. Ist das irrational, oder bietet die Medizin einen Zusatznutzen, der den erhöhten finanziellen Aufwand rechtfertigt? Der Zusatznutzen kann nur eine Folge der Etikettierung sozialer Abweichung als krank sein. Nur die Medizin ist bekanntlich zu dieser Etikettierung berechtigt.

Meine These: Der Zusatznutzen ist unverzichtbar für den bürgerlichen Rechtsstaat, und darum ist dieser bereit, beinahe jeden Preis dafür zu bezahlen. Da soziale Devianz sozio-ökonomisch, also strukturell bedingt ist, muss der Staat, um die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen aufrecht zu erhalten, auch bestimmte Formen nicht krimineller sozialer Devianz kontrollieren – und dazu Maßnahmen ergreifen, die sich nicht mit bürgerlichen Freiheiten, z. B. mit dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, vereinbaren lassen.

Daher braucht der Staat den Begriff der “psychischen Krankheit” zur Legitimation seiner Kontrolle.

Diese Überlegung betrifft nicht nur die so genannte Zwangspsychiatrie. Allein die Stigmatisierung durch die Diagnose einer “psychischen Krankheit” ist ein mächtiges Kontrollinstrument. Mit der psychiatrischen Etikettierungsmaschinerie greift der Staat tief in das individuelle und das gesellschaftliche Leben ein, auch ohne Zwangsbehandlung und Zwangseinweisung. Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung sind nur die “ultima ratio” für einige der besonders hartnäckigen Fälle. Über die Prozesse der Stigmatisierung und Selbststigmatisierung verändert eine Psychodiagnose die Identität eines Betroffenen tief greifend, ebenso wie die sozialen Beziehungen in seiner unmittelbaren Umgebung.

Schon allein durch die Diagnose wird das Niveau der Fremdsteuerung des Verhaltens und Erlebens der “psychisch Kranken” erhöht (vgl. hierzu meinen Aufsatz “Steuerung, Fehlssteuerung, Psychiatrie“), und dies führt darüber hinaus zwangsläufig zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Fremdsteuerung des jeweiligen sozialen Umfelds.

Auch für die so genannten psychisch Kranken bietet die Psychiatrie einen Nutzen und dieser zum Teil erhebliche Nutzen ist ein Grund dafür, dass sich nur wenige Patienten gegen ihre Stigmatisierung als “psychisch krank” wehren. Dass die Psychiatrisierung von vielen Betroffenen auch als nützlich erlebt wird, ist nur zum Teil Folge des sicher sehr effektiven Psychiatrie- und Psychopharmaka-Marketings. Die Psychiatrisierung bietet den “psychisch Kranken” auch handfeste, objektive, nicht nur fantasierte Vorteile. Zu diesen zählt an erster Stelle die Entlastung von Verantwortung. Wer eine psychiatrische Diagnose vorweisen kann, muss nicht mehr für sein Verhalten einstehen, das sonst als schlechtes Benehmen gedeutet würde, weil er ja krank ist und nichts dafür kann. Wenn er sich behandeln lässt, ist er moralisch aus dem Schneider. Man kann sich als angeblich psychisch Gestörter krankschreiben und sogar berenten lassen. Man muss also nicht nur die Nachteile der Stigmatisierung erdulden, die häufig nur langfristig sichtbar werden, sondern man genießt die schon kurzfristig oder unmittelbar erkennbaren Vorteile. Manchen Menschen ist eben der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach.

Ein Oligopol

Fiona Godlee beginnt ihr Editorial mit einem dicken Lob: Menschenleben gerettet, Arbeitsplätze geschaffen, die Wirtschaft stimuliert zu haben, wer kann das schon von sich sagen? Die Pharmaindustrie, so schreibt die Chefredakteurin des “British Medical Journal (BMJ)” in der Ausgabe vom 29. 10. 2012 (Heft 345) habe “viele gute Dinge getan”.

Das BMJ ist eine altehrwürdiges Publikationsorgan, dessen erste Ausgabe 1840 erschien. Das Journal zählt zu einer Handvoll der führenden Medizinfachzeitschriften in der Welt. Es ist so seriös wie ein englischer Lord auf einem Pferd vor seinem Castle und es gehört der British Medical Association. Fiona Godlee ist die erste Frau auf dem Stuhl des Chefredakteurs in der langen Geschichte dieses Blattes. Zu ihren Vorfahren zählt Joseph Jackson Lister, der Pionier der Mikroskopie und Vater von Joseph Lister, 1st Baron Lister, des Pioniers der antiseptischen Chirurgie.

Bedauerlicherweise jedoch, fährt Fiona Godlee fort, müssten neben den zahllosen guten Taten auch einige überaus verwerfliche auf dem Konto der Pharmaindustrie verbucht werden. Fortgesetzt und systematisch habe diese Branche Forschungsergebnisse zurückgehalten und verzerrt dargestellt, mit der Folge, dass neue Medikamente wesentlich sicherer und effektiver erschienen, als sie tatsächlich sind. Dadurch seien Menschenleben gefährdet und öffentliche Mittel verschwendet worden.

Diese Kritik ist nicht neu. Wir erinnern uns beispielsweise an die Skandale um Mittel zur Behandlung von Depressionen, die sich, bei einem genaueren, unparteilichen Blick auf die Daten, als nicht (bei leichten und mittelschweren Depressionen) oder nicht wesentlich (bei starken Depressionen) effektiver als Placebos erwiesen. Mittlerweile haben sich die Anzeichen zur Gewissheit angehäuft, dass Antidepressiva mehr schaden als nutzen. Neu ist, dass die renommierte britische Medizinfachzeitschrift nun den Hammer herausholt. Ab 2013 veröffentlicht das BMJ Pharmastudien nur noch dann, wenn die Hersteller des untersuchten Medikaments anderen Forschern auf Wunsch die Rohdaten zur Verfügung stellen.

Kaufmännisch betrachtet verhalten sich Pharmaunternehmen selbstverständlich rational, wenn sie die Vorteile ihrer Produkte herausstreichen und die Nachteile herunterspielen oder unter den Teppich kehren. Dies gilt entsprechend für die Hersteller in jeder Branche. Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist dieses Verhalten allerdings hochgradig unerwünscht, weil die Marktwirtschaft nur dann befriedigend funktionieren kann, wenn Konsumenten sich ein zutreffendes Bild von den Produkten machen können, die zur Wahl stehen.

Aus Gründen der Profimaximierung tendieren Unternehmen in einer Marktwirtschaft dazu, eine monopolistische oder quasi-monopolistische (oligopolistische) Stellung anzustreben (also die Preise dem Konkurrenzkampf zu entziehen). Desgleichen tendieren sie dazu, den Konsumenten einen größeren Nutzen vorzugaukeln, als die Güter tatsächlich besitzen. Die Marktwirtschaft läuft also Gefahr, sich selbst ad absurdum zu führen und deswegen muss ja auch der Staat immer wieder regulierend eingreifen, selbst wenn dies eigentlich den marktliberalen Ideologien der gerade regierenden Parteien widerspricht (9).

Die Pharmaindustrie macht hier keine Ausnahme. Sie ist durch eine oligopolistische Struktur gekennzeichnet; eine kleine Zahl gigantischer Unternehmen beherrscht den Weltmarkt; und sie gerät immer wieder in die Kritik wegen mangelnder Markttransparenz. Big Pharma hat heute die kleine lokale Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet und steht nur noch in ernsthaftem Wettbewerb zu Big Generics, also den inzwischen ebenfalls oligopolistisch strukturierten Herstellern von Generika.

In oligopolistischen Märkten arbeiten die teilnehmenden Unternehmen unter den Bedingungen eines eingeschränkten Wettbewerbs. In aller Regel akzeptieren die Oligopolisten den jeweils stärksten Anbieter eines Produkts als “Preisführer” und orientieren sich an dessen Preispolitik. Illegale Preisabsprachen kommen vor, sind häufig aber gar nicht erforderlich, wenn die Zahl der Oligopolisten überschaubar ist. Der Preisführer hebt oder senkt den Preis und die anderen folgen ihm, weil sie wissen, dass dies im Interesse aller liegt.

Es liegt natürlich nur im Interesse aller Oligopolisten, weil diese so Extraprofite erwirtschaften können, die ihnen unter den Bedingungen vollständigen Wettbewerbs nicht in den Schoß fallen würden. Der Konsument ist dem Preisdiktat einer oligopolistischen Struktur nur dann nicht völlig ausgeliefert, wenn es alternative Produkte gibt, die ähnliche Zwecke erfüllen und von Nicht-Oligopolisten hergestellt werden.

Wäre beispielsweise die Autoindustrie oligopolistisch und verlangte unverschämte Preise, dann könnte man ja auch, zumindest theoretisch, mit dem Fahrrad oder mit einem privaten Busunternehmen von A nach B gelangen. Eine andere Form der relativen Unabhängigkeit von oligopolistischer Preiswillkür ist der Konsumverzicht. Wer meint, Zigaretten seien viel zu teuer geworden, hört am besten mit dem Rauchen auf. Dann ist Ruhe.

Allein, im Bereich der Arzneimittel sind beide Formen der relativen Unabhängigkeit nur bedingt gegeben. Wer ein Krebsmedikament benötigt, kann nicht auf ein Homöopathikum umsteigen und er kann, sofern er gern überleben möchte, u. U. auch nicht auf das Heilmittel verzichten. In kaum einem anderen Bereich ist der Konsument also den Anbietern hilfloser ausgeliefert als in einem oligopolistischen und intransparenten Pharmamarkt. Wer sich einbildet, ihn ginge das nichts an, weil ja die Krankenkasse die Medikamente bezahle, sollte sich daran erinnern, wer für die Krankenkassenbeiträge aufkommt.

All dies bedeutet aber nicht, dass die Abhängigkeit total wäre. Es ist bekannt, dass viele Produkte der Pharma-Industrie nicht oder nicht wesentlich wirksamer sind als Placebos. In dieser Situation wird der kluge Konsument also lieber gleich zum Zuckerwürfel greifen und fest daran glauben, dass dieser magische Heilkräfte besitze.

Manche Medikamente kann man auch unbesorgt ganz weglassen. Es mag den einen oder anderen Fall geben, in dem Psychopharmaka, zumindest kurzfristig, einen gewissen Vorteil bieten; im Großen und Ganzen aber sind Betroffene gut beraten, sich auf ihre seelischen Selbstheilungskräfte zu besinnen. Die Aussprache mit einem guten Freund jedenfalls hat eine “pharmakologische” Potenz, die alles, alles weit in den Schatten stellt, was der oligopolistische Pharmamarkt an einschlägigen Substanzen zu bieten hat.

Hier sieht man, wie wichtig das Marketing für den oligopolistischen Psychopharmaka-Sektor ist. Das Marketing kann dabei nicht auf die direkte Konsumentenwerbung zurückgreifen (Ausnahme: USA und Neuseeland), sondern es muss, vermittelt über die Psychiatrie und die Medien, indirekte Öffentlichkeitsarbeit betreiben. Die Unterstützung durch den Staat ist dabei von essenzieller Bedeutung.

Godlee bezieht sich in ihrem Editorial vor allem auf die Recherchen von Ben Goldacre, die er in seinem Buch “Bad Pharma” (7) zusammengefasst hat. Dieser britische Philosoph und Psychiater neigt dazu, durch akribisch genaues Hinschauen auf Daten und Sachverhalte notorisch unangenehm aufzufallen, nämlich der pharmazeutischen Industrie. Er sagt: Das Gebäude der Medizin ist zusammengebrochen, weil die gesamte Evidenz, auf der es beruht, durch Big Pharma systematisch verzerrt wurde. Dabei spielen staatliche Zulassungsbehörden eine unheilvolle Rolle; sie vertreten eher die Interessen der Pharmaindustrie als die der Öffentlichkeit.

Es bleibt noch hinzuzufügen, dass dieses enge, innige Verhältnis zwischen staatlichen Institutionen und der Pharmaindustrie durchaus charakteristisch ist für das Verhältnis von Staat und Industrie in oligopolistischen Strukturen.

“Ökonomische Macht bedeutet zugleich immer politische Macht. Die Herrschaft über die Wirtschaft gibt zugleich immer die Verfügung über die Machtmittel der Staatsgewalt. Je stärker die Konzentration in der wirtschaftlichen Sphäre, desto uneingeschränkter die Beherrschung des Staates.”

Dies schrieb ein ehemaliger deutscher Finanzminister. Und zwar Rudolf Hilferding in seinem 1910 erschienenen Werk: “Das Finanzkapital”. Finanzminister war er in der Weimarer Republik unter Gustav Stresemann und Hermann Müller. Hilferdings Erkenntnisse sind keineswegs Schnee von gestern. Diverse Studien belegen, dass beispielsweise die Pharmaindustrie Regierungen und staatliche Behörden massiv in ihrem Sinne zu beeinflussen wusste (6, 7).

Der Staat strebt die Medikalisierung immer weiterer Bereiche des Verhaltens und Erlebens durch die Psychiatrie an, weil ihm dies wachsende Kontrolle über das Volk verschafft, und im staatsmonopolistischen Kapitalismus sind die Produzenten der Waffen für das Schlachtfeld Seele eng mit ihm verflochten. Wirtschaftliche und staatliche Interessen gehen Hand in Hand.

Das Geschäft der Psycho-Kulte

Psycho-Kulte versprechen ihren Anhängern, sie seelisch zu heilen. Dies wäre ohne Zulassung zur Ausübung der Heilkunde in Deutschland allerdings illegal. Psycho-Kulte bezeichnen ihre Praxis jedoch als Religionsausübung. Dafür braucht man keine heilkundliche Zulassung. Es ist für die Gesundheitsämter schwierig, Psycho-Kulten das Gegenteil zu beweisen. Warum?

Die uns vertraute, kirchliche Sequenz der Behandlung von Normabweichungen verläuft in folgenden Schritten:

Sünde – Reue – Beichte – Buße/Umkehr

Die uns ebenfalls vertraute, psychiatrische Sequenz der Behandlung von Normabweichungen (mit Ausnahme von Zwangsbehandlungen) kennt folgende Stufenabfolge:

Psychische Störung – Krankheitseinsicht – Psychodiagnose – Therapie/Verhaltensänderung

Dass es sich hier um eine strukturelle Identität handelt, sticht ins Auge. Es kommt also nur darauf an, wie man diese Sequenz nennt: religiöse Praxis/Kult oder psychiatrische Behandlung. Wenn also die Gesundheitsämter gegen einen bestimmten Psycho-Kult einschritten, dann müssten sie gleichermaßen gegen die meisten Religionsgemeinschaften einschließlich der Amtskirchen vorgehen. Auch die anderen Religionsgemeinschaften haben ja keine heilkundliche Zulassung.

Mindestens fünf Einwände sind denkbar:

  • Wissenschaft. Man könnte behaupten, die Praxis der Religionsgemeinschaften beruhe auf Glauben, die der Psychiatrie auf Wissenschaft. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Psychiatrie den Anforderungen, die heute an eine Wissenschaft gestellt werden, weder im methodisch-methodologischen Bereich, noch auf der Ebene der Konzeptbildung genügt. Sie ist letztlich ebenfalls ein Glaubenssystem, das allerdings einen wissenschaftlichen Anspruch erhebt. Diesen erheben aber auch viele Glaubensgemeinschaften (Theologie).
  • Wirtschaft. Man könnte behaupten, dass Psycho-Kulte keine Religionsgemeinschaft seien, sondern Wirtschaftsunternehmen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass alle Religionsgemeinschaften Wirtschaftsunternehmen sind. Der Vatikan beispielsweise ist eines der größten Wirtschaftsunternehmen der Welt.
  • Gehirnwäsche. Man könnte behaupten, Psycho-Kulte unterzögen ihre Kundschaft einer Gehirnwäsche. Was ist eine Gehirnwäsche? -: Eine Veränderung des Verhaltens, Erlebens und der Einstellungen, gar der Persönlichkeit durch Zwang, ohne Einverständnis des Betroffenen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass nach dieser Definition sehr wohl die Zwangspsychiatrie Gehirnwäsche betreibt, wohingegen den Glaubensgemeinschaften und natürlich auch Psycho-Kulten zumindest die legale Grundlage dazu fehlt.
  • Mind Control. Manche meinen, es gäbe auch Methoden der Beeinflussung des Verhaltens und Erlebens gegen den Willen der Beeinflussten, die ohne offene Gewalt auskämen. Psycho-Kulte bedienten sich auf heimtückische Weise dieser Methoden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass diese Methoden, die tatsächlich existieren, in allen modernen Gesellschaften üblich sind. Man nennt sie Werbung, Propaganda etc.
  • Moral. Manche meinen, dass Psycho-Kulte nur das Böse anstrebten, die Amtskirchen und die Psychiatrie aber nur das Gute im Blick hätten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass die Einstufung in Gut und Böse doch sehr vom Standpunkt und den jeweils gewählten Maßstäben abhängt.

Zu den vehementesten und bekanntesten Kritikern der Psychiatrie zählt eine international tätige Vereinigung, die sich selbst als “Kirche” bezeichnet und die von vielen Menschen als gefährlich betrachtet wird. Diese Organisation verwendet diagnostische Instrumente, wie beispielsweise ein simples Biofeedbackgerät, um angebliche psychische Abweichungen, die so genannten “Abberationen”, festzustellen. Dann unterwirft sie diese “Abberierten” diversen Formen der Behandlung (z. B. “Auditing”), mit dem Ziel, die Abweichungen aufzuheben. Gelingt dies (angeblich), werden die Behandelten als “clear” bezeichnet.

Die strukturelle Ähnlichkeit von Scientology und Psychiatrie ist offensichtlich. Daher könnte man die Psychiatriekritik von Scientology auch als Bestandteil des Marketings dieser Organisation deuten (Rubrik: vergleichende Werbung). Futterneid also, was sonst?

Ich bin ein grundsätzlicher Gegner der Tendenz, unsere Gesellschaft zu medikalisieren, also zunehmend alle Lebensbereiche (pseudo-)medizinischer Kontrolle zu unterwerfen. Aus meiner Sicht gefährdet diese Tendenz die grundgesetzlich garantierten Bürgerfreiheiten. Hinter dieser Tendenz stecken offensichtlich staatliche und wirtschaftliche Interessen. Staatliche Propaganda und das Marketing einschlägig interessierter Unternehmen suggerieren den Bürgern, dass diese Medikalisierung das Beste für sie sei. Diese “Gehirnwäsche” scheint recht erfolgreich zu sein, denn der Widerstand gegen die Medikalisierung ist relativ schwach, wohl auch, weil sie, wie erwähnt, auch reale Vorteile bringt.

Unter diesen Bedingungen ist es nicht erstaunlich, dass Psycho-Sekten versuchen, als Trittbrettfahrer von dieser Tendenz zu profitieren. Die Psychiatrie, die immer weitere Bereiche des menschlichen Daseins und des Spektrums menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten pathologisiert, macht damit auch den Boden für Scientology & Co. fruchtbar.

Selbst- und Fremdschädigung

Die Existenz der Zwangspsychiatrie wird in der Regel damit gerechtfertigt, dass mitunter Menschen zu verwirrt seien, um die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen zu können. Sie müssten darin gehindert werden, sich selbst und anderen Schaden zuzufügen. Damit allerdings muss man bei jedem Menschen rechnen, nicht nur bei Verwirrten. Wenn die Psychiatrie prognostische Instrumente hätte, mit denen sie das Potenzial zur Selbst- bzw. Fremdschädigung auch nur halbwegs präzise vorhersagen könnte, dann stünde jede Kritik an präventiven Maßnahmen auf tönernen Füßen. Die Validität psychiatrischer Diagnosen und Prognosen dieser Art liegt aber auf dem Niveau des Kaffeesatzlesens. Niemand kann vorhersagen, ob Herr Müller morgen Amok läuft oder Frau Meyer sich übermorgen umbringt. Es gibt daher keinen vernünftigen Grund, angeblich psychisch kranke Menschen einer Sonderbehandlung zu unterziehen.

Der Strafverteidiger Rolf Bossi schrieb an den im Maßregelvollzug einsitzenden Gustl Mollath:

“Ich muss Sie als Rechtsanwalt darauf hinweisen, dass wir im Maßregelvollzug keinerlei rechtliche Handhabe besitzen, um wirkungsvoll auf die Durchführung des Maßregelvollzugs einwirken zu können. Hieraus wollen Sie ersehen, dass Sie im Maßregelvollzug rechtlich ohne jede Hilfe sind und ausschließlich auf die Beurteilung der Ärzte angewiesen sind, inwieweit diese aus medizinischen Gründen Ihre weitere Unterbringung im Maßregelvollzug für notwendig halten oder nicht. Jeder Arzt in einem Bezirkskrankenhaus ist daran interessiert, dass sein Haus voll ist, weil er für jeden Patienten Geld bekommt.

“… weil er für jeden Patienten Geld bekommt.” Dies ist, auf eine knappe Formel gebracht, die Essenz der politischen Ökonomie des psychiatrischen Sektors.

Hypnose

Man kann alle erdenklichen Verhaltensmuster und Erlebnisweisen durch Hypnotisierung hervorrufen, auch solche, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Diese Phänomene können auch bei Personen ausgelöst werden, die außerhalb des hypnotischen Zustandes keinerlei Anzeichen einer “psychischen Krankheit” erkennen lassen und deren Gehirn intakt ist. Man kann durch Hypnotisierung visuelle und akustische Halluzinationen,  Wahnvorstellungen, Zwänge, Ängste und Depressionen induzieren, was auch immer, nur die Fantasie setzt hier die Grenzen. Dazu sind keine Drogen erforderlich, die sich auf die Funktionsweise des Gehirns auswirken. All diese angeblichen Krankheitssymptome können von einem völlig intakten Gehirn produziert werden, das auch im Spiegel moderner Untersuchungsmethoden keinerlei Auffälligkeiten zeigt. Es genügen die Stimme und die Worte des Hypnotiseurs (8).

Daraus folgt im Grunde zwingend, dass solche “Symptome” keineswegs eindeutig auf eine “psychische Krankheit”hindeuten, der gar eine mutmaßliche Schädigung oder Anomalie des Nervensystems zugrunde liegt. Wenn man die Diagnose der “psychischen Krankheit” nur vom Vorhandensein solcher “Symptome” abhängig macht (genau dies tun die psychiatrischen Diagnose-Schemata), dann handelt man nicht auf wissenschaftlicher Grundlage, sondern dann unterwirft man die Betroffenen sozialer Etikettierung.

Die angeblichen Symptome gehören zum natürlichen Spektrum der Leistungsformen des menschlichen Gehirns bzw. des Mind/Brain-Systems. Wenn jemand sie im Übermaß zeigt, dann ist das nicht etwa generell Ausdruck einer Krankheit, sondern eine Abweichung von der Norm, die auf einem individuellen Präferenzsystem beruht. Dieses Präferenzsystem manifestiert sich in einem spezifischen Lebensstil. Lebensstil wird hier nicht im Sinne von “Lifestyle”, also einer bestimmten Konsumentenhaltung verstanden. Vielmehr gebrauche ich diesen Begriff im Sinne von Alfred Adler, der die spezifische Finalität des individuellen Handelns als Lebensstil bezeichnete.

Menschen unterscheiden sich von ihren Mitmenschen durch das Spektrum ihrer Lebensziele, die sie bewusst bzw. meistens unbewusst anstreben. Dies bedingt zwangsläufig unterschiedliche Lebensstile. Lebensstile sind aber keine Krankheiten und bedürfen daher ärztlicher Behandlung nicht. Natürlich gibt es neurologische Krankheiten, deren Symptome manchen Erscheinungen ähneln, die als “psychisch krank” bezeichnet werden. Doch man darf neurologische Störungen nicht mit “psychischen Krankheiten” verwechseln. Neurologische Erkrankungen sind sogar ein Ausschlusskriterium für “psychische Krankheiten”. Diese zeichnen sich aus psychiatrischer Sicht nämlich gerade dadurch aus, dass man eine zugrunde liegende Störung des Nervensystems zwar unterstellt, aber nicht nachweisen kann.

Aus diesem Grunde halte ich das Konzept der “psychischen Krankheit” für nicht angemessen und Formen der Betreuung, die sich auf dieses Konzept berufen, für nicht fachmännisch. An die Stelle medizinischer Angebote sollten Selbsthilfegruppen treten, die bei Bedarf von Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und vor allem von semi-professionellen Helfern unterstützt werden. Diese Unterstützung muss auf sozialwissenschaftlichen Konzepten beruhen. Ärzte dürfen nur dann tätig werden, wenn es tatsächliche, also körperliche Krankheiten zu behandeln gilt.

Ein Steuerungsinstrument

Man kann am Beispiel der hypnotisch induzierten “psychischen Krankheiten” unschwer erkennen, dass es sich bei diesen so genannten Erkrankungen um soziale Konstrukte handelt, hinter denen, erkennbar, politische und ökonomische Interessen stecken. Diese Diagnosen sind einerseits Produktivkräfte in einer milliardenschweren Psycho-Industrie und sie sind andererseits Legitimationen für Formen der sozialen Kontrolle, die ohne diese Fiktion offensichtlich gegen die Prinzipien des Rechtsstaats verstoßen würden.

Psychodiagnosen sind Etiketten, die in erster Linie der politischen und wirtschaftlichen Steuerung von Menschen dienen. Die Medikalisierung führt dazu, dass immer mehr alltägliche Probleme und Konflikte nicht mehr individuell und situationsspezifisch gelöst werden, sondern nach den abstrakten und schematischen Vorgaben von pseudomedizinischen Psycho-Ideologien. Von dieser Standardisierung profitieren der Staat und die anderen Nutznießer des kapitalistischen Systems; die Verlierer sind, wie immer, die Ärmsten der Armen.

Überall da, wo es noch intakte großfamiliäre oder dörfliche Strukturen gibt, hat die Medikalisierung keine Chance. Dort aber, wo Individualismus und Vereinzelung vorherrschen, wie in den Großstädten und vor allem in den Metropolregionen, kann sich die totale Kontrolle durch medizinische und quasi-medizinische Instanzen ungehindert durchsetzen. Zwei Motoren treiben die Medikalisierung voran, ein politischer und ein wirtschaftlicher. Es gibt daher auch zwei grundsätzliche Mittel, ihr entgegenzuwirken, nämlich den Stimmzettel und die Versichertenkarte.

Anmerkungen

(1) Aboraya, A. (2007). Clinicians’ Opinions on the Reliability of Psychiatric Diagnoses in Clinical Settings. Psychiatry, 4(11):31-33

(2) Aboraya, A. et al. (2006). The Reliability of Psychiatric Diagnosis Revisited. Psychiatry, 3(1): 41-50

(3) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York, N. Y.: Blue Rider Press (Penguin Group)

(4) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(5) Cosgrove L, Krimsky S (2012) A Comparison of DSM-IV and DSM-5 Panel Members’ Financial Associations with Industry: A Pernicious Problem Persists. PLoS Med 9(3): e1001190. doi:10.1371/journal.pmed.1001190

(6) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(7) Goldacre, B. (2012). Bad Pharma: How drug companies mislead doctors and harm patients. Fourth Estate: London (UK)

(8) Davon kann man sich in jedem beliebigen Lehrbuch der Hypnose überzeugen, beispielsweise hier: Hilgard, E. R. (1977). Divided Consciousness: Multiple Controls in Human Thought and Action. New York: John Wiley & Sons

(9) Hunt, E. K. & Sherman, H. J. Volkswirtschaftslehre. Einführung aus traditioneller und kritischer Sicht. Bd. 1: Mikroökonomie. Frankfurt / New York: Campus Verlag

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Neuroleptika: Fakten und Fiktionen

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Einen Jux will er sich machen

Es macht Spaß, einschlägig erregbare Zeitgenossen mit der Behauptung zu provozieren, dass es keine psychischen Krankheiten gebe. Denn gäbe es sie, dann müssten ihnen nachweisbare Schäden des Nervensystems zugrunde liegen. Lägen ihnen aber solche nachweisbaren Schäden zugrunde, dann handelte es sich offensichtlich nicht um psychische, sondern um neurologische Erkrankungen – die gibt es natürlich, keine Frage.

Man könnte zwar durchaus Phänomene des Verhaltens und Erlebens als krank bezeichnen, dies aber nur im uneigentlichen, im übertragenen, in bildhaftem Sinn; es handele sich dann um ein moralisches Urteil, nicht aber um eine medizinische Diagnose. Diese Einschätzung habe ebenso wenig mit Medizin zu tun wie die Behauptung, ein Auto gebe kranke Geräusche von sich. Man würde in diesem Fall eventuell den Mechaniker bemühen, und nicht den Arzt. Daran zeige sich der uneigentliche Charakter derartiger Bezeichnungen.

Man könne, heißt es dann, und manche, die das folgende Standardargument vortragen, haben nun bereits einen hochroten Kopf und schauen,  mit ihrem wutverzerrten Gesicht, niedlich aus, man könne, so heißt es dann mit gepresster Stimme, doch leicht erkennen, wie dumm und ungebildet ich sei, weil schließlich die Kranken selbst sich als krank empfänden, wenn nicht sofort, so doch, sobald die Medikamente anschlügen. Außerdem litten sie, und zum Teil grauenvoll.

Schauen wir uns beispielsweise die so genannten Schizophrenen etwas genauer an, antworte ich und nehme in Erwartung körperlicher Angriffe ein wenig Abstand von meinem Gegenüber: Bei den so genannten Schizophrenen liegen keine körperlichen Störungen vor. Darum verzichten Psychiater bei der Diagnose dieser angeblichen Krankheit ja auch auf objektive Methoden wie Hirn-Scans oder Bluttests und verlassen sich ausschließlich auf ihr subjektives Urteil. Objektive medizinische Diagnosemethoden werden allenfalls zur Differenzialdiagnose eingesetzt, nämlich um zu prüfen, ob es sich nicht doch um eine Erkrankung des Nervensystems oder um eine andere körperliche Krankheit handelt, die ähnliche „Symptome“ hervorbringt. Eine neurologische Erkrankung wäre nämlich eine Ausschlussdiagnose. Läge sie vor, dann dürfte keine “Schizophrenie” diagnostiziert werden. Daher ist es auch kein Wunder, dass viele angeblich “Schizophrene” nicht krankheitseinsichtig sind.

Jeder halbwegs vernünftige Mensch kann bei diesem Sachstand schließlich nicht einräumen, eventuell krank zu sein, wenn die psychiatrischen Manuale einschlägige neurologische Störungen als Ausschlusskriterien für diese Diagnose benennen. Er wird nicht krankheitseinsichtig sein, wenn er weiß oder ahnt, dass diese Diagnose nur davon abhängt, ob dem diagnostizierenden Psychiater die Nase des Diagnostizierten gefällt oder nicht.

Eine dienstliche Miene

Wenn ich Derartiges behaupte, nehmen viele, die soeben noch kurz davor standen zu explodieren, Haltung an und setzen eine dienstliche Miene auf. „Die Krankheitseinsicht der meisten Schizophrenen widerlegt sie!“, sagen sie dann, oft im Tonfall eines Nachrichtensprechers. Sofern zuvor ein Anflug des Selbstzweifels in ihrem Gesicht vorhanden gewesen sein sollte, so ist dieser nun verflogen. Da ich zunächst nicht antworte, herrscht Stille wie in einem verlassenen Kirchenschiff. Nun wäre es schön, wenn eine Orgel aufbrausen oder wenn sich der Himmel öffnen würde mit Trompetenklang. Leider geschieht zumeist nichts Vergleichbares, allein, wenn der Vorgang sich im Freien abspielt, zwitschert vielleicht ein Vogel, zirpt eine Grille, plärrt ein Kind.

Nun lächele ich milde, lasse unhörbar in meinem Inneren ein Jagdhorn schmettern, ziehe betont langsam meinen ersten Pfeil aus dem Köcher, ziele und schieße: „Grundsätzlich ist es so, dass Neuroleptika apathisch machen. Daher mag es einigen Schizophrenen nach einiger Zeit gleichgültig sein, ob man sie als krank bezeichnet, so dass sie, um des lieben Friedens willen, ‚Krankheitseinsicht‘ zeigen. Ein schöner Erfolg, fürwahr!“

Das sei früher einmal so gewesen, in einigen Fällen, heißt es dann. Seitdem es aber die modernen, die atypischen Neuroleptika gebe, würden die Behandelten nicht mehr apathisch. Ich übergehe den Hinweis auf die modernen Medikamente zunächst mit arger List. Mein Gegenüber soll glauben, dass ich darauf nicht zu sprechen komme, weil ich dieses Argument nicht zu kontern weiß. Er soll sich in Sicherheit wiegen, damit ich ihn später auf kaltem Fuß erwischen kann. Ohne Vorwarnung. Das Gesicht will ich sehen.

„Wenn Neuroleptika keine Apathie auslösen, dann haben sie auch keine ‚antipsychotische‘ Wirkung“, sage ich und bemühe mich, wie die Fleisch gewordene Lethargie zu wirken.

„So ein Quatsch!“

Ein überlegenes Lächeln huscht nun über das Gesicht meiner Kontrahenten – so wie bei einem Nachrichtensprecher, der über absonderliche Einstellungen und Machenschaften designierter Verschwörungstheoretiker berichtet.

„Kein Quatsch, das ist der Wirkmechanismus.“

„Höchstens bei den alten, den typischen Neuroleptika! Seitdem es die neuen, die atypischen…“

„Da die Neuroleptika nicht kausal wirken, also die Ursache des als ‚psychotisch‘ etikettierten Verhaltens und Erlebens nicht beeinflussen, kann ihre Wirkung nur darin bestehen, das Nervensystem zu dämpfen. Es zeigen sich regelhaft folgende Wirkungen:

  • Die Reizbarkeit auf innere und äußere Stimuli wird vermindert,
  • ebenso die Vitalität.
  • Charakteristisch ist ein Mangel an emotionalem Ausdruck.
  • Oft wird das Gesicht wächsern, leichenhaft, erinnert an eine Maske.
  • Der Eigenwille ist nahezu außer Kraft gesetzt.“

Was mein Gegenüber nicht weiß und nicht wissen soll: Ich trage hier Gedanken aus einem Buch des kritischen Psychiaters Peter Breggin vor (i), das zu einer Zeit erschien, als die so genannten „atypischen Neuroleptika“ noch keine besondere Rolle spielten und das erste atypische Neuroleptikum zur Behandlung der Schizophrenie gerade erst auf den Markt gekommen war.

Encephalitis lethargica

Der Pfeil bleibt hängen. Mein Gegenüber versucht, ihn abzuschütteln. Bei den alten Neuroleptika habe es häufiger solche Reaktionen gegeben, sagt er, aber das sei nun wirklich Schnee von gestern. Ich lasse mich durch dieses meteorologische Argument, obwohl es plausibel klingt, natürlich nicht beirren, denn ich habe ja nicht die geringste Absicht, in dieser Phase der Entwicklung auf Argumente meines Kontrahenten einzugehen, sondern fahre fort:

„Am Rande sei erwähnt, dass dies auch die Symptome der Encephalitis lethargica sind. Mit anderen Worten: Neuroleptika rufen die Symptome einer schweren neurologischen Erkrankung hervor. Sie heilen nicht, sondern sie unterdrücken ein Spektrum normabweichenden Verhaltens dadurch, dass sie eine artifizielle Encephalitis lethargica produzieren. Sie sind auch noch mit weiteren neurologischen und sonstigen körperlichen Schädigungen verbunden. Auch die neueren, so genannten atypischen Neuroleptika sind hinsichtlich der Nebenwirkungen nicht positiver zu sehen als die typischen. Patienten, die atypische Neuroleptika erhalten, haben gegenüber Patienten, die mit typischen Neuroleptika behandelt werden, beispielsweise ein deutlich erhöhtes Diabetes-Risiko. Es ist also keine ‚krankheitsbedingte‘ Uneinsichtigkeit, die Menschen dazu veranlasst, diese Medikamente abzulehnen. Vielmehr handelt es sich um die ‚gesunde‘ Einsicht, dass diese Substanzen mehr schaden als nutzen. Sie heilen keine Krankheit; sie rufen Krankheiten hervor.“

„Die meisten Patienten sind heute mit der medikamentösen Behandlung zufrieden“, sagt mein Gegenüber. „An Ihnen scheint die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre vorübergegangen zu sein. Heute werden die Menschen durch Neuroleptika nicht mehr apathisch. Im Gegenteil. Sie werden durch sie wieder leistungsfähig, können arbeiten, ihr Leben genießen. Manche werden wieder richtig spritzig, da kenne ich einige.“

Nun hole ich einen zweiten Pfeil aus dem Köcher, halte ihn gegen das Licht, drehe ihn zwischen den Fingern und präsentiere die hübschen Federn an seinem Ende. Dann lege ich an. Zisch:

„So, so. Es mag ja sein, dass Betroffene ihrem Psychiater Dergleichen erzählen. Anderswo klingt das aber anders. Es gibt zumindest eine Studie, die sich mit den Befindlichkeitsbeschreibungen von Neuroleptika-Konsumenten im Internet auseinandersetzt. Sie stammt von Moncrieff und Cohen.ii  Sie erschien vor ein paar Jahren und sie bezieht die neuen, die modernen Neuroleptika mit ein. Die Wissenschaftler untersuchten die mit dem Neuroleptikakonsum verbundenen subjektiven Effekte. In dieser Studie wurden die modernen Präparate Olanzapin und Risperidon sowie drei ältere Medikamente berücksichtigt. Die Forscher werteten Kommentare aus, die Betroffene in Internetforen hinterlassen hatten. 223 bezogen sich auf Risperidon, 170 auf Olanzapin und 46 auf die drei älteren Mittel. Die vorherrschenden subjektiven Effekte waren bei allen Medikamenten Sedierung, kognitive Beeinträchtigungen und eine emotionale Verflachung. Bei den älteren Mitteln waren diese Symptome mit Phänomenen verbunden, die den Symptomen einer Parkinson-Erkrankung (Schüttellähmung) glichen, wohingegen die neueren Medikamente mit sexuellen Störungen (Risperidon) bzw.  Stoffwechselstörungen (Olanzapin) korrelierten. Das Phänomen der Sitzunruhe ging oft mit Selbstmordgedanken einher. Sitzunruhe steht nicht in Widerspruch zur Apathie, denn ein quälender Bewegungsdrang ist keine sinnvolle und befriedigende Aktivität. Die Schlussfolgerung der Autoren lautete, dass die Generalisierbarkeit von Internetdaten zwar fraglich sei, die Befunde aber dennoch nahelegten, dass unangenehme subjektive Effekte eine zentrale Rolle in der Erfahrung von Neuroleptika-Konsumenten spielten – auch wenn einige Patienten davon sprachen, dass ihnen die Medikamente geholfen hätten, ihre Probleme zu bewältigen.

So positiv, wie Sie behaupten, klingt dies nun wirklich nicht. Sehr häufig werden genannt (theatralisch zähle ich die Punkte an meinen Fingern ab):

  • Sedierung, kognitive Beeinträchtigung, emotionale Verflachung und Indifferenz
  • Parkinsonismus bei den typischen Neuroleptika – sexuelle Störungen bei Risperidon
  • metabolische Störungen bei Olanzapin
  • Akathisie verbunden mit Selbstmordgedanken
  • negative subjektive Effekte spielen eine zentrale Rolle.

Diese Untersuchung bestätigt, was ich bei eigenen Internet-Recherchen zu diesem Thema erfahren habe. Bei Foren, in denen alle mit Neuroleptika zufrieden sind, sollte man sein Augenmerk auf das Impressum richten. Es bleibt dabei: Neuroleptika erzeugen Apathie. Sie wären ja auch gar nicht in der Lage, ‚psychotische Symptome‘ zu unterdrücken, wenn sie nicht apathisch machen würden. Und dies gilt gleichermaßen für die neuen, wie für die alten Präparate.“

Andere Erfahrungen

Wie aus der Pistole geschossen, kommt das Gegenargument meines Gegenübers. Er habe ganz andere Erfahrungen gemacht. Er nennt mir einige Internet-Foren, in denen die Poster keineswegs über Apathie klagten, sondern allenfalls über Gewichtszunahme. Ich tue so, als ob ich seinen Einwand nicht gehört hätte. Stattdessen streiche ich mir scheinbar gedankenverloren durchs Haar, in Wirklichkeit aber mit dem Ziel, meinem Kontrahenten meine Hörgeräte zu präsentieren, die ansonsten unter meinem Schopf passabel verborgen sind. Er soll glauben, dass ich ihn akustisch nicht verstanden habe.

„Meine Erfahrungen können die Studie jedenfalls nicht bestätigen“, sagt mein Gegenüber, nun deutlich lauter, und ich kann mir nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen, weil er nun mit mir wie mit dem Insassen eines Altersheims spricht, nicht nur laut und überdeutlich, sondern auch so, als sei ich dement.

„Warum sollte man denn den Leuten, die sich an den von Ihnen empfohlenen Orten im Internet sammeln, mehr glauben als den Betroffenen, die in die von mir zitierte Studie einbezogen wurden? Glauben Sie etwa, die Aussagen der Leute in den von Ihnen genannten Foren seien eher generalisierbar? In den Foren des Internets tummeln sich zahllose Leute, die Neuroleptika nehmen oder genommen haben, und die bekunden höchst unterschiedliche Erfahrungen. In den Stichproben, die ich selbst gezogen habe, waren die meisten eher unzufrieden. Davon kann sich ja jeder selbst überzeugen, der sich ein bisschen Zeit zum Surfen nimmt. Egal, welche Art von Neuroleptikum konsumiert wird: die Apathie steht an erster Stelle der Beschwerden.“

Dies stimmt natürlich nicht oder nur teilweise, aus Gründen, die noch zu erläutern sein werden. Aber, um der guten Sache zum Sieg zu verhelfen, darf man ruhig ein bisschen schwindeln.

„Im Übrigen wird die Apathie auch in einschlägigen wissenschaftlichen Werken und Fachzeitschriften als gravierende ‚Nebenwirkung‘ genannt – und dies sogar von Autoren, die Neuroleptika befürworten.“

Diese Aussage ist durchaus zutreffend. Geschickt tarne ich damit meine Lüge zuvor.

„Und ich bleibe dabei. Apathie ist heute die Ausnahme.“

“Bei wem? Bei den Leuten, die in den Foren posten, die Sie empfehlen? Ich will Ihnen ja keine bösen Absichten unterstellen, vielmehr fürchte ich, dass Sie bisher nur nicht bemerkt haben, dass die von Ihnen frequentierten Foren nicht repräsentativ sind.“

„Meine Erfahrungen beziehen sich nicht nur auf Foren. Der Herr möge zur Kenntnis nehmen, dass ich Psychiater bin, seit 35 Jahren im Beruf, nunmehr schon lange in leitender Stellung.“

Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem ich meinen Gegner durch allerlei Windungen und Wendungen verwirren kann, denn wer sich auf seine Autorität beruft, ist reif für Kommunikationsstrategien, die Konfusion hervorrufen. (Um die Damen und Herren bei der NSA nicht zu beunruhigen, verzichte ich darauf, diese Strategien näher zu erläutern.)

„Klar, wenn man Leute so niedrig dosiert, dass eigentlich nur noch der Placebo-Effekt zum Tragen kommt, dann stellt sich womöglich keine Apathie ein. Sobald hoch genug dosiert wird – so dass sich überhaupt eine echte medikamentöse Wirkung entfalten kann -, werden die Leute größtenteils mehr oder weniger apathisch. Manche nennen das dann auch lethargisch, emotional taub, gleichgültig, „Leck‘-mich-am-Arsch-Stimmung. Die ‚Symptome‘ haben sie unter dem Einfluss ihrer Medikamente zwar immer noch, aber sie regen sich nicht mehr darüber auf. Dazu fehlt ihnen die Kraft. Bei vielen reicht der Schwung noch nicht einmal dazu, sich über ihre Medis im Internet zu beschweren. Dies muss man natürlich bedenken, wenn man sich die Nebenwirkungsprofile der einschlägigen Neuroleptika bei ‚Druginformer‘iii genauer anschaut. Obwohl diese in dieser Datenbank höchstwahrscheinlich unterschätzt werden, ist die Sache immer noch gruselig genug.“

Keine Ahnung

„Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie sprechen!“

„Ich habe im Laufe meines schon etwas längeren Lebens eine ganze Reihe von Leuten unter Einfluss von Neuroleptika beobachtet, teilweise täglich, und ich weiß, wovon ich rede. Wer das Zeug freiwillig und wissend, was er tut, nehmen will, dem werde ich nicht davon abraten. Aber ich empfehle dringend, sich nicht nur auf die Werbesprüche der Pharmaindustrie zu verlassen und etwas genauer hinzuschauen. Druginformer könnte ein erster Einstieg sein. Neuroleptika sind keine Bonbons und auch keine Homöopathie, sondern Hämmer. Wer das Zeug über längere Zeit nimmt, muss mit Schäden rechnen, die nicht wieder weggehen. Und das sind teilweise Schäden, die ich meinem ärgsten Feind nicht an den Hals wünschen würde.“

Mein Ablenkungsmanöver ist gelungen. Mein Gegenüber fragt nicht danach, wo und in welchem Zusammenhang ich meine Erfahrungen mit “Schizophrenen” gesammelt habe, sondern er hängt an den irreversiblen Nebenwirkungen fest.

„Die gibt es, das bestreitet niemand. Nicht nur wir Psychiater müssen oftmals den Teufel mit Beelzebub austreiben. Auch anderen Ärzten bleibt vielfach nichts anderes übrig. Das ist nun einmal so und lässt sich nicht ändern.“

„Mitunter schon“, antworte ich. „Es sieht schon wieder nach Regen aus. Dieser Sommer geht mir auf den Geist!“

Wenn ich seine Geste richtig deute, will er nun nach seinem Rezeptblock in der Jackentasche greifen, hält aber kurz zuvor inne, als habe er sich eines Besseren besonnen. Diese kurze Verunsicherung nutze ich und fahre fort:

„Natürlich gibt es auch Ausnahmen von der Regel. Neulich traf ich einen Menschen, der voll des Lobes für Haldol war.“

„Sehen Sie“, antwortet mein Kontrahent. „Man soll sich nicht von Vorurteilen leiten lassen.“

Er kramt nunmehr technisches Gerät aus seinem Arztkoffer hervor. Es schimmert und glänzt. Bei genauerem Hinsehen entpuppt es sich als ein sündhaft teures Smartphone – ein Modell mit vielen zusätzlichen Schikanen, das häufig als Werbegeschenk auf Veranstaltungen der Pharma-Industrie verteilt wird. Es prunkt nur so vor Brillanten in Goldfassung.

„Wie war noch einmal die Adresse von diesem ‚Druginformer‘?“

Ich nenne ihm den URL.

„Schauen wir doch einmal, was sich für ‚Haldol‘ ergibt.“

Wir lesen gemeinsam, was auf dem Display erscheint:

„Schläfrigkeit (Somnolence) 3,3 %; Schlafstörung (Sleep Disorder) 3 %; Erschöpfung (2,3 %); Schlafstörung (Insomnia) 1,8 %; Alpträume 1,5 %; Sedierung 1,3 %; Lethargie (0,8 %).“ (Diese Werte können sich im Lauf der Zeit natürlich ändern, HUG.)

„Das ist zwar unschön, aber von dominierenden negativen subjektiven Effekten kann ja nun wirklich nicht gesprochen werden“, sagt er.

„Hier ist natürlich zu bedenken“, antworte ich, während ich ganz leicht und unmerklich ins Schwitzen komme, „dass diese Prozentzahlen sich auf Berichte in Foren und sozialen Netzwerken beziehen. Man muss also damit rechnen, dass in dieser Datenbank die tatsächliche Häufigkeit von Apathie, Lethargie, Müdigkeit etc. unterschätzt wird, weil die am schlimmsten Betroffenen nicht die Kraft und das Interesse haben, im Internet zu posten. Selbstverständlich: Man kann Neuroleptika so niedrig dosieren, dass diese Phänomene nicht oder nicht sehr ausgeprägt auftreten. Dann haben diese Drogen aber auch keine pharmakologische Wirkung. Was sich in diesen Fällen zeigt, ist überwiegend Placebo-Effekt und ‚Spontanheilung‘. Man wartet darauf, dass die ‚Symptome‘ von allein wieder verschwinden. Dies dann der Substanz zuzuschreiben, ist mit Sicherheit nicht gerechtfertigt. Im Übrigen handelt es sich um einen Nocebo-Effekt, wenn das Verschwinden der ‚Symptome‘ fälschlicherweise einem Medikament zugeschrieben wird. Diese Zuschreibung schadet den Betroffenen, weil sie dann nicht erfahren, dass sie in der Lage sind, ihre Probleme aus eigener Kraft (ohne Pillen und Doktoren) überwinden zu können.“

„Sie finden auch immer eine Ausrede!“, sagt mein Kontrahent. „Fakt ist: Wir verordnen unseren schizophrenen Patienten keine Homöopathika, sondern hochpotente Mittel in angemessener Dosierung.“

Ich erwäge kurz, schon jetzt einen weiteren Pfeil aus meinem Köcher zu ziehen, entscheide dann aber, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist und plänkele stattdessen ein wenig auf die plumpe Art.

„Ich wiederhole: Apathie (Lethargie, Schläfrigkeit, Mattigkeit, Sedierung etc., emotionale Verflachung, das Gefühl, eingemauert zu sein, massive Demotivierung) ist keine Nebenwirkung der Neuroleptika, sondern die eigentliche Hauptwirkung. Sie, diese Hauptwirkung, sorgt für das Unterdrücken des unerwünschten Verhaltens und Erlebens. Wenn keine Apathie eintritt, haben diese Substanzen – meist, weil sie zu niedrig dosiert sind oder weil die Betroffenen auf die jeweiligen Substanzen nicht reagieren – auch keine pharmakologische Wirkung, sondern allenfalls sind sie mit einem Placeboeffekt verbunden. Dies ergibt sich im Übrigen allein schon aus der Tatsache, dass Neuroleptika keine kausalen, sondern symptomatisch wirkende Mittel sind. Dies wird ja sogar von Befürwortern dieser Mittel eingeräumt. Ebenso wenig, wie Schmerzmittel die Ursache des Schmerzes bekämpfen, ebenso wenig beseitigen die Neuroleptika die Ursachen des unerwünschten Verhaltens und Erlebens. Schmerzmittel wirken, weil sie den Schmerz lindern – und Neuroleptika wirken, weil sie apathisch machen und sedieren. Dies sollte, mit einigem guten Willen, einleuchten.“

„Das mag auf die alten Mittel zutreffen, auf die neuen aber nicht. Diese haben eine genuine antipsychotische Potenz, die unabhängig von der Sedierung zu sehen ist.“

Placebo-Effekt

Ich springe auf den Marketing-Begriff “antipsychotische Potenz” natürlich nicht an, sondern spiele den Oberlehrer.

„Sagt Ihnen der Begriff Placebo-Effekt etwas?“

„Sie werden staunen, ja, und nicht nur das. Deswegen machen wir ja Placebo-Studien und in diesen zeigt sich regelmäßig, dass unsere Medikamente eine eigenständige, also eine pharmakologische Wirkung besitzen.“

„Die Bedeutung des Placebo-Effekts bei den Neuroleptika ist hoch und nimmt beständig zu, wie eine neuere Studie der FDA ergab.“iv

„Das mag sein, widerspricht aber meiner Aussage nicht.“

„Was meinen Sie denn: Wie viel Prozent der Schizophrenen sprechen angemessen auf ein Neuroletikum an, im Durchschnitt?“

„Grob geschätzt: 70 Prozent!“

“Und wie viel Prozent der Schizophrenen würden gleichermaßen auf ein Placebo reagieren?”

„Ich will nicht lügen, sagen wir einmal: 40 Prozent.“

„Also gut. Machen wir ein kleines Rechenexempel. Nehmen wir dazu Ihre Zahlen, die im Übrigen bis vor, sagen wir, zehn, fünfzehn Jahren durchaus realistisch waren. Setzen wir also voraus, ein Neuroleptikum wirke bei 70 % der Teilnehmer der Experimentalgruppe eines Versuchs und 40 % der Teilnehmer der Placebogruppe reagierten ebenfalls positiv.

Dies bedeutet, dass 40 Prozent der Teilnehmer der Placebo-Gruppe auch positiv reagiert hätten, wenn man sie der Experimentalgruppe zugeteilt hätte. Daraus folgt (im Einklang mit Adam Riese): Direkter chemischer Effekt der Droge = 0,70 mal (1 – 0,40) = 0,42. Dies bedeutet, dass der direkte pharmakologische in diesem Beispiel nicht nennenswert größer ist als der Placeboeffekt. Nun dosieren wir niedrig, um das Apathie-Phänomen zu minimieren. Entsprechend reagieren nur noch – sagen wir – 60 Prozent der Experimentalgruppe positiv. Dann folgt: 0,60 mal (1 – 0,40) = 0,36. Dies heißt, dass in diesem Fall die ‚reale‘ Wirkung des Neuroleptikums in dieser schwächeren Dosierung bereits geringer ist als der Placeboeffekt. Es dürfte sich eigentlich von selbst verstehen, dass diese Überlegungen nicht nur medizinisch, sondern auch volkswirtschaftlich bedeutsam sind, denn Neuroleptika sind bekanntlich erheblich teurer als Zuckerpillen. Bei den Zuckerpillen ist schließlich schon lange der Patentschutz abgelaufen.“

„Trotzdem helfen die Neuroleptika besser als Zuckerpillen, selbst wenn ein beachtlicher Anteil an der Gesamtwirkung auf den Placebo-Effekt zurückgeht.“

Nun ist es Zeit, wieder einmal einen Pfeil abzuschießen.

„Es geht den Menschen aber langfristig besser, wenn man die Neuroleptika weglässt.“

„Unsinn, Unsinn und noch einmal Quatsch!“

„Darf ich Sie bitten, noch einmal ihr Gerät hervorzuholen.“

Pflasterritzenflora

Ich gebe ihm den URL meines Blogs „Pflasterritzenflora“. Dort zeige ich ihm folgenden Eintrag:

„1992 wurde die erste internationale WHO-Studie zum Verlauf von Schizophrenien veröffentlicht. Die Betroffenen wurden dreimal untersucht: zu Beginn der Studie, nach 2 und nach 5 Jahren. Den Patienten in den Entwicklungsstaaten ging es bei den Folgeuntersuchungen wesentlich besser als den Patienten in den entwickelten Staaten, und zwar sowohl hinsichtlich klinischer, als auch sozialer Kriterien.v

Ebenfalls 1992 wurde eine zweite Studie der WHO publiziert, die uneingeschränkt die Ergebnisse der ersten WHO-Untersuchung bestätigte. Die Forscher schlussfolgerten aus ihren Daten, dass in einem Entwicklungsland zu leben ein starker Prädiktor für eine vollständige Remission (Nachlassen von Krankheitssymptomen) sei.vi

Und nun kommt der Hammer. 2011 erschien eine Studie, die zeigte, dass die Entwicklungsverläufe bei den Schizophrenen in Entwicklungsländern nunmehr genauso schlecht waren wie die der Schizophrenen in den entwickelten Staaten.vii

Wie das? Das Rätsels Lösung: In den beiden ersten Studien wurden nur 15.9% der Patienten in den Entwicklungsländern kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt, verglichen mit 61% der Patienten in den USA und anderen entwickelten Staaten. In der dritten Studie jedoch wurden alle Patienten mit Neuroleptika behandelt. Man kann sich nun den Kopf darüber zerbrechen, ob es nicht andere Gründe außer dem Neuroleptika-Einsatz geben könnte, die diese Befunde erklären. Mir will so recht keiner einfallen. Haben Sie eine Idee?“

„In diesem Zeitraum könnten sich auch andere Einflussfaktoren verändert haben, nicht nur der Neuroleptika-Einsatz.“

Ich lenke ab.

„Ich wollte in diesem Monat noch eine Radtour machen, aber bei dem Wetter…“

„Lenken Sie nicht ab. Was sagen Sie zu meinem Argument?” Na, los!“

„Man kann sich viel ausdenken: Schauen Sie sich folgenden Eintrag in meinem Blog an.“

Ich nenne ihm den URL der entsprechenden Seite. Dort heißt es:

„Man kann sich viel ausdenken. Davon halte ich nichts. Ich orientiere mich an Fakten. Hier haben wir beispielsweise eine 20-Jahre-Follow-up-Studie aus einem Land, das man nicht als Entwicklungsland bezeichnen kann, nämlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika, von Harrow und Kollegen.viii Es zeigt sich, dass es den Patienten, die kontinuierlich mit Neuroleptika behandelt wurden, deutlich schlechter geht als anderen, die man nicht kontinuierlich mit Neuroleptika therapierte.

‚SZ-(SZ = Schizophrenie)-Patienten, die nicht für längere Zeiträume mit Antipsychotika behandelt wurden, waren weniger wahrscheinlich psychotisch und erfuhren mehr Perioden der Gesundung; sie hatten überdies günstigere Risiko- und Schutzfaktoren. SZ-Patienten ohne Antipsychotika wurden auch nicht häufiger rückfällig.‘ix

Damit bestätigt die obige Studie meine Erklärung, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes von ‚Schizophrenen‘ in den Entwicklungsländern auf vermehrten Einsatz von Neuroleptika zurückzuführen ist.“

Ein weißes Kaninchen

„Sie sollten nicht so studiengläubig sein. Als Praktiker sage ich Ihnen, dass die seltener neuroleptisch Behandelten einfach fitter waren, von Anfang an.“

„Dies wurde untersucht und stellte sich als zutreffend heraus. Damit ist aber nicht zwingend bewiesen, dass ihr besseres Abschneiden direkt darauf zurückzuführen wäre. Aus meiner Sicht waren die Fitteren nur besser darin, sich der Behandlung mit Neuroleptika zu entziehen und deswegen kam der Befund aus der Studie von Harrow zustande.“

Der Psychiater öffnet seinen Arztkoffer und ich sehe, wie ein weißes Kaninchen aus ihm emporsteigt. Seine langen Ohren verwandeln sich in Flügel und es flattert schwirrend wie ein Kolibri davon. Nunmehr schließt der Arzt seinen Koffer wieder und der Spuk ist vorbei. Da habe ich noch einmal Glück gehabt. Ich bitte ihn, in meinem Blog noch ein wenig weiterzublättern:

„Eine neuere Studie ergab, dass Wiederaufnahmen in Krankenhäuser bei Patienten, die mit atypischen Neuroleptika behandelt wurden, nicht seltener waren als Wiederaufnahmen bei Patienten, die mit typischen Neuroleptika behandelt wurden (x). Diese Studie bezieht sich auf Patienten, die zwischen 1991 to 2005 aufgenommen wurden. Dieser Befund spricht gegen die häufig vorgebrachte These, dass die Zunahme der Wiederaufnahmen von Schizophrenen in den Entwicklungsländern, die sich aus meiner Sicht durch vermehrten Einsatz von Neuroleptika ergeben hat, darauf zurückzuführen sei, dass man sich in Entwicklungsländern die ‚guten‘ atypischen Neuroleptika nicht leisten könne.“

„Es gibt immer tausend andere Erklärungen. Was wollen Sie mit solchen Studien eigentlich beweisen?“

„Nichts. Ich zähle Tatsachen auf. Bei den so genannten Erklärungen handelt es sich meist um Vermutungen. Man sollte Tatsachen und Interpretationen schon auseinanderhalten. Die Fakten sprechen für meine Position, die Vermutungen mitunter dagegen. Die Vermutung, dass eben die dauerhaft nicht neuroleptisch Behandelten bessere Ergebnisse hatten als die dauerhaft damit Therapierten, weil sie eben fitter waren, kontere ich mit einer Gegenvermutung: Hätten die dauerhaft mit Neuroleptika Behandelten sich dieser Behandlung häufiger entzogen, dann hätten sie all jene Tugenden (resiliency, less vulnerability, skills u. ä.) wiedergewonnen, die den Fitteren in entsprechenden Studien zugeschrieben wurden.

Um Vermutungen handelt es sich, weil es keine Methoden gibt, diese Tugenden objektiv zu messen. Darum sieht das Ganze so aus, als habe man auf Teufel kommt raus versucht, eine Erklärung für diese Befunde zu finden, die nicht darauf hinausläuft, die Neuroleptika für das schlechtere Abschneiden der dauerhaft mit diesen Medikamenten behandelten Gruppe verantwortlich zu machen. Dies ist aus meiner Sicht jedoch die einzige Erklärung, die, unabhängig von meiner ebenso unbewiesenen Gegenvermutung, auf den bekannten Fakten fußt.

Überdies deutet eine neuere Studie darauf hin, dass es auf die Fitness gar nicht ankommt. In dieser Studie nämlich wurden die Versuchsteilnehmer (Menschen mit einer ersten psychotischen Episode) zu Beginn der Untersuchung zufällig auf zwei Gruppen verteilt. Die eine Gruppe erhielt kontinuierlich Neuroleptika (MT), bei der anderen wurde die Dosis reduziert und das Medikament schließlich ausgeschlichen (DR). Der Versuch lief über 18 Monate, danach oblag die weitere Behandlung dem jeweiligen Ärzten. Nach sieben Jahren hatten die Teilnehmer der DR-Gruppe in etwa die doppelte Gesundungsrate, verglichen mit den Patienten der MT-Gruppe (40,4 % zu 17,6 %).xi Dies ist die erste Studie dieser Art; und sie muss daher mit der methodisch gebotenen Vorsicht betrachtet werden. Zweifelsfrei bestätigt diese randomisierte Untersuchung aber den Trend, der sich in den bereits erwähnten naturalistischen Forschungen abzeichnete.

Man möge sich hierzu auch folgende Fakten durch den Kopf gehen lassen: 1955 befanden sich in den USA 355000 Erwachsene in staatlichen psychiatrischen Anstalten. Während der folgenden drei Jahrzehnte, also in der Blütezeit der typischen Neuroleptika, stieg diese Zahl auf 1,25 Millionen.“

„Natürlich ist nicht alles Gold, was glänzt“, antwortet mein Gegenüber. „Die Präparate werden aber immer besser.“

„Blättern Sie bitte weiter!“, sage ich und führe ihn zu folgendem Eintrag in der Pflasterritzenflora:

„In einer Übersichtsstudie, die unlängst in ‘Mens sana’ erschien, schlussfolgern die indischen Autoren, dass die Zukunft der pharmakologischen Behandlung von Schizophrenien düster ausssehe. Man behandele nicht die Ursache, sondern Erscheinungsformen, und es sei nicht zu erkennen, dass sich dies durch neuere Medikamente ändern könntexii.

„Das kann man so oder so sehen. In welchem Bereich der Medizin gibt es denn kausal wirkende Heilmittel? Diese Inder wollen wohl alle mit Ayurveda behandeln, oder wie, oder was?“

„Vielleicht sollte man, ganz gleich, welche Mittel eingesetzt werden, einmal darüber nachdenken, was der Medikamenteneinsatz an sich bewirkt. Stress, vor allem extremer Stress, spielt bei all diesen Phänomenen der so genannten Schizophrenie eine erhebliche Rolle. Umso wichtiger ist es für den Betroffenen, über die Ursachen nachzudenken und sich klarzumachen, durch welche Aspekte der eigenen Innenwelt und der eigenen Lebensgeschichte man so besonders empfindlich gegenüber Stress geworden ist. Und das bringt mich auf einen weiteren, fatalen Aspekt der so genannten Psychopharmaka. Die werden ja mit dem Argument verkauft, die Phänomene seien durch irgendwelche Störungen im Gehirn verursacht. Auf die Idee, dass es stressige Erfahrungen sein könnten, die den Anlass zu diesen Phänomenen und eventuell auch zu gestörten Abläufen im Gehirn gegeben haben, kommt man erst gar nicht. Wer an die ‚biologische‘ Erklärung der Schizophrenie glaubt, denkt erst gar nicht über sein Innenleben und über Probleme in der Außenwelt nach, weil das dann ja überflüssig wäre. Falls aber die Stress-These zutrifft, dann ist dies genau der Weg in die Chronifizierung: Symptombekämpfung statt Auseinandersetzung mit den Ursachen. Dadurch wird der ‚Patient‘ immer hilfloser und immer abhängiger von den Pillen. Dies könnte auch die Zunahme ‚schwerer Verläufe der Schizophrenie‘ in den Entwicklungsländern erklären oder zumindest einen Teil der Erklärung darstellen. Schlucken statt reden: Das ist der falsche Weg, meine ich.“

Ein krampflösendes Mittel

„Ich bin kein Gegner der Psychotherapie“, sagt mein Kontrahent. „Ich bin ausgebildeter Psychoanalytiker und habe außerdem Zusatzausbildungen in Verhaltenstherapie, Hypnotherapie, Gestalttherapie, wissenschaftlicher Gesprächspsychotherapie, Psychodrama, systemischer Familientherapie und und und.“

Er schaut mich mit einem Blick an, als erwarte er, dass ich in Ehrfurcht erstarre.

„Sie haben nicht zufällig ein krampflösendes Mittel in Ihrem Arztkoffer?“, frage ich.

Meine Gesichtsmuskulatur zuckt. Mein Gegenüber scheint meine Frage nicht verstanden zu haben. Er blättert gedankenverloren in meinem Tagebuch, hält plötzlich inne und liest vor (es klingt wie ein Selbstgespräch):

„Es lässt sich nicht belegen, dass die atypischen Neuroleptika besser sind als die typischen.“xiii

Er schließt sein Smartphone, steckt es ein, reibt sich die Augen, blickt lange ins Leere und sagt schließlich: „Man kann ja gegen Psychopharmaka sagen, was man will: Sie haben Nebenwirkungen, ja, teilweise erhebliche, sogar irreversible. Sie sind nicht das Gelbe vom Ei, ja, sicher ist es besser, wenn ein Mensch ohne sie zurechtkommt, jedoch, was auch immer man vorbringen will und berechtigterweise auch kann, sie helfen, sie helfen auch Menschen in größter seelischer Not, bei denen alle anderen Maßnahmen versagt haben – und diese Patienten sind dankbar für ihre Medikamenten und wollten sie nicht missen. So what?“

“Jeder erwachsene Bürger soll nehmen, was er will, auch Neuroleptika, aber dazu zwingen darf man ihn nicht!”, rufe ich ihm hinterher, aber er scheint mich nicht mehr zu hören. Schließlich verschwindet er in einem Aktenschrank, der sich plötzlich, wie aus dem Nichts, vor ihm aufbaut.

Was bleibt nachzutragen?

Ich bat die Kellnerin, mir die Rechnung zu bringen. Sie hatte hübsche, bunte Bänder im Haar. Ich schrieb, dass ich in meinem Bericht einmal geschwindelt hätte, die Sache aber noch aufklären wolle. Nun habe ich vergessen, um was es eigentlich ging. Wenn Sie die Sache interessiert, lieber Leser, dann schauen sie doch einfach zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in der Pflasterritzenflora vorbei. Im Augenblick habe ich leider keine Zeit, mich um die Angelegenheit zu kümmern, weil ich unbedingt noch drei Teile von der linken auf die rechte Seite verlagern muss, und das kann dauern. Wenn mich doch nur der kleine Affe, der im Bonsai auf dem Fenstersims herumturnt, nicht immerzu mit Bananenschalen bewerfen würde, käme ich sicher schneller voran, aber leider fehlt mir das Werkzeug, der magische Tand, um wirksam eingreifen zu können.

Anmerkungen

i Breggin, P. (1991). Toxic Psychiatry. New York: St. Martin’s Press

ii Moncrieff, J. et al. (2009). The subjective experience of taking antipsychotic medication: a content analysis of Internet data. Acta Psychiatr Scand 2009: 1–10

iii http://druginformer.com/search/ – druginfomer.com ist eine Datenbank, die Nebenwirkungen von Medikamenten auflistet

iv Khin, N. A. et al. (2012). Exploratory Analyses of Efficacy Data From Schizophrenia Trials in Support of New Drug Applications Submitted to the US Food and Drug Administration J Clin Psychiatry 2012;73(6):856–864

v Leff, J. (1992). The International Pilot Study of Schizophrenia. Psychological Medicine 22: 131-145

vi Jablensky, A. (1992). Schizophrenia: Manifestations, Incidence and Course in Different Cultures. Psychological Medicine, supplement 20 (1992): 1-95
Jablensky 1992

vii Haro, J. (2011). Cross-national Clinical and Functional Remission Rates. Brit J of Psychiatry 199: 194-201

viii Harrow, M. Et al. (2012). Do all schizophrenia patients need antipsychotic treatment continuously throughout their lifetime? A 20-year longitudinal study. Psychol Med. Feb 17:1-11

ix
„SZ (SZ = Schizophrenie) patients not on antipsychotics for prolonged periods were significantly less likely to be psychotic and experienced more periods of recovery; they also had more favorable risk and protective factors. SZ patients off antipsychotics for prolonged periods did not relapse more frequently.“

x Valevski, A. et al. (2012). Antipsychotic monotherapy and adjuvant psychotropic therapies in schizophrenia patients: effect on time to readmission. International Clinical Psychopharmacology: May – Volume 27 – Issue 3 – p 159–164
Valevski 2012

xi Wunderink, L. et al. (2013). Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.19. Published online July 3

xii Andrade, C. et al. (2012). Psychopharmacology of schizophrenia: The future looks bleak. Mens Sana, (10) 1, 4-12 - „We argue that the treatment of schizophrenia addresses the phenotype and not the cause; that the causes may not be treatable even if identifiable; that secondary prevention approaches involving treating the phenotype before full-fledged illness develops have, so far, not yielded promising results; and that shifting the focus of treatment from dopamine to other neurotransmitter systems is merely a tertiary prevention approach which will not reverse the extensive structural and functional pathology of schizophrenia.“

xiii Geddes, J. et al. (2000). Atypical antipsychotics in the treatment of schizophrenia: systematic overview and meta-regression analysis. BMJ 321:1371 - Conclusions: There is no clear evidence that atypical antipsychotics are more effective or are better tolerated than conventional antipsychotics.“

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Sucht – eine Folge freier Entscheidungen

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Der Wille zum Konsum

Es war, so scheint es auf den ersten Blick, ein großer Fortschritt, als die Sucht nicht mehr als Zeichen von Charakterschwäche und moralischem Schwachsinn verstanden, sondern als Krankheit anerkannt wurde. Dies war eine Lockerung des abendländischen, christo-kapitalistischen Asketismus. Wer haltlos soff, war nicht mehr des Teufels, sondern er konnte dies, als Kranker, fürder im Stand der Unschuld tun.

Fortschritt? Vielleicht handelt es sich hier ja nur um einen Fortschritt im Bereich der guten Ausreden. Heute kann sich der Süchtige damit rechtfertigen, dass ihm die Psychiatrie bescheinige, an einer wahrscheinlich großteils angeborenen Hirnerkrankung zu leiden, die ihn zum Konsum seiner Drogen zwinge.

Die “Abhängigkeitserkrankungen” – und hier steht der Alkoholismus an erster Stelle – sind die häufigsten der so genannten psychischen Störungen überhaupt. Auch wenn Milliarden zur Untersuchung der Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten von “Abhängigkeitserkrankungen” ausgegeben wurden, darf man dieses Phänomen dennoch nicht als besonders gut erforscht betrachten.

Sucht – so lauten im Kern die Definitionen in den einschlägigen Lehrbüchern – ist ein komplexes Geschehen mit physischen, psychischen und sozialen Aspekten. Dies ist natürlich eine Leerformel, die vermutlich die Tatsache kaschieren soll, dass es eine einheitliche, empirisch erhärtete und von der Fachwelt geteilte Theorie der Suchtursachen nicht gibt (1). Auch der Versuch, eine Suchtpersönlichkeit zu identifizieren, darf im Licht der empirischen Forschung als gescheitert betrachtet werden; desgleichen war die Suche nach einzelnen süchtigen Persönlichkeitszügen nicht erfolgreich (2). Im Gesamt der Einflussfaktoren spielt die Genetik, wenn überhaupt, vermutlich nur eine eher untergeordnete Rolle. Eine neuere, umfassende Metaanalyse der Studien zur Erblichkeit des Alkoholismus ergab z. B., dass die Gene dieses Phänomen maximal zu einem Drittel beeinflussen (3). Dabei gilt es allerdings zu bedenken, dass alle diese Studien zur Erblichkeit grobe methodische Mängel aufweisen und daher vermutlich eine erhebliche Überschätzung des genetischen Einflusses darstellen (4).

Es gibt kein objektives Verfahren, durch das man Verhalten mit von Verhalten ohne Kontrollverlust unterscheiden könnte. Das „Zwanghafte“ der Sucht beruht auf Beobachtungen oder Selbstbeobachtungen, genauer, auf der Interpretation von Beobachtungen und Selbstbeobachtungen – und ob diese Interpretation den Tatsachen entspricht, bleibt dahingestellt. Aus nüchterner Sicht drängt sich eher der Verdacht auf, dass Suchtverhalten nicht auf einem unwiderstehlichen Zwang, sondern auf Präferenzen beruht. Der Süchtige möchte hier und jetzt einen euphorischen Zustand erreichen oder eine dysphorische Erfahrung (Entzug) vermeiden. Es geht also um Lust und Vermeidung von Unlust; also um ein alltägliches, normales Geschehen – und man muss keine „krankhafte Zwanghaftigkeit“ unterstellen, um derartige Phänomene zu erklären. Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass sich Hirnprozesse bei Süchtigen verändern. Doch dabei handelt es sich um Lernprozesse, die für lustvolle Erfahrungen gleich welcher Art charakteristisch sind. Wenn man deswegen die Sucht als krankhaft auffassen will, dann müsste man auch die Verliebtheit oder die Freude am Reisen als krankhaft bezeichnen (5). Alles, was Spaß macht oder Leiden erspart, kann süchtig  entarten.

Die Fähigkeit, kurzfristige Lusterfahrungen zugunsten langfristiger Erfolge aufzuschieben, wird in einer frühen Phase der kindlichen Entwicklung gelernt. Dieses Verhaltensmuster wird als „verzögertes Belohnungsmuster“ („deferred gratificaton pattern“ (6)) bezeichnet. Es ist schwierig, wenngleich nicht unmöglich, dieses Muster in einer späteren Lebensphase zu erwerben. Wer sich dieses Muster nicht bereits in früher Kindheit angeeignet hat, ist naturgemäß suchtgefährdet. Er wird dann unter Umständen süchtig, aber nicht wegen einer Krankheit, sondern weil ein Lernprozess nicht erfolgte, der u. a. vor der Entwicklung süchtigen Verhaltens schützt. Früher hätte man diesen Schutz als Selbstzucht bezeichnet. Man bewahrt im Genuss das Augenmaß und macht es sich nicht zur Gewohnheit, über die Stränge zu schlagen. Wer sich in Selbstzucht übt, wird durch die Vorstellung zukünftiger, größerer Freuden und Befriedigungen angetrieben. Wer nicht darauf vertraut, dass diese in Zukunft auch eintreten, ist geneigt, die größtmögliche Lust aus dem Augenblick herauszupressen – koste es, was es wolle.

Deswegen tendieren Menschen ohne verzögertes Belohnungsmuster zu riskanten Lebensstilen. Dabei muss es sich allerdings nicht unbedingt um süchtige Lebensstile handeln. Leute, die zu gefährlichen Überholmanövern, ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Partnern oder spontaner Kleinkriminalität neigen, gehören unter Umständen ebenfalls zu diesen Menschen mit nicht oder nur schwach ausgeprägtem „verzögerten Belohnungsmuster“.

Wer als Kind von seinen Eltern nicht dazu angehalten wurde, ein verzögertes Belohnungsmuster zu entwickeln, ist aber keineswegs dazu prädestiniert, entsprechende Devianzen zu entwickeln. Man kann, erst einmal zu Verstand gekommen, der Neigung zur Maßlosigkeit auch kraft eigener Entscheidung entgegenwirken – oder man kann andersherum den Mangel an Selbstzucht auch kultivieren und zum Lebensstil ausgestalten. Es ist jedenfalls kein biologischer oder sonstiger Mechanismus bekannt, der uns dazu zwänge, habituell vernünftige Grenzen zu missachten.

Gene Heyman zeigt in seinem Buch „Addiction – A Disorder of Choice“ (7), dass die psychologischen Gesetze, die dem menschlichen Wahlverhalten grundsätzlich zugrunde liegen, auch für Handeln mit Suchtgefährdung gültig sind. Menschen neigten dazu, so Heyman, zu viel vom dem zu konsumieren, was ihnen besonders gut gefalle. Die meisten Menschen vermieden es, süchtig zu werden, weil sie es verabscheuten, wie ein Süchtiger zu sein. Die so genannten Abhängigkeitserkrankungen seien die “Krankheiten” mit der höchsten Rate an Selbstheilern. Dies liege daran, dass (fast) alle Süchtigen mit dem Konsum von Suchtmitteln aufhörten, wenn das Verhältnis von Kosten und Nutzen intolerabel schlecht geworden ist.

Dies spräche, schreibt Heyman, dafür, dass es sich beim süchtigen um ein freiwilliges Verhalten handele, das – warum auch immer – maßlos geworden ist. Die meisten Süchtigen überwänden ihre Abhängigkeit ohne professionelle Hilfe. Bei Menschen, die in Befragungen angäben, im Laufe ihres Lebens schon einmal abhängig gewesen zu sein, seien ehemals Abhängige. Süchtiges Verhalten habe zweifellos eine erbliche Grundlage, aber dies ändere nichts daran, dass es unter der Kontrolle von Anreizen stehe und freiwillig sei.

Diese Auffassung vertritt auch Theodore Dalrymple, der viele Jahre als Psychiater in Gefängnissen mit Drogenabhängigen gearbeitet hat. Es sei die blanke Sentimentalität, Drogenabhängige als Opfer einer Krankheit zu sehen. Es sei durchaus zutreffend, dass die meisten dieser Abhängigen aus unglücklichen Milieus stammten. Doch dies mache ihre Sucht keineswegs unvermeidlich und unüberwindlich. Die meisten Abhängigen nähmen für eine lange Zeit hin und wieder Heroin, bevor sie es regelmäßig konsumierten und physiologisch abhängig würden. Es sei schlicht und ergreifend nicht wahr, dass die erste Spritze sie schon süchtig mache. Ihre Behauptung, sie seien hilflos gegenüber den Verlockungen des Drogenkonsums, sei nur der Versuch, sich selbst zu entschuldigen. Im Gegenteil: Sie seien mit Entschlossenheit süchtig geworden, so wie andere leidenschaftliche Sportler oder Briefmarkensammler wurden. Sie würden auch keinesfalls von ihrer Sucht in die Kriminalität getrieben. Heroinabhängigkeit habe sich „perfectly compatible“ mit regulärer Arbeit und einem ansonsten gesetzestreuen Leben erwiesen. Die meisten Heroinabhängigen wüssten auch, welches Leben sie als Süchtige erwarte. Außerdem hätten viele bereits eine umfangreiche Kriminalakte, bevor sie zum ersten Mal Heroin konsumierten (8).

Die Sucht ist ein riskanter Lebensstil, keine Krankheit. Sie ist ein Lebensstil, eine Form der Lebenspraxis, die allerdings körperliche Erkrankungen nach sich ziehen kann. Wer zu viel raucht, beispielsweise, erhöht die Wahrscheinlichkeit, an Lungenkrebs zu sterben.

Der Begriff “Lebensstil” ist hier nicht im Sinn von “Lifestyle” zu verstehen. “Lifestyle” ist das Gehabe von Leuten, die stets auf ihr Prestige bedacht sind, die sich immer mit den Statussymbolen umgeheben, die gerade up to date sind. Lebensstil ist vielmehr die Art und Weise, wie ein Mensch seine Leidenschaften, seine Vor- und Abneigungen auf der Bühne des Lebens präsentiert.

Nun höre ich den Einwand, Sucht sei doch der unkontrollierbare Zwang, beständig Alkohol oder Drogen in immer größeren Mengen konsumieren zu müssen – und dies können man nur als Krankheit bezeichnen. Doch diese populäre Auffassung widerspricht offensichtlich den Tatsachen.

  • Erstens nämlich gibt es eine größere Zahl von sog. Selbstheilern, also Menschen, die aus eigener Kraft entweder abstinent werden oder zum kontrollierten Konsum zurückfinden.
  • Und zweitens gelingt es auch vielen Süchtigen, die Dosis relativ konstant zu halten. Nicht selten verordnen sie sich selbst einen Entzug, sie „dosieren sich herunter“ – aus Kosten- und / oder Gesundheitsgründen.

Das Suchtverhalten beruht offensichtlich nicht auf einem unwiderstehlichen Zwang, sondern auf Präferenzen. Der Süchtige möchte hier und jetzt einen euphorischen Zustand erreichen oder eine dysphorische Erfahrung (Entzug) vermeiden. Er nimmt dafür mittel- oder langfristige Nachteile in Kauf und verzichtet auf Vorteile, die mit Abstinenz oder Mäßigung verbunden wären. Kurz: Der Spatz in der Hand ist ihm lieber als die Taube auf dem Dach. Der Süchtige strebt Lustgewinn oder Unlustvermeidung bewusst an. Diese Ziele sind Bestandteil seiner alltäglichen Lebensplanung; die Versorgung mit Stoff steht sogar im Mittelpunkt seiner Aktivität.

Und solange der so genannte Suchtkranke seine Entscheidung zu einem süchtigen Lebensstil nicht aus freien Stücken revidiert, sind alle Hilfen vergeblich. Suchttherapien werden stets durch Rückfälle ad absurdum geführt; denn wer nicht mehr süchtig sein will (und darauf kommt es an), der braucht keine Suchttherapie. Wer nach einer solchen Behandlung abstinent wird oder zum kontrollierten Konsum übergeht, der hätte dies auch ohne ärztliche Kunst geschafft. Wohlweislich verzichtet die “Forschung” darauf, in Untersuchungen der Effektivität von solchen Therapien eine Kontrollgruppe einzubeziehen, die keine Behandlung erhält und die auch nicht auf einer Warteliste steht. Die Behauptung, Rückfälle gehörten nun einmal zum “Krankheitsbild” der “Abhängigkeitserkrankungen”, ist eine Schutzbehauptung von Therapeuten, die ihre eklatante Erfolglosigkeit kaschieren möchten. Der Rückfall trifft den Betroffenen ja nicht wie ein Schicksalsschlag; er führt ihn vielmehr aktiv und sehenden Auges herbei. Damit annulliert er bewusst alle therapeutischen Bemühungen. Der Rückfall ist also tätige Psychiatriekritik.

Es ist nicht krank, den Spatz in der Hand der Taube auf dem Dach vorzuziehen. Es handelt sich vielmehr um eine Präferenz, für die man selbst Verantwortung übernehmen muss. Denn es liegt ja wohl auf der Hand, dass niemand gezwungen ist, im Übermaß Alkohol zu trinken, sich eine Spritze mit Heroin zu setzen oder sich eine Prise Kokain zu verabreichen. Wer dies tut, hat sich dazu entschieden, er unterliegt keinem Zwang. Die Gier ist kein Zwang. Wer ihr nachgibt, hat es an Selbstzucht fehlen lassen. So einfach ist das.

Wer solcherart Präferenzen als “krank” betrachtet, überträgt die Verantwortung weitgehend auf den Arzt. Der “Patient” ist dann nur noch verantwortlich für seine Bereitschaft zur “Therapie” und zur Mitarbeit in dieser. Beim Rückfall kann der “Patient” also leicht dem Arzt die Schuld zuschreiben oder, noch raffinierter, behaupten, dass ihm nicht zu helfen sei, weil sogar ein so guter Arzt wie sein Therapeut dies nicht geschafft habe. Dass der Arzt in der Tat nicht helfen kann, liegt jedoch nicht an der Schwere der Erkrankung, sondern daran, dass es sich bei der Sucht gar nicht um eine Krankheit handelt. Sie beruht vielmehr auf einem Mangel an Selbstzucht. Diese aber fußt auf Selbstachtung und dem Vertrauen darauf, aus eigener Kraft seine Zukunft gestalten zu können. Selbstachtung und Vertrauen jedoch sind Fragen der eigenen Entscheidung.

Dass es sich bei den so genannten Abhängigkeitserkrankungen um Lebensstile handelt, wird uns bei einem Berufsstand, der als durchaus trinkfest gilt, besonders krass vor Augen geführt (hier können wir auch auf viele Biographien und Autobiographien zurückgreifen, die diesen Sachstand eindrucksvoll beleuchten):

König Alkohols Hofpoeten

Schon als Teenager trank Jack London harte Männer unter den Tisch. Als junger Schriftsteller versuchte er, seinen Alkoholkonsum zu kontrollieren. Seine Methode bestand darin, nicht mit dem Trinken zu beginnen, bevor er 1000 Wörter geschrieben hatte. Schnell lernte er, dieses Ziel bereits vor dem Mittagessen zu erreichen. Dann belohnte er sich mit ein paar harten Drinks, die er “pleasant jingle” (angenehmes Geklimper) nannte und schrieb weiter. Nach weiteren 1000 Wörtern hatte er sich noch vor dem Abendessen wieder ein “pleasant jingle” verdient.

Ernest Hemingway war ebenso trinkfest wie manche seiner Romanfiguren: Bereits zum Frühstück kippte er ein paar Gläser Gin, dann folgten Absynth, Wodka und fünf bis sechs Flaschen Wein pro Tag. Dabei konnte er halbwegs nüchtern wirken, obwohl er sturzbetrunken war.

1932 feuerte das Dabney Oil Syndicate seinen Vizepräsidenten Raymond Chandler wegen Trunksucht und häufiger Fehlzeiten. Chandler sah nur noch eine Möglichkeit, Beruf und Alkoholismus miteinander zu verbinden: Er wurde Kriminalschriftsteller.

Man muss nicht lange überlegen, um weitere Namen berühmter, süchtiger Autoren aus dem Ärmel zu schütteln: Joseph Roth, Hans Fallada, Joachim Ringelnatz, Ernst Herhaus, William Faulkner, Eugene O’Neill, John O’Hara, Charles Bukowsky, William Burroughs, Scott Fitzgerald, Hart Crane, Truman Capote, Jean Stafford, Edgar Allan Poe und viele andere Schluckspechte der Weltliteratur.

Offenbar besitzen Alkohol und andere Drogen Eigenschaften, die gerade Schriftsteller faszinieren, weil sie scheinbar ihrer Arbeit dienlich sind:

  • Alkohol z. B. wirkt in kleinen Dosen anregend und belebend, weckt die Lebensgeister, vertreibt Müdigkeit und Sorgen, gibt neuen Schwung, hilft den Gedanken, eingefahrene Gleise zu verlassen, neue Verbindungen herzustellen und löst Schreibblockaden.
  • Wird dem Alkohol über den kleinen Durst hinaus zugesprochen, so entfaltet er beruhigende, einschläfernde und betäubende Wirkungen.
  • Wer von den Produkten seiner Kreativität leben muss, steht nur zu oft unter erheblichem Termin- und Leistungsdruck. Vielfach wird der Stress durch die hohen Maßstäbe des Autors selbst noch verstärkt. Und so liegt es nahe, den Stress durch Alkohol zu lindern, um weiter auf hohem Niveau schöpferisch wirken zu können.
  • Wer sich selbst mit überhöhten Maßstäben misst wie viele Kreative, leidet nicht selten unter nagenden Selbstzweifeln. Alkohol jedoch stimuliert, in größeren Mengen genossen, Größenphantasien und bläht das Selbstwertgefühl gewaltig auf. Oft sind dann die Selbstzweifel wie weggeblasen und an ihre Stelle treten Gefühle künstlerischer Überlegenheit und Unschlagbarkeit.
  • Schriftsteller leiden weitaus häufiger unter Gemütsverstimmungen als andere Bevölkerungsgruppen. Solche Menschen neigen aber verstärkt dazu, ihre seelischen Qualen mit Alkohol oder anderen Drogen zu betäuben.
  • Cannabisprodukte und Halluzinogene wie LSD oder Mescalin können Tagträume und Trancezustände hervorrufen. In diesen Bewusstseinslagen weicht die Realität des Alltags zurück und gibt der Phantasie Raum. Viele Künstler und andere schöpferisch tätige Menschen sind von den oft farbenprächtigen, verwirrenden, bizarren Bildern und scheinbar tiefgründigen Symbolen fasziniert, die dank solcher Drogen aus ihrem Unbewussten emporsteigen.
  • Amphetamine (“Speed”) machen munter, schnell und unterdrücken das Schlafbedürfnis. Bei Schriftstellern können sie den Schreibfluss fördern und die produktiven Phasen verlängern. Da der Schriftsteller aber – so lautet das Motto der Branche – “einen eisernen Arsch und einen großen Papierkorb braucht”, also sehr viel Zeit und Ausdauer für seine Arbeit benötigt, ist die Versuchung groß, Amphetamine als Doping einzusetzen. Jack Kerouac z. B., die Gallionsfigur der Beat-Generation, war ein Speed-Freak wie aus einem Beatnik-Roman. 1951 schrieb er den ersten Entwurf von “On the Road” (186.000 Wörter) in einem dreiwöchigen Marathon, natürlich unter dem Einfluss von Amphetaminen.

Manche Künstler waren und sind davon überzeugt, dass Alkohol und andere Drogen ihre schöpferische Kraft verstärken und ihnen jene Intensität des Lebens vermitteln, die sie zum Gelingen ihrer Werke unbedingt benötigen. Es wäre zu einfach, diesen Künstlern Selbstbetrug oder gar eine Lebenslüge zu unterstellen. Es mag durchaus sein, dass Alkohol und andere Drogen zu Beginn einer schriftstellerischen und süchtigen Karriere ein kreatives Feuerwerk entfachen. Einige Autoren wie Jack London bauen den Rauschmittelkonsum als Belohnung in ihren Arbeitsprozess ein, so dass er – durchaus auch im Sinn der Lerntheorie – zu einem Verstärker der literarischen Produktion wird.

Der Alkohol verkürze zwar das Leben, schrieb Joseph Roth an Stefan Zweig, aber er verhindere den unmittelbaren psychischen Tod.

“Ich versetze gewissermaßen die letzten 20 Jahre meines Lebens beim Alkohol, weil ich noch 7 oder 14 Tage Leben mir gewinnen muss. Freilich kommt dann, um beim Bilde zu bleiben, plötzlich ein Punkt, wo der Wucherer vor der Zeit über einen herfällt.”

1939 starb Roth 44-jährig in einem Pariser Armenhospital am Delirium tremens und einer Lungenentzündung.

Ein Deal mit dem Leben

Aus meiner Sicht ist der Süchtige keineswegs einem physischen Prozess passiv ausgeliefert wie ein körperlich Kranker. Alkoholismus und Drogensucht sind keine Krankheiten, sondern riskante Lebensstile, die allerdings Krankheiten wie z. B. Leberschäden verursachen können. Inwiefern dieser Lebensstil frei gewählt wurde, ist eine philosophische Frage. Hat überhaupt irgendwer einen freien Willen? Ich glaube schon, jedenfalls gibt es keine überzeugenden philosophischen oder naturwissenschaftlichen Gründe, ihn zu bestreiten.

  • Fakt jedenfalls ist, dass niemand den Trinker mit vorgehaltener Pistole zwingt, sich den Schnaps hinter die Binde zu gießen.
  • Niemand erpresst ihn unter Androhung schlimmster Nachteile, sich volllaufen zu lassen.
  • Es wartet kein Erschießungskommando auf ihn, wenn er das Bier stehen lässt.
  • Der Suchtmittelkonsum ist auch kein innerer Zwang, dem der Betroffene hilflos ausgeliefert wäre. Denn viele Menschen überwinden ihre Sucht aus eigener Kraft, auch ohne die so genannte professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Joseph Roth hat recht: Der Süchtige macht einen Deal mit dem Leben. Er weiß auch, dass der Wucherer vorzeitig kommen kann. Das nimmt er in Kauf; seine freie Entscheidung. Auch wenn letztlich jeder für seinen Lebensstil selbst verantwortlich ist, so darf man die Augen nicht davor verschließen, dass die Umwelt bestimmte Lebensstile fördert oder zumindest toleriert – und der alkoholisierte Lebensstil gehört zweifelsfrei dazu. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, kann der Verzicht auf Alkohol durchaus zu Konflikten mit den lieben Mitmenschen führen, die sich bei feucht-fröhlichen Anlässen in Gegenwart eines Nicht-Trinkers offenbar nicht wohl fühlen. Joachim Ringelnatz konnte von Frauen und vom Alkohol nach Meinung von Freunden nie genug bekommen, doch manchmal wurde es selbst dem überaus Trinkfesten zu viel. Dann tat er stocknüchtern in Gesellschaften nur so, als ob er betrunken sei, um die Erwartungen nicht zu enttäuschen.

Anmerkungen

(1) Peele, S. & Alexander, B. K. (1998). Theories of Addiction. In: Peele, S.: The Meaning of Addiction. Compulsive Experience and its Interpretation. San Francisco (Jossey-Bass)

(2) Rozin, P. & Stoess, C. (1993). Is there a general tendency to become addicted? Addictive Behavior, 18, 81-87, 1993

(3) Walters, G. D. (2002). The heritability of alcohol abuse and dependence: a meta-analysis of behavior genetic research. American Journal of Drug and Alcohol Abuse, August 2002

4) Joseph, J. (2012). The “Missing Heritability” of Psychiatric Disorders: Elusive Genes or Non-Existent Genes? Applied Developmental Science, 16, 65-83

(5) Lewis, M. (2012). Why Addiction is not a Brain Disease. PLOS Blogs, November 12, http://blogs.plos.org/mindthebrain/2012/11/12/why-addiction-is-not-a-brain-disease/

(6) Carducci, B. J.(2009). Basic Processes of Mischel’s Cognitive-Affective Perspective: Delay of Gratification and Conditions of Behavioral Consistency. The Psychology of Personality: Viewpoints, Research, and Applications. John Wiley and Sons. pp. 443–4

(7) Heyman, G. M. (2010). Addiction – A Disorder of Choice. Harvard: Harvard University Press

(8)Dalrymple, T. (2010). Spoilt Rotten: The Toxic Cult of Sentimentality. London: Gibson Square

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Psychiatrie und Justiz

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1

In der heutigen Justiz lastet eine gewaltige Verantwortung auf den Schultern der Gerichtspsychiater. Sie sollen die Schuldfähigkeit beurteilen; bei vorzeitigen Entlassungen oder der Frage des Verbleibs in der Sicherungsverwahrung sollen sie einschätzen, wie gefährlich ein Täter noch ist; bei familienrechtlichen Fragen werden sie gehört, usw.

Werden sie dieser Verantwortung gerecht? Können sie dies überhaupt, selbst wenn sie sich ernsthaft darum bemühen? Einige Aspekte der wissenschaftlichen Voraussetzungen dieser Tätigkeit werde ich beispielhaft beleuchten. Einen Anspruch auf Vollständigkeit kann ich nicht erheben. Die Fragestellungen sind komplex, auch wenn die Antwort einfach ist.

Die Sicherungsverwahrung soll die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen; also der Vorbeugung von Gewalttaten und sonstigen schweren Verbrechen dienen. Aufgrund von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts musste das entsprechende Gesetz vom Deutschen Bundestag überarbeitet werden. Es ging vor allem um die so genannte nachträgliche Sicherungsverwahrung. Sie wurde verhängt, ohne dass der Straftäter eine weitere Straftat begangen hatte. Die Neuregelung trat am 1. Juni 2013 in Kraft. Nunmehr ist eine intensive Betreuung des Sicherheitsverwahrten vorgesehen, um seine Gefährlichkeit für die Allgemeinheit so weit wie möglich zu mindern.

Durch Therapie soll der Sicherungsverwahrung offenbar der Charakter einer Strafe genommen werden, der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als menschenrechtswidrig erkannt wurde. Ich möchte mich hier nicht in den rechtlichen Details verlieren, denn ich bin kein Jurist; mir geht es hier um die grundsätzlichen psychologischen Fragen, die sich mit der Sicherungsverwahrung im Besonderen und der psychiatrischen Diagnostik und Prognostik im Allgemeinen verbinden. Psychologische Aspekte kommen ins Spiel, weil es hier ja offensichtlich um die Prognose von Verhalten und um dessen Modifikation geht. Beides muss mit vetretbarer Genauigkeit bzw. Wirksamkeit möglich sein, sonst ergibt die Sicherungsverwahrung im Licht des überarbeiteten Gesetzes keinen Sinn. Doch werfen wir zunächst einen Blick zurück in die Vorgeschichte.

2

Am 27. 06. 2012 fand eine Anhörung zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung vor dem Rechtsausschuss im Bundestag statt. Die Sicherungsverwahrung soll – so lautet, wie bereits erwähnt, die offizielle Doktrin – die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern schützen, nachdem diese ihre Haft verbüßt haben.

In einer Pressemeldung des Deutschen Bundestags hierzu hieß es:

“Im Mai 2011 hatte das Bundesverfassungsgericht einer Beschwerde von vier Sicherungsverwahrten stattgegeben und alle geltenden Vorschriften für verfassungswidrig erklärt. Bis Juni 2013 muss der Gesetzgeber nun eine neue Regelung suchen…”

Laut Pressemeldung waren sich die Experten nicht einig. Das Spektrum reichte von bedingungsloser Befürwortung selbst nachträglich angeordneter Sicherungsverwahrung (die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte moniert wurde) bis hin zur Einschätzung, dass Sicherungsverwahrung „Haft für noch nicht begangene Straftaten“sei.

Einen Tag zuvor hatte sich die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) zu Wort gemeldet. In einer von ihrem damaligen Präsidenten, Peter Falkai unterzeichneten Pressemeldung wird u. a. beklagt:

“Die Liste der Sachverständigen besteht aus Kriminologen und Richtern, jedoch ist kein Psychiater bzw. forensischer Psychiater berücksichtigt. Wir können nicht nachvollziehen, dass der Gesetzgeber bei diesem die Bevölkerung bewegenden Thema jenen medizinischen Sachverstand, der bei der späteren Umsetzung des Gesetzes gebraucht wird, im Verfahren ausschließt…“.

Nun weiß ich nicht, warum der Rechtsausschuss auf den “medizinischen Sachverstand” der Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde verzichtete. Darüber kann ich nur spekulieren. Am 10. 08. 2010 schrieb Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel “Wenn Gutachter irren”.

“Die nachträgliche Sicherungsverwahrung ist ein ‘rechtsstaatliches und kriminalpolitisches Debakel’: Dies ist das Ergebnis einer soeben unter diesem Titel erschienenen wissenschaftlichen Studie des Juristen Michael Alex. Die Analyse des 60-jährigen Strafvollzugsexperten, der unter anderem eine sozialtherapeutische Anstalt geleitet hat, wurde von der Universität Bochum als Doktorarbeit angenommen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Prognosen über die Gefährlichkeit von Tätern nicht stimmt. Diese Prognosen sind aber die Grundlage dafür, Straftäter nach Ablauf der Strafhaft in Haft zu behalten.”

Und weiter:

“Die Studie von Alex kommt zu dem Ergebnis, dass die Identifizierung gefährlicher Wiederholungstäter nur “auf Kosten einer großen Zahl von ungefährlichen Menschen gelingt”. Kurz gesagt: Einer sitzt zu Recht, 20 sitzen zu Unrecht wegen falscher Gutachten.”

Nehmen wir einfach einmal zugunsten derjenigen, die für die Einladung der Experten zur Anhörung im Bundestag verantwortlich waren, augenzwinkernd an, dass sie nicht nur ein Zeitungsarchiv besitzen, sondern gelegentlich auch einmal in ihm recherchieren. Vielleicht kann man sich ja so erklären, warum Psychiater nicht eingeladen wurden.

3

Michael Alex und Thomas Feltes (Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik, Polizeiwissenschaft an der juristischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum) haben psychiatrische Gutachten zur Kriminalprognose analysiert. Sie referierten darüber am 18. bis 19. Juli 2011 in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Sie fanden in den von Ihnen untersuchten Gutachten, deren Autoren den Probanden eine “krankhafte Persönlichkeit” unterstellt hatten, u. a. folgende charakteristische Fehler:

  • Überbewertung von Befunden
  • Fehler bei der Interpretation von „Tatsachen“
  • Falsche Schlüsse aus richtigen Tatsachen
  • Interpretationen werden zu festgeschriebenen Etikettierungen
  • Mangelhafte wissenschaftliche Qualität
  • Mangelhafte gedankliche Aufarbeitung der Tat als (unzulässiges) Negativkriterium
  • Methodisch und statistisch unzulässige Rückschlüsse
  • Fehler durch „Fachblindheit“ von Psychiatern
  • Nichtberücksichtigung von protektiven Faktoren und Resilienzbedingungen
  • Prognose wird als statisch und nicht als etwas Dynamisches gesehen
  • Beständige Fehlinterpretation der sog. „Basisrate“
  • Offensichtliche Fehlinterpretationen von Testergebnissen

Selbstverständlich gibt es auch psychiatrische Gutachten zur Kriminalprognose, in denen diese Fehler vermieden werden. Aber werden sie deswegen auch treffsicherer?

4

Manche meinen, mit modernen statistischen Methoden und empirischen Studien könne man das Problem der Kriminalprognose schon in den Griff bekommen. Dies mag sein, wenn man, ohne Rücksicht auf den Einzelfall, nur daran interessiert ist, die Rückfallquote von Kriminellen im Durchschnitt zu senken.

Wenn ich beispielsweise in einer repräsentativen Stichprobe feststelle, dass 95 Prozent der Straftäter  mit dem Merkmalsmuster X nach Haftentlassung rückfällig werden, dann heißt das nicht für Herrn Meyer, der dieses Merkmalsmuster hat, dass er mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit nach Haftentlassung rückfällig wird.

Es heißt nur, dass ich bei einer weiteren Ziehung einer Stichprobe aus derselben Grundgesamtheit wieder für Menschen mit dem Merkmalsmuster X eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit des Rückfalls erwarten kann (Erwartungswert).

Und dann und nur dann, wenn ich in erster Linie meine Entscheidungen für Aggregate optimieren, wenn ich im Schnitt die größtmögliche Zahl von Rückfällen vermeiden möchte, darf ich derartige Statistiken zur Grundlage meiner Entscheidung machen.

Einem Ungläubigen versuchte ich unlängst diesen Sachverhalt in etwa mit folgenden Worten zu erklären:

Das Individuum zeigt ein Verhalten nicht mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Es zeigt es (p=1). Oder es zeigt es nicht (p=0). Du kannst nur sagen, dass es zu einem Kollektiv gehört, in dem z. B. 95 Prozent das Zielverhalten Z an den Tag legen. Das ist aber eine Aussage über das Kollektiv, nicht über das Individuum.

Du weißt definitiv nicht, ob das Individuum zu den 95 Prozent zählt oder nicht. Nehmen wir an, du bekommst einen Euro für eine richtige Einschätzung. Du hast einen Menschen aus dem 95-Prozent-Kollektiv vor dir, von dem du sonst nichts Objektives weißt.

Klar, sagst du, ich bin doch nicht blöd, ich tippe, dass er das Zielverhalten Z zeigt. Schließlich zeigen dies ja 95 Prozent seines Kollektivs. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du gewinnst oder du verlierst. Entweder du kriegst einen Euro oder keinen. Du bekommst nicht, so oder so, 95 Cents.

Du müsstest schon zehn-, zwanzig-, dreißigmal Z vorhersagen, um unter den gegebenen Bedingungen deinen Gewinn zu maximieren. Je häufiger du prognostizieren darfst, desto wahrscheinlicher wird es, durchschnittlich pro Vorhersage 95 Cents zu kassieren.

So ist das auch mit den Straftätern.  Du sollst bei einem Straftäter, der vor der Entlassung steht, vorhersagen, ob er innerhalb von drei Jahren rückfällig wird oder nicht. Da hast du einen, der zu einem Kollektiv zählt, von dem 95 Prozent innerhalb von drei Jahren wieder rückfällig werden. Du sollst nun ein Gutachten abgeben. Du sagst einen Rückfall innerhalb von drei Jahren voraus. Wenn dein Gutachten falsch ist und der eine, den du vor dir hast, innerhalb von drei Jahren nicht, wie von dir vorhergesagt, wieder rückfällig wird, weil er zu den entsprechenden 5 Prozent der nicht Rückfälligen des Kollektivs zählt, dann… sagen wir einmal, wirst du erschossen. Hinterher bist du entweder tot oder du lebst noch. Du bist nicht zu 5 % tot.

Hätten nun aber zusätzlich 99 Klone von dir dieselbe Aufgabe, dann wäre der Erwartungswert, sofern die Klone alle einen Rückfall vorhersagen: 95 Überlebende. Was will ich damit sagen: Diese stochastischen Entscheidungsregeln sind nur auf Kollektive anwendbar. Nun fragst du mich zu recht: Wie würdest du dich entscheiden? Na klar, im gegebenen Fall nach der 95-Prozent-Regel. Dann stürbe ich ggf. zumindest in der Gewissheit, mein Leben für den statistischen Glauben gelassen zu haben.

Du merkst schon: Hinter all dem steckt ein philosophisches Problem. Was ist eigentlich real?

Immer nach unsicher? Nehmen wir einmal an, das Merkmal X, das mit 95-prozentiger Rückfallwahrscheinlichkeit verbunden ist, sei ein bestimmtes gestörtes Areal im Gehirn. Nun werden aber 5 Prozent derjenigen, die dieses Merkmal besitzen, nicht rückfällig. Es muss also auch protektive Faktoren geben. Nehmen wir weiterhin an, dass X immer zum Rückfall führt, wenn es nicht durch ein weiteres Merkmal, nämlich Y, außer Kraft gesetzt wird. Ein Rückfall wird also nur und immer durch X ausgelöst, es sei denn, ein Mensch habe Y, das und nur das den Rückfall zuverlässig verhindert. Herr Meyer hat X, aber auch Y. Dann gehört er zwar zu einem Kollektiv, aus dem 95 Prozent rückfällig werden, weil er X hat, da er aber ebenso Y hat, ist seine Rückfallwahrscheinlichkeit gleich null.

Wenn nun Y eine unbekannte Größe ist, können wir ihr Vorhandensein auch nicht feststellen; selbst wenn wir also X zuverlässig diagnostizieren könnten, hülfe uns dies bei Herrn Meier nicht weiter. Uns müsste eine Fehlprognose unterlaufen, wenn wir unsere Vorhersage von X abhängig machten. Merke: Auch wenn ein Straftäter zu einem Kollektiv mit 95-prozentiger Rückfallwahrscheinlichkeit zählt, kann seine individuelle Rückfallwahrscheinlichkeit gleich null sein. Welche bekannten Risikofaktoren X wir im Einzelfall auch immer berücksichtigen, stets könnte uns ein unbekannter Schutzfaktor Y einen Strich durch die Rechnung machen.

Wie wollen wir uns in Sachen “Sicherungsverwahrung” also entscheiden? Im Zweifel für das Kollektiv, die Gesellschaft, das Volk. Oder im Zweifel für Herrn Meyer, das Individuum, das aufgrund von Y gar nicht rückfällig werden kann?

Wir wissen einfach nicht, wie X und Y (beziehungsweise die Unzahl möglicherweise relevanter Faktoren) im Einzelfall zusammenspielen und was schlussendlich dabei herauskommt. Der Rechtsausschuss des Bundestags war gut beraten, keine Psychiater als Experten einzuladen. Es geht hier nämlich ersichtlich nicht um psychiatrische Probleme. Hier geht ist vielmehr um Fragen der politischen Philosophie. Um Grundsatzfragen. Um Verantwortung. Gerechtigkeit. Diese können und dürfen Politiker nicht auf Psychiater abwälzen. Auch Richter dürfen das nicht. Das darf niemand.

5

Am 23. November 2012 hat der Bundesrat ein Gesetz zur Sicherungsverwahrung gebilligt, das zuvor von Bundestag beschlossen worden war. Dieses Gesetz berücksichtigt angeblich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Es trat am 1. Juni 2013 in Kraft. Nach wie vor ist das leidige Psychiater-Problem ungelöst. Niemand kann im Einzelfall Gefährlichkeit prognostizieren, auch ein Psychiater nicht.

6

Aber selbst auf der kollektiven Ebene ist die prognostische Validität psychiatrischer Gutachten grottenschlecht. Wenn diese Gutachten in der überwiegenden Mehrzahl aller Fälle zuträfen, dann könnte man das Versagen im Einzelfall ja als bedauerlich, aber im Interesse und zum Schutze der Bevölkerung für unausweichlich halten und sich entsprechend zugunsten der Allgemeinheit entscheiden. Doch obiges Beispiel (95-prozentige Rückfallwahrscheinlichkeit) ist, zum Zwecke besserer Veranschaulichung des Grundsachverhalts, natürlich aus der Luft gegriffen.

Wenden wir uns vom Spezialfall der Sicherungsverwahrung ab und den grundsätzlichen Fragen zu. Im gequetschten Licht der einschlägigen sozialwissenschaftlichen und psychologischen empirischen Forschung hat sich die Validität psychiatrischer bzw. psychologischer Gefährlichkeitsprognosen als überaus fragwürdig erwiesen. Die mageren Befunde gaben seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Anlass zu einer Vielzahl von Studien, die zur Verbesserung der Prognosegüte beitragen sollten. Mit soziologischen, psychologischen, psychodiagnostischen und statistischen Methoden wurden mutmaßliche Risikofaktoren identifiziert. Nach wie vor gibt es jedoch keine einheitlichen Modelle, die das ganze Spektrum der potenziell relevanten Einflussgrößen berücksichtigen und die empirisch getestet werden könnten (1).

Kurz: Die Gefährlichkeitsprognostik fußt zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht auf einer wissenschaftlichen Grundlage. Die Vielzahl verstreuter, oft widersprüchlicher Befunde erlaubt keine fundierte Ableitung solider Prinzipien für ein evidenz-basiertes Procedere in der gerichtlichen Praxis.

Man könnte natürlich einwenden, dass die forensische Prognostik eine Kunst sei und dass die offensichtlichen Fehlprognosen überwiegend von jungen, unerfahrenen Fachleuten produziert würden. Damit könnte man die Hoffnung verbinden, dass erfahrene Prognostiker zu besseren Leistungen in der Lage seien.

Doch dies ist keineswegs der Fall. Die Qualität des klinischen Urteils korreliert definitiv nicht mit der Berufserfahrung. Dies ist das eindeutige Resultat der Untersuchungen von Robyn M. Dawes, eines Pioniers der psychologischen Entscheidungsforschung.

Seine Erklärung für dieses Phänomen erscheint plausibel. Bei der Prognose geht es ja um das Kategorisieren von Menschen – beispielsweise: gefährlich, nicht gefährlich. Die Effektivität von Lernprozessen im Bereich der Kategorisierung hängt nun aber von zwei Faktoren ab:

  1. Kenntnis von Regeln zur Zuordnung von Exemplaren zu einer Kategorie
  2. systematisches Feedback über richtige und insbesondere falsche Kategorisierung.

Beide Voraussetzungen sind aber im Bereich der Gefährlichkeitsprognostik nicht erfüllt. Erstens ist es heute noch weitgehend unbekannt, anhand welcher Merkmale man zukünftige Gefährlichkeit abschätzen kann. Und zweitens darf auch von einer systematischen Rückmeldung nicht gesprochen werden (2).

7

Der “Texas Defender Service” vertritt die Insassen von Todeszellen in diesem Bundesstaat in Rechtsfragen. Der Service ließ eine Studie zur Validität von Gefährlichkeitsprognosen anfertigen. Grundlage bildeten die Gutachten von Experten, die im Auftrag der Staatsanwaltschaften die zukünftige Gefährlichkeit von angeklagten Straftätern, denen die Todesstrafe drohte, vor der Gerichtsverhandlung vorhergesagt hatten.

Die Experten irrten sich in 95 Prozent aller Fälle. Dies wurde anhand der Gefangenenakten festgestellt, in denen eventuelle Gewaltakte verzeichnet waren. Der Beobachtungszeitraum belief sich bei den zum Zeitpunkt der Untersuchung bereits Exekutierten auf zwölf Jahre. Die noch in der Death Row Einsitzenden waren dort durchschnittlich acht Jahre und die Gefangenen mit reduziertem Strafmaß hatten eine Haftzeit von durchschnittlich 22 Jahren verbüßt. Der Forschungsbericht wurde 2004 unter dem Titel

Deadly Speculations. Misleading Texas Capital Juries with False Predictions of Future Dangerousness

veröffentlicht.

Die Gutachten der forensischen Psychiatrie sind natürlich nicht immer tödliche Spekulationen, sofern damit der physische Tod des Angeklagten gemeint ist; aber der soziale Tod kann auch in Ländern ohne Todesstrafe die Folge sein, wenn Menschen für viele Jahre in Psychiatrien eingekerkert werden.

Obwohl die überaus dürftige wissenschaftliche Basis solcher Gutachten auch dem interessierten Laien nicht verborgen geblieben sein kann, regt sich, angesichts der Konsequenzen, nur verhältnismäßig wenig Widerstand gegen eine Gerichtspraxis, in der Richter in aller Regel im Sinne solcher windigen Gutachten urteilen.

8

Wer eine Straftat begangen hat, für schuldfähig befunden und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, kann sich ausrechnen, wann er wieder herauskommt. Dies ist bei den so genannten psychisch kranken und gefährlichen Straftätern aber nicht der Fall. Sie schmachten in aller Regel wesentlich länger im psychiatrischen Kerker, als sie für die gleiche Tat als Schuldfähige im Gefängnis brummen müssten. Sie sind ihren Kerkermeistern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Doch der intelligente Zeitgenosse, dem dies bekannt sein müsste, verschließt davor seine Augen – selbstverständlich mit schlechtem Gewissen, wie es sich gehört; und um dieses schlechte Gewissen zu beschwichtigen, verklärt er das Urteilsvermögen des forensischen Gutachters und glaubt fest und unverbrüchlich daran, dass der für gefährlich Erklärte auch tatsächlich gefährlicher sei als andere Zeitgenossen (die ja oft auch nicht gerade harmlos sind).

Vielleicht erklärt diese psychische Konstellation auch die Neigung der Medien, Kriminalpsychiater oder forensische Psychologen zu Stars emporzustilisieren und ihnen eine beinahe kultische Verehrung angedeihen zu lassen. So schreibt beispielsweise Sabine Rückert in einem Zeit-Artikel über Hans-Ludwig Kröber, den Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie der Charité in Berlin:

“Manche Männer überqueren im Segelboot den Stillen Ozean, um jene Grenzen zu überschreiten, die dem Menschen gesetzt sind, andere durchmessen zu Fuß den brasilianischen Dschungel, wieder andere verabreichen sich halluzinogene Pilze oder erklimmen Himalaya-Gipfel ohne Sauerstoffgerät. Hans-Ludwig Kröber überschreitet Grenzen, indem er sich an einen Tisch setzt, seinen Block herausholt und zuhört.”

Doch damit nicht genug:

“Wenn er einen Täter exploriert, verströmt er – unbeeindruckt von den Abgründen, die sich vor ihm auftun – freundliche Ungezwungenheit. Nichts Klinisches umgibt den Nervenarzt bei der Arbeit. Nichts Steriles. Nichts Lauerndes. Nichts, wovor einer sich fürchtet. Die Begutachteten (und manchmal auch deren Angehörige) unterhalten sich mit einem netten Herrn Mitte fünfzig, der sich aufrichtig für ihr Schicksal und die Untat interessiert.”

Kröber gehörte zu den Gutachtern, die Gustl Mollath Gefährlichkeit bescheinigten. Die damalige bayerische Justizministerin Beate Merk zählt ihn zur Crème de la Crème der deutschen Gerichtspsychiatrie. Er sprach nicht selbst mit Mollath, sondern erstellte sein Gutachten nach Aktenlage. Der Expertise eines anderen Gutachters widersprach er heftig. Dieser hatte sich mit Mollath ausführlich unterhalten und keinen Grund für eine Unterbringung zu erkennen vermocht. Manche Männer überqueren im Segelboot den Himalaya, durchmessen unter dem Einfluss halluzinogener Pilze schwimmend den Stillen Ozean, andere wieder, nette Herren Mitte fünfzig, vielleicht, begutachten einen Menschen nach Aktenlage.

Ein anderer Star der Gutachterzunft, eine meiner akademischen Lehrerinnen, die unlängst verstorbene Elisabeth Müller-Luckmann, sagte vor vielen, vielen Jahren einmal in einer ihrer Vorlesungen (es waren tatsächlich solche, sie las aus Büchern vor und kommentierte sie dann zwischendurch) – diese Psychologieprofessorin also las aus einem Buch über die Gestalttherapie vor, in dem einige Kapriolen des Begründers Fritz Perls geschildert wurden und bemerkte hierzu, dass ein guter Psychotherapeut immer auch ein Scharlatan sei und sein müsse. Als junger Student traute ich mich nicht, sie zu fragen, ob dies auch für psychologische und psychiatrische Gutachter gelte.

Als Leitender Oberarzt des Fachkrankenhauses für Psychiatrie in Zschadraß verfasste Gert Postel auch psychiatrische Gutachten, die niemals beanstandet wurden, obwohl ihn zu dieser Tätigkeit keine formale Qualifikation befähigte. Er war Autodidakt; er hatte sich das Hochstapeln selbst beigebracht (3). Hier stellt sich die Frage, ob man, um zum Scharlatan zu avancieren, Psychiater oder Psychologe sein muss oder ob es reicht, wenn man im Grundberuf Hochstapler ist.

9

Manche meinen, ein guter Gerichtspsychiater müsse in der Lage sein, gequetschtes Licht auf Basis nichtentarteter Vier-Wellen-Mischung zu erzeugen. Aus meiner Sicht ist diese Anforderung aber eindeutig zu hoch gegriffen. Viele Gerichtspsychiater wären damit eindeutig überfordert, wie beispielsweise ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung zeigt. Auszug:

(Der Psychiater Pantelis Adorf hatte in seinem Gutachten aus wissenschaftlicher Literatur zitiert. Er wird während der Gerichtsverhandlung nach der Bedeutung der Zitate für den vorliegenden Fall befragt.)

Adorf: “Keine Ahnung. Das hab ich einfach so übernommen.”

Rechtsanwalt Ahmed: “Warum übernehmen Sie etwas, das keine Relevanz hat?”

Adorf: “Das ist meine Entscheidung. Das wollte ich einfach so.”

Ahmed: “Aber das muss doch einen Grund haben?”

Adorf: “Nicht unbedingt. Das sind so Gedanken von einem Kollegen, da kann man drüber nachdenken.”

Ahmed: “Ihr Auftrag lautete, Sie sollten sich äußern zu der Frage, ob bei Herrn W. eine psychische Störung im Sinne des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) vorliegt. Was sind denn nach Ihrer Ansicht die Kriterien für eine psychische Störung im Sinne des ThUG?”

Adorf: “Das kann ich im Augenblick nicht beantworten.”

Um sich zu der Frage zu äußern, ob eine psychische Störung im Sinne des ThUG vorliegt, muss man nun wirklich nicht die Kunst beherrschen, gequetschtes Licht auf Basis nichtentarteter Vier-Wellen-Mischung zu erzeugen. Die völlig irrelevanten Fragen dieses Anwalts kann ich im Übrigen auch nicht nachvollziehen. Lebt der Mann hinterm Mond?

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Im Licht der empirischen Forschung betrachtet (4, 5), ist die psychiatrische Gefährlichkeitsprognostik kaum treffsicherer als die Glaskugelschau. Und wenn die Glaskugel von einer erfahrenen, lebensklugen Esoterikerin gehandhabt wird, dann ist es durchaus nicht auszuschließen, dass sie u. U. bessere Ergebnisse erzielt als die berühmtesten Kriminalpsychiater.

Psychiatrische Gutachter neigen notorisch dazu, die Gefährlichkeit von Straftätern zu überschätzen (6). Dies ist allerdings nicht auf persönliche Schwächen der einschlägig tätigen Experten zurückzuführen, sondern liegt in der Natur der Sache.

  • Denn Gewalttaten sind seltene Ereignisse und aus wahrscheinlichkeitstheoretischen Gründen sind die Vorhersagen seltener Ereignisse zwangsläufig und unvermeidlich mit hohen Fehlerquoten verbunden.
  • Außerdem unterliegt gewalttätiges Verhalten einem starken Kontexteinfluss, kann also nur teilweise durch persönliche Merkmale erklärt werden. Ob ein Mensch in Zukunft einem Kontext ausgesetzt sein wird, der Gewalt stimuliert, und wie er dann auf diese Herausforderung reagiert, ist selbst mit einer blank geputzten und mit Tachyonen aufgeladenen Glaskugel nur sehr bedingt prognostizierbar.
  • Gefährlichkeitsprognostiker – und dies macht die obigen Punkte heikel – sehen sich einem erheblichen sozialen Druck ausgesetzt, da ihnen die Verantwortung für Fehldiagnosen angelastet wird. Sozialer Druck bei hochgradiger Entscheidungsunsicherheit führt zu konservativen Urteilen (die sich zu Lasten des Beurteilten auswirken).

Die meisten Gewalt-Prädiktoren (Sachverhalte zur Vorhersage von Gewalt) taugen nichts. Der Glaube daran entpuppt sich als Aberglaube, sobald man die angeblichen Korrelationen zwischen diesen Faktoren mit angeblicher Vorhersagekraft und dem tatsächlichen Verhalten einer seriösen empirischen Überprüfung unterzieht. So mögen zwar paranoide Vorstellungen im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen durch eine leichte Erhöhung der Gewaltbereitschaft gekennzeichnet sein; aber dieser Sachverhalt ist nur von akademischem Interesse und praktisch ohne jede Bedeutung. Denn Suchtmittelabhängige ohne paranoide Vorstellungen zeichnen sich, verglichen mit der soeben genannten Personengruppe, durch eine allenfalls unwesentlich verminderte Gewaltneigung aus.

Der einzige Prädiktor, der sich als ziemlich stabil und aussagekräftig erwiesen hat, ist die Kriminalakte. Je häufiger ein Mensch zuvor bereits gewalttätig geworden ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass er auch in Zukunft gewalttätig wird. Diese Korrelation bestätigt eine etablierte Erkenntnis der Sozialpsychologie allgemein: Zukünftiges Verhalten sagt man am besten auf der Grundlage früheren Verhaltens voraus.

Dies gilt im Übrigen auch für die Vorhersage selbstschädigenden Verhaltens (Selbstverletzung, Suizid). Die Einschätzungen der Wahrscheinlichkeit eigenen selbstschädigenden Verhaltens in der Zukunft beispielsweise korrelieren zwar mit dem späteren Handeln der befragten Personen. Aber sie sind schlechter als Prognosen, die ausschließlich auf der beobachteten Häufigkeit selbstschädigenden Verhaltens in der Vergangenheit beruhen (7).

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Angesichts der extremen Fehleranfälligkeit psychiatrischer Gefährlichkeitsprognosen und des hohen sozialen Drucks, der auf den Prognostikern lastet, fragt der Soziologe Günther Albrecht im Fazit seiner gründlichen Auseinandersetzung mit dem Stand der einschlägigen Forschung, wer uns eigentlich vor den Gefährlichkeitsprognostikern schütze. Diese berechtigte Frage möchte ich umformulieren: Wer schützt uns vor den einflussreichen Leuten, die Gefährlichkeitsprognostikern Glauben schenken?

Richter, die das Gewaltpotenzial eines Menschen berücksichtigen müssen, können sich dabei also mit guten Gründen nur auf die Vorgeschichte des Angeklagten stützen. Die Gutachten psychiatrischer Experten werden die Qualität des richterlichen Urteils jedenfalls nicht erhöhen. Zumindest gibt es beim Stand der empirischen Forschung keinen vernünftigen Grund, darauf zu vertrauen. Warum lassen sich Richter dennoch sehr häufig durch derartige Gutachten beeinflussen?

Wenn sich ein Richter einmal ein Wochenende freinähme, um einen Blick in die einschlägige Fachliteratur zu werfen und wenn er dann auch noch die Schönfärberei überlesen und sich ausschließlich auf die empirischen Befunde konzentrieren würde, dann hätte er schon lange vor dem Sonntagsnachmittagskaffee&Kuchen erkannt, dass er psychiatrische Gutachten allesamt und grundsätzlich in der Pfeife rauchen kann.

Sie mögen brillant formuliert sein und plausibel klingen, es mag viel guter Wille und aufrichtige Überzeugung in ihnen stecken; sie sind dennoch nichts anderes als die persönliche Meinung von Menschen, die für diese Aufgabe nicht besser geeignet sind als irgendwer sonst. Der Richter könnte an ihrer Stelle auch den Gerichtsdiener fragen.

Ich unterstelle, dass die meisten Richter dies im Grunde ihres Herzens bereits ohne Literaturstudium wissen. Wie alle vernünftigen Menschen mit ein wenig Lebenserfahrung haben sie erkannt, dass menschliches Verhalten von einer Vielzahl komplexer Sachverhalte abhängt, die zudem gar nicht oder nur teilweise der Kontrolle durch das Individuum unterliegen, dessen Verhalten vorhergesagt werden soll. Leider vergraben viele Richter diese Einsicht in den Tiefen ihrer Seele.

Weder die psychiatrische Ausbildung, noch die einschlägige Berufserfahrung befähigen den Gutachter dazu, diese Unwägbarkeiten besser in den Griff zu bekommen als ein so genannter Laie. Die eingangs erwähnte Power-Esoterikerin, deren Glaskugel kurz zuvor frisch mit Tachyonen aufgeladen wurde, mag diese Aufgabe besser meistern als der gewöhnliche Sterbliche, sofern ihr überdies noch die Gabe des Auralesens zu Gebote steht – den Rest der Menschheit aber eint die Ratlosigkeit. Da helfen weder Räucherstäbchen, noch psychologische Tests oder die klinische Erfahrung des Psychiaters.

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Nein, und nochmals nein: Wissenschaftlich fundierte, hinlänglich treffsichere Gefährlichkeitsprognosen gibt es nicht und kann es wohl auch nicht geben. Der empirisch psychologischen Forschung ist es bisher jedenfalls noch nicht gelungen, mehr als nur einen kleinen Teil der Varianz menschlichen Verhaltens in komplexen Umwelten vorherzusagen. Leute, die meinen, sie könnten es besser, sollten Zahlen, Daten und Fakten präsentieren, die dies belegen. Bisher jedenfalls: Fehlanzeige.

Warum glauben dann sogar viele Leute, die Psychiatern und der Psychiatrie im Grunde kritisch gegenüberstehen, den psychiatrischen Prognostikern, wenn diese im Brustton der Überzeugung von oben herab behaupten: “Der Angeklagte ist gefährlich und gehört weggesperrt in die Psychiatrie?”

Niemand fragt sich dann noch: “Woher will der das wissen?”, sondern man sagt sich: “Der Mann ist Facharzt. Der hat das schließlich gelernt!”

Es gibt fraglos überaus gefährliche Leute, auch solche, die sich durch keinerlei Strafandrohung von den abscheulichsten Verbrechen abhalten lassen. Zeitungen und Fernsehsender berichten fast täglich von solchen Taten. Nur wer sich ohne Medienkontakt in die Einöde zurückzieht, kann sich dieser Erfahrung entziehen. Sie erzeugt zwangsläufig ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Sicherheitsbedürfnis und Gefahrenbewusstsein schaukeln sich gegenseitig auf.

Dadurch entsteht chronischer Stress; der auch dann wirksam ist, wenn er verdrängt oder verleugnet wird. Stress aber begünstigt die Tendenz zur Regression. Unter “Regression” wird die Neigung verstanden, als Erwachsener auf frühkindliche Problemlösungsmuster zurückzugreifen. Ein kleines Kind, das sich bedroht fühlt, sehnt sich nach dem Schutz des Vaters, der als übermächtig erlebt wird. Dies ist aus meiner Sicht zumindest ein wesentlicher Aspekt, der dazu beiträgt, warum ärztliche Gefährlichkeitsgutachten nicht jenes Ausmaß an Kritik ernten, das ihnen bei nüchterner Betrachtung sicher wäre.

Vor allem durch die zunehmend aggressiver geführte öffentliche Debatte über außermedizinische, vor allem wirtschaftliche Interessen von Medizinern ist die ärztliche Autorität in den letzten Jahrzehnten zwar ins Wanken geraten. Sie ist längst nicht mehr so unumstößlich wie bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein. Aber sie verstärkt sich in Situationen individueller oder kollektiver Bedrohung trotzdem auch heute noch und löst nach wie vor den beschriebenen regressiven Reflex aus.

Wenn es um “gefährliche Irre” geht, wird der Prognostiker in der Regel auch nicht mehr als Psychiater, sondern als Facharzt angesprochen, gleichsam also geadelt, damit das schlechte Image der Seelenklemptnerzunft nicht die Vertrauensbasis untergräbt.

So wie das Kleinkind dem Vater ohne Begründung oder Belege glaubt, dass der eine Mensch gut, der andere böse sei; so nimmt es der unter Stress geratene Bürger ungeprüft hin, dass nach Meinung des zuständigen Facharztes der eine Mensch gefährlich sei, der andere aber nicht.

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Die Psychiatrie maßt sich in der Praxis Fähigkeiten an, die ihr, sogar gemessen an den Befunden der eigenen empirischen Forschung, wissenschaftlich betrachtet nicht zu Gebote stehen. Deswegen wird in psychiatrischen Fachzeitschriften seit Jahren die Krise der Psychiatrie beklagt. Der kritische Psychiater Thomas Szasz bezeichnete die Psychiatrie als eine Wissenschaft der Lügen. Braucht unsere Gesellschaft eine solche Wissenschaft, und wenn ja, warum? Weil sonst die gefährlichen Irren frei herumliefen?

Natürlich gibt es gefährliche, brutale, grausame Menschen. Wer würde sich nicht wünschen, dass sie an ihren Taten gehindert werden, wenn es sein muss, auch durch Mauern, Gitter und Stacheldraht. Doch leider gibt es keine Möglichkeit, sie mit der moralisch gebotenen Treffsicherheit zu identifizieren. Die Gefahr, dass man die Falschen ergreift und einkerkert, die Richtigen aber laufen und ggf. sogar Karriere machen lässt, ist viel zu groß. Mit unserem System des Maßregelvollzugs, der Unterbringung, der Sicherungsverwahrung wiegen wir uns in falscher Sicherheit und nehmen dafür unverhältnismäßig hohe moralische, aber auch ökonomische Kosten in Kauf.

Man sollte Menschen an ihren Taten messen. Mutmaßungen über ihre Geistesverfassung sollten vor Gericht keine Rolle spielen, es sei denn, nachweisbare, und ich betone: nachweisbare Störungen des Nervensystems hätten einen Einfluss auf ihren mentalen Zustand und stünden in einem nachvollziehbaren Zusammenhang zu ihren Taten und ihrem zukünftigen Verhalten.

Fazit: Die Psychiatrie hat vor Gericht nichts zu suchen.

Anmerkungen

(1) Franklin, R. D. (ed.) (2003). Prediction in Forensic and Neuropsychology. Mahwah, N. J.: Lawrence Erlbaum

(2) Dawes, R. M. (1989). Experience and validity of clinical judgment: The illusory correlation. Behavioral Sciences & the Law, Volume 7, Issue 4, pages 457–467, Autumn (Fall)

(3) Postel, G. (2001). Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. med. Gert von Berg. Frankfurt a. M.: Eichborn Verlag

(4) Hart, S. D., Michie, C., & Cooke, D. J. (2007) Precision of actuarial risk assessment instruments: Evaluating the ‘margins of error’ of group versus individual predictions of violence. British Journal of Psychiatry, Supplement, 49, Vol 190 60-65.

(5) Lidz, C., Mulvey, E., & Gardner, W. (1993). The accuracy of predictions of violence to others. Journal of the American Medical Association, 269, 1007-1011.

(6) Sue, D. et al. (2012). Understanding Abnormal Behavior. New York, N.Y.: Wadsworth Inc Fulfillment, Seite 527

(7) Janis, I. B. & Nock, M. K. (2008). Behavioral Forecasts Do Not Improve the Prediction of Future Behavior: A Prospective Study of Self-Injury. JOURNAL OF CLINICAL PSYCHOLOGY, Vol. 64(10), 1–11

(8) Postel, G. (2001), siehe Fußnote 3

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