UFO
Wer im deutschen Netz nach Seiten über die Ursachen der Schizophrenie sucht, stößt fast immer zu Beginn des Texts auf einen Satz, der, mit geringfügigen Variationen, in etwa wie folgt klingt:
“Die Ursachen der Schizophrenie sind bis heute noch nicht abschließend geklärt.”
Danach werden die üblichen Verdächtigen verhaftet. Mutmaßliche Täter, lies: Verursacher der Krankheit, seien in folgenden Milieus zu vermuten: Genetik, Hirnprozesse, Stressoren im soziales Umfeld.
Wer die Geschichte und die “Befunde” der Schizophrenie-Forschung etwas genauer kennt, der weiß, dass hier fast jedes Wochenende eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Die neueste Sau heißt “Schaltkreise”. Nicht mehr die Neurotransmitter, nein, irgendwelche seit Kindheit gestörten “circuits” im Gehirn seien dafür verantwortlich, dass manche Leute mitunter halluzinieren, sich verfolgt fühlen, sich an seltsame Ideen klammern, keinen Bock auf irgendwas mehr haben, simple logische Zusammenhänge nicht mehr auf die Reihe bekommen, nachts immer wieder einmal senkrecht im Bett stehen usw.
Kurz: Auch nach Jahrzehnten intensiver Forschung weiß die Psychiatrie immer noch nicht, warum sich manche Leute durch ihr bizarres und rätselhaftes Verhalten und ihr bekundetes groteskes Erleben redlich bemühen, Arbeitsplätze und Einkommen in Kliniken, Praxen und in der Pharmaindustrie zu sichern. Es ist nicht etwa so, dass ein allmählicher Erkenntnisfortschritt zu verzeichnen wäre; keineswegs: Das Gegenteil ist der Fall. Keine Sau gleicht der anderen. Die Schizophrenie-Forschung gehorcht eher den Gesetzen der Mode als denen des Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnis.
Das Wort “abschließend“, dass eine prominente und sinnstiftende Position im Standardsatz einschlägiger Webseiten zu den Schizophrenie-Ursachen einnimmt, suggeriert also etwas anderes, als tatsächlich der Fall ist. Dennoch wird beharrlich und unkorrigierbar an ihm festgehalten. Wer dies nicht glaubt, kann ja die Betreiber solcher Netzangebote auf den beschriebenen Sachverhalt hinweisen (Beweise dafür, dass er tatsächlich vorliegt, finden sich zu Hauf in meiner Website) und dann überprüfen, ob die Phrase “bis heute nicht abschließend geklärt” daraufhin verschwindet und durch die zutreffende Formulierung “bis heute nach wie vor ungeklärt” ersetzt wird.
Man mag sich fragen, warum ich auf diesem Wörtchen “abschließend” so nachdrücklich herumreite. Darauf kann ich Ihnen, lieber Leser, im Augenblick keine Antwort geben, denn die Ursachen eines merkwürdigen, möglicherweise bedrohlichen, unerwarteten Ereignisses sind noch nicht abschließend geklärt.
Es geht um Folgendes: Als ich gerade darüber nachdachte, welche Begründung fürs Herumreiten ich am besten zu Papier bringen sollte, trat ich ans Fenster meines Arbeitszimmers und blickte auf den Kaulbachplatz vor der gleichnamigen U-Bahn-Station. Im Zentrum dieses Platzes befindet sich ein Rasenstück mit einigen Bäumen und Büschen an der Westseite. Passanten streben zum Eingang des U-Bahnhofs, manche tragen verdächtige Hüte, aber nicht alle. Sie scheinen es nicht zu bemerken – zumindest kümmern sie sich nicht um das UFO, das auf dem Rasenstück gelandet ist. Wie lange es sich dort schon befindet, weiß ich nicht genau. Als ich gestern aus dem Fenster blickte, war es noch nicht dort.
Seltsame Wesen, die nackt, grau und eierköpfig sind, stehen auf Leitern und wischen die Scheiben ihres Fahrzeugs. Wieso es keinen Massenauflauf gibt, wieso die Leute zur U-Bahn streben, als sei nichts geschehen, kann ich nicht ergründen. Meine Hypothese, dass die Mannschaft des UFOs Außerirdische sind, die mit ihren Strahlenwaffen das Bewusstsein der Passanten kontrollieren, ist noch nicht abschließend geklärt. Es könnte sich natürlich auch um Filmaufnahmen handeln. Darauf deutet zumindest der Kamerawagen hin, der an der westlichen Einmündung der Schweppermannstraße in den Kaulbachplatz steht. In diesem Fall könnte man vermuten, dass es sich bei den Passanten um Statisten handelt, die sich rollengemäß verhalten. Aber es könnte natürlich auch sein, dass die UFO-Besatzung den Kamerawagen dort geparkt hat, um mich in die Irre zu führen und dass der Kameramann, der auf dem Dach steht und zu filmen scheint, in Wirklichkeit ein Gestaltwandler ist, der heimtückisch eine menschliche Form angenommen hat.
Oder sollte es etwa so sein, dass ein Psychiatriekritiker wie ich – das musste ja so kommen – halluziniert und sich von Außerirdischen verfolgt fühlt. Bevor mitlesende Psychiater nun auf die Idee kommen, meinen Schaltkreisen besonderes Augenmerk zu widmen, möchte ich vorsorglich darauf hinweisen, dass ich eine Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte grundsätzlich und uneingeschränkt keiner psychiatrischen Behandlung und Diagnose, unter welchen Bedingungen auch immer, zustimme. Dies empfehle ich … Moment, jemand klingelt an der Tür, bin gleich zurück…
So, da bin ich wieder. Denken Sie sich nur: Ich wurde gerade zu einer Spritztour eingeladen. Wann ich zurück sein werde, weiß ich nicht genau. Die Leute, die mich einluden, trugen keine weißen Kittel. Wahrscheinlich bin ich also nur ein paar Stündchen weg, allein: dies aber auch nur, wenn’s unfallfrei abgeht: Die Leute scheinen Raser zu sein; Überlichtgeschwindigkeit, puuh. Ob ich das riskieren kann? Ist ja schon gut, ich komme, ich komme!
Das Telefon reißt mich aus meiner Trance. Nein, nein, nein, rufe ich, auch ich wisse nicht, warum die Tochter Schizophrenie habe und was man dagegen tun könne und aufgrund dieser Unwissenheit und Ratlosigkeit könne ich auch niemanden beraten. Ja, es sei mir egal, dass andere da weniger zögerlich seien, denn…
Fahren wir fort.
Ein strategisches Etikett
1969 gab der psychiatriekritische Psychiatrieprofessor Thomas Szasz der Zeitschrift “The New Physician” ein Interview. Ein kurzer Abschnitt daraus wurde seither unzählige Male zitiert; er wurde zum Motto der psychiatriekritischen Bewegung der Psychiatrieerfahrenen.
“‘Schizophrenie’ ist ein strategisches Etikett, wie es ‘Jude’ im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ‘Müll’; sie bedeuten ‘nimm ihn weg’, ‘schaff ihn mir aus den Augen’, etc. Dies bedeutete das Wort ‘Jude’ in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ‘Ungeziefer’, ‘vergas es’. Ich fürchte, dass ‘schizophren’ und ‘sozial kranke Persönlichkeit’ und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ‘menschlicher Abfall’, ‘nimm ihn weg’, ‘schaff ihn mir aus den Augen’ (1)”.
Dies ist Klartext. Szasz charakterisiert eine reale pragmatische Dimension der psychiatrischen Diagnosen, die nämlich auch Markierungen auf einer Skala des Ausmaßes von Ausgrenzung sind. Es geht um Macht. Genauer: um Definitionsmacht, die Gewalt legitimiert und mit ethischer Blindheit verbindet.
Objektivität der Diagnosen
Wenn die psychiatrische Diagnostik objektiv wäre und nur von überprüfbaren medizinischen Kriterien abhinge, wäre es schwierig, eine Diagnose wie die der Schizophrenie als strategisches Etikett einzusetzen. Denn dies setzt zumindest ein gewisses Maß an Willkür voraus. Doch die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten, das amerikanische DSM und der psychiatrische Teil der ICD, sind alles andere als wissenschaftlich.
Für diese Klassifikationssysteme psychischer Störungen gibt es weder eine theoretische Begründung, noch eine empirische Absicherung. Dies liegt daran, dass zu jeder der so genannten psychischen Krankheiten eine Vielzahl von einander widersprechende Theorien und empirische Befunde existieren. Die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und psychiatrischen Richtungen haben eigene Störungstheorien. Darauf fußend, wurden häufig auch eigene diagnostische Kriterien entwickelt, die untereinander und von den ICD bzw. vom DSM abweichen. Aus diesem Grunde stellen die psychiatrischen Diagnosen der ICD und des DSM nur den “kleinsten gemeinsamen Nenner” dar, der politisch ausgehandelt wurde – in nationalen und internationalen Gremien der Psychiatrie. Bei den Kriterien der einzelnen “Krankheitsbilder” handelt es sich auch keineswegs um empirisch ermittelte “Cluster”, sondern um willkürliche Zusammenstellungen von Verhaltensmuster und Bekundungen mentaler Prozesse. Die Einschätzung hinsichtlich der Ausprägung dieser Merkmale erfolgt auch nicht mittels objektiver Instrumente (beispielsweise einheitlicher, an repräsentativen Stichproben “geeichter” Tests), sondern sie beruht auf dem Gutdünken des jeweiligen Diagnostikers. Ob der Herr Mustermann eine “psychische Krankheit” hat und, wenn ja, welche, hängt eindeutig und systematisch davon ab, welchem Menschen- bzw. Weltbild der jeweils diagnostizierende und behandelnde Psycho-Experte anhängt – und sicher auch davon, in welcher Gemütsverfassung er sich gerade befindet. Da diese Diagnose-Schemata nur den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen, konzentrieren sie sich auf das, was übrig bleibt, wenn man Theorie, Empirie und Wissenschaft wegstreicht, nämlich auf die mutmaßlichen Abweichungen eines Menschen von sozialen Normen und den Erwartungen seiner Mitmenschen. Dies aber sind keine medizinischen Kategorien. Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinen Aufsatz “Die psychiatrische Diagnostik” auseinandergesetzt (Pflasterritzenflora, 14. 11. 2013).
Unzulänglichkeit von ICD und DSM
Ich halte die internationalen Klassifikationssysteme der Psychiatrie für unzulänglich,
- weil sie nicht in der Lage sind, nachvollziehbar darzulegen, was das “spezifisch Kranke” an der (extremen) sozialen Devianz sein soll
- weil sie es nicht vermögen, die neuronale Basis der angeblich kranken sozialen Devianz empirisch stringent von der neuronalen Basis der so genannten Normalität abzugrenzen
- weil sie keinen eindeutigen Bezug zwischen gestörten Verhaltensweisen und Störungen des Nervensystems herzustellen vermögen (im ICD sind Gehirnkrankheiten sogar ein Ausschlussgrund der Diagnose von Psychosen und vielen anderen so genannten “psychischen Krankheiten”)
- weil diese Systeme das Modellhafte, das Hypothetische der Diagnosen verschleiern und die sozialen Störungen, auf die sie sich beziehen, verdinglichen (mystifizierend, also ohne faktischen Nachweis ins Nervensystem verlagern) und individualisieren
- weil die Reliabilität und die prognostische Validität der Diagnosen unzulänglich sind (unterschiedliche Diagnostiker gelangen bei denselben Menschen zu unterschiedlichen Diagnosen und die Genauigkeit der Vorhersage des Verhaltens der Diagnostizierten liegt nur unwesentlich über dem Niveau des Kaffeesatzlesens)
- weil sich die Diagnosen etikettierend und stigmatisierend auf willkürlich herausgegriffene Menschen auswirken
- weil die Diagnosen der Angstabwehr durch Pseudo-Erklärung dienen und somit einen rationalen Diskurs in der Gesellschaft beeinträchtigen
- weil sie eine Schein-Legitimierung für meines Erachtens nicht verfassungskonforme Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen darstellen.
Angstbewältigung
All dies gilt natürlich auch für jene Diagnose, von der Szasz sagte, sie sei ein strategisches Etikett. Wie zu erwarten war, stieß Szasz mit seiner Einschätzung der Diagnose “Schizophrenie” auf erheblichen Widerstand. Um diesen Widerstand zu verstehen, muss man sich nach den Funktionen des Etiketts “psychische Krankheit” fragen. Diese sind vielfältig. Eine davon ist aus psychoanalytischer Sicht jedoch die entscheidende. Psychiatrische Diagnosen dienen der Angstbewältigung durch Pseudo-Erklärung. Eine weitere, damit zusammenhängende Funktion ist die Gewissensentlastung bis hin zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen zum “Wohle des Patienten”. Dies ist eine vordergründige Funktion, die sofort ins Auge springt. Sie erklärt aber nicht, warum Menschen, die weder selbst, noch indirekt durch Freunde, Bekannte, Verwandte etc. betroffen sind, sich dennoch an diesen Begriff klammern als sei er die sprichwörtliche Planke des Ertrinkenden.
Beim Widerstand gegen Kritik an der Psychodiagnostik spielt fraglos die Angstbewältigung durch Pseudo-Erklärung die entscheidende Rolle. Es hat eine entlastende Funktion, einem potenziell bedrohlichen Phänomen eine vermeintliche Ursache zuzuschreiben, von der man glaubt, dass sie beeinflussbar sei (“Heilung” der “Krankheit” durch “Ärzte”). Diese Funktion der Angstreduktion erfüllt die mutmaßliche Ursache aber nur so lange, wie sie nicht in Frage gestellt wird. Das Dumme ist nur, dass solche Abwehrreaktionen zwar im Sinne einer Angstreduktion kurzfristig wirksam sind, langfristig aber das Problem durch Reflexionsvermeidung verschlimmern.
Das heißt: Langfristig nimmt die Furcht vor dem angstauslösenden Objekt durch Abwehrmechanismen noch zu. So ist es auch zu erklären, warum viele Menschen “psychisch Kranke”, vor allem aber die so genannten Schizophrenen (Psychotiker) für besonders gefährlich halten, obwohl statistisch erwiesen ist, dass sie nicht gefährlicher sind als die so genannten Normalen. Jeder Durchschnittsbürger, der hin und wieder einmal unter Alkoholeinfluss Auto fährt, stellt tendenziell eine größere Gefahr für die Allgemeinheit dar als ein abstinenter Schizophrener.
Derartiges Wissen ist mitunter sogar Menschen schwer zu vermitteln, die ansonsten durchaus rational denken können. Hier spielen die Angstvermeidung durch Pseudo-Erklärung und deren langfristig angstverstärkenden Wirkungen eine erhebliche Rolle. Dies gilt für alle so genannten “psychischen Krankheiten” – und zwar in dem Ausmaß, wie die mit ihnen verbundenen Verhaltensmuster Angst auslösen. Besonders gegenüber den so überaus rätselhaften und irrational erscheinenden “Schizophrenen” bilden Psychiater und die Mehrheit der Nicht-Betroffenen eine Allianz, die auf uneingestandenen Interessen und verkappten Trugschlüssen beruht.
Die Psychiater genießen in diesem Bereich eine Definitionsmacht, die sich auch ökonomisch auszahlen kann, denn im Zusammenspiel mit der Justiz kann ein Mensch durch eine Schizophrenie-Diagnose in einen Zwangskunden der Psychiatrie verwandelt werden. Die Nicht-Schizophrenen aber wünschen sich mitunter nichts sehnlicher als genau dies, dass nämlich ein Mensch mit bizarren und bedrohlich wirkenden Verhaltensmustern weggesperrt werden möge.
Ist Schizophrenie real?
Es mag den Leser überraschen, dass ich einerseits die Existenz psychischer Krankheiten bestreite und andererseits die “Schizophrenie” für real halte. Dieser scheinbare Widerspruch ist allerdings leicht aufzulösen.
Aus meiner Sicht gibt es durchaus Menschen, die man aufgrund ihres Verhaltens und Erlebens – freilich nicht im gängigen psychiatrischen Sinn - als “schizophren” (volkstümlich: “verrückt”) bezeichnen könnte (5). Es gibt jedoch keinen guten Grund dafür, dieses Muster aus Emotionen, Stimmungen, Wahrnehmungen, Motivationen, Gedanken und Handlungen als Krankheit zu deuten – zumal doch ins Auge springt, wer tatsächlich von dieser Diagnose betroffen ist: Menschen, die stören, deren Verhalten man sich nicht erklären kann, die niemanden haben, der sich für sie einsetzt, um Menschen also, die überwiegend aus der Unterschicht stammen.
Ich behalte daher den Begriff “Schizophrenie” bei, weil Menschen mit solchen psychischen Auffälligkeiten uns tatsächlich im Alltag begegnen können. Man könnte sie mit Marsmenschen vergleichen, die nicht vom Mars kommen, sondern irdischen Ursprungs sind. Die Verwendung dieses Begriffs als psychiatrische Diagnose lehne ich aber ab, weil es sich dabei um ein strategisches Etikett handelt, mit dem man reinen Gewissens Menschen als angeblich Kranke ausgrenzen, ja einsperren kann, obwohl gegen sie nichts Justiziables vorliegt. Die “Schizophrenie” ist keine Krankheit, sondern ein Lebensstil. Warum sich ein Mensch für diesen Lebensstil entscheidet, ist noch nicht abschließend geklärt. Ja, hier stimmt die Floskel tatsächlich, denn zu den Ursachen der “Schizophrenie”, als Lebensstil, als psychologisch und soziologisch nachvollziehbare Reaktion begriffen, gibt es in der Tat eine Menge empirische Studien mit einigen überaus bedenkenswerten Befunden (2).
Zum Thema der “Verrücktheit” habe ich mich in der Pflasterritzenflora hier ausführlich geäußert.
Erscheinungsformen
Zu den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome der psychischen Krankheit Schizophrenie” gedeutet werden, zählen u. a.
- ein Zerfließen der Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen dem Ich und den Anderen
- eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung in Form von Illusionen, Halluzinationen, veränderter Leibempfindungen etc.
- verzerrte Denkabläufe im Sinne von Verworrenheit, Unlogik oder Ideen, die von dem abweichen, was die Mehrheit für real hält
- Verflachte, extrem situationsunangemessene Gefühle, aber auch extreme Gefühlsausbrüche (Angst, Wut).
Die Psychiatrie unterscheidet willkürlich, also ohne empirische Absicherung diverse Unterformen der “Schizophrenie”, nämlich
- die paranoide Schizophrenie, bei der Wahnideen und akustische Halluzinationen im Vordergrund stehen
- die katatone Schizophrenie, die durch Starrheit oder extreme Erregung, bizarres Posieren und andere merkwürdige Körperhaltungen gekennzeichnet ist
- die desorganisierte Schizophrenie, deren Hauptmerkmale eine unzusammenhängende Sprache, chaotisches Verhalten sowie flache bzw. unangemessene Affekte sind.
Die schizophrenen “Symptome” werden in vier Gruppen unterteilt, nämlich
- die positiven “Symptome” (z. B. Stimmenhören, so genannten Wahnideen, verschrobene Sprache mit sinnlosen Wörtern etc.)
- die negativen “Symptome” (sozialer Rückzug, Probleme beim emotionalen Ausdruck, Schwierigkeiten bei der Selbstversorgung etc.)
- die kognitiven “Symptome” (Probleme der Informationsverarbeitung, des Umweltverständnisses, des Gedächtnisses etc.);
- die emotionalen “Symptome” (Depressionen, panische Ängste etc.)
Da es sich bei der Schizophrenie nicht um eine Krankheit handelt, habe ich den Begriff “Symptome” in Anführungszeichen gesetzt. Dass solche Phänomene bei einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen vorübergehend oder dauerhaft auftreten, soll nicht bestritten werden. Warum sich Menschen für diesen Lebensstil entscheiden, wissen wir meist nicht. Lebensstile hängen von Vorlieben und Abneigungen ab; wer könnte schon sagen, wann und warum sich die eigenen Präferenzen entwickelt haben? Die Ursachen liegen im Dunkel der Lebensgeschichte, der sie mit Anspruch auf hinlängliche Gewissheit selten zu entreißen sind. Warum sollte dies bei “Schizophrenen” anders sein als beim Rest der Menschheit?
Eine Stoffwechselstörung
Die Psychiatrie behauptet in ihren Broschüren und Websites, dass die Schizophrenie durch das Zusammenwirken genetischer und anderer biologischer sowie sozialer Faktoren hervorgerufen wird.
Die genetische Komponente wird durch Zwillingsstudien erhärtet, angeblich. Diese ermitteln u. a. die sog. Konkordanzrate. Eine Konkordanzrate von X % bedeutet: Wenn ein Zwilling schizophren ist, dann ist der andere Zwilling mit einer Wahrscheinlichkeit von X % ebenfalls erkrankt. Die Konkordanzrate liegt bei eineiigen Zwillingen bei durchschnittlich 46 %, wohingegen sie bei zweieiigen Zwillingen im Mittel 14 % beträgt (Andreasen & Black 1993, 149 f.). Dass Dumme nur: Es handelt sich bei diesen Studien meist um Forschungen mit Zwillingen, die gemeinsam aufwuchsen. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Menschen des Umfelds dieser Zwillinge eineiige nicht anders behandeln als zweieiige. Dass diese Voraussetzung zutrifft, darf aus guten Gründen bezweifelt werden. Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinem Aufsatz “Ist der Mensch ein Produkt seiner Umwelt, seiner Gene oder..?” auseinandergesetzt.
Gern räume ich aber ein, dass menschliches Verhalten generell, also nicht nur das “schizophrene” auch von den Erbanlagen beeinflusst sein könnte. Da also “schizophrenes” Verhalten und Erleben möglicherweise teilweise auch auf genetischen Faktoren beruht, könnte man geneigt sein anzunehmen, dass es sich dabei um eine Krankheit handeln müsse. Diese Schlussfolgerung ist allerdings kurzschlüssig.
Schließlich spielen vermutlich bei allen menschlichen Verhaltensweisen und Erlebnisformen genetische Faktoren eine eine mehr oder weniger große Rolle. Das Verhalten von Menschen bei Intelligenztests beispielsweise ist auch in einem gewissen Maß genetisch bedingt. Ist Intelligenz deswegen eine Krankheit?
Ein Blick zurück in die Geschichte der Schizophrenie-Forschung:
Vor einigen Jahrzehnten glaubte die Wissenschaft, das Rätsel der “Schizophrenie” gelöst zu haben. Man hatte entdeckt, dass die halluzinogene Droge LSD den Neurotransmitter Serotonin blockiert. Neurotransmitter sind Überträgerstoffe, die im Nervensystem freigesetzt werden. Da nun aber LSD psychische Veränderungen hervorruft, die man für schizophrenieähnlich hielt, meinte man, den Serotoninmangel als Verursacher der Schizophrenie gefunden zu haben.
Allerdings stellte sich bald heraus,
- dass einige Substanzen mit LSD-ähnlicher Wirkung das Serotonin nicht blockieren,
- dass andere Drogen die Serotonin-Aktivität zwar vermindern, aber keine Halluzinationen auslösen, und
- dass die Wirkungen des LSD sich deutlich von schizophrenen Symptomen unterscheiden.
Und so musste die Hypothese des Serotoninmangels als Ursache der Schizophrenie aufgegeben werden.
Schon bald aber wurde ein neuer Übeltäter ausgemacht, nämlich der Neurotransmitter Dopamin. Diesmal allerdings sollte kein Mangel, sondern ein Überschuss für die Schizophrenie verantwortlich sein. Dies schloss man aus der Tatsache, dass fast alle der damals gebräuchlichen Medikamente zur Behandlung der Schizophrenie Dopamin blockierten.
Wenn also, so lautete die Schlussfolgerung, eine Verringerung der Aktivität des Dopamins im Gehirn die Symptome der Schizophrenie lindert oder beseitigt, dann leiden die Schizophrenen offenbar an einem Überschuss dieses Botenstoffs. Schließlich blockieren diese antipsychotischen Medikamente die Nervenzellen, die auf Dopamin reagieren (Rezeptoren), so dass dieser Überträgerstoff dort nicht aktiv werden kann.
Die Sache hatte allerdings einen Haken: Man konnte in den Gehirnen von Schizophrenen keinen ungewöhnlich hohen Dopaminspiegel feststellen. Um diesen Haken geradezubiegen, entwickelte man die Hypothese, die Schizophrenen hätten besonders viele Dopamin-Rezeptoren, so dass die gleiche Menge Dopamin bei ihnen eine stärkere Wirkung habe als bei nicht-schizophrenen Menschen. Forschungen zu diesem Thema erbrachten zunächst keine eindeutigen Ergebnisse. Schließlich wurde die Hypothese verfeinert. Inzwischen waren verschiedene Typen von Dopamin-Rezeptoren entdeckt worden, und zwei von diesen, genannt D2 und D3, wurden als “Übeltäter” identifiziert.
Allerdings ließ sich auch diese verfeinerte Hypothese nicht eindeutig bestätigen. Eine multinationale Studie mit Patienten und Forschern aus Deutschland, Österreich und Großbritannien ergab z. B., dass die erhöhte D2/D3 -Rezeptor-Dichte bei den Schizophrenen ausschließlich das Ergebnis der Behandlung dieser Patienten mit antipsychotischen Medikamenten war. Es stellte sich nämlich heraus, dass Blockierung der Rezeptoren mit diesen Substanzen eine Erhöhung der Rezeptordichte zur Folge hatte.
Mittlerweile wurden die sog. atypischen Neuroleptika entwickelt. Einige dieser neuen Medikamente gegen Schizophrenie beeinflussen den D2-Rezeptor nicht oder nur in sehr geringem Maß. Zunächst wurde eingewendet, dass diese eben die Mittel der Wahl seien für jene Patienten, bei denen die Schizophrenie nicht auf einer Dopamin-Störung beruhe. Allerdings stellte sich heraus, dass diese atypischen Neuroleptika auch bei jenen Patienten wirksam sind, die gleichermaßen positiv auf die traditionellen Medikamente reagieren.
Ein weiterer Faktor spricht ebenfalls gegen die Dopamin-Hypothese. Die antipsychotischen Drogen, die in den Dopamin-Haushalt eingreifen, blockieren die Aktivität dieses Neurotransmitters innerhalb weniger Stunden nach der Einnahme. Sie benötigen jedoch in der Regel mehrere Wochen, bevor ein nennenswerter antipsychotischer Effekt einsetzt. Eine überzeugende Erklärung für diesen Widerspruch wurde bisher noch nicht gefunden.
Entsprechende Studien sind unter Fachleuten nach wie vor umstritten. Eine ausführliche Schilderung und kritische der bisher vergeblichen Bemühungen, die neurophysiologischen Grundlagen der Schizophrenie zu erforschen, findet sich in einem Buch des amerikanischen Neuropsychologen Elliot S. Valenstein: “Blaming the Brain”. Mit diesem Komplex habe ich mich auch in meinem Pflasterritzenflora-Beitrag “Psychiatrie – Neurotransmitter und Schaltkreise” auseinandergesetzt.
Entzündungen?
Unter dem Titel: “Angriff aufs Gehirn” berichtet der Spiegel (32 – 2012) über neue Entdeckungen zu einer angeblich gemeinsamen Ursache von Störungen, die bisher als sehr unterschiedlich galten:
“Ärzte sind einer organischen Ursache von Nervenleiden auf der Spur. Viele Schizophrenien, Epilepsien oder Demenzerkrankungen werden offenbar durch fehlgeleitete Immunzellen ausgelöst – und können mit Cortison geheilt werden.”
Die Forschung, so heißt es, stehe allerdings noch am Anfang, jedoch:
“Der Neurologe (Harald Prüß, HUG) hält es sogar für möglich, dass ein erheblicher Teil aller Schizophrenien durch Hirnentzündungen verursacht werden. ‘Die typischen Verläufe’, argumentiert Prüß, ‘erinnern verdächtig an eine andere Autoimmunkrankheit: die Multiple Sklerose’.“ (Grammatikfehler aus Original übernommen, HUG).
Man reibt sich die Augen: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“, dichtete einst Hölderlin. Behält der am Ende seines Lebens angeblich “geistig umnachtete” Dichter auch auf diesem Gebiet recht?
Denn die Gefahr ist nicht mehr zu übersehen. Die bisherigen psychiatrischen Theorien, die Stoffwechselstörungen des Gehirns als Ursache “psychischer Krankheiten” postulieren, sind im Licht empirischer Forschungen ausnahmslos gescheitert, grandios gescheitert. Auch die Behauptung, die Psychopharmaka wirkten dem “chemischen Ungleichgewicht” im Nervensystem entgegen, hat sich als wissenschaftlich unbegründet herausgestellt. Die Psychiatrie steht also vor einem Scherbenhaufen.
Und nun wird ernsthaft erwogen, die Schizophrenie sei (so wie die Epilepsie und die Demenz) die Folge einer Hirnentzündung. Wenn das so ist, dann wurden bisher die entsprechenden Erkrankten allesamt mit den falschen Medikamenten behandelt. Beispiel: Schizophrenie. Den Neuroleptika kann man ja nun wirklich alles nachsagen, nur keine entzündungshemmende Wirkung.
Wie unlängst die Pflasterritzenflora berichtete, schrieb eine große Nummer in der Pharmawirtschaft, der Neurowissenschaftler Fibiger, dass die Pharma-Industrie sich fast vollständig aus der Psychopharmaka-Forschung zurückgezogen habe, wegen düsterer Zukunftsaussichten dort. Da die Psychiatrie nicht wisse, sagt er, wie das normale Hirn funktioniere und erst recht nicht, welche Pathomechanismen den psychischen Krankheiten zugrunde lägen, könne die Pharma-Forschung nur im Trüben fischen – und dabei sei seit 30 Jahren nichts Neues mehr herausgekommen.
Doch nun das! Wie schön. Jetzt kann man ja wieder die Ärmel aufkrempeln und nach neuen, speziellen entzündungshemmenden Mitteln für Schizophrene, Epileptiker und Demenzkranke suchen. Oder handelt es sich hier wieder einmal nur um die sattsam bekannten Säue, die eine nach der anderen durchs Dorf getrieben werden?
Schaltkreise
Das National Institute of Mental Health (NIMH), das weltweit größte psychiatrische Forschungszentrum, hält offenbar wenig von solchen Spekulationen über Hirnentzündungen und setzt vielmehr auf die Erforschung gestörter Schaltkreise, die angeblich für die “Schizophrenie” und andere “psychische Krankheiten” ursächlich sein sollen.
In seinem Director‘s Blog (3) äußert sich der Leiter des NIMH, Thomas Insel zum Stand der Forschung, kurz zusammengefasst, wie folgt:
- Es wurde zu einem NIMH-Mantra, psychische Krankheiten als Gehirnstörungen zu beschreiben.
- Psychische Störungen unterscheiden sich aber von den klassischen neurologischen Störungen. Neurologische Störungen beruhen auf fokalen Läsionen (Schädigungen, die von einem bestimmten Zielpunkt ausgehen).
- Psychische Krankheiten sind scheinbar Störungen von Schaltkreisen im Gehirn.
- Die Störungen der Schaltkreise entstehen im Lauf der Hirnentwicklung eines Menschen.
- Die moderne Hirnforschung macht es möglich, diese gestörten Schaltkreise zu identifizieren.
- Trotz ihrer atemberaubenden, explosionsartigen Entwicklung steht die neurowissenschaftliche Forschung allerdings noch ganz am Anfang.
- Wir wissen noch nicht einmal, was ein Schaltkreis ist. Wo beginnt er? Wo endet er? Wie hängt das Muster der Aktivität, das wir auf den Brain Scans sehen, mit dem zusammen, was tatsächlich im Gehirn geschieht? In welche Richtung fließt die Information?
- Die Metapher „Schaltkreis“ könnte sogar völlig unzulänglich sein, um zu beschreiben, wie mentale Vorgänge aus neuronalen Abläufen hervorgehen.
- „Während die neurowissenschaftlichen Entdeckungen schnell und wild kommen, können wir eine Sache bereits jetzt sagen, nämlich, dass frühere Begriffe psychischer Störungen als chemische Ungleichgewichte oder soziale Konstrukte antiquiert auszusehen beginnen. Viel von dem, was wir jetzt über die neuronale Basis psychischer Störungen lernen, ist zur Zeit noch nicht reif für die Klinik, aber es kann nur geringer Zweifel daran bestehen, dass klinische Neurowissenschaft schon bald Menschen zu gesunden helfen wird.“ („While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated. Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic, but there can be little doubt that clinical neuroscience will soon be helping people with mental disorders to recover.“)
![Thomas Insel]()
Thomas Insel (NIMH)
Ich wiederhole: Die Sichtweisen, dass psychische Störungen chemische Ungleichgewichtszustände im Gehirn oder soziale Konstrukte (also von Psychiatern erfundene Fiktionen) seien, beginnen, antiquiert zu erscheinen.
Abschließend darf natürlich das Bekenntnis zum baldigen Durchbruch in der neurowissenschaftlichen Forschung nicht fehlen. Dies ist nicht nur das Mantra des NIMH, sondern der gesamten modernen Psychiatrie seit Jean-Martin Charcot, also seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Sind diese ominösen „Schaltkreise“ auch nur eine substanzlose Mode, so wie es die „chemischen Ungleichgewichte“ waren? Wird hier an einer neuen Legende gestrickt, die wieder einmal für ein paar Jahrzehnte leidenden Menschen ein Vertrauen in die Psychiatrie einflößt, das nicht gerechtfertigt ist?
Ich werde die Entwicklung auf dem Gebiet der “Schaltkreise” aufmerksam und unparteiisch verfolgen und berichten, wenn sie hier etwas Neues und Bemerkenswertes ergibt. Antipsychiatrische Leidenschaft und missionarischer Eifer sind mir fremd. Es geht mir nicht darum, die Psychiatrie schlechtzumachen. Der Leser darf in der Pflasterritzenflora eine von der Pharmaindustrie und den Marketingabteilungen der Psychiatrie unabhängige Berichterstattung erwarten; nicht mehr und nicht weniger.
Man darf aber wohl, ohne sich dem Verdacht der Gehässigkeit auszusetzen, mit gutem Recht betonen, dass sämtliche biologischen Theorien der “Schizophrenie” entweder bereits widerlegt wurden oder nach wie vor unbewiesen sind.
Trauma
Trotz widersprüchlicher Befunde und einer unzulänglichen empirischen Basis ist die Schizophrenie für die traditionelle Psychiatrie eine überwiegend angeborene Hirnstörung, die in erster Linie medikamentös behandelt werden muss. Neuere Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass seelische Verletzungen im Ursachenbündel dieser psychischen Störung eine erhebliche, wenn nicht die zentrale Rolle spielen.
Auf zwei Konferenzen in Madrid und London trat 2006 ein internationales Forscherteam mit empirischen Befunden an die Öffentlichkeit, die leider nur einen Sturm im Wasserglas auslösten, obwohl sie die Fundamente der gängigen “Schizophrenie”-Theorie nachhaltig erschütterten. Die Kernaussage lautet: Schwere psychische Traumatisierungen, z. B. sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlungen und emotionale Verwahrlosung, sind ein wesentlicher Faktor im Ursachenbündel der “Schizophrenie”.
Die Forscher bestreiten den genetischen Einfluss nicht, betonen aber, dass psychische Traumata von der “Schizophrenie”-Forschung bisher zugunsten biologischer Faktoren erheblich unterschätzt wurden. Die traditionelle Forschung räume zwar ein, dass Traumata bei einigen psychiatrischen Krankheiten wie beim Posttraumatischen Stress-Syndrom oder der Dissoziativen Identitätsstörung eine bedeutende Rolle spielen – als Ursache der Schizophrenie würden sie bisher aber kaum in Erwägung gezogen.
Zu dieser Gruppe von Forschern, die psycho-traumatische Ursachen der “Schizophrenie” annehmen, zählen der Neuseeländer J. Reed, der Niederländer J. van Os, der Brite A. P. Morrison sowie der Kanadier C. A. Ross. Diese Wissenschaftler analysierten die empirische Literatur, die zwischen 1872 und Juli 2005 zu diesem Thema erschienen ist, und stellten ihre Ergebnisse 2005 in der englischsprachigen psychiatrischen Fachzeitschrift „Acta Psychiatrica Scandinavica“ vor. Trotz des langen Zeitraums fand sich nur eine kleine Zahl von empirischen Studien, die den Zusammenhang zwischen Trauma und Schizophrenie bei Frauen (46) oder Männern (31) untersuchen. Die Auswertung dieser Studien ergab jedoch ein deutliches und einheitliches Bild mit u. a. folgenden Befunden:
- Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und emotionale Vernachlässigung sind signifikante Korrelate der “Schizophrenie”; sie stehen vor allem in engem Zusammenhang mit visuellen Halluzinationen sowie dem Stimmenhören (kommentierende und kommandierende Stimmen)
- Je schwerer das psychische Trauma war, desto ausgeprägter sind die psychotischen Symptome
- Psychologische Ansätze sind zur Behandlung traumatisierter Menschen mit der Diagnose „Schizophrenie“ effektiver als eine überwiegend medikamentöse Behandlung.
- Die Forscher fanden Häufigkeiten des sexuellen Missbrauchs zwischen 51 und 97 Prozent.
Die Studien beruhten allerdings überwiegend nicht auf so genannten „harten Daten” (Gerichtsurteile, Polizeiakten), sondern auf den Erinnerungen der Patienten an Missbrauch und Misshandlungen. Kritiker dieser Resultate könnten einwenden, dass diese Berichte nicht sehr zuverlässig seien, da Erinnerungen falsch sein könnten und da eine Verwechslung von Realität und Phantasie bekanntlich zum Krankheitsbild der “Schizophrenie” gehöre. Das Forscherteam hält diese Bedenken aber nicht für stichhaltig, da eine größere Zahl von wissenschaftlichen Studien zeige, dass derartige Angaben von Psychotikern einer strengen Überprüfung in der Regel standhielten. Falsche Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs seien bei Schizophrenen nicht häufiger als in der Normalbevölkerung.
Die Studie von Reed und seinen Mitarbeitern ist ein weiterer Mosaikstein eines neuen und alten Bildes der so genannten psychischen Krankheiten. Die moderne, biologisch orientierte Psychiatrie hatte die alte Erkenntnis, dass seelische Verletzungen eine wesentliche Ursache späteren psychischen Leidens seien, durch Brain-Scans und Spekulationen über Neuro-Transmitter beinahe aus dem Bewusstsein verdrängt. Nun aber zeichnet sich eine Neuorientierung ab (4). Die Bedeutung der Traumata wird wiederentdeckt und – was unter Marketinggesichtspunkten noch bedeutender ist – ihr Einfluss auf Hirnprozesse und -strukturen wird mit den modernen Methoden der medizinischen Wissenschaft untersucht.
Ob diese neue Sichtweise das alte Paradigma allerdings ersetzen kann, ist fraglich. Viel zu viele wichtige Leute haben es lieb gewonnen und werden sich nicht kampflos von ihm trennen, vor allem jene nicht, die bei Pharmaproduzenten in Arbeit und Brot stehen und solange nicht, bis die Patente der gängigen “Antipsychotika” abgelaufen sind.
Therapie
Die Schizophrenie wird heute weltweit überwiegend medikamentös behandelt. Die Mehrheit der Psychiater ist davon überzeugt, dass Psychotherapien oder andere psycho-soziale Hilfen nur als Ergänzung zur Therapie mit den sog. Neuroleptika sinnvoll sind.
Die Neuroleptika werden seit Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts zur Behandlung der Schizophrenie eingesetzt. Sie können die “Krankheit” nicht “heilen”, also die soziale Devianz nicht völlig ausmerzen, aber sie unterdrücken vor allem die positiven “Symptome” in vielen Fällen erheblich – zumindest ihr kurzfristiger Nutzen für manche Menschen ist kaum zu bestreiten. Bei etwa dreißig Prozent der Betroffenen wird die “Symptomatik” durch Neuroleptika jedoch nicht (nennenswert) beeinflusst (Julien 1997, 293).
Außerdem haben diese Substanzen z. T. erhebliche, höchst unangenehme und beeinträchtigende “Nebenwirkungen”. Zu diesen “Nebenwirkungen” zählen u. a.
- Frühdyskinesien (früh auftretende spontane, unwillkürliche Muskelbewegungen im Gesicht, der Augen, Zunge, des Halses, im Schlund und Nacken, der Schulter, des Rumpfs und der Extremitäten
- Spätdyskinesien (stereotype, unwillkürliche, mitunter irreversible, also sich nicht zurückbildende Bewegungsstörungen, die frühestens nach drei bis sechs Monaten und in der Regel erst nach mehrjähriger Therapie bzw. bei abruptem Absetzen der Medikamente auftreten und im Extremfall zur Unfähigkeit führen, selbständig zu essen und sich anzukleiden
- pharmakogenes Parkinson-Syndrom, also eine durch Neuroleptika ausgelöste Parkinson-Erkrankung (Schüttellähmung) bzw. pharmakogene Encephalitis lethargica.
Weitere “Nebenwirkungen” sind u. a. Sehstörungen, Harnverhaltung, Trockenheit der Schleimhäute, vermehrter Tränen- und Speichelfluss, Potenzstörungen, Gewichtszunahme, Diabetes u. v. m. Den Begriff der “Nebenwirkungen” habe ich mit Bedacht in Anführungszeichen gesetzt. Denn eine erwünschte Hauptwirkung im Sinne eines echten antipsychotischen Effekts besitzen diese Medikamente nicht, bestenfalls unterdrücken sie einige der mit der so genannten Schizophrenie verbundenen Phänomene.
Die so genannten klassischen Neuroleptika verwandeln den Patienten in einen Parkinson-Kranken. Für den Morbus Parkinson (Schüttellähmung) sind zwar die Bewegungsstörungen charakteristisch, diese Erkrankung ist u. U. aber auch mit anderen Symptomen verbunden, und zwar mit einer emotionalen Abstumpfung und als Folge mit einer starken Demotivation. Emotionale Abstumpfung und Demotivation sind die Hauptsymptome der Apathie. Die Neuroleptika können zudem eine weitere künstliche neurologische Störung, nämlich eine lethargische Encephalitis hervorrufen (Breggin, 1996, Seite 114 f.). Bei der natürlichen lethargischen Encephalitis (Europäische Schlafkrankheit) kann der Parkinsonismus eine Folgeerkrankung sein (postencephalitischer Parkinsonismus). Die neueren, die sogenannten atypischen Neuroleptika erzeugen zwar, wenn überhaupt, nur in schwächerem Ausmaß Bewegungsstörungen, machen aber ebenfalls apathisch und können gleichermaßen überaus gefährliche Nebenwirkungen nach sich ziehen.
Die antipsychotische Wirkung der Neuroleptika besteht also darin, dass sie die Patienten gegenüber den zuvor beängstigenden Symptomen wie Halluzinationen, Stimmenhören und Wahnideen apathisch machen. Dafür nimmt man in Kauf, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Folgeschäden auftreten.
Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinem Pflasterritzenflora-Beitrag über Neuroleptika auseinandergesetzt.
Die heute vorherrschende, überwiegend medikamentöse Behandlung von “Schizophrenen” wird allerdings von einigen Psychiatern heftig kritisiert.
Zu diesen Kritikern zählt der inzwischen verstorbene amerikanische Arzt Loren R. Mosher, der die medikamentenfreie Behandlung von “Schizophrenen” für möglich und genauso effektiv hält. Er warf der American Psychiatric Association (APA) eine “unheilige Allianz” mit der Pharma-Industrie vor. Die APA sei in erheblichem Maße von finanziellen Zuwendungen der Pharma-Industrie abhängig. Dies habe zu einer Voreingenommenheit für die medikamentöse Behandlung und zu einer Geringschätzung der medikamentenfreien Alternativen geführt (Mosher 1999). Mosher ist einer der Väter des Soteria-Konzepts, das eine weitgehend medikamenten-freie stationäre Betreuung von “Schizophrenen” vorzieht, die zudem strikt auf Gewaltanwendung verzichtet. Trotz überzeugender Erfolge gibt es heute weltweit nur eine Handvoll Einrichtungen, die nach dem Soteria-Konzept arbeiten.
Opiate
Die heute üblichen Medikamente zur Behandlung der “Schizophrenie” haben erhebliche, z. T. verheerende “Nebenwirkungen” – und sind häufig mit nicht heilbaren Spätschäden verbunden. Im 19. Jahrhundert waren Opiate das Mittel der Wahl zur Therapie dieser psychischen Störung. Opiate können zwar abhängig machen, aber sie besitzen sonst kaum schwerwiegende Nebenwirkungen. Ihre antipsychotische Wirkung ist nicht schwächer als die der Neuroleptika.
Den offensichtlichen Vorzügen der Opiate stehen allerdings eingefleischte Vorurteile gegenüber. Wie bei den Methadon-Programmen für Drogenabhängige sollten diese Vorurteile endlich überwunden werden. Mir klingt schon jetzt, bevor ich die Schaltfläche “Veröffentlichen” angeklickt habe, das Geschrei in den Ohren: “Opiate machen doch süchtig!!!” Ja, ja, sicher, die Gefahr ist gegeben. Ansonsten aber haben sie wenig Nebenwirkungen – vor allem keine derart gravierenden wie Neuroleptika aller Arten.
Und helfen Opiate denn auch gegen “Schizophrenie”?
Es gibt nur wenig aktuelle Forschung zu diesem Thema. Aber wer sich ein wenig auskennt in der Welt der Drogenabhängigen, der weiß, dass eine nennenswerte Zahl von ihnen an den “Symptomen” der so genannten Schizophrenie leidet und nicht wenige Opiate zur Selbstmedikation dieser Störungen einsetzen. In Methadon-Programmen führt eine regelmäßige, verlässliche und angemessene Versorgung mit der Substanz dann auch in vielen Fällen zu einer wesentlichen Besserung der “psychotischen Symptomatik”. Das ist auch kein Wunder, denn schon die Alten wussten, dass Opiate eine beachtliche antipsychotische Tendenz besitzen.
Daraus folgt: Sinnvoll wäre eine psychologische Beratung der Betroffenen, die Trauma-Erfahrungen nicht ausklammert (oder als Irrsinn abtut), wenn die “schizophrenen” Klienten davon sprechen – wie wirr und phantastisch auch immer. Die Unterbringung nach dem Soteria-Konzept ist mitunter hilfreich. Wie bereits erwähnt, sieht das Soteria-Konzept eine stationäre Betreuung von Menschen in psychotischen Krisen vor. Die Patienten werden rund um die Uhr von semiprofessionellem Personal begleitet. Die Grundhaltung ist akzeptierend und Medikamente werden, wenn überhaupt, nur sehr sparsam und mit Einverständnis der Betroffenen eingesetzt. Falls Psychopharmaka dennoch unerlässlich bzw. vom “Patienten” gewünscht sein sollten, wäre zur Krisenintervention, u. U. auch als Langzeitanwendung, an Opiate zu denken. Aus meiner Sicht wären diese Drogen, trotz Abhängigkeitsgefahr, den Neuroleptika mit all ihren aktuellen und langfristigen, z. T. verheerenden “Nebenwirkungen” auf jeden Fall vorzuziehen.
Die Würfel sind gefallen
Blicken wir den Tatsachen ins Auge. Die Würfel sind leider gefallen zugunsten der Neuroleptika. Dies zeigt sich auch in der Forschung, besser: es zeigt sich in der Nicht-Forschung. Abgesehen von ein paar Studien gibt es kaum systematische Vergleiche zwischen Opiaten und Neuroleptika. Die Neuroleptika, auch die atypischen, haben sämtlich erhebliche “Nebenwirkungen”, z. T. verheerende. Die Langzeitbehandlung mit diesen Medikamenten richtet mehr Schaden an als sie Nutzen stiftet.
Häufig sind die Betroffenen nicht bereit, Neuroleptika (regelmäßig) einzunehmen – und wenn Ärzte ihrer Pflicht zur wahrheitsgemäßen Information über diese Medikamente entsprechen, dann wird die Bereitschaft zur Einnahme noch erheblich geringer. Es ist also höchste Zeit, im Sinne der Patienten mit einer “Schizophrenie”-Diagnose über Alternativen nachzudenken.
Opiate könnten eine solche Alternative sein. Dies wird von vielen Fachleuten mit Entsetzen zurückgewiesen. Neuroleptika mit ihre teilweise katastrophalen “Nebenwirkungen” sind aber mit Sicherheit die schlechtere Lösung. Man hat sich jahrelang mit Händen und Füßen gegen die Behandlung von Fixern mit Methadon gesträubt, noch heftiger gegen die Heroin-Programme. Heute gibt es keinen Zweifel mehr: Substitution und Heroinprogramme sind erfolgreich.
Ähnliches würde man vermutlich erleben, wenn man Substitutionsprogramme für Neuroleptika-Gebraucher anbieten würde. Natürlich, gegen diese Idee würde sich noch viel stärkerer Widerstand regen als gegen die Substitution.
Doch warum eigentlich: Was ist die rationale Basis dieses Widerstands? Dass Opiate süchtig machen können? Kann das ein Argument sein, wenn die Alternative die oft lebenslang für erforderlich gehaltene Einnahme von Neuroleptika ist – also von Medikamenten mit verheerenden “Nebenwirkungen”? Ist das ein rationales Argument? Vor einer vorschnellen Beantwortung dieser Frage sollte man bedenken, dass Neuroleptika ebenfalls abhängig machen, was sich an Entzugserscheinungen zeigt.
Auch Neuroleptika wirken, weil sie sedieren, genauso wie Opiate. Opiate sedieren aber mit weniger Nebenwirkungen – vor allem besitzen sie, in reiner Form, keine verheerenden “Nebenwirkungen”, so wie die Neuroleptika. Wie bei der Substitution heißt die Devise: Schaden begrenzen, “Harm Reduction”. Selbstverständlich dürfte auch die Bereitschaft der Betroffenen, Opiate zur Linderung ihrer Beschwerden zu nehmen, weitaus größer sein als bei den Neuroleptika. Opiate haben nämlich eine stimmungsaufhellende, wohltuende Wirkung – ganz im Gegensatz zu den Neuroleptika.
Natürlich: Unserem Anspruch, Krone der Schöpfung zu sein, entsprechen wir mit “Opiaten in der Birne” zweifellos nicht – aber mit kaum einem Medikament bewegt sich der Mensch aus meiner Sicht weiter auf ein subhumanes Niveau zu als mit Neuroleptika.
Substitution und Heroinprogramme beweisen, dass Opiate eben nicht nur Schmerzmittel sind. Sie wirken sich auch positiv auf sehr komplexe bio-psycho-soziale Problemlagen (Abhängigkeiten) aus. “Schizophrenie” ist ebenfalls, wie sogar die Psychiatrie einräumt, eine sehr komplexe bio-psycho-soziale Problemlage. Die “Schizophrenie” besitzt sogar, da die entsprechenden Formen des Verhaltens und Erlebens auch als Abwehrmechanismen fungieren – so wie der Konsum von Alkohol und Drogen – suchtartige Aspekte. Dies wird nur leider aufgrund einer einseitig biologischen (also biologistischen) Sichtweise häufig übersehen.
Dass Opiate heute kaum noch ernsthaft zur Milderung psychotischen Verhaltens und Erlebens erwogen werden, hat keine rationalen medizinischen Gründe. Dies ist die Folge einer unseligen Drogenpolitik, die u. a. zu einer völlig wirklichkeitsfremden Einstellung gegenüber bestimmten psychoaktiven Substanzen in der Bevölkerung und natürlich auch bei Politikern geführt hat.
Es spielen sicher aber auch Geschäftsinteressen eine Rolle. Die oft absurd hohen Schwarzmarktpreise sollten nicht zu der Ansicht verleiten, Opiate seien zwangsläufig teure Medikamente. Man kann sie sogar erheblich billiger produzieren als Neuroleptika, weil sie nicht patentgeschützt sind. Deswegen aber sind sie für die Pharmaindustrie nicht besonders attraktiv.
Ärzte, die sich wegen der Suchtgefahr Sorgen machen, könnten es zunächst einmal mit Präparaten versuchen, die ein stark reduziertes Suchtpotential besitzen, weil sie ein Opioid mit einem Opioid-Antagonisten kombinieren. Ansonsten ist die Suchtgefahr, wenn eine kostengünstige Versorgung mit der Substanz gewährleistet ist, ohnehin eines der geringeren Probleme im Gesamtzusammenhang einer alternativen “Schizophrenie”-Behandlung.
Außerdem sollte man mit einer weiteren Legende aufräumen, dass nämlich bei “Schizophrenie” nur ein Stillstand der Symptome, aber keine “Heilung” zu erreichen sei. Eine Überwindung der sozialen Devianz ist möglich – und bei einem “geheilten” Schizophrenen entfiele dann auch der ursprüngliche Grund für den Opiatkonsum, der allerdings auch eine, evtl. gesondert zu behandelnde, Eigendynamik gewinnen kann. Wegen dieser Eigendynamik und wegen der Gefahren, die mit gestrecktem Stoff verbunden sind: Hände weg von der Selbstmedikation!
Nachbemerkung
Ich sympathisiere mit der psychiatriekritischen Betroffenenbewegung, die “Schizophrenie” für ein “strategisches Etikett” zur Ausgrenzung von Menschen mit außergewöhnlicher Wirklichkeitserfahrung hält.
Andererseits kann ich mich aufgrund von Erfahrungen mit “Schizophrenen” auch nicht vor der Einsicht verschließen, dass manche dieser Menschen selbst erheblich zu dieser Ausgrenzung beitragen und die Grenzen der Belastbarkeit ihrer Mitmenschen bis an den Rand des Erträglichen und darüber hinaus testen.
Diese Tests halte ich nicht für “krankheitsbedingt”, das ist vor allem eine Charakterfrage. Menschen mit außergewöhnlicher Wirklichkeitserfahrung müssen mitunter ein wenig an ihrem Charakter arbeiten, um zu lernen, ihre außergewöhnliche Wirklichkeitserfahrung sozialverträglich auszuleben. Es gilt, die eigene Verantwortung zu erkennen und sich entsprechend verantwortlich zu verhalten.
Von Fall zu Fall ist es ratsam, sich zu diesem Zweck von anderen helfen zu lassen. Hilfe ist aber nur dann sinnvoll, wenn sie verantwortliches Verhalten und Selbstbestimmung fördert und wenn sie auch das zu leisten vermag, was sie verspricht.
Anmerkungen
(1) Szasz, T. (1969). Interview with Thomas Szasz. The New Physician, June, 453 – 476
(2) Bentall, R. (2009). Doctoring the mind: is our current treatment of mental illness really any good? New York, NYU Press; Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.
(3) Insel, T. (2011). Director’s Blog: Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits, http://www.nimh.nih.gov/about/director/2011/mental-illness-defined-as-disruption-in-neural-circuits.shtml
(4) Ob diese Neuorientierung durch den Rückzug der Industrie aus der Psychopharmaka-Forschung gefördert wurde, ist eine offene Frage.
(5) In seinem Buch “Schizophrenie. Das heilige Symbol der Psychiatrie” (Frankfurt a. M., 1982: Fischer Taschenbuch Verlag) schreibt der kritische Psychiater Thomas S. Szasz:
“Kurz, obwohl die Schizophrenie keine Krankheit ist, muss der Begriff Schizophrenie nicht unbedingt sinnlos sein: Ebenso wie der Begriff Ehe bezieht er sich gewöhnlich auf ein komplexes und – von Epoche zu Epoche, Klasse zu Klasse und Kultur zu Kultur – höchst variables Verhaltensspektrum seitens der “Patienten”, der “Psychiater” sowie der Öffentlichkeit, die dieses Verhalten billigt, missbilligt oder einfach miterlebt. Wir können uns, falls wir es wünschen, erneut dem Versuch widmen, diese Handlungsweisen und Beziehungen zu verstehen und sie in einer Weise zu verändern, die uns wünschenswert erscheint. Aber wir können dies nicht tun, solange wir Psychiater bleiben. Ebenso wie Ehemänner und Ehefrauen einander durch das existenzielle Band zwischen ihnen erschaffen, bedingen auch Irre und Irrenärzte einander. Darin liegt die medizinische Tragödie und die moralische Herausforderung der Psychose und der Psychiatrie (169 f.).”
Literatur
Andreasen, N. C. & Black, D. W.: Lehrbuch Psychiatrie. Weinheim (Psychologie Verlags Union) 1993
Breggin, P. R.: Giftige Psychiatrie, Band 1. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1996
Julien, R. M.: Drogen und Psychopharmaka. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1997
Mosher, L. R.: Are Psychiatrists Betraying Their Patients? (researchers, psychiatrists indebted to drug companies). Psychology Today, Sept. 1999
Read, J. et al.: Childhood trauma, psychosis and schizophrenia: a literature review with theoretical and clinical implications. Acta Psychiatrica Scandinavia, 112: 330-350, 2005
Ross, C. A. & Joshi, S.: Schneiderian symptoms and childhood trauma in the general population. Comprehensive Psychiatry, 33, 1992, 269-273
Valenstein, E. S.: Blaming the Brain. The Truth About Drugs and Mental Health. New York (The Free Press), 1998