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Psychosomatik

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Alles psychisch?

Sie gehen zum Arzt, sie haben dies oder das. Der Doktor untersucht Sie. Er sagt, er könne so recht nichts finden, was für dies oder das verantwortlich sei. Doch so schnell gibt er sich nicht geschlagen. Wenn der Arzt nicht mit bloßem Auge sehen oder mit den Händen ertasten kann, was Ihnen fehlt, so ist er heutzutage noch lange nicht aufgeschmissen. Moderne medizinische Apparaturen und Labore helfen ihm herauszufinden, worunter sie leiden und woran es liegt.

Allein, nicht immer. Sie kommen zum zweiten Termin, um die Ergebnisse der aufwändigen Tests und Durchleuchtungen zu erfahren, doch der Doktor zuckt nur mit den Schultern, nichts gefunden! Sie schauen ihn ratlos an. So etwas hat der Arzt nicht gern. Niemand soll ratlos seine Praxis verlassen, unter dies und das leidend, nach wie vor, ohne eine Erklärung seines misslichen Befindens, auch wenn der Doktor mit seinem kleinen Mediziner-Latinum am Ende ist.

Also rückt sich der Mediziner hinter seinem Schreibtisch zurecht, nimmt eine aufrechte, stramme Positur ein, blickt Ihnen zugleich milde und streng ins Auge und spricht also: Es könnte etwas Psychisches sein. Dies wird und muss auch Ihnen einleuchten:

  • Wenn weder Ihr erfahrener Arzt, noch die modernen Apparaturen und Labore Licht ins Dunkel von diesem oder jenem, was sie plagt, zu bringen vermochten,
  • was denn, wenn nicht Sie selbst, also Ihre Psyche, sollten wohl dafür verantwortlich sein, dass es Ihnen schlecht geht.

Und der Doktor hat ja auch nicht ewig Zeit. Also, nehmen Sie den schwarzen Peter und geben Sie wenigstens bis zur Chronifizierung Ruhe! Danach sehen wir weiter.

Fakten und Fiktionen

Doch halt, wer wird denn gleich in sich gehen? Benutze lieber deinen Verstand und frage dich: Stimmt das denn auch? Der medizinische Fachbegriff für Fälle wie diese, so wissen Sie aus der Zeitung, dem Magazin oder dem Werbeblättchen aus der Apotheke, heißt: “psychosomatische Störung”. Die Frage lautet nunmehr also, gesetzt den Fall, Sie hätten sich zu kritischem Denken entschlossen, unter diesen für Sie günstigen Bedingungen also lautet die nunmehr naheliegende Frage: Gibt es so etwas wie “psychosomatische Störungen” überhaupt?

Ich weiß, ich weiß: Die Psychosomatik ist, aus unterschiedlichen Gründen, nicht nur bei den Medizinern, sondern auch in der Presse und natürlich bei den Frauen Kult. Diesen in Frage zu stellen, kommt einem schweren Sakrileg gleich. Trotzdem, liebe Leserin, lieber Leser, will ich diese Sünde auf mich nehmen, denn ich würde mich wirklich grämen, wenn Ihnen wegen eines Irrglaubens gesundheitlich etwas zustieße und ich hätte Sie nicht zuvor zumindest nachdrücklich gewarnt.

Wer meint, dass sich die Psychosomatische Medizin auf einen soliden Fundus empirischen Wissens stützen könnte, irrt gewaltig. Es gibt zwar eine nennenswerte Zahl von Studien, die sich dieser Thematik annehmen; sie alle jedoch leiden an diversen methodischen Problemen, die eine eindeutige Interpretation der Befunde ausschließen.

Methodische Probleme

Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Koronare Herzerkrankungen sind häufig und ebenso häufig werden psychosomatische Faktoren im Ursachenbündel dieser Krankheiten verortet. Dazu gibt es eine Reihe von Studien mit teilweise widersprüchlichen Ergebnissen. Ich greife nur eine Meta-Studie heraus, um an ihr die grundsätzliche Problematik möglichst anschaulich darzustellen.

Chida & Steptoe (1) gingen der Frage nach, ob ein Zusammenhang zwischen der Neigung zu Wut und Feindseligkeit einerseits und koronaren Herzerkrankungen andererseits bestehe. Sie recherchierten in den einschlägigen medizinischen Datenbanken und fanden 25 Studien, die sich empirisch mit dieser Fragestellung auseinandersetzten. Sie fassten die Befunde zusammen und entdeckten bei habitueller Feindseligkeit nicht besonders ausgeprägte, aber statistisch signifikante Zusammenhänge, nämlich:

  • ein erhöhtes Erkrankungsrisiko in den gesunden Populationen sowie
  • eine schlechtere Prognose in den zu Beginn der jeweiligen Studie bereits erkrankten Gruppen.

Solche Untersuchungen messen die Neigung zu Wut und Feindseligkeit in aller Regel mit psychologischen Tests bzw. Fragebögen und korrelieren die Befunde dann mit medizinischen Variablen wie beispielsweise Angina Pectoris oder Herzinfarkt. Statistische Laien setzen mitunter voraus, dass Korrelationen der Beweis für eine Kausalbeziehung seien, doch dies ist keineswegs der Fall. Korrelieren zwei Variablen (A und B) miteinander, so gibt es prinzipiell drei mögliche Erklärungen:

  1. A verursacht B
  2. B verursacht A
  3. der Zusammenhang ist auf eine Drittvariable zurückzuführen, die sowohl mit A, als auch mit B korreliert, nämlich C.

So könnte man beispielsweise argumentieren, es sei doch möglich, dass zornige und feindselige Menschen häufiger starker Raucher wären und dass Rauchen die Wahrscheinlichkeit einer koronaren Herzerkrankung erhöhe. Rauchen wäre bei dieser Argumentation also eine C-Variable. Der Zusammenhang zwischen Wut und Zorn sowie koronarer Herzerkrankung wäre dann also kein kausaler, sondern er wäre übers Rauchen vermittelt.

Das Rauchen will ich nicht weiter thematisieren, (außer vielleicht mit dem Hinweis, dass es grundsätzlich ratsam ist, nicht zu rauchen), denn einige Studien zeigen, dass der Zusammenhang zwischen A und B auch dann bestehen bleibt, wenn man den Einfluss des Rauchens statistisch aus den Daten herausrechnet (Partialkorrelationen). Vielmehr möchte ich auf einen Sachverhalt hinweisen, der selten bedacht wird, nämlich auf die soziale Klassenzugehörigkeit als C-Variable.

Der Zusammenhang zwischen Klassenzugehörigkeit und Herzerkrankungen ist empirisch erhärtet (Beispiele: 2,3). Meines Wissens wurde aber noch nicht versucht, Klassenzugehörigkeit als C-Variable aus dem Zusammenhang von Wut und Feindseligkeit auf der einen und koronaren Herzerkrankungen auf der anderen Seite statistisch herauszurechnen. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, dass dieser Zusammenhang dann verschwinden würde, weil nämlich die Äußerung von Wut und Feindseligkeit vermutlich mit der Klassenlage korreliert. So deutet beispielsweise ein Experiment darauf hin, dass Menschen mit niedrigem sozio-ökonomischen Status dazu tendieren, sich feindselig (zumindest aber reserviert) gegenüber Menschen mit einem höheren sozialen Status zu geben, weil sie sich in solchen Situationen häufig bedroht fühlen.

“It is also possible that in situations where lower-class individuals perceive threat—such as the situations studied in the present investigation (e.g., teasing interactions)— these individuals may be less likely to behave prosocially because of their increased hostile reactivity in these contexts (4).”

Dies dürfte sich auch auf Menschen aus der Unterschicht übertragen lassen, die Teilnehmer einer Untersuchung sind, in der sie sich mit Wissenschaftlern konfrontiert sehen, die offensichtlich einen höheren sozio-ökonomischen Status besitzen. Das damit verbundene Bedrohungserleben könnte für Wut- und Feindseligkeitswerte, die über denen von Teilnehmers aus übergeordneten Schichten liegen, zumindest mitverantwortlich sein. Mit anderen Worten: Trifft diese Hypothese zu, dann könnte es sich bei dem Zusammenhang zwischen Wut und Feindseligkeit auf der einen und koronarer Herzerkrankung auf der anderen Seite um eine Scheinkorrelation handeln, die durch den Faktor “Klassenlage” hervorgerufen wird. (6)

Sie werden Unwägbarkeiten dieser Art bei jeder Studie zur Psychosomatik begegnen, die auf Korrelationen zwischen psychischen und körperlichen Faktoren beruht. Diese Studien beweisen mutmaßliche psychosomatische Zusammenhänge keineswegs, weil stets Drittvariablen denkbar, oft auch naheliegend sind, die eine Scheinkorrelation hervorgerufen haben könnten, so dass sich eine kausale Interpretation der Daten verbietet. Eine Scheinkorrelation verschwindet, wenn man die relevanten C-Variablen herausrechnet. Mit anderen Worten: in einer hinsichtlich C homogenen Gruppe würde man keine signifikante Korrelation zwischen A und B messen können.

Genauer hinschauen

Die Psychosomatik ist ein Sammelsurium von Hypothesen. Häufig sprechen die vorliegenden Studien zum Teil für, zum Teil gegen den vermuteten Zusammenhang. Myrtek (5) beispielsweise untersuchte ebenfalls u. a. den Zusammenhang zwischen Feindseligkeit und koronarer Herzkrankheit; auch er fasste eine größere Zahl von Studien zusammen und schrieb über den summarischen Befund, dieser sei zwar signifikant, der Zusammenhang aber so schwach, dass ihm keine praktische Bedeutung zukomme.

Wenn Ihr Arzt, lieber Leser, bei Ihnen also einen “psychischen Faktor” als Ursache oder Teilursache von diesem oder jenem unterstellt, was er sich anders nicht erklären kann, dann dürfen sie getrost vermuten, dass er das Blaue vom Himmel herunterfantasiert (7). Sie müssen ihm nicht unbedingt massiv widersprechen, zumal er dies dann wahrscheinlich als Bestätigung seiner Psychodiagnose empfinden würde, sondern sie dürfen ihn durchaus mit großen Augen dankbar anschauen. Nur eins sollten sie nicht: Sie sollten sich diesen Psycho-Quatsch nicht zu eigen machen.

Denn wenn sie sich die psychosomatische Diagnose anverwandeln, dann beginnen Sie folgerichtig auch, darüber nachzudenken, was denn in Ihrer Psyche falsch läuft und krank macht. Ich garantiere Ihnen, ich gebe Ihnen Brief und Siegel darauf, dass es nicht lange dauert, bis Sie auch irgendetwas Derartiges in den dunklen Ecken ihrer Seelenkammer hervorgekramt haben. Sie haben zwar keine Möglichkeit zu überprüfen, ob dieses oder jenes in den Kellerräumen Ihrer Innenwelt für diese oder jene körperliche Störung tatsächlich verantwortlich ist – aber wenn Sie erst einmal auf diesem falschen Dampfer sitzen, dann werden Sie schnell das sichere Land der Vernunft hinter sich lassen und unter einer iatrogenen Denkstörung leiden. Wer aber vermöchte dann noch, Ihnen zu helfen?

Nehmen wir einmal an, Sie hätten Rückenschmerzen. Eine körperliche Ursache ist nicht auszumachen. Sie sind, wegen der heftigen Schmerzen, ziemlich zermürbt und am Ende Ihrer seelischen Kräfte. Der Onkel Doktor meint, die Schmerzen seien psychisch verursacht, womöglich eine “somatisierte Depression”. Gemach! Schauen Sie genauer hin. Eventuell ist beispielsweise Ihr Arbeitsplatz eine ergonomische und ihr Chef eine menschliche Katastrophe und vielleicht sind genau dies die Faktoren, die einerseits für die Rückenschmerzen und andererseits für ihre notorisch miese Stimmung verantwortlich sind. Dagegen aber helfen weder Antidepressiva, noch Psychotherapien – nicht wirklich, allenfalls scheinbar.

Anmerkungen

(1) Chida Y, Steptoe A. (2009). The association of anger and hostility with future coronary heart disease: a meta-analytic review of prospective evidence.J Am Coll Cardiol. 2009 Mar 17;53(11):936-46

(2) Lammintausta A, Immonen-Räihä P, Airaksinen JK, Torppa J, Harald K, Ketonen M, Lehto S, Koukkunen H, Kesäniemi AY, Kärjä-Koskenkari P, Salomaa V; FINAMI Study Group (2012). Socioeconomic inequalities in the morbidity and mortality of acute coronary events in Finland: 1988 to 2002. Ann Epidemiol. 2012 Feb;22(2):87-93

(3) Hawkins NM, Jhund PS, McMurray JJ, Capewell S. (2012). Heart failure and socioeconomic status: accumulating evidence of inequality. Eur J Heart Fail. 2012 Feb;14(2):138-46

(4) Kraus, M. W., Horberg, E. J., Goetz, J. L. & Keltner, D. (2011). Social Class Rank, Threat Vigilance, and Hostile Reactivity. Personality and Social Psychology Bulletin, 37(10) 1376–1388

(5) Myrtek M. (2001). Meta-analyses of prospective studies on coronary heart disease, type A personality, and hostility. Int J Cardiol. 2001 Jul;79(2-3):245-51

(6) Es ist im Übrigen auch denkbar, dass die Neigung, empfundene Feindseligkeit zu verschweigen, sich mit zunehmendem sozialen Status verstärkt, weil dies von den “gebildeten Ständen” so erwartet wird. Auch dies kann zu einer scheinbaren Korrelation zwischen Wut und Feindseligkeit einerseits und koronarer Herzerkrankung andererseits beitragen.

(7) Eine umfassende, allgemein verständliche Auseinandersetzung mit den Ideen der Psychosomatik findet sich in Rolf Degens Buch: Lexikon der Psycho-Irrtümer (2000, Frankfurt a. M.:Eichborn). Bei keiner der so genannten psychosomatischen Krankheiten lassen sich psychische Faktoren im Ursachenbündel empirisch nachweisen.

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Narzissmus

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Der Narzisst

Der Narzissmus wird als “Persönlichkeitsstörung” zu den so genannten psychischen Krankheiten gezählt. Einerseits aber war die Psychiatrie trotz eifriger Bemühungen bisher nicht in der Lage, eine Hirnstörung oder einen andere körperliche Ursache für diese angebliche Erkrankung zu identifizieren. Und andererseits springen die Umweltbedingungen ins Auge, die einen Menschen geneigt stimmen können, die Rolle des Narzissten zu spielen. Daher liegt es nahe, den Narzissmus nicht als Krankheit, sondern als Lebensstil aufzufassen.

Der Narzisst ist von einem tiefen Gefühl der eigenen Wichtigkeit durchdrungen. Er schwelgt in Phantasien des grenzenlosen Erfolges, übertreibt eigene Fähigkeiten und Leistungen maßlos und erheischt bedingungslose Bewunderung.

Er hegt übersteigerte Erwartungen an eine bevorzugte Behandlung und perfekte Rücksichtnahme anderer auf die eigenen Bedürfnisse. Erfüllt von Gefühl der Grandiosität, nimmt er sich das Recht heraus, andere bedenkenlos auszubeuten und für eigene Interessen einzuspannen.

Er ist nicht willens, die Bedürfnisse anderer als gerechtfertigt anzuerkennen oder sich in ihre Mitmenschen einzufühlen. Häufig wirkt er arrogant und überheblich.

Diese Haltungen sind aber eher selten Ausdruck eines intakten Selbstwertgefühls. Sie sind im Gegenteil häufig die Kompensation eines tief sitzenden, verdrängten oder abgespaltenen Minderwertigkeitsgefühls.

Es handelt sich hier auch nicht um eine Form des “sich selbst gut Verkaufens”. Der “gute Selbstdarsteller” weiß, dass die übertriebenen Selbstanpreisungen ebenso wenig 100%ig den Tatsachen entsprechen wie die Werbebotschaften für ein Konsumgut.

Der Narzisst ist demgegenüber zutiefst gekränkt und verletzt, wenn man ihre Grandiosität in Frage stellt. Der Narzisst verkauft sich also schlecht, weil er sich nicht als Verkäufer begreift, diese Rolle also auch nicht bewusst gestaltet und reflektiert. Der unausweichliche Misserfolg macht ihn wütend oder larmoyant.

Der Narzisst möchte sich zwar gern gut verkaufen, aber es gelingt ihm in aller Regel nicht. Wenn er in hohe gesellschaftliche Positionen aufsteigt, so nicht aufgrund seines diplomatischen Geschicks oder sonstiger ausgeprägter kommunikativer Fähigkeiten, sondern meist dank guter Verbindungen und Fürsprecher.

Gesellschaftliche Bedingungen

Aus meiner Sicht begünstigen strukturelle Bedingungen in modernen, westlichen Industriegesellschaften die Ausprägung eines narzisstischen Lebensstils. Hier sind, stark vereinfacht dargestellt, vor allem drei Faktoren relevant:

  1. Der für Industriegesellschaften hohe Konkurrenzdruck zwingt die Subjekte, sich selbst zu vermarkten. Dies betrifft nicht nur das Berufsleben, sondern zunehmend viele andere Bereiche der Gesellschaft. Erich Fromm spricht von der “Marketing-Persönlichkeit”, die zum vorherrschenden Persönlichkeitstyp in modernen Industriegesellschaften geworden sei. Der Zwang zur Selbstvermarktung fördert gleichzeitig die Tendenz zu einem übersteigerten Selbstwertgefühl. Wer immer seinen besonderen Wert (auch im Vergleich mit anderen) herausstreichen muss, glaubt früher oder später u. U. selber daran.
  2. Die Tendenz zur Selbsterhöhung hat bereits einen eigenen Markt geschaffen. Das wichtigste “Produkt” vieler Motivationstrainings besteht in der narzisstischen Aufblähung der begeisterten Kundschaft, die sich auf diese Weise allen Stürmen des modernen Business gewappnet wähnt. Leider ist das Leben in diesem Fall nur zu oft wie eine Stecknadel. Und dann platzt der Ballon.
  3. Die Werbung weckt pausenlos Bedürfnisse, der in aller Regel die Mittel des Konsumenten übersteigen. Er kann sich also die seinem übersteigerten Selbstwertgefühl entsprechenden Konsumgüter nicht leisten. Gleichzeitig hat er meist auch nicht die Erfolge im Beruf und in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, die er aufgrund seines aufgeblähten Selbstwertgefühls eigentlich haben müsste.

Der Konsument ist also fast zwangsläufig chronisch unzufrieden. Diese Unzufriedenheit ist aber nicht konstruktiv, indem sie zum Motor der persönlichen Entwicklung wird. Denn zur immer nur vorübergehenden Bedürfnisbefriedigung bedarf sie keiner Güter, die dem seelischen Wachstum dienen. Dazu braucht sie vielmehr Produkte, die vor allem die Anerkennung, Bewunderung oder auch den Neid der Mitmenschen hervorrufen sollen.

Die heimliche Botschaft der Marktwirtschaft an die Konsumenten lautet:“Du bist nichts – Konsum ist alles.”

Bereits Erstklässler, oft schon die Kinder im Kindergarten haben diese Botschaft verinnerlicht. Wer keine Markenprodukte sein eigen nennt, der gilt nichts unter den Kameraden. So wird von Kindesbeinen an die Selbstwertregulation deformiert. Der chronische Mangel an Konsumgütern führt zu einem Minderwertigkeitserleben, dass beständig kompensiert werden muss.

Diese Faktoren erzeugen eine Psychodynamik, die zu einer so genannten Narzisstischen Persönlichkeitsstörung führen kann, aber nicht muss. Ihre Grundlage ist ein abgewehrtes Minderwertigkeitsgefühl, durch dessen unbewusstes Wirken das Überwertigkeitsgefühl außer Kontrolle gerät und zu massiven Konflikten im Umgang mit anderen und im Verhältnis zu sich selbst führen kann.

Alkoholismus und Drogensucht sind ein häufiges Resultat dieser Abwehrmechanismen, da Rauschmittel die Erzeugung und Aufrechterhaltung narzisstischer Gefühle der Grandiosität fördern.

Natürlich sind nicht alle Menschen in Industriegesellschaften unseres Typs Narzissten. Dies bedeutet, dass die Betroffenen eine besondere Empfänglichkeit für diesen Lebensstil aufweisen.

Wer es aufgrund seines (ererbten) Vermögens gar nicht nötig hat, mit anderen zu konkurrieren und sich zudem viele Wünsche erfüllen kann, ist natürlich weniger gefährdet als die Heerscharen des “Kleinbürgertums”.

Auch unter den Outlaws, die zwar kein Geld in der Tasche haben, aber trotzdem glücklich sind, weil sie den Konventionen und Erwartungen der Gesellschaft keine oder nur wenig Bedeutung beimessen, laufen selbstverständlich ebenfalls in geringerem Maße Gefahr, sich zu Narzissten zu entwickeln.

Die überwiegende Mehrzahl der Narzissten findet sich in den Grauzonen zwischen den sozialen Schichten, wo Aufstieg möglich ist, aber auch Abstieg drohen kann. Der Narzisst leidet chronisch unter dem Gefühl, nicht die Beachtung und Wertschätzung zu finden, die ihm eigentlich zusteht. Wenn er sich in solchen sozialen Grenzbereichen bewegt, ist er jedoch besonders auf Signale angewiesen, die ihm anzeigen, dass er sich auf der sicheren Seite bewegt. Anerkennung und Wertschätzung gehören zu diesen Signalen.

Er leidet daher notorisch unter mangelnder Beachtung, auch wenn er, objektiv betrachtet, viel häufiger im Mittelpunkt steht als vergleichbare andere Leute. Da er aufgrund seines überstarken, aber unbewussten Minderwertigkeitsgefühls die Verantwortung für vermeintliche Geringschätzung nicht bei sich selbst suchen kann, muss er sie anderen zuschreiben. Auch wenn er es sich nicht eingesteht, so nagt in seinem Unbewussten doch die Befürchtung, dass eigene Fehler und Schwächen der Grund für die Missachtung seiner Person durch andere sein könnten.

Moslemhass

Deshalb ist er geneigt, diese Defizite auf andere zu projizieren und sie dann beim anderen zu bekämpfen:

  • Weil er aufgrund seiner eigenen Fehlhaltungen nicht oder nur oberflächlich in die Gemeinschaft integriert ist, bekämpft er andere, die es mutmaßlich oder tatsächlich nicht sind oder nicht sein wollen.
  • Da er sich selbst vor jeder Veränderung fürchtet, bekämpft er andere, die sich angeblich nicht anpassen wollen.
  • Da er selber barbarische Impulse, die aus seinen Minderwertigkeitsgefühlen resultieren, kaum zu kontrollieren vermag, bekämpft er andere, die aus einem angeblich unzivilisierten Kulturkreis stammen.
  • Die er selbst aufgrund seiner kompensatorischen Überwertigkeitsgefühle zu keiner Achtung gegenüber dem Partner in der Lage ist, bekämpft er andere, die angeblich aufgrund ihrer Religion frauenfeindlich sind.

Kurz: Unter den Antimoslemisten von heute finden sich häufig ausgeprägte Narzissten. Dem Antimuslimismus liegen offensichtlich dieselben tiefenpsychologischen Mechanismen zugrunde, die auch den Antisemitismus kennzeichnen. Da mit geäußertem Antimoslemismus heute aber mehr öffentliche Anerkennung verbunden ist als mit antisemitischen Parolen zu erreichen wäre, tendiert der moderne Narzisst zum Moslemhass.

Am Rande sei erwähnt, dass auch nationale Minderwertigkeitsgefühle verdrängt und die Überwertigkeitsgefühle kompensiert werden können, die sich dann in der vehementen Ablehnung all dessen äußern, was aus dieser narzisstischen Sicht nicht zu Deutschland gehört.

Ko-Narzissmus

Bisher habe ich die Inszenierung des Narzissmus als “Ein-Personen-Stück” präsentiert. Dies geschah, um die grundlegenden Gesichtspunkte leichter herauspräparieren zu können. Doch in der Realität ist alles noch viel verwickelter.

Menschen, die sich als “psychisch krank” inszenieren, bilden nämlich im Allgemeinen strategische Bündnisse. Bei den Narzissten wird dies besonders deutlich.

Narzissten sind Menschen, die extrem von sich eingenommen sind, in Wirklichkeit aber massive Minderwertigkeitsgefühle haben. Daher sind sie wie Süchtige darauf angewiesen, dass andere sie beachten, anerkennen und bewundern. Sie sind in dieser Hinsicht unersättlich und wenn sie sich vernachlässigt fühlen, dann können sie ziemlich giftig werden.

Da sie aber lieber als liebenswerte Menschen gelten möchten, sorgen sie dafür, dass ihnen der “Stoff” nicht ausgeht. Ihr “Stoff” sind willfährige Menschen, die ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Diese Menschen nenne ich Ko-Narzissten.

Ko-Narzissten sind in der Regel die Kinder narzisstischer Eltern. Kinder müssen mit ihren Eltern klarkommen, sie müssen sie sogar lieben, und wenn die Eltern Narzissten sind, dann müssen sie sich eben den narzisstischen Bedürfnissen ihrer Eltern anpassen.

Die Folge sind charakteristische Verhaltensmuster.

  • Ko-Narzissten reißen sich ein Bein aus, um andere zufrieden zu stellen,
  • sie unterwerfen sich den Meinungen und Ansichten anderer,
  • sorgen sich beständig, wie andere über sie denken und fühlen könnten,
  • sind häufig depressiv und ängstlich,
  • haben Schwierigkeiten, eigene Ansichten zu entwickeln, ein klares Bild ihrer Erfahrungen zu zeichnen
  • und fühlen sich dauernd schuldig an zwischenmenschlichen Problemen.

Narzissten neigen dazu, ihre Kinder (und andere Menschen) in eine narzisstische Fusion zu zwingen. Dabei verlieren diese Opfer der Narzissten ihr Eigenleben, werden zu Instrumenten narzisstischer Bedürfnisbefriedigung (narcissistic supply) und ziehen narzisstische Wutausbrüche auf sich, wenn sie nur einen Anflug von Widerstand leisten.

Aus den kindlichen Opfern solcher narzisstischen Fusionen werden oft Ko-Narzissten, die als Erwachsene häufig an narzisstische Partner geraten, weil Narzissten nicht selten einen sicheren Instinkt dafür haben, wer sich als Opfer ihrer narzisstischen Fusionsbedürfnisse gut eignet.

Der Ko-Narzissmus ist im Übrigen eine Spielart des Narzissmus.

  • Es ist durchaus denkbar, dass ein Mann, der sich gegenüber seiner Frau narzisstisch verhält, gegenüber seinem Vater ko-narzisstisch ist.
  • Und eine gegenüber ihrem Mann ko-narzisstische Frau kann ihre Kinder als Quellen narzisstischer Versorgung instrumentalisieren.

Die narzisstische Fusion bietet Narzissten wie Ko-Narzissten eine narzisstische Versorgung, denn der Narziss kümmert sich ja beständig um sein Opfer, das er psychisch und evtl. auch wirtschaftlich aussaugt.

Eine narzisstische Fusion stellt die positive narzisstische Versorgung für den Narzissten und die negative narzisstische Versorgung für den Ko-Narzissten sicher. Man kann ja auch grandios leiden, grandios ausgebeutet werden, und grandios die Widerlichkeiten eines unerhörten Monsters ertragen. Für einen Narzissten ist die Beachtung das Allerwichtigste, selbst dann, wenn sie in Missachtung besteht. (Beispiel: “Keine Frau auf der ganzen Welt hat ein solches Scheusal zum Mann wie ich!”)

Solche Beziehungen können überaus stabil sein – und wenn weitere Interaktionspartner einbezogen werden, wie Großeltern und Kinder, dann haben wir mitunter das Vollbild einer glücklichen bürgerlichen Familie vor Augen.

Alle – bis auf die Kinder – brauchen einander zur Abwehr eines tief sitzenden, aber weitgehend unbewussten Minderwertigkeitsgefühls. Das ist der Stoff, aus dem grandiose Familien gemacht werden, Stützen unserer Gesellschaft.

So könnte das bis an das Ende ihrer Tage weitergehen, wenn nicht irgend wann einmal einer, meist ein Kind aus der Reihe tanzt. Es wird z. B. drogenabhängig oder schließt sich einer Sekte an. Und schon ist die Familiengrandiosität dahin. Zumindest die positive Variante. Nicht selten wird dann die negative Variante inszeniert. Wenn eine solche Familie Glück hat, wird das Trash-Fernsehen auf sie aufmerksam und gibt ihr die Chance, sich im Reality-TV als die unglücklichste aller Drogenabhängigenfamilien im Sendegebiet zu inszenieren.

Der Narzisst braucht Aufmerksamkeit und Bestätigung seines grandiosen Selbsts. Solche Leidensgeschichten können durchaus ein Instrument sein, diese Aufmerksamkeit und Bestätigung zu erzwingen.

Der Narzisst muss ja die Quelle seiner narzisstischen Versorgung beständig unter Kontrolle halten, und mit Krankheit und Not kann man andere, die ja nicht als herzlos und desinteressiert am Leid anderer erscheinen wollen, recht passabel unter moralischen Druck setzen.

Ko-Narzissmus ist ebenfalls die unbewusste Inszenierung einer “psychischen Krankheit”. Es gibt allerdings auch eine Art Pseudo-Ko-Narzissmus, der darin besteht, dass ein psychisch eigentlich stabiler Mensch sich aus objektiven Gründen nicht aus einer narzisstischen Fusion befreien kann, zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen.

Es mag zum Beispiel für einen Arbeitnehmer schwer sein, sich den narzisstischen Ansprüchen eines Vorgesetzten zu widersetzen, wenn er Entlassung und Dauerarbeitslosigkeit fürchten muss.

Aber in aller Regel sind Ko-Narzissten schon als Kinder für diese Rolle abgerichtet worden und sie “brauchen” daher die Fusion ebenso sehr wie der Narzisst.

Der Narzissmus ist ebenso wenig wie der Ko-Narzissmus eine Krankheit, sondern eine naheliegende Option in einem gesellschaftlichen System, in dem die Leute auf vielfältige Weise dazu gebracht werden, sich minderwertig zu fühlen. Das Minderwertigkeitsgefühl ist schließlich das allerwichtigste Kaufmotiv bei allen Gütern, die man nicht unbedingt braucht. Wer sich aber minderwertig fühlt, weil der Nachbar mehr hat als man selbst, ist ein guter Kunde.

Da aber die Mittel für den Konsum begrenzt sind, muss der sich minderwertig fühlende Mensch, je nach Stärke seines Minderwertigkeitsgefühls, schon bald zusätzliche Quellen zur Kompensation seiner angegriffenen Selbstachtung erschließen.

Die Chef-Narzissten

Es gehört zur “Symptomatik” von Narzissten, dass sie von bedingungsloser Anerkennung, Bewunderung und Unterwerfung ihrer Mitmenschen unter ihre Bedürfnisse abhängig sind. So kompensieren sie ihre unterdrückten, extremen Minderwertigkeitsgefühle. Sie neigen daher dazu, sich ein Biotop zu suchen, das sich besonders gut zur Kompensation dieser Minderwertigkeitsgefühle eignet. Es muss ihrem narzisstischen Hunger auf Bestätigung eingebildeter Grandiosität geeignetes Futter bieten.

Es versteht sich von selbst, dass Chefetagen ideale Weideplätze für Narzissten sind. Je höher der Narzisst in dieser Chefetage angesiedelt ist, desto besser. Am allerbesten ist es, wenn man sein eigener Chef ist. Kritik kommt dann allenfalls noch von Kunden, aber für Fehler kann man die Mitarbeiter verantwortlich machen.

Etwaige Selbstzweifel beschwichtigt die sorgfältig ausgesuchte Chefsekretärin. Doch bevor ich mich hier in wohlfeiler Managerschelte ergehe, halte ich lieber Ausschau nach anderen, an die Bedürfnisse von Narzissten angepassten Biotopen, die vielleicht sogar noch schmackhafteres Futter bieten, das zudem noch leichter zu haben ist.

  • Hier denke ich beispielsweise an das Amt des Richters. Seine Stellung ist kaum anfechtbar. Sein Macht gewaltig. Alle schauen zu ihm auf: der arme Sünder, der Anwalt, der Staatsanwalt. Dann spricht er Recht. Und nur er allein. Ist es ein hoher Richter, sie hat er nur noch den weiten blauen Himmel über sich. Für einen Narzissten ist das kein schlechter Ausblick.
  • Und erst ein Professor in Deutschland, meine Güte, welch ein Paradies! Über ihm steht nur noch der Kultusminister – und der ist weit weg. Und so genießt er die Freiheit der Wissenschaft und wahrt ihr Wohl zum Beispiel durch die sorgfältige Auswahl junger, aufstrebender Wissenschaftler, die an seinen Lippen hängen und die Perlen sammeln, die aus seinem edlen Munde kullern. Welcher Narzisst möchte nicht gern Professor sein, zumindest für den Anfang. Die Bezahlung ist zwar verhältnismäßig schlecht, zu Beginn der Karriere. Doch dank der eigenen Grandiosität finden man schnell Sponsoren in der Wirtschaft, die einen zukünftigen Nobelpreisträger nicht darben lassen.
  • Diese Liste könnte ich nun über Stunden fortsetzen; eine etwaige Ergänzung will ich aber der Phantasie des Lesers überlassen. Vielmehr schließe ich mit dem genialsten aller Biotope für Narzissten. Äußerlich betrachtet wirkt es eher unscheinbar, aber es hat’s in sich. Es ist das Behandlungszimmer eines Psychotherapeuten.  Die Interaktionen, die dort stattfinden, sind hoch kalorienhaltiges Futter für den narzisstischen Hunger. Häppchen für Häppchen erlesener kulinarischer Genüsse verschwinden im unersättlichen Mäulchen des narzisstischen Psychotherapeuten. Die beinahe grenzenlose Liebe des Patienten für den Therapeuten ist in diese Beziehung gleichsam eingebaut; der Therapeut, so übel er auch sein mag, kann das gar nicht verhindern. Die Psychoanalytiker nennen diesen Prozess “Übertragungsliebe”. Und dann erst der hohe Stuhl, auf dem der Psychotherapeut sitzen darf. Dessen physisches Substrat bleibt natürlich immer gleich groß und ist auch nicht höher als das Pendant des Patienten. Doch im Laufe der Therapie sieht der Patient mit zunehmender Klarheit, dass der Psychotherapeut der erfahrene und wissende Seelenkenner und Problemlöser ist, während er selbst gescheitert ist und dringend der Hilfe bedarf. Die anfänglich vielleicht noch vorhandenen stereotypen Vorbehalte gegenüber Psychiatern oder Psychologen haben sich in Luft aufgelöst. Entsprechend wird der Selbstachtungsstuhl des Patienten immer niedriger und der Experten-Thron des Therapeuten etwas höher. Dies nennt die Psychiatrie “Krankheitseinsicht”. Hockt der Patient aber ganz am Boden und kommt aus eigener Kraft, die durch kluge Suggestionen des Therapeuten zusätzlich geschwächt wurde, nicht mehr hoch, dann steigt der Therapeut gnädig von seinem Stuhl herab und hilft den Daniederliegenden huldvoll auf. Ein schönes Bild. Da kann kein Narzisst widerstehen. Das ist ein Festmahl.

Folgt man den Lehrbüchern und diagnostischen Schemata der Psychiatrie, so ergibt sich folgendes Bild des Narzissten:

  • Grandioses Verständnis der eigenen Wichtigkeit
  • Phantasien grenzenlosen Erfolgs
  • Gefühl der Einzigartigkeit
  • Glaube an ein natürliches Anrecht auf Bevorzugung
  • Abhängigkeit von maßloser Bewunderung
  • Anspruchsdenken
  • Ausbeuterisches Verhalten
  • Mangel an Empathie
  • Neid
  • Arroganz

Wenn man nicht wüsste, dass derartige “Symptome” in psychiatrischen Lehrbüchern stehen und als “Krankheitszeichen” gelten, würde man sie als Charaktermerkmale von Menschen betrachten, die sich die Einschätzung “schlechtes Benehmen” redlich verdienen.

Menschen mit einem derart ausgesucht schlechten Benehmen werden häufig anecken und in Konflikt mit ihren Mitmenschen geraten. Sie werden in der Regel als Menschen empfunden, die von sozialen Normen und berechtigten Erwartungen ihrer Mitmenschen abweichen. Unter Umständen werden sie auch von Psychiatern als Menschen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung” diagnostiziert.

Der Narzisst kann sich vor dieser Schmach allerdings – zumindest tendenziell – schützen, wenn es ihm gelingt, in Machtpostionen aufzusteigen.

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich im Bereich der psychiatrischen Diagnosen eine Doppelmoral breitgemacht hat: Quod licet Iovi, non licet bovi. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe. Steigt ein als “psychisch gestört” diagnostizierter Narzisst in der gesellschaftlichen Hierarchie auf, so wird er seine Diagnose los. Aus dem Narzissten wird durch Milieuwechsel eine interessante, eigenwillige Persönlichkeit.

Krankheit?

Dass psychiatrische Diagnosen verfehlt sind und sich verhängnisvoll auswirken können, zeigt sich bei kaum einem anderen “Krankheitsbild” so deutlich wie beim Narzissmus. Hier springt es ja nachgerade ins Auge, dass der Narzisst nicht des Arztes bedarf, sondern dass hier Menschen in seinem Umfeld gefragt sind, die ihm konsequent klare Grenzen ziehen.

Es ist ja nicht schwer, die soziale Funktion des narzisstischen Verhaltens zu begreifen und den Nutzen, den der Narzisst aus ihm schlägt. Wer genauer hinschaut, erkennt durchaus, dass diese Menschen leiden, aber nicht unter einer Krankheit, sondern unter den Auswirkungen misslingender Versuche, andere zu kontrollieren. Selbst sehr mitleidige Menschen müssen sich nicht verpflichtet fühlen, derartiges Leiden zu lindern.

Es ist für mich kaum noch nachzuvollziehen, wenn Therapeuten ernsthaft behaupten, ein solcher “Patient” benötige eine einfühlsame Begleitung, in der er Verständnis und emotionale Wärme erfahre. Schließlich sei der Narzisst ja das Opfer beklagenswerter, herzloser familiärer Verhältnisse und habe daher in der Kindheit kein gesundes Selbstwertgefühl entwickelt.

Glaubt man wirklich, man könne einen Narzissten “heilen” wenn man sich als Ko-Narzisst für eine “narzisstische Fusion” anbietet? Aus meiner Sicht ist eine derartige “Therapie” ein wunderbares Biotop zur vollen Entfaltung narzisstischer Persönlichkeitszüge. Und so etwas wird tatsächlich von der Krankenkasse bezahlt.

Nachbemerkung

Entgegen sonstiger Übung habe ich in diesem Text nicht versucht, meine Positionen durch empirische Studien zu erhärten. Der Grund dafür ist nicht darin zu sehen, dass ich als besonders genial erscheinen und meine Meinung als bahnbrechende neue Erkenntnis ohne Vorläufer verkaufen möchte. Vielmehr habe ich hier Alltagserfahrungen zusammengestellt, die vermutlich schon viele Menschen gesammelt haben. Leider wurden die genannten Zusammenhänge bisher meines Wissens noch nicht systematisch empirisch erforscht. Daher kann ich über den Narzissten und seine Welt nur spekulieren.

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Menschenbild

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“Zwar ist die repressive Ordnung, der die Utopie den Kampf ansagt, nicht bar aller dionysischen Elemente. Nicht nur, dass die herrschenden Klassen – heute die führende bürgerliche Elite – das dionysische Lebensprinzip, wenngleich in einer entfremdeten Form, für sich monopolisieren, sondern auch den unteren Klassen bleiben randmäßig gewisse Zugänge zu ihm als Ventile offen. Aber sie bleiben bloße Ventile in einer die Masse des Volkes beherrschenden Welt des Repressiv-Apollinischen.”
(Leo Kofler: Der asketische Eros, 1967)

Klassenkampf

Gut vierzig Jahre ist wohl schon her. Ich war ein junger, glühender, leidenschaftlicher Marxist. Ich glaubte fest daran, dass meine Mitmenschen, die Arbeiter, die kleinen Angestellten, die Schüler und Studenten aus den unteren Schichten der Gesellschaft nur durch mangelndes Wissen daran gehindert würden, gegen die herrschenden Verhältnisse zu revoltieren. Es galt also, sie aufzuklären, ihren Geist in marxistischer Gedankenwelt zu baden, dann würde er sie, so gereinigt, schon anstacheln und anleiten – da sie ja sonst nichts zu verlieren hätten – ihre Ketten abzustreifen.

Schließlich hatte es, so wähnte ich, ja bei mir funktioniert; warum also sollte die rechte dialektisch und historisch materialistische Aufklärung bei anderen nicht ebenso durchschlagend erfolgreich sein. Kaum hatte ich einige der Schriften von Marx und Engels sowie der Säulenheiligen des Marxismus studiert, fiel es mir wie Schuppen von den Augen und ich sah, was eigentlich nicht zu übersehen war, dass nämlich 99 Prozent der Weltbevölkerung schuften und teilweise unter erbärmlichen Lebensbedingungen ihr Dasein fristen müssen, um für das restliche eine Prozent, und nur für dieses, die bestmöglichen Voraussetzungen für ein gutes und erfülltes Leben zu schaffen.

Leider musste ich feststellen, dass all das, was bei mir scheinbar so gut geklappt hatte, bei vielen, vielen anderen recht eigentlich nicht fruchten wollte. Selbst wenn an den Fakten, die ich geduldig vortrug, auch aus Sicht meiner Gesprächspartner nichts auszusetzen war, so weigerten sich viele dennoch, die naheliegenden, die mitunter einzig logischen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Genossen, die ich zu diesem Phänomen befragte, machten die bürgerliche Ideologie dafür verantwortlich, den ideologischen Klassenkampf von oben. Das von der herrschenden Klasse kontrollierte Fernsehen und die reaktionären Zeitungen und Zeitschriften verdummten die Massen, hieß es. Um dem entgegenzuwirken, müsse man unermüdlich Flugblätter verteilen.

Mit dieser Erklärung war ich eine Weile zufrieden, allerdings konnte sie mich nicht wirklich befriedigen. Sogar die bürgerlichen Medien, so sagte ich mir, berichten doch oft genug über zum Himmel stinkende Verhältnisse in der Klassengesellschaft, und dennoch kommen die Leute nicht auf die naheliegende Idee, dass daran etwas geändert werden muss und kann, wenn alle solidarisch sind.

Leo Kofler

Eines Tages schleppten mich Bekannte, die Soziologie in Bochum studierten, zu einem Vortrag in die Dortmunder Volkshochschule. Dort werde einer ihrer Dozenten sprechen. Er sei ein Sozialphilosoph und Anthropologe, Leo Kofler sein Name, und einer der bedeutendsten nicht-dogmatischen Marxisten des 20. Jahrhunderts.

Da ich damals orthodoxer Marxist war, erwartete ich einen Menschen, der mich und meinesgleichen vom rechten, also vom linken Weg abbringen wollte; aber ich kam mit, in der Absicht, seine Thesen hinterher, in der Stammkneipe, beim Bier effektvoll zu widerlegen. Doch es kam anders. Der Mann, Leo Kofler hatte die Antwort auf meine dringendste Frage, nämlich, warum sich die Werktätigen nicht zu den richtigen Schlüssen aus den offenkundigen Tatsachen zu befleißigen vermochten.

Leo Kofler war ein faszinierender Mann, der mich sofort in seinen Bann schlug. Man musste ihn nur einmal ins Gesicht schauen, um zu erkennen, dass man einen unbeugsamen Intellektuellen vor sich hatte. Schon damals, als ich noch dazu neigte, die hässliche Wirklichkeit mit dem schönen Ideal zu verwechseln, spürte ich, dass er sich nicht aus der DDR absetzen musste, weil er ein Verräter war, sondern weil seine Gegner zu dämlich, zu kleinkariert und zu kleinherzig waren.

Koflers Thema an diesem Abend war das “repressive Menschenbild”. Der Mann verstand es und war gewillt, komplexe Sachverhalte in einfachen Worten auch Menschen ohne langjähriges Soziologie- oder Philosophiestudium verständlich zu machen. Das ist eine bei Marxisten sehr, sehr seltene Tugend. (Im Gegensatz zu seiner brillanten Vortragskunst stehen allerdings seine Schriften, die überaus schwer zu lesen sind – sogar für Leute, die sich an schwere Kost gewöhnt haben.)

Die bürgerliche Ideologie sei eine starke Macht, sagte er. Wenn man die Dinge oberflächlich, ohne vertiefendes Nachdenken betrachte, stimme sie sogar mit den Lebensverhältnissen in der kapitalistischen Welt überein. Allein, man dürfe nicht länger kritisch darüber reflektieren, sonst fiele es einem wie Schuppen von den Augen und die Ideologie würde als Propaganda entlarvt.

Die Ideologie präsentiere also eine pro-kapitalistische Sichtweise, die plausibel klinge, solange man sie nicht systematisch mit den Tatsachen konfrontiere. Um Koflers Gedanken bildhaft auszudrücken, könnte man die Ideologie-Rezeption der Menschen in Kapitalismus mit dem Konsum leckerer, aber gesundheitsschädlicher Speisen und Getränke vergleichen. Man genießt sie, weil sie ein Bedürfnis befriedigen, denkt aber nicht über die Folgen nach.

Die bürgerliche Ideologie, sagte Kofler, könnte ihre volle Wirkung also nicht entfalten, wenn sich die Menschen tatsächlich mit ihnen auseinandersetzen würden. Dass sie dies nicht tun, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die Konsequenz des repressiven Menschenbildes. Dieses Menschenbild ist gleichsam eine verzerrende Brille, durch die Menschen im Kapitalismus ihre Welt wahrnehmen.

Bei diesem Menschenbild handelt es sich um Grundannahmen, an die sich die Menschen klammern, weil sie sich unbewusst davor fürchten, diese Einstellungen loszulassen. Um diesen Gedanken verständlich zu machen, machte uns der sozialistische Wissenschaftler mit den Grundlagen seiner an Marx orientierten Anthropologie vertraut.

Der frühe Mensch habe, so sagte er, ursprünglich in einer klassenlosen Gesellschaft gelebt – und zwar notgedrungen. Da die Menschen in dieser Zeit von der Hand in den Mund lebten und auch kein Geld hatten, fehlten ihnen auch die Voraussetzungen für die Spaltung in eine herrschende und eine beherrschte Klasse sowie für den Aufbau eines Staatsapparats, der dafür sorgen konnte, dass diese Trennung aufrecht erhalten blieb.

In dieser frühen klassenlosen Gesellschaft konnten sich also die natürlichen Anlagen der menschlichen Gattung ungehindert entfalten, nämlich als dialektische Einheit des Dionysischen und des Apollinischen. Dieses Begriffspaar wurde zuvor von den Philosophen Schelling und Nietzsche verwendet; Kofler stellte es jedoch in den Bezugsrahmen einer marxistischen Anthropologie.

Das Apollinische bezeichnet das Reich der Vernunft, der kühlen Berechnung, des planvollen Vorgehens, der akribischen Analyse. Das Dionysische jedoch bezieht sich auf die Welt des Kreativen, der Sinnlichkeit und des Erotischen von der Sympathie bis hin zur Sexualität.

Die dialektische Einheit des Dionysischen und Apollinischen lässt sich, so Kofler, am deutlichsten im Spiel beobachten. Das Spiel folgt einerseits mehr oder weniger strengen Regeln, gewährt aber andererseits Spielraum und die “Arbeit” des Spielers setzt sich unmittelbar in Lebensgenuss um.

Beim Volk der San im südlichen Afrika konnte man diese ursprüngliche, spielerische Harmonie des Dionysischen und des Apollinischen noch bis weit ins 20. Jahrhundert beobachten. Die traditionelle Gesellschaftsordnung der San ist egalitär; es gibt keine übergeordnete Führung und keine Spaltung in Klassen. Entscheidungen mit Bedeutung für die Gemeinschaft werden gemeinsam entschieden. Sie hängen nicht von formalen Hierarchien ab, aber individuelle Erfahrung und persönliches Charisma können einen großen Einfluss auf sie gewinnen. Spezialisierte Berufe sind unbekannt, aber es findet eine natürliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern statt. Die San lebten als Jäger und Sammler; und sie waren dabei so erfolgreich, dass ihnen genügend Zeit blieb zur Muße und zur spirituellen Entfaltung.

In der Klassengesellschaft änderte sich diese ursprüngliche Lebenspraxis nun dramatisch. Aus der spielerischen Arbeit und dem arbeitenden Spiel wurde der Ernst des Lebens, die Fron. Die dialektische Einheit des Apollinischen und des Dionysischen wurde verzerrt. Das Erotische wurde demgemäß unterdrückt und reglementiert. Es büßte einen erheblichen Teil seines spielerischen Charakters ein und wurde – u. a. infolge repressiver christlicher Lehren – angstbesetzt.

Mit dem Bedeutungsverlust des Christlichen, der mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft und es Kapitalismus einherging, war natürlich auch eine Lockerung der erotischen Restriktionen verbunden. Diese hätte eine Sehnsucht nach der dialektischen Einheit des Apollinischen und des Dionysischen hervorrufen können. Denn tief im Unbewussten der Menschen ist, so Kofler, eine Urerinnerung an diese Zeit lebendig.

Wir sehen heute in der Tat eine Lockerung der Sitten bis hin zur Allgegenwart der Pornographie. Dennoch haben wir dabei nicht den Eindruck, dass hier die ursprüngliche dialektische Einheit des Dionysischen und des Apollinischen obwaltet.

Der Grund dafür, dass sich selbst in den Exzessen der Pornographie ein “asketischer Eros” manifestiert, liegt darin, dass sich mit dem Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft in den Volksmassen ein krass repressives Menschenbild ausprägte, das seine Wirkungen auch unbewusst entfaltet (1). Dieses Menschenbild ist ein Muster von Einstellungen, die darauf hinauslaufen,

  • dass die Menschen von Natur aus ungleich seien,
  • dass die Elite von Natur aus fleißig und kreativ sei, den Massen jedoch eine Neigung zur Träg- und Faulheit innewohne,
  • dass deswegen die Privilegien der Elite gerechtfertigt seien,
  • die Unterdrückung der Massen notwendig sei und
  • dass die klassenlose Gesellschaft aus diesem Grund einen unerfüllbaren Traum darstelle.

Die Menschen, die dieses Menschenbild verinnerlicht hätten, würden bürgerliche Ideologien, die ihnen in der Presse, im Fernsehen, in den Schulen, an den Universitäten präsentiert werden, stets durch diese Brille wahrnehmen und seien daher nicht in der Lage, das, was ihnen eingetrichert würde, kritisch zu hinterfragen.

Kofler nahm einem Schluck aus dem Wasserglas, das auf seinem Pult stand, und schritt mit auf dem Rücken gefalteten Händen ein paar Schritte auf und ab.

“Das Erotische ist”, meinte er schließlich, “der Sinn des Lebens. Und das sage ich vor allem Ihnen, meine Damen!”

Diese Szene spielte vor Jahrzehnten, aber sie ist in meiner Erinnerung immer noch sehr lebendig. Ich bin heute kein Marxist mehr und erst recht kein orthodoxer, wenngleich die Ideen Koflers nach wie vor einen Einfluss auf mein Denken ausüben, den ich nicht unterschätzen will.

Inszenierungen des repressiven Menschenbildes

Wer meine Tagebuch-Einträge verfolgt, wird wissen, dass ich die so genannten “psychischen Krankheiten” für Inszenierungen halte. Der Betroffene entscheidet sich, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen. Meist handelt es sich dabei nicht um eine einmalige Grundsatzentscheidung, sondern um viele, meist für sich genommen unbedeutende Teilentscheidungen, die letztlich dazu führen, dass der Betroffene die Rolle des “psychisch Kranken” als die beste aller Möglichkeiten betrachtet, die ihm unter seinen jeweiligen Lebensbedingungen zu Gebote stehen. Diese Entscheidungen beziehen sich also nicht nur auf Handlungen, sondern auch maßgeblich auf Sichtweisen der eigenen Person und ihrer Lebenslage. Inszeniert werden – problematische – Lösungen äußerer, meist jedoch innerer Konflikte, die ihre Wurzeln in sozialen oder ökonomischen Schieflagen haben.

Die so genannten psychischen Krankheiten sind – vor allem in kapitalistischen Staaten – ein Massenphänomen. Nun mag man sich fragen, warum so viele Menschen problematische Konfliktlösungen inszenieren, anstatt sich zusammenzuschließen, um unerträgliche gesellschaftliche Verhältnisse zu verändern.

Koflers Theorie vom “repressiven Menschenbild” trägt sicher erheblich zur Antwort auf diese Frage bei. Denn für diejenigen, die das repressive Menschenbild verinnerlicht haben, sind die Erfolglosen träge und faul, weil sie ihrer Neigung dazu nicht zu widerstehen vermochten – es sei denn, sie hätten eine plausible Erklärung und Entschuldigung für ihre Misserfolge.

Da die meisten Menschen nicht vor sich selbst und anderen als träge und faul erscheinen möchten, sind auch viele Menschen geneigt, sich in entsprechenden Lebenslagen Schritt für Schritt die Rolle des “psychisch Kranken” anzuverwandeln. Die entsprechenden Entscheidungen sind in der Regel nicht voll bewusst. Sie werden zumeist kaum reflektiert und and den äußersten Rand der Aufmerksamkeit gedrängt.

Der vulgäre Marxismus, der menschliches Verhalten linear als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse interpretiert, verkennt meines Erachtens die Rolle des Ideologischen im Allgemeinen und des repressiven Menschenbildes im Besonderen. Das Ideologische wirkt nicht mechanisch in den Köpfen der Menschen, derartig, dass es zwangsläufig die Weichen in eine bestimmte Richtung stellt, wenn die entsprechenden auslösenden Bedingungen im gesellschaftlichen Umfeld des Betroffenen gegeben sind. Daher wird das Ideologische den Menschen auch nicht eingehämmert, sondern es wird, auf Basis entsprechend einseitiger Informationen, in den Köpfen der Menschen erst fabriziert.

Das Ideologische stimmt den Menschen geneigt, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, indem es seinen Blick auf die in einer Situation vorhandenen Möglichkeiten formt. Wer beispielsweise glaubt, dass er als “kleiner Mann”, als Angehöriger der Masse nicht die elitären Fähigkeiten zur selbstbestimmten, freien Tätigkeit besitze, wird eventuell die Möglichkeiten zur eigenständigen Arbeit gar nicht erkennen, selbst wenn sie sich ihm objektiv betrachtet tatsächlich bieten.

Das ABC der “psychischen Krankheiten”

Der amerikanische Psychotherapeut Albert Ellis hat ein Modell des menschlichen Verhaltens entwickelt, dass sich sehr gut in eine soziologische und sozial-anthropologische Theorie des Zusammenspiels von gesellschaftlichen Bedingungen und menschlichem Verhalten integrieren lässt, die ABC-Theorie.  A bedeutet Activating Event; B steht für Belief; C ist das Kürzel für Consequences.

Nicht das aktivierende Ereignis allein bestimmt das menschliche Handeln, sondern es determiniert dieses nur in Verbindung mit einer Bewertung, die vom Glauben, also von ideologischen Grundhaltungen abhängt. Die für die so genannten psychischen Krankheiten entscheidende Grundhaltung ist das repressive Menschenbild. Es hindert den Betroffenen daran, bessere Möglichkeiten als die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” zu erkennen. Es suggeriert ihm, sich fremder Führung zu überantworten, wenn er sich von inneren, unkontrollierbaren Kräften beherrscht fühlt.

Das repressive Menschenbild ist jedoch keine mentale Zwangsjacke; man kann es durchschauen und überwinden. Selbst in den Fällen, in denen die Lebenssituation objektiv so schlecht ist, dass die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” sich de facto als die beste aller Möglichkeiten darstellt, ist niemand gezwungen, daran zu glauben, “psychisch krank” zu sein; man kann dies auch bewusst simulieren und erzielt dennoch den angestrebten Effekt, beispielsweise eine Früh-Pensionierung.

Leider geht das repressive Menschenbild im Allgemeinen eine enge Verbindung mit dem bürgerlich deformierten Gewissen ein. Der Menschen fühlt sich nur mit sich im Reinen, wenn er für sich eine Lösung gefunden hat, die dem repressiven Menschenbild entspricht und zu der er vor sich selbst und anderen stehen kann. Dies schließt u. a. die Simulation einer “psychischen Krankheit” aus. Um in den Genuss der Gewissenentlastung zu kommen, muss sich der Betroffene tatsächlich als “psychisch krank” empfinden.

Zum Glück ist auch die Moral kein unüberwindlicher Mechanismus. Man kann sich durchaus über sie hinwegsetzen. Es ist ja keine Schande, eine “psychische Krankheit” zu simulieren, wenn man nur so dem unerträglichen Joch entfremdeter Arbeit halbwegs unbeschadet entkommen kann. Selbstverständlich muss man auch die Risiken und Nebenwirkungen eines solchen Schritts gründlich bedenken und abwägen. Aber grundsätzlich ist diese Entscheidung nicht mit einem Makel verbunden.

Natürlich rate ich nicht zu diesem Schritt, weil er, so will mir als juristischem Laien scheinen, einem Sozialbetrug gleichkommt und somit illegal sein könnte. Natürlich weiß ich, dass meine entschiedene Ablehnung dieser Entscheidung bei manchen auf taube Ohren stoßen wird, die wissen, dass man die Simulation einer “psychischen Krankheit” nicht objektiv nachweisen kann. Doch diese Menschen sollten bedenken, dass nicht alles, was im Licht der Vernunft als makellos erscheint und keine Schande bringt, in unserer Rechtsordnung auch tatsächlich realisiert werden darf.

Ein Beispiel für den Standardablauf:

Herr Meyer wird im Betrieb gebosst und gemobbt. Er hält es nicht mehr aus. Unglücklicherweise hat er keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, kann also die Stelle nicht wechseln, sondern müsste vielmehr mit Arbeitslosigkeit rechnen. Er hängt dem repressiven Menschenbild an. Er glaubt: Wer in einer solchen Situation sein Stelle aufgebe, sei träge, faul und verantwortungslos. Da er nicht träge, faul und verantwortungslos ist, muss er “psychisch krank” sein, wenn er nicht mehr zur Arbeit erscheint. Also entwickelt er alle Symptome, die mit einer “psychischen Krankheit” verbunden sind.

Ein Beispiel für Ablauf ohne repressives Menschenbild:

Herr Müller wird im Betrieb gebosst und gemobbt. Er hält es nicht mehr aus. Unglücklicherweise hat er keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, kann also die Stelle nicht wechseln; Arbeitslosigkeit droht. Er hängt dem repressiven Menschenbild nicht an. Er glaubt: Wer in einer solchen Situation den Arbeitsplatz meide, werde seiner Verantwortung für sich selbst gerecht. Da er nicht träge, faul und verantwortungslos ist, aber dennoch der täglichen Tortur zumindest vorübergehend entkommen will, simuliert er alle Symptome, die mit einer “psychischen Krankheit” verbunden sind. Wenn er klug ist, sucht er sich eine “Krankheit” mit einem vergleichsweise hohen Prestige aus. Er könnte beispielsweise behaupten, aufgrund sexuellen Missbrauchs durch einen katholischen Priester in seiner Kindheit depressiv geworden zu sein.

Solange Herr Müller den wahren Grund seines Verhaltens für sich behält, ist von außen kein Unterschied zwischen diesen Varianten zu erkennen. Niemand könnte Herrn Müller nachweisen, dass er simuliert (es sei denn, er würde sich wiederholt öffentlich, unter Zeugen grob dem jeweiligen “Krankheitsbild” eindeutig widersprechend verhalten); ebenso wenig könnte ein Arzt bei Herrn Meyer mit objektiven Methoden zweifelsfrei eine “psychische Krankheit” feststellen. Wir bewegen uns hier im Reich der Glaubensfragen.

Ein Weltbild in Gefahr

Das repressive Menschenbild und die bürgerliche Moral in Frage zu stellen, würde bedeuten, ein ganzes Weltbild zum Einsturz zu bringen. Dieses Weltbild, das im Übrigen von der Mehrheit der Menschen geteilt wird, beruht auf der Überzeugung, dass unsere gesellschaftliche Ordnung, wenngleich voller Mängel und Ungerechtigkeiten, die beste aller möglichen Welten sei und deswegen auch nicht durch eine grundlegend andere ersetzt werden dürfe. Man dürfe daher die Herrschaft der Elite nicht prinzipiell in Frage stellen (auch wenn einzelne Mitglieder dieser Elite sich falsch verhalten) und man müsse, sofern man nicht zur Elite zähle, seiner naturgegebenen Neigung zur Träg- und Faulheit widerstehen.

Dieses Weltbild unterstellt allen gesellschaftlichen Institutionen eine Grundlage in höherer Vernunft und eine Rechtfertigung durch höhere Werte, die nicht in Zweifel gezogen werden dürfen, ja, es wäre sogar verwerflich, über deren Legitimität auch nur nachzudenken. Zwar dürfen einzelne Missstände, die diese Institutionen hervorbringen, durchaus kritisiert werden; dies darf aber nicht dazu führen, sie in Bausch und Bogen zu verwerfen. In diesem Weltbild gilt grundsätzliche, gilt fundamentale Kritik stets als unvernünftig, da sinnlos.

Für den Anhänger dieses Weltbilds ist das Universum kein Reich der Freiheit, in dem unterschiedliche Gesellschaftsformen verwirklicht werden können, sondern ein festgefügter Weltenbau, der auf eine bestimmte Form der Gesellschaft zugeschnitten ist, nämlich eine hierarchische. Die Position, die der Einzelne in dieser Hierarchie wahrnimmt, wird durch seine (teils angeborene) Leistungsfähigkeit und -bereitschaft bestimmt. Daran darf nicht gezweifelt werden.

Die Gültigkeit dieses Weltbildes vorausgesetzt, wäre es also ungerecht, wenn ein Mensch, der die ihm bestimmten Rollen (teilweise) nicht mehr wahrnehmen kann oder will, seine Position in der Hierarchie behielte (es sei denn, er wäre ohnehin schon ganz unten), wenn er nicht körperlich, psychisch oder psychosomatisch krank wäre.

Wenn man sich diese gesellschaftliche Funktion der “psychischen Krankheit” klarmacht, dann fällt es nicht schwer zu begreifen, warum die überwiegende Mehrheit der Menschen an dieser Fiktion festhält. Aus diesem Grunde werden die so genannten psychischen Krankheiten auch zu Naturphänomenen verdinglicht, die es schon immer gegeben habe. (De facto ist das, was wir heute unter “psychischer Krankheit” verstehen, ein Konzept der Moderne.)

Dogmen

Die “Lehre” von den “psychischen Krankheiten” gehört ins Reich der Dogmen, mit denen unsere überaus fragwürdige soziale Ordnung gerechtfertigt werden soll. Es gibt zahlreiche weitere Dogmen mit dieser Funktion, die hier nicht thematisiert werden sollen. Ein Beispiel ist die “Lehre” von den genetisch bedingten Intelligenzunterschieden zwischen den Menschen.

Die fadenscheinigen, die erkennbar fadenscheinigen pseudowissenschaftlichen Begründungen dieser Dogmen werden geglaubt, weil sie insgesamt ein Weltbild stützen, das zusammenbrechen müsste, wenn man die Dogmen als nicht gerechtfertigt durchschauen würde.

Mancher fundamentale Psychiatriekritiker mag sich wundern, warum seinen Argumenten ein solcher Widerstand entgegengesetzt wird, ein Widerstand jener Art, die an religiöse Inbrunst grenzt. Dies ist aber gar nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass fundamentale Psychiatriekritik implizit ein Weltbild in Frage stellt, das unterstellt, die gesellschaftliche Postion hinge von der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft ab.

Um diese Fiktion aufrecht zu erhalten, muss vorausgesetzt werden, dass jemand im Falle einer Leistungseinschränkung nur dann seine Position behalten darf, wenn diese durch eine vorübergehende Krankheit hervorgerufen wurde. Falls jemand dann aufgrund einer chronischen Krankheit dauerhaft eine Rangeinbuße erleidet, so wäscht ihn eine Krankheitsdiagnose vom Vorwurf der Träg- und Faulheit rein. Sie verringert im Übrigen oftmals die Geschwindigkeit des Abstiegs und die Tiefe des Falls. Da sich echte Krankheiten nicht nach Belieben hervorrufen lassen, wenn ein sozio-ökonomischer Mechanismus dies erfordert, ist das Konstrukt der “psychischen” bzw. “psychosomatischen” Krankheit unerlässlich.

Es trifft zwar zu, dass “psychische Krankheiten” stigmatisiert werden; aber diese Stigmatisierungen gelten als politisch nicht korrekt, und so sind sie leichter zu ertragen als der Vorwurf, ein asoziales, faules, träges und verantwortungsloses Element zu sein.

Freiheit

In meiner Jugend war ich leidenschaftlicher Marxist. Heute bin ich es nicht mehr. Der Glaube an den Geschichtsdeterminismus hat mich verlassen, der Glaube, dass wir letztendlich und naturnotwendig im Sozialismus landen werden und man nur ein wenig nachhelfen müsse, damit es schneller geht. Heute sehe ich die Geschichte als breiten Strom, in dem die Menschheit, abhängig von Zufällen, mal hierhin, mal dorthin treibt.

Auch wenn der Einzelne wie auch Gesellschaften nur wenig Einfluss auf ihr Schicksal haben, so können wir uns doch die Freiheit nehmen, unser Geschick im eigenen Sinn zu deuten. Niemand ist gezwungen, sich als “psychisch krank” zu betrachten. Falls es erforderlich sein sollte, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen, so kann man dies auch simulieren, ohne daran zu glauben. Und oft genug kann man auch andere, konstruktive Möglichkeiten erkennen, sobald man sich nicht mehr vom repressiven Menschen- und Weltbild leiten lässt.

Niemand, der körperlich gesund ist, braucht einen Arzt, der Verantwortung für uns übernimmt. Dies ist zwar die Botschaft des repressiven Menschenbildes, aber dieses Menschenbild dient nicht unseren Interessen, sondern stets den Interessen derer, die in der Hierarchie über uns stehen. Die grundlegende Funktion dieses Menschenbildes besteht darin, eine willkürliche Hierarchie zu legitimieren.

Anmerkung

(1) Dieses Menschenbild hat Wurzeln, die bis zum Beginn der Klassenherrschaft zurückreichen. Seine volle Ausprägung erreicht es allerdings erst mit dem Industriekapitalismus und seinen Auswirkungen auf die Psyche des Menschen.

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Stress

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Macht Stress krank?

In den modernen Industriestaaten klagen Menschen zunehmend über Stress, und zwar Berufstätige wie Nicht-Berufstätige gleichermaßen. “Der Druck am Arbeitsplatz macht Menschen zu schaffen wie noch nie”, heißt es beispielsweise in der Zeit über die Verhältnisse in der Schweiz (online 18. Okt. 2013). Die Zahl der Gestressten werde weiter ansteigen, prophezeit der Spiegel (online 18. Okt. 2013). Laut einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse fühlen sich 60 Prozent der Deutschen gestresst.

Betroffene, Ärzte, Krankenkassen stoßen in dasselbe Horn: Stress mache krank, heißt es. “Metropolenstess kann krank machen”, warnt der beispielsweise der Spiegel (online 30. Aug. 2013). Der Spiegel (online 22. Feb. 2011) weiß auch: “Stresserkrankungen äußern sich in vielen Formen und haben unterschiedliche Namen wie Burnout oder Depression. Fachleute sprechen manchmal auch von einer “Anpassungsstörung”, einer “depressiven Verstimmung” oder einer “Erschöpfungsdepression”. Die Grenzen sind fließend.”

Stress wird für Alkoholismus, Drogensucht, Medikamentenabhängigkeit, Verkehrsunfälle, Impotenz und alle erdenklichen “psychischen Störungen” sowie körperlichen Leiden (zumindest teilweise, als Mit-Ursache) verantwortlich gemacht.

Die gängige psychiatrische Interpretation lautet: Psychische und psychosomatische Krankheiten sind (überwiegend angeborene) Gehirnstörungen, die durch Stress ausgelöst und verstärkt werden können. Erstens aber ist es trotz jahrzehntelanger Forschungen bisher nicht gelungen, derartige Hirnstörungen nachzuweisen (4) und zweitens ist auch der angebliche Zusammenhang zwischen Stress und den als psychisch krank geltenden Mustern des Verhaltens und Erlebens empirisch noch ungeklärt (5).

Als Beleg für die These des Zusammenhangs zwischen Stress und “psychischer Krankheit” wird die Zunahme von Stress im Beruf einerseits und die gleichzeitige Steigerung von Fehlzeiten wegen “psychischer bzw. psychosomatischer Krankheiten” andererseits gesehen. Dabei wird allerdings übersehen, dass sowohl Stress als auch “psychische Krankheiten” subjektive Reaktionen sind, die sich einer objektiven Überprüfung entziehen (2).

Reaktionsmuster

Beispiel: Eine Journalistin sitzt zu Hause und schreibt mühsam an einem Artikel, der so recht nicht gelingen will. Ihre beiden Kinder lärmen. Sie ist aber nicht etwa genervt, sondern sie freut sich, dass ihre Lieben so gesund und lebendig sind. Sie geht aber dennoch zum Arzt und lässt sich krankschreiben. Sie habe Magenschmerzen, unerträgliche Magenschmerzen, wahrscheinlich wegen Zeitdruck und Angst aufgrund drohenden Arbeitsplatzverlustes, und dann, Kinder eben, lärmten diese auch noch pausenlos. So etwas lässt sich nicht objektiv überprüfen. Das muss der Arzt halt glauben und er glaubt es auch, bei dieser Leidensmiene.

Unsere Gesellschaft bietet Arbeitnehmern, die unter den Belastungen ihres Arbeitsplatzes leiden und die dies nicht mehr ertragen wollen oder können, grundsätzlich drei Reaktionsmuster an:

  1. psychosomatisch krank
  2. psychisch krank
  3. asozial

Ob es psychosomatische Krankheiten tatsächlich gibt, muss im Licht der empirischen Forschung bezweifelt werden. Die Korrelationen zwischen psychischen Faktoren und körperlichen Symptomen sind generell schwach und in aller Regel kann man nicht ausschließen, dass sie durch Drittvariablen außerhalb des psychischen Bereichs, wie beispielsweise die Klassenlage (vornehm: der sozio-ökonomische Status) nur vorgetäuscht werden. Außerdem können Korrelationen ohnehin keinen Kausalzusammenhang beweisen (3).

Selbstverständlich schädigen gesundheitlich bedenkliche Verhaltensmuster wie Saufen, Rauchen und maßloses Fressen die Gesundheit; doch um diese Auswirkungen als psychosomatisch bezeichnen zu können, müsste man nachweisen, dass erwähntes Fehlverhalten auf psychische Konflikte zurückzuführen ist. Dies kann man vermuten, aber nicht beweisen.

An der Existenz psychischer Krankheiten darf nicht nur deswegen gezweifelt werden, weil bisher keinerlei Hirnprozesse identifiziert werden konnten, die irgendeiner Form dieser Störungen zugrunde liegen. Sie ist auch darum fragwürdig, weil die entsprechenden Diagnosen allein auf subjektiven Einschätzungen beruhen, die sich auf Abweichungen von gesellschaftlichen Normen und den Erwartungen signifikanter Mitmenschen (Eltern, Partner, Arbeitgeber, Nachbarn etc.) beziehen.

Hinter dem Begriff der “psychischen Krankheit” scheint sich also nichts anderes als soziale Devianz zu verbergen, die den Mitmenschen als rätselhaft bzw. als übertrieben und unangemessen erscheint.

Wer ohne ausreichende Begründung (genug Geld geerbt, psychosomatisch oder psychisch krank etc.) nicht arbeitet und sich auch nicht um Arbeit bemüht, gilt als Faulpelz, arbeitsscheu, asozial. Er wird von den zuständigen Behörden kujoniert, von den Mitmenschen gering geschätzt, verachtet, mitunter angefeindet, obwohl er, und dies steht zweifelsfrei fest, die Gemeinschaft weitaus weniger finanziell belastet als die “psychosomatisch” oder “psychisch Kranken”.

Folgen

Alle drei Reaktionsmuster auf unerträgliche Belastungen in der Arbeitswelt werden stigmatisiert, jedoch in unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichem Ausmaß.

  • Der “psychosomatisch Kranke” kommt noch am besten weg, vor allem, wenn er nicht allzu häufig fehlt und sich gelegentlich in jammervollem Zustand in die Arbeit schleppt.
  • Der “Asoziale” erregt zwar eindeutig das heftigste Missfallen, aber immerhin  beneidet man ihn insgeheim auch, vor allem, wenn man selbst unter unzumutbaren Arbeitsbedingungen oder sinnentleerten Arbeitsabläufen leidet. Dieser oft eher unbewusste, nicht reflektierte Neid verstärkt aber nicht selten die Ablehnung des Asozialen.
  • Am ärgsten stigmatisiert werden die “psychisch Kranken”, weil sie sich offenbar nicht im Griff haben und darum potenziell gefährlich sind bzw. zumindest nichts Gutes ahnen lassen. Entlastend wird ihnen, ebenso wie den “Psychosomatikern”, allerdings zu Gute gehalten, dass sie für ihren Zustand ja nichts könnten. Leichte Zweifel, ob sie tatsächlich nicht verantwortlich seien, schwingen aber häufig mit.

In aller Regel ziehen die meisten Betroffenen die Rolle des psychosomatisch oder psychisch Kranken der des Asozialen vor; und dies nicht allein darum, weil letztgenannte Rolle mit den heftigsten Reaktionen der Umwelt verbunden ist, sondern weil die zuerst erwähnten Rollen sich besser mit dem Selbstbild vereinbaren lassen.

Es ist offensichtlich, dass die genannten Reaktionsmuster gesellschaftlich gebahnt sind, und dies sowohl finanziell (Krankengeld, Stütze),  als auch institutionell (Arbeitsagentur, ARGE, Psychiatrie, Hausärzte etc.). Sie erfüllen einerseits eine Ventilfunktion für einen Arbeitsmarkt, der tendenziell immer weniger Stellen anzubieten vermag, und sie generieren andererseits Einkommen für die Mitarbeiter der genannten Institutionen. Außerdem vermindern sie die Neigung, die eigentlichen Ursachen, nämlich unser Wirtschaftssystem und die damit verbundenen Ideologien, kritisch zu thematisieren.

Self-handicapping

Den drei Reaktionsmustern entsprechen Strategien des Self-handicappings. Self-handicapping ist ein Versuch, Versagen bei der Bewältigung von Aufgaben zu vermeiden oder zu entschuldigen, um die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls möglichst gering zu halten.

  • Der “psychosomatisch Kranke” signalisiert, dass er zukünftigen Belastungen nur darum nicht gewachsen ist, weil ihn ein körperliches Leiden plagt.
  • Der “psychisch Kranke” bedeutet seinen Mitmenschen, dass er keineswegs asozial, sondern nur von den Stürmen des Lebens gebeutelt und darum arbeitsunfähig oder nur eingeschränkt arbeitsfähig sei.
  • Der “Asoziale” schließlich macht andere glauben, er sei für die Arbeit nicht geschaffen und verweigere sich deswegen den Herausforderungen, die damit verbunden sind (also nicht etwa, weil er zu ungeschickt oder zu dumm fürs Arbeiten sei).

Man mag sich darüber streiten, ob diese Self-handicapping-Strategien unbewusst ablaufen; sie werden jedenfalls, wenn überhaupt, nur unzulänglich reflektiert. Man denkt nicht darüber nach, weil einem die Gesellschaft, so meint man wohl,  ohnehin kaum eine große Wahl lässt.

Schließlich sind die entsprechenden Reaktionsmuster ja auch finanziell und institutionell gebahnt; mitunter dürfte den Betroffenen auch der Verdacht beschleichen, er würde dazu verführt, auf diese Weise den Arbeitsmarkt zu entlasten. Ihm wird also gar nicht bewusst, dass er sich selbst bescheißt und kampflos auf sein Menschenrecht verzichtet, sich durch eine sinnvolle Arbeitstätigkeit in der Gemeinschaft, zum eigenen Nutzen und zum Nutzen aller, zu entfalten.

Man kann jedenfalls die so genannten stressbedingten seelischen Störungen mühelos erklären, ohne auf das Konstrukt einer “psychischen Krankheit” zurückgreifen zu müssen. Es wird uns umso leichter fallen, auf dieses pseudo-medizinische Konzept zu verzichten, wenn wir berücksichtigen, dass laut Stressreport Deutschland 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin “die Frage, wie groß der Anteil arbeitsbedingter psychischer Belastung an möglichen späteren Erkrankungen tatsächlich ausfällt”, noch nicht beantwortet ist (1).

Dies ist im Übrigen ein weiteres Beispiel für die bisher durchgängig erfolglose Suche der Psychiatrie und ihrer Hilfswissenschaften nach den mutmaßlichen Ursachen der angeblichen psychischen Krankheiten.

Bedingungsloses Grundeinkommen

Durch ein bedingungsloses Grundeinkommen würde sich am Grundsätzlichen, nämlich an unserem verfehlten Wirtschaftssystem und an der Dominanz der entsprechenden, menschenfeindlichen neoliberalen Ideologien nichts ändern, aber es würde überforderte Menschen von dem demütigenden Zwang befreien, sich einem Self-handicapping zu unterwerfen, um in dieser Gesellschaft zu überleben.

Dank dieses Grundeinkommens würde nicht nur durch Entbürokratisierung Geld gespart, sondern auch durch die deutliche Reduzierung der Zahl “psychisch” und “psychosomatisch Kranker”.

Der marxistische Soziologe Leo Kofler bezeichnete den Sozialstaat als eine der großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, weil er Menschen in zunehmender Zahl, trotz gewaltiger Produktivitätssteigerung dank technischen Fortschritts, zu abhängigen Almosenempfängern des Staates degradiere.

Das bedingungslose Grundeinkommen würde diese Degradierung, zumindest auf der Ebene des Subjektiven, zweifellos abmildern (denn man könnte sich den Gang zur Behörde und die oft demütigenden Prozeduren dort ersparen); eine wirkliche Lösung wäre es allerdings nicht – besser als der gegenwärtige Zustand aber auf alle Fälle.

Wie sieht dieser Zustand aus? Einerseits überwiegend Arbeitsplätze mit monotonen, sinnentleerten Tätigkeiten und selbst davon nicht genug für alle. Andererseits wird erwartet, dass alle arbeitsfähigen Menschen in der Lage sind, diese Arbeitsplätze zu bekleiden.

Ignoriert wird dabei, dass es immer Menschen geben wird, die solchen Arbeitsplätze definitiv nicht gewachsen sind, warum auch immer. Dies einzuräumen, darf aber aus ideologischen Gründen nicht sein. Das ist Heuchelei, organisierte Heuchelei, die auch mit Hilfe der entsprechenden Institutionen in inszeniert wird: Psychiatrie, psychosomatische Kliniken, Arbeitsamt und ARGE.

Ein bescheidenes, aber ausreichendes Grundeinkommen, das jeder ohne Formalitäten erhält, würde diesem Spuk ein Ende bereiten. Man mag einwenden, dass man dann ja für die unangenehmsten Arbeiten keine Leute mehr bekäme.

Dies mag sein, aber bei diesen Arbeitsplätzen handelt es sich ohnehin um solche, von denen man nicht leben kann, die ergänzende Sozialleistungen erfordern. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass sie subventioniert werden müssen, also nicht wirtschaftlich sind. Wirtschaftliche Arbeitsplätze ernähren ihren Mann. Unwirtschaftliche Arbeitsplätze schaden jedoch insgesamt der Volkswirtschaft.

Für zwingend notwendige und daher stark nachgefragte unangenehme Arbeitsplätze aber wird sich auch eine angemessene Bezahlung durchsetzen, die Menschen mit einem bedingungslosen Grundeinkommen dennoch motiviert, sie einzunehmen. Das bedingungslose Grundeinkommen würde der Wirtschaft also nicht schaden, sondern ihr helfen, weil niemand gezwungen wäre, sich in eine Arbeit zu schleppen, für die er letztlich, warum auch immer, nicht geeignet ist.

Anmerkungen

(1) Lohmann-Haisla, A. (2012). Stressreport Deutschland 2012. Dortmund, Berlin, Dresden: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

(2) Pflasterritzenflora: Die psychiatrische Diagnostik

(3) Pflasterritzenflora: Psychosomatik

(4) Pflasterritzenflora: Psychiatrie – Neurotransmitter und Schaltkreise

(5) Einen Eindruck von der (weitgehend ungeklärten) Komplexität dieser Zusammenhänge vermittelt: Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.

Hinweis

Um Missverständnissen vorzubeugen: Meine Ausführungen beziehen sich auf Leute, die ihre Arbeit nicht mehr aushalten und ihr aus eigenem Antrieb ausweichen. Menschen, die aus anderen Gründen vorübergehend oder dauerhaft nicht arbeiten (obwohl sie im arbeitsfähigen Alter sind) werden hier nicht angesprochen.

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Politische Korrektheit

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Manipulation

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und ähnliche “Ismen” intellektuell erbärmlich und moralisch verwerflich sind. Wer Juden pauschal verunglimpft, nur weil sie Juden sind, ist nicht nur niederträchtig, sondern auch ein Depp. Keine Frage. Dies gilt auch für Leute, die etwas gegen Neger haben, nur weil sie Schwarze sind; die etwas gegen Schwule haben, nur weil sie Homosexuelle sind; die etwas gegen Frauen oder Männer haben, nur weil sie Frauen oder Männer sind.

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass ich in obigem Statement in unverzeihlicher und empörender Weise politisch nicht korrekt war. Wie aber kann ein Mensch, der sich gegen jede Form der pauschalen Diskriminierung ausspricht, politisch inkorrekt sein?

Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir uns zunächst einmal ein wenig mit den Grundlagen der politischen Sprachpsychologie auseinandersetzen.

Es geht um Manipulation, darum, wie man sich dabei geschickt anstellt. Der amerikanische Psychiater und Begründer der Transaktionsanalyse, Eric Berne, unterscheidet in seinem Modell der Ichstrukturen drei grundsätzliche Ich-Zustände, nämlich das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kind-Ich.

  • Die paradigmatische Situation, die dem Eltern-Ich als Vorbild dient, ist der Vater, der als Vertreter von Vernunft und Moral von oben herab dem unwissenden und unerzogenen Kind eine Standpauke hält.
  • Die paradigmatische Situation für das Erwachsenen-Ich ist ein Wissenschaftler, der im Kreise von gleichrangigen und fachlich wertgeschätzten Kollegen eine Lösung für ein wissenschaftliches Problem vorschlägt.
  • Die paradigmatische Situation für das Kind-Ich ist ein kleines Mädchen, das stolz ist auf ein selbstgemaltes Bild und vom Vater belehrt wird, wie man die Perspektiven richtig darstellt.

Wir alle, nicht nur wenn wir Eltern, Wissenschaftler oder kleine Mädchen sind, tragen diese Ich-Zustände in uns. Abhängig von der äußeren Situation und der inneren Verfassung treten diese Ich-Zustände in beständigem Wechsel hervor.

Der geschickte Manipulator wird versuchen, im Erwachsenen-Ich-Zustand zu dozieren und seinen Adressaten in einen Kind-Ich-Zustand zu drängen. Dann nämlich befindet sich sein Gegenüber in einem Zustand maximaler Wehrlosigkeit und dies bedeutet Stress. In diesem Zustand ist ein Mensch hochgradig manipulierbar, weil seine Kritikfähigkeit eingeschränkt ist.

Diese Form der Interaktion lässt sich am leichtesten und nachhaltigsten inszenieren, wenn man sich aufs hohe Ross schwingt und den Adressaten überfallartig mit seinen Sünden konfrontiert. Dies geschieht dadurch, dass man sich als Vertreter höherer Werte darstellt.

In früheren Zeiten waren die höheren Werte des Menschengeschlechts Gegenstand feinsinniger philosophischer Erwägungen, heute werden sie immer seltener in dieser Weise thematisiert. Sie sind vielmehr zu Instrumenten der Manipulation degeneriert, zu einer Maschinerie der politischen Korrektheit. Es genügt bereits, sich die typische Transaktion, die dieses Phänomen begleitet, vor Augen zu führen, um ein Urteil über es zu fällen.

Es mag den sprachpsychologisch und sprachphilosophisch nicht Bewanderten überraschen, dass Wörter an sich, also isoliert betrachtet, keine Bedeutung haben. Auch in einer lexikalischen Auflistung gewinnen sie ihre Bedeutung nur durch die Lexikoneinträge, die sie erklären. Erst der Satz und der Kontext dieses Satzes bestimmen, was mit einem einzelnen Wort in einer konkreten Situation gemeint ist.

Hierzu der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein:

  • „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“.
  • „Sieh den Satz als Instrument an und seinen Sinn als seine Verwendung.“
  • „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.”

Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie

Wer kennt es nicht, dieses klassische Beispiel für ein Palindrom, also ein Wort oder einen Satz, das oder der vor- und rückwärts gelesen identisch ist. Manche meinen, “Neger” sei immer und stets ein Schimpfwort, eine rassistische und neokolonialistische Verunglimpfung schwarzer Menschen. Darum heißen heute Negerküsse Schokoküsse (und Zigeunerschnitzel Sinti- und Roma-Schnitzel.) Allein, wenn wir uns obiges Palimdrom anschauen und “Schwarzer” an Stelle von “Neger” in den Satz einsetzen würden, so hätten wir das Palindrom zerstört.

Die Protagonisten politischer Korrektheit treten gern als Sprachrohr diskriminierter Minderheiten auf, so, als ob die monierte Redeweise die überwiegende Mehrheit der Angesprochenen empöre. Dass dies nicht zwingend der Fall sein muss, beweist eine Gallup-Umfrage aus dem Jahr 2007. In den Vereinigten Staaten gilt es als politisch korrekt, Neger nicht als Schwarze, sondern als afrikanische Amerikaner zu bezeichnen. 61 Prozent der befragten Neger war es dies aber egal und 1 Prozent hatte keine Meinung. 13 Prozent bevorzugten “Schwarze” und 24 Prozent “afrikanische Amerikaner”. Im Jahre 2013 hatte sich das Bild kaum verändert: Egal: 65 Prozent; Schwarze: 17; afrikanische Amerikaner: 17.

Kopftuchmädchen

Ein anderes Beispiel: Sarrazin. Der Politiker und Banker sorgte mit seinem Bestseller “Deutschland schafft sich ab” für Aufregung. Mit Begriffen wie “Kopftuchmädchen” verstieß er gnadenlos gegen die politische Korrektheit. Im Oktober 2010, kurz nach dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte, befragte das Meinungsforschungsinstitut Data 4U eine repräsentative Stichprobe von in Deutschland ansässigen Türken.

Das überraschende Ergebnis: 61 Prozent der Türken hatten von der Debatte um Sarrazin noch gar nichts gehört. Der Grund: Achtzig Prozent der Türken sehen, hören und lesen fast nur türkische Medien. Nur etwa 38 Prozent der Türken hatten den Fall Sarrazin überhaupt zur Kenntnis genommen und von dieser Minderheit fühlten sich 62 Prozent von dem populistischen Politiker angegriffen bzw. beleidigt.

Das ergibt nach Adam Riese, dass nur ein kleiner Teil der Türken das “Kopftuchmädchen” überhaupt zur Kenntnis genommen hatte und sich dadurch diskriminiert fühlte. Der weitaus größere Teil der Türken hatte entweder kein Interesse an deutschen Aufgeregtheiten oder nahm die Sache nicht so furchtbar ernst.

Diese Befunde deuten darauf hin, dass politische Korrektheit nicht etwa gewachsene Bedürfnisse bei Minderheiten widerspiegelt, sondern das sie dem Volk von einer tonangebenden Minderheit aufgezwungen wird. Diese kann jedenfalls nicht für sich in Anspruch nehmen, für die Mehrheit der angeblich durch Begriffe Beleidigten zu sprechen.

Verrückte

Es ist nicht politisch korrekt, von Geisteskranken, Verrückten oder Irren zu sprechen. Vielmehr muss man Menschen, die aus rätselhaften Gründen von der Norm abweichen, als “psychisch Kranke”, als “Schizophrene” oder “Psychotiker” bezeichnen. Hier führt sich die angeblich gute Absicht, Menschen vor Diskriminierung zu bewahren, vollends ad absurdum. Denn die psychiatrischen Fachbegriffe, die so genannten Syndrome aus den einschlägigen Diagnose-Manualen, sind das weitaus stigmatisierender als jede volkstümliche Bezeichnung.

Die psychiatrische Nomenklatur ist im Grunde paradigmatisch für das Wesen der politischen Korrektheit. Mit den neuen Kunstbegriffen soll den Menschen eine andere Sichtweise menschlicher Verhältnisse aufgezwungen werden, an denen selbst man aber nichts Wesentliches zu ändern gedenkt.

  • Die Realität des Menschen, der unter Bossing und Mobbing am Arbeitsplatz leidet, verändert sich nicht dadurch, dass man ihn als Depressiven bezeichnet.
  • Die Putzfrau, die sich für wenig Geld schindet, hat auch kein besseres Leben durch den Begriff “Reinigungskraft”.
  • Und der Mensch mit dunkler Hautfarbe, den man nunmehr als Schwarzen und nicht mehr als Neger bezeichnet, wird nach wie vor bei der Wohnungs- oder Stellensuche benachteiligt.

Die politisch korrekten Namen suggerieren Respekt; doch der Respekt hängt nicht am Namen.

“Sozialtourismus” ist bestimmt kein angemessenes Wort, aber eine politisch korrekte Redeweise, die uns den Blick dafür raubt, welche verheerenden Verhältnisse in manchen Bereichen unseres Landes durch unkontrollierte Zuwanderung geschaffen werden, ist gewiss nicht besser.

Konditionierung

Unter aversiver Konditionierung versteht man die Koppelung eines unerwünschten Verhaltens mit einem unangenehmen Reiz. Dies funktioniert aber nur, wenn wir dieses Verhalten aus seinem Kontext herauslösen, damit der Lernende auch erkennen kann, warum er dem unangenehmen Reiz ausgesetzt wird. Aus diesem Grunde konzentriert sich die politisch korrekte Maschinerie niemals auf Kontexte oder gar auf Sprachspiele, in dem oder in denen die verpönten Ausdrücke, wie beispielsweise “Emanze”, Neger oder Kopftuchmädchen stehen. Der Strafreiz wird vielmehr unbedingt und mechanisch angewendet, sobald der missliebige Begriff ausgesprochen wird.

Wir kennen diese Form der Konditionierung als verhaltensbiologischen oder tierpsychologischen Laboren. Die politisch korrekte Maschinerie ist aber keine experimentelle Anordnung; sie wird vielmehr im realen Leben eingesetzt und ist diesem daher angepasst.

Und das geht so: Sobald der politisch korrekte Maschinist ein inkriminiertes Wort hört (beispielsweise Neger, Schwuchtel, Fräulein, Juden-Gen), schwingt er sich aufs moralisch hohe Ross und überzieht den Übeltäter mit persönlichen Angriffen, die in dem Vorwurf gipfeln, er sei ein Chauvinist, Rassist, Antisemit oder was auch immer.

Kritik

Es mag auf den ersten Blick belanglos erscheinen, ob man Sinti und Roma sagen muss, wenn man Zigeuner meint, ob man das Binnen-I verwenden muss, wenn man sich über die Moral der Lehrer im Allgemeinen beklagt, ob man Auszubildender sagen muss, wenn man vom Lehrbuben spricht. Doch dies ist keineswegs belanglos.

Das Fatale ist die angeblich moralische Dimension des Müssens. Diese ist nämlich häufig gar nicht gegeben. Weder ist das monierte Wort beleidigend gemeint, noch wird es von der überwiegenden Mehrheit der damit Angesprochenen so aufgefasst.

Es ist eindeutig nicht politisch korrekt, die politische Korrektheit zu tadeln. Wer sie dennoch kritisiert, wird in die rechtspopulistische oder gar die rechtsradikale Ecke gestellt. Dabei wird übersehen, dass die Meinungsfreiheit eine demokratische Errungenschaft ist, und dass ihre Einschränkung durch Einschüchterung sehr, sehr gut begründet sein muss, wenn sie nicht dem Verdikt der Demokratiefeindlichkeit unterliegen will.

Eine vernünftige Begründung für die Exzesse der politischen Korrektheit vermag ich nicht zu erkennen. Die Umbenennung der Neger- in Schokoküsse wird nichts an der realen Diskriminierung von Schwarzen ändern und das Binnen-I trägt nicht zur Emanzipation der Frauen bei.

Solche Auswüchse aber haben einen gewaltigen Einfluss auf den öffentlichen Meinungsaustausch, weil jeder, der eine politisch korrekte Redeweise verwendet, damit signalisiert, dass er einem Konformitätszwang nachzugeben bereit ist. Und genau dies verstärkt die Bereitschaft zur Anpassung an den Mainstream bei allen Teilnehmern an öffentlichen Diskursen.

Dies schadet zweifellos der Demokratie, weil sich diese ohne Meinungsvielfalt in öffentlichen Debatten nicht zu entfalten vermag. Wer gegen Nazis, Rassisten, Frauenfeinde, Männerfeindinnen oder einfältige Stammtischbürger ist, muss ihnen erlauben, sich in der ihnen angestammten Art zu artikulieren, damit er sich mit ihnen auseinandersetzen kann.

Der soziale Zwang zur politischen Korrektheit führt zu einem Ressentiment bei denjenigen, denen über den Mund gefahren wird, das sich oft untergründig entfaltet und sich dadurch der öffentlichen Auseinandersetzung entzieht. Für die Demokratie ist das Gift; dies sollte eigentlich einleuchten.

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Sind wir alle Opfer?

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“Aus der Tatsache oder der angeblichen Tatsache, dass traumatisierte Menschen in der einen oder anderen Weise dazu neigen, sich in einer bestimmten destruktiven oder unangepassten Art zu benehmen, wurde geschlossen, dass Selbstzerstörung und Fehlanpassung in sich selbst ein Beweis für Traumatisierung seien: Warum sonst sollte sich jemand so verhalten? Die Logik ist schlecht, natürlich: Es folgt sicherlich nicht aus der Tatsache, dass einige a b sind, dass alle b a sind; doch Logik hat nicht immer die Rolle gespielt, die sie in menschlichen Angelegenheiten hätte spielen können (2).”
(Theodore Dalrymple

Frauenschicksal: missbraucht?

Folgt man der Gedankenwelt feministischer Psychiaterinnen oder Psychotherapeutinnen, dann muss man Frauen, die nicht als Kinder oder Jugendliche sexuell missbraucht wurden, wie eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. In der patriarchalischen Gesellschaft, so heißt es, seien sexuelle Übergriffe von Männern die Regel und nicht etwa die Ausnahme. Dass es keine belastbaren Statistiken gibt, die dies beweisen, spielt keine Rolle, denn wer an Statistiken glaubt, ist ein Mann und daher nicht neutral.

Als ich vor vielen Jahren von meinem damaligen Arbeitgeber den Auftrag erhielt, ein Konzept für eine Einrichtung zur Behandlung weiblicher Drogenabhängiger zu verfassen, da bezifferte ich in der Einleitung die mutmaßliche Zahl sexuell missbrauchter Süchtiger, dem damaligen Stand der halbwegs seriösen Forschung entsprechend, realistisch ein – wenn ich mich recht entsinne mit etwa 30 Prozent.

Einige Tage später rief mich eine Psychiaterin an. Sie sagte, mein Konzept sei “typisch Mann” und in ihrer Einrichtung seien mindestens 70 Prozent der Frauen sexuell missbraucht worden; die anderen wüssten es nur noch nicht. Mein Konzept sei entsprechend zu korrigieren.

Man muss dabei wissen, dass solche Schätzungen, selbst wenn sie auf wissenschaftlichen Studien beruhen, überwiegend auf den Selbsteinschätzungen von angeblich betroffenen Frauen beruhen. Es handelt sich hier nicht um gleichsam amtliche, objektiv abgesicherte Zahlen.

Streng genommen gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, um halbwegs verlässlich beziffern zu können, wie viel süchtige Frauen oder Frauen insgesamt in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden. Dass es solche Fälle dennoch gibt, steht für mich außer Frage. Dass allerdings dieser Missbrauch ursächlich war für Suchtverhalten oder andere Phänomene, die von der Psychiatrie als Symptome einer psychischen Krankheit gedeutet werden, halte ich keineswegs für sicher.

Pornographie

Feministisch orientierte Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen sind natürlich auch leidenschaftliche Gegnerinnen der Pornographie. Sexdarstellerinnen passen selbstredend nicht in ihr Frauenbild. Es gilt für sie daher als ausgemacht, dass diese Frauen mehrheitlich in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurden, dass sie von finsteren männlichen Gestalten zum Sex vor der Kamera gezwungen werden und dass sie ein verzweifeltes Leben in tiefster Erniedrigung führen würden.

Amerikanische Wissenschaftler sind dieser Frage nachgegangen. Als mir diese Studie (1) zufällig in die Hände fiel, war ich selbst gespannt, was dabei herausgekommen ist. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit “wusste” ich nicht schon vor der Lektüre des Artikels, wie die Resultate aussehen.

Mir sind persönlich keine Pornodarstellerinnen bekannt: mit einer Ausnahme. Einst interviewte ich für eine Fachzeitschrift eine Darstellerin, die in Softsexfilmen mitwirkte und die damals, Jahre nach dem Ende ihrer Karriere, in einem Heim für “chronisch mehrfachgeschädigte Abhängigkeitskranke” lebte.

Ich konnte im Übrigen keinerlei Anzeichen einer wie auch immer gearteten psychischen Störung bei ihr erkennen (doch das war ja schon immer mein Problem). Im Gegenteil: Sie war sehr nett. Von Übergriffen in Kindheit und Jugend war nicht die Rede. Aber sie zeigte ihren schönen Körper ja auch nur in Softsexfilmen. Womöglich, so dachte ich, blicken die Hardcore-Aktricen auf eine finstere Vergangenheit zurück.

Die Wissenschaftler befragten 177 Porno-Künstlerinnen sowie eine Vergleichsgruppe mit Frauen, die den Sex-Arbeiterinnen hinsichtlich des Alters, der Ethnizität und partnerschaftlicher Bindungen entsprachen.

Die Pornodarstellerinnen

  • bezeichneten sich häufiger als bisexuell,
  • hatten früher partnerschaftlichen Sex,
  • machten sich mehr Sorgen wegen sexuell übertragbarer Krankheiten,
  • hatten mehr Spaß am Sex,
  • erlebten eine tiefere sexuelle Befriedigung,
  • hatten größere Selbstachtung,
  • mehr positive Gefühle in Leben allgemein,
  • hatten intensivere spirituelle Erfahrungen gesammelt und
  • konsumierten häufiger Drogen als die “normalen” Frauen.

Diese Frauen hatten deutlich mehr Sexpartner in ihrem Leben, nämlich im Durchschnitt 75 (abzüglich der Partner beim Drehen); die Frauen der Vergleichsgruppe brachten es “nur” auf fünf. Als alt-68er Miesepeter sehe ich darin einen Beweis für die Tatsache, dass sexuelle Libertinage keineswegs befreit, sondern sich auf dem Wege der “repressiven Entsublimierung” problemlos als Ware in den kapitalistischen Alltag integrieren lässt.

Nachdem ich mir, letzten Satz noch einmal lesend, heftig und mehrfach an den Kopf gegriffen habe, entschließe ich mich nunmehr, den geschilderten Sachverhalt erst einmal unkommentiert entkommen zu lassen. In vorgerücktem Alter blickt man im Allgemeinen auf so viele Ideologien zurück, an die man einmal fest geglaubt hat, dass man, die Erlaubnis des geneigten Lesers vorausgesetzt, vorschnellen, bekenntnishaften Erklärungen durchaus auch einmal entraten darf.

Hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend gab es zwischen den Pornodarstellerinen und den Frauen der Vergleichsgruppe im Übrigen keine Unterschiede, ich wiederhole und nehme zusätzlich mehr und rote Tinte: keine.

Wenn man wie ich geneigt ist, sich über die Gebote der soeben bekundeten Alltagsweisheit schon im nächsten Satz wieder hinwegzusetzen, dann mag man ebenso dazu tendieren, die Pornodarstellerinen als dennoch stärker durch sexuellen Missbrauch belastet zu betrachten als die “braven” Frauen.

Denn man darf annehmen, dass Sex-Aktricen in geringerem Maße durch feministische Propaganda beeinflusst wurden. Folglich dürften sich unter ihren Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in Kindheit und Jugend weniger falsche befinden als unter den Erinnerungen der Vergleichsgruppen-Frauen, die vermutlich in stärkerem Maße durch feministische Propaganda sowie entsprechend gestrickte Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen zu falschen Erinnerungen provoziert wurden.

Auch wenn obiger Einwand eher scherzhaft erscheinen mag, ist er doch ein ernst zu nehmender Hinweis auf ein reales methodisches Problem dieser Studie. Auch hier beruhen die Resultate auf den Erinnerungen und Einschätzungen der Befragten; objektiv messbare bzw. verifizierbare Daten wurden (außer demographischen Variablen) nicht in die Untersuchung einbezogen.

Unabhängig  davon ist diese Studie  ein bedenkenswertes Argument für die Hypothese, dass die Psychiatrie generell, und nicht nur die feministische, in einem atemberaubenden Ausmaß Opfer produziert, die in Wirklichkeit gar keine Opfer sind.

Alice Schwarzer definiert:

“Doch was ist eigentlich Pornografie? Woran erkennen wir, ob ein Bild oder ein Text pornografisch ist? An der Menge der Haut, die zu sehen ist? Nein. Daran, dass es um Sex geht? Nein. Am Grad der Erotik? Schon gar nicht, im Gegenteil. Wir erkennen Pornografie an der Verknüpfung von sexueller Lust mit der Lust an Erniedrigung und Gewalt – und zwar für Täter wie Opfer.”

Könnte es nicht einfach nur so sein, dass im Falle von Pornographie Männlein und / oder Weiblein vor der Kamera gegen Geld Sex miteinander und u. U. dabei sogar Spaß haben? Dies könnte ja durchaus auch für Gewalt-Pornos gelten. Könnte es nicht sein, dass die Wahrscheinlichkeit sexueller Erniedrigung von Frauen durch Männer überall in der Welt größer ist als in Porno-Studios, im Scheinwerferlicht?

Money

Es geht natürlich ums Geld, sowohl auf der Matte im Porno-Studio, als auch – pars pro toto – auf der Couch der Psychoanalytikerin.

Die kanadische Psychologin Tana Dineen hat dafür eine einfache Formel gefunden: PERSON = VICTIM = PATIENT/CLIENT = PROFIT. Tana Dineen ist Autorin des Buches: “Manufacturing Victims: What the Psychology Industry Is Doing to People“.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es sind keineswegs nur Frauen betroffen. Auch Männer sehen sich, warum auch immer, zunehmend veranlasst, die Rolle des Opfers zu übernehmen. Auch hier mag es sein, dass sie tatsächlich Schreckliches erlitten haben, es kann aber auch sein, dass auf sie jene Logik angewendet wurde, von der im vorangestellten Zitat Dalrymples die Rede ist. Ob es wohl eine Diskriminierung von Männern ist, dass die Psychiatrie Angehörige des angeblich starke Geschlechts nicht so häufig zu Trauma-Opfern erklärt wie jene des mutmaßlich schwachen?

Ein ziemlich dramatisches Beispiel für die Kreation von Opfern ist die so genannte Multiple Persönlichkeitsstörung. Diese wird – feministische Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen werden nicht müde, uns dies zu suggerieren – durch sexuellen Missbrauch und andere Formen der Traumatisierung in früher Kindheit hervorgerufen.

Es gibt allerdings nicht die Spur eines Beweises dafür, dass sexueller Missbrauch ursächlich für diese Störung ist. Ja, die schiere Existenz dieser Störung (im Sinne der offiziellen DSM- bzw. ICD-Diagnosen) ist zweifelhaft (im DSM wird sie als Dissoziative Identitätsstörung bezeichnet).

Es ist aber dokumentiert und experimentell bewiesen, dass man eine so genannte multiple Persönlichkeitsstörung durch hypnotische Suggestionen hervorrufen kann. Schon Psychiater im 19. Jahrhundert beherrschten diese Kunst und schrieben darüber. Welche Situation aber könnte suggestiver sein als eine psychotherapeutische Sitzung?

Wenn heute ein Mensch behauptet, er sei in früher Kindheit schwer traumatisiert worden, habe diese furchtbare Erfahrung aber aus eigener Kraft überwunden, so wird ihm in der Regel nicht geglaubt oder man meint, die Erfahrungen könnten womöglich zwar real, aber so schrecklich nun auch wieder nicht gewesen sein.

Wer aber berichtet, dass er sich seit fünfzehn Jahren wegen schwerer Kindheitstraumata in psychotherapeutischer Behandlung befinde, der darf sich allgemeinen Mitleids (als das sich Verachtung mitunter zu tarnen vermag) sicher sein.

Dies ist eine Folge des psychiatrischen Trauma-Kults, zu dessen Anhängern keineswegs nur feministische Psychotherapeutinnen und Psychiaterinnen zählen, wenngleich diese natürlich fanfarenartig den Ton angeben. Das Trauma ist zum zweiten Standbein der Psychiatrie geworden.

Nachdem die biochemischen und genetischen Theorien psychischer Krankheiten den empirischen Härtetest nicht bestanden haben und auch in der Bevölkerung die Zweifel an ihnen zunehmen, wird nun wieder, das für lange Zeit als wesentlicher Einflussfaktor verworfene, Trauma reaktiviert.

Da Traumata auch das Hirn schädigen können, liegt seine Wiederbelebung zudem im Interesse der Pharmaindustrie, so dass der psychiatrisch-pharmaindustrielle Komplex insgesamt mit dieser Entwicklung zufrieden sein kann.

Im Namen des Staates

Doch hier sind nicht nur wirtschaftliche Interessen in Anschlag zu bringen, sondern auch politische. Denn wo es echte Traumatisierung gibt, da gibt es auch Verantwortliche, da gibt es Täter. Und wo es Täter gibt, da gibt es auch Opfer und wie es Opfer gibt, da gibt es auch Hass auf die Täter und Rachedurst.

Und so liegt es im Interesse der Hüter staatlicher Ordnung, die echten Opfer rechtzeitig der Reglementierung durch die Psychiatrie zu unterwerfen. Die Menschen sollen erst gar nicht auf die Idee kommen, dass man grauenvolle Erfahrungen auch aus eigener Kraft oder mit Hilfe von nicht-professionellen Mitmenschen überwinden und sogar aus ihnen gestärkt hervorgehen könnte.

Tatsächlich oder mutmaßlich Traumatisierte, die psychiatrische bzw. psychotherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, sollten sich nicht wundern, wenn sie sich eines Tages in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt wiederfinden. Psychiatrische Gefährlichkeitsprognosen sind völlig willkürlich und sie geben nur die persönliche Meinung des Prognostikers wieder.

Wenn mehrere Prognostiker zu derselben Überzeugung gelangen, so drängt sich der Verdacht auf, dies liege daran, dass diese Leute doch allesamt unter einer Decke stecken. Dies sollte man bedenken.

Psychiater und Psychotherapeuten verfügen im Übrigen auch über keine Methoden, mit denen sie feststellen könnten, ob eine Traumatisierung tatsächlich vorliegt oder nur fantasiert wird. Allein die Suche nach rechtskräftigen Urteilen in Archiven könnte darüber Aufschluss geben, und dies auch nur im positiven Fall. Diese Möglichkeit ist aber nur bei einem kleinen Teil der mutmaßlichen Fälle gegeben.

Angesichts der bekannten mangelnden Validität psychiatrischer Diagnostik muss man mit einer großen Zahl falsch positiver und falsch negativer Einstufungen rechnen. Unter diesen Bedingungen kann die Psychiatrisierung der angeblich oder tatsächlich Traumatisierten natürlich dazu führen, dass reale Täter geschützt und falsch verdächtigte Menschen als Täter gebrandmarkt werden.

Sobald beispielsweise die Diagnose einer “Multiplen Persönlichkeitsstörung” bei einer Frau ausgesprochen wird, lastet bereits ein schwerer Verdacht auf ihrem Vater. Dies hängt mit der psychiatrischen Ideologie zusammen, die sich mit dieser Diagnose verbindet und für die es nicht den Hauch eines empirischen Beweises gibt.

Schreckliche Erfahrungen

Sind wir alle Opfer? Schreckliche Erfahrungen sind allgegenwärtig, vor allem in so mitleidslosen Gesellschaften wie unserer. Für die wirklich Betroffenen kommt es darauf an, korrektive emotionale Erfahrungen zu sammeln. Der beste Weg, dies zu tun, besteht darin, gemeinsam mit anderen Betroffenen gegen die Verursacher zu kämpfen. Selbst wenn der erwünschte Erfolg ausbleibt, ist dieser Kampf eine korrektive emotionale Erfahrung von unschätzbarem Wert. Psychiater und Psychotherapeutinnen sind keine guten Genossen in diesem Kampf.

Schreckliche Erfahrungen können uns geneigt stimmen, aber sie zwingen uns nicht dazu, uns selbstdestruktiv und unangepasst zu verhalten. Der zunehmende Opferkult in unserer Gesellschaft legt es Betroffenen und zur Betroffenheit sich berufen Fühlenden zwar nahe, sich so zu benehmen; aber kein Mensch ist verpflichtet, den Forderungen des Zeitgeistes nachzugeben. Es ist durchaus möglich, trotz aller Scheußlichkeiten, auch nach brutalen Misshandlungen, mit aufrechtem Gang durchs Leben zu gehen.

Zorn, heiliger Zorn auf die Täter und Rachedurst, der Wunsch, dass sie die gerechte Strafe ereilen möge, sind nicht etwa therapiebedürftig, sondern im Gegenteil ein Zeichen dafür, dass ein gedemütigter und malträtierter Mensch sein Menschenantlitz bewahren konnte.

PS: Natürlich gibt es Frauen, die von Männern missbraucht, misshandelt und gedemütigt wurden und werden, in der Porno-Industrie und anderswo. Es gibt nur nicht die Spur eines Beweises dafür, dass der Missbrauch, die Misshandlung und Demütigung von Angehörigen des weiblichen durch solche des männlichen Geschlechts ein zentrales Charakteristikum unserer Gesellschaft wäre.
Die Auffassung mancher Männerrechtler, dass es vielmehr umgekehrt sei, dass Männer die Opfer von Frauen seien, lässt sich selbstverständlich ebenso wenig empirisch erhärten. Es gibt aus meiner Sicht keinen berechtigten Grund anzunehmen, dass wir eine Gesellschaft von Opfern wären.

Anmerkungen

(1) James D. Griffith , Sharon Mitchell , Christian L. Hart , Lea T. Adams & Lucy L. Gu (2012): Pornography Actresses: An Assessment of the Damaged Goods Hypothesis, Journal of Sex Research, DOI:10.1080/00224499.2012.719168; online

(2) Dalrymple, T. (2010). Spoilt Rotten. The Toxic Cult of Sentimentality. London: Gibson Square Books

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Lebensstil, Persönlichkeit, Störung

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Was ist eigentlich die Persönlichkeit?

Solange nicht von uns verlangt wird, diesen Begriff zu definieren, glauben die meisten von uns zu wissen, was “Persönlichkeit” bedeutet. Wie selbstverständlich verwenden wir diesen Begriff, als ob er klar und eindeutig wäre. Dies geht so weit, dass wir manchen sogar die Persönlichkeit absprechen. Wenn jemand “keine Persönlichkeit ist”, dann erscheint uns sein Profil konturlos, er ist ein Blatt im Wind, er wirkt fremdbestimmt, sich selbst entfremdet.

Von diesem Grad der alltäglichen Gewissheit ist die sich wissenschaftlich wähnende Persönlichkeitspsychologie allerdings weit entfernt.  Sie ist zwar nicht so naiv und reflexionslos wie die Alltagspsychologie, aber sie ist auch keine entwickelte, reife, eigentliche Wissenschaft wie die Physik oder Chemie. In diesen echten Wissenschaften herrscht weitgehende Einigkeit hinsichtlich der Grundbegriffe und der elementaren Theorien. In der Persönlichkeitspsychologie gibt es jedoch keine einheitliche Fachsprache; und zahllose Theorien konkurrieren miteinander, die sich teilweise sogar fundamental widersprechen.

Grundmuster

Die Persönlichkeitstheorien lassen sich grob in sechs Grundmuster unterteilen: Typen- und Eigenschaftstheorien sowie psychodynamische, phänomenologische, behaviorale und dialektische Theorien. Diese Unterteilung ist weder erschöpfend, noch zwingend. Sie hat keine empirische oder theoretische Basis, sondern sie drängte sich mir bei der Durchsicht relevanter Literatur auf. Vermutlich dürften sich die wichtigsten Persönlichkeitstheorien in dieses Schema einordnen lassen.

Eine Richtung wird in diesem Schema und in den nachfolgenden Ausführungen allerdings nicht berücksichtigt: die neurodynamische Persönlichkeitstheorie, die sich mit der Verankerung der Persönlichkeit im Nervensystem beschäftigt. Diese Theorie wird in Zukunft vermutlich sehr bedeutend werden. Im Augenblick ist sie jedoch noch kein halbwegs einheitliches Gebilde, sondern ein Sammelsurium vereinzelter Studien mit vorläufigen Erkenntnissen. Dieses Fach hat zwar mit erheblichen methodischen Befunden zu kämpfen und pflegt mitunter einen nahezu hochstaplerischen Umgang mit Daten; aber der nach wie vor grassierende Neuro-Hype sorgt auch weiterhin für zunehmendes Interesse an den (überaus fragwürdigen) Befunden (1).

  • Typentheorien

    Die ältesten Persönlichkeitstheorien sind die Typentheorien, die bereits im  Altertum verbreitet waren. Die wohl bekannteste Typentheorie ist die  Einteilung der Temperamente durch den Arzt Galen. Er unterschied das  melancholische, cholerische, phlegmatische und sanguinische Temperament. Derartige Theorien sind heute nur noch von historischen Interesse, obwohl sie sich in der Alltagspsychologie noch einer gewissen Beliebtheit erfreuen.

  • Eigenschaftstheorien

    Da die Einteilung der Menschen in eine begrenzte Zahl von Typen doch als allzu simpel erscheint, wurden im 20. Jahrhundert Eigenschaftstheorien entwickelt und mit statistischen Methoden erforscht. Aus Sicht der Eigenschaftstheorien kann die menschliche Persönlichkeit durch eine begrenzte Zahl von Grundmerkmalen mit individuell unterschiedlicher, messbarer Ausprägung beschrieben werden. Der bedeutende deutsch-britische Psychologe Hans Eisenck behauptete, dass drei fundamentale Dimensionen zur Charakterisierung der menschlichen Persönlichkeit ausreichen: Psychotizismus (z. B. antisoziale Verhaltensweisen, Ablehnung verbindlicher Normen), Introversion – Extraversion und emotionale Stabilität. Inzwischen hat sich der wissenschaftliche Mainstream darauf geeinigt, fünf grundlegende, voneinander unabhängige Persönlichkeitsdimensionen anzunehmen, die als “Big Five” bezeichnet werden, nämlich “Neurotizismus”, “Introversion / Extraversion”, “Offenheit für Erfahrungen”, “Verträglichkeit sowie “Rigidität / Gewissenhaftigkeit”.

  • Psychodynamische Theorien

    Persönlichkeitstheorien, die unbewussten Prozessen eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung und Stabilisierung der Persönlichkeit einräumen, werden als psychodynamisch bezeichnet. Als Vater dieser Denkrichtung kann der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud gelten – es gibt inzwischen allerdings auch psychodynamische Persönlichkeitstheorien, die sich (teilweise) im Widerspruch zur Lehre Freuds entwickelt haben. Für Freud und seine Schüler sind intrapsychische, meist unbewusste Konflikte bzw. Defizite der psychischen Entwicklung eine wesentliche Quelle der Persönlichkeit. Störungen in der analen Phase der psychosexuellen Entwicklung können beispielsweise zu einem analen Charakter führen, der sich durch Kontrollbedürfnis, Sparsamkeit, Eigensinn und Genauigkeit auszeichnet.

  • Phänomenologische Theorien

    Aus Sicht der phänomenologischen Theorien ist das oberste Ziel des Menschen die Selbstverwirklichung. Die Individuen unterscheiden sich hinsichtlich des Stellenwerts, den dieser höchste Wert in der Hierarchie ihrer Bedürfnisse einnimmt. Das bekannteste Modell dieser Schule ist die Bedürfnis-Pyramide Abraham Maslows. Die Basis der Pyramide bilden die physiologischen Bedürfnisse wie Essen und Trinken. Darüber finden sich die Bedürfnisse nach Sicherheit, gefolgt von den sozialen Bedürfnissen und den Bedürfnissen nach Achtung und Wertschätzung. An der Spitze der Pyramide stehen dann die Bedürfnisse der Selbstverwirklichung.

  • Behaviorale Theorien

    Für die behavioralen Theorien ist die menschliche Persönlichkeit ein Verhaltensrepertoire. Dieses relativ stabile Muster charakteristischer Verhaltensweisen entsteht durch Lernprozesse.  Die klassischen Behavioristen konzentrierten sich dabei nur auf das beobachtbare Verhalten, weil sie innere Prozesse als der wissenschaftlichen Forschung unzugänglich betrachteten. Neuere kognitiv-behaviorale Ansätze berücksichtigen jedoch auch Prozesse in der menschlichen Innenwelt. Nach dieser Auffassungen spielen verallgemeinerte Erwartungen und Selbsteinschätzungen eine zugleich verhaltenssteuernde und persönlichkeitsbildende Rolle.

  • Dialektische Theorien

    Für die dialektischen Persönlichkeitstheorien ist der Mensch ein widersprüchliches Wesen – und zu diesen Widersprüchen zählt auch die häufige Verleugnung der eigenen Widersprüchlichkeit. Die inneren Widersprüche – z. B. zwischen Pflicht und Neigung,  Sex und Liebe, Realismus und Idealismus – sind der Motor jeder Entwicklung  der Persönlichkeit. Die dialektische Theorie bezieht die Lehre von den Widersprüchen jedoch nicht nur auf den Gegenstand der Untersuchung, nämlich die Persönlichkeit, sondern auch auf sich selbst. Sie versucht, die Persönlichkeit zu beschreiben und ist sich zugleich bewusst, dass eine vollständige Erforschung der Persönlichkeit unmöglich ist. Das Subjektive lässt sich nicht restlos objektivieren. Der subjektive Rest, der sich der Beschreibung entzieht, ist der menschliche Eigensinn.

Was ist eine Persönlichkeitsstörung?

Wenngleich die psychiatrischen Diagnose-Handbücher die Existenz klar abgegrenzter Persönlichkeitsstörungen vorgaukeln, herrscht in der Fachwelt Uneinigkeit darüber,  welche Persönlichkeitsstörungen tatsächlich existieren und wie sie zu definieren sind. Kein Wunder also, dass die Beurteiler-Reliabilität bei den entsprechenden Diagnosen trotz aller Reformbemühungen überaus schlecht ist (2).

Die Definition der Persönlichkeitsstörung hängt natürlich von der jeweiligen Persönlichkeitstheorie ab. Die psychiatrische Diagnostik beruht aber nicht auf einer einheitlichen Grundlage, sie fußt vielmehr auf einem politischen Konsens, auf einem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Vertreter unterschiedlicher Schulen in internationalen und nationalen Psychiatergremien geeinigt haben (wobei sich mitunter die lautstärksten und nicht jene mit den besten Argumenten durchsetzten). Bei den so genannten Krankheitsbildern, nicht nur bei den Persönlichkeitsstörungen, die in den einschlägigen Manualen aufgelistet werden, handelt es sich also um Fassaden, mit denen sich kaum jemand identifizieren kann.

Die folgende Zuordnung von Persönlichkeitstheorien und Störungstheorien kann im Rahmen dieses Beitrags natürlich nur holzschnittartig ausfallen. Sie soll den Grundgedanken verdeutlichen, dass eine einheitliche Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen zumindest solange unbefriedigend sein muss, wie es keine allgemein verbindliche, empirisch abgesicherte Persönlichkeitstheorie gibt. Kurz: Solange man noch nicht einmal so genau weiß, was eigentlich die Persönlichkeit ist, sollte man eigentlich zu ihren angeblichen Störungen schweigen.

  • Für den Behavioristen ist eine Persönlichkeitsstörung eine Abweichung des charakteristischen Verhaltensrepertoires von der statistischen Norm, die durch Lernprozesse (Konditionierung) hervorgerufen wird.
  • Aus Sicht der dialektischen Persönlichkeitstheorie ist eine Persönlichkeitsstörung die Folge von inneren Widersprüchen, die nicht konstruktiv aufgelöst werden können. Durch diese Blockierung können die Widersprüche dann nicht zu einem Motor der persönlichen Weiterentwicklung werden.
  • Für den Typentheoretiker sind Persönlichkeitsstörungen die Folge einer anlagebedingten Übersteigerung eines Temperaments.
  • Der Eigenschaftstheoretiker sieht in ihnen die extreme Ausprägung eines oder mehrerer Persönlichkeitsmerkmale, die auf einem Wechselspiel von Anlage und Umwelt beruht.
  • Aus psychodynamischer Sicht entstehen Persönlichkeitsstörungen durch Störungen der frühkindlichen Sozialisation, vor allem im Bereich der Mutter-Kind-Beziehungen.
  • Aus phänomenologischer Perspektive zeigen sich Persönlichkeitsstörungen, wenn Menschen in ihrem Streben nach Selbstverwirklichung gehemmt sind.

Es versteht sich von selbst, dass bei unterschiedlichen Ursachentheorien auch unterschiedliche Aspekte der Persönlichkeit bzw. des Lebensstils akzentuiert werden, die man als gestört betrachtet. Im Übrigen ist keine dieser Theorien empirisch erhärtet; entsprechend sind die jeweiligen Krankheitsbilder Konstrukte ohne wissenschaftliche Grundlage.

Freie Entfaltung der Persönlichkeit

Eine große Gefahr bei der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen besteht darin, zwischenmenschliche Probleme nur einem einzelnen Menschen zuzuschreiben, ihn gleichsam zum Sündenbock zu machen.

Diese Diagnose ist also nur dann gerechtfertigt, wenn die Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben nicht nur im Umgang mit bestimmten Menschen, zum Beispiel in der Familie oder in einer Arbeitsgruppe, sondern durchgängig in allen, auch in deutlich von einander unterschiedenen sozialen Situationen auftreten.

Es ist sicher nicht gerechtfertigt, Extremvarianten menschlichen Verhaltens und Erlebens grundsätzlich als gestört zu bezeichnen, nur weil sie erheblich von der statistischen Norm abweichen. Es mag ja sein, dass sich manche von jedem gestört fühlen, der von der Norm abweicht, aber das ist dann wohl eher nicht das genuine Problem des Abweichlers.

Persönlichkeiten kann man auch als Kristallisierungen von Lebensstilen bezeichnen – und daher kann es keine kranken Persönlichkeiten geben. Denn der Lebensstil ist keine medizinische Kategorie. Natürlich können Lebensstile riskant sein und u. U. auch die Gesundheit beeinträchtigen. Doch selbst wenn sie Krankheiten hervorrufen oder begünstigen, sind sie an sich natürlich keine Krankheit. Für Lebensstile sind dann doch wohl eher die Psychologie, die Sozialwissenschaften und die “Behavioral Economics” zuständig als die Medizin.

In jedem Fall ist zu bedenken, dass Menschen in einer demokratischen Gesellschaft das Recht zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit besitzen. Dieses Recht haben sie – in rechtlich definierten Grenzen – auch dann, wenn sie bei der Verwirklichung ihrer Persönlichkeit andere Menschen stören. Sie verwirken dadurch keineswegs eines der wichtigsten Rechte in der Demokratie.

Anderen Menschen eine gestörte oder gar kranke Persönlichkeit vorzuwerfen und sie zur Veränderung oder zur Behandlung zu drängen, kann u. U. selbst Ausdruck einer Haltung sein, die man mit gleichem Recht ebenfalls als Persönlichkeitsstörung beurteilen könnte. Diesen Typ der Persönlichkeitsstörung findet man sogar bei professionellen Helfern. Man nennt sie dann das “Helfersyndrom”.

Persönlichkeitseinschätzung

Es gibt eine Vielzahl von Attributen, die wir dem Begriff der Persönlichkeit beigesellen: flach, windig, charismatisch, verrückt etc. Das Problem mit all diesen Beifügungen besteht darin, dass sie das, was wir mit “Persönlichkeit” meinen, nicht fassbarer machen. Vielmehr werfen wir mit diesen Charakterisierungen oftmals mehr Fragen auf, als wir beantworten.

Ein halbwegs präziser Begriff kann durch eindeutige Merkmale beschrieben werden. Die Beschreibung muss nicht perfekt sein. Das ist oft gar nicht möglich. Dies lässt sich z. B. am Begriff des “Vogels” veranschaulichen. So hat ein Vogel Flügel, aber auch Fledermäuse haben Flügel und können fliegen, im Gegensatz zu Hühnern.

Trotz dieser Schwierigkeit können wir aber bei den meisten Gegenständen des Alltags schon kleinen Kindern eine Vorstellung davon vermitteln, was sich hinter den Begriffen der Umgangssprache verbirgt.

Beim Begriff der “Persönlichkeit” ist dies jedoch keineswegs der Fall, wie wir gleich sehen werden. Also: Wer würde beispielsweise nicht eine erstarrte Persönlichkeit kennen oder eine reife, eine oberflächliche bzw. eine tiefgründige, eine offene oder eine misstrauische?

Doch gemach: Machen wir die Probe aufs Exempel. Hätten wir einen halbwegs klaren Begriff wie den des Vogels, dann müssten wir doch nach einigem Nachdenken, wenn nicht spontan Merkmale benennen können, die beispielsweise den Fritz oder die Paula als “reife Persönlichkeit” charakterisieren.

Doch bei dem Versuch, derartige Merkmale, meist Verhaltensweisen, aufzuzählen, stellen wir schnell fest, dass uns nicht nur zahlreiche Gegenbeispiele einfallen, die der “Diagnose” widersprechen, sondern vor allem bemerken wir, dass unsere Merkmale selbst wieder erklärungsbedürftig sind.

Denn oft sind diese Merkmale bzw. Verhaltensweisen – für sich genommen – gar kein Beweis für die Richtigkeit unserer Diagnose. Ist beispielsweise ein Verhalten Ausdruck des Geizes oder der Sparsamkeit? Ist ein emotionaler Ausbruch ein Zeichen der Unbeherrschtheit oder eines gerechten Zorns? Ist gediegene Kleidung Anzeichen einer seriösen oder einer hochstaplerischen Persönlichkeit?

Wer, was, wann, wo, warum?

Diese Bewertungen und Einstufungen können wir nur vornehmen, wenn wir den Kontext des Verhaltens berücksichtigen. Wer hat wann, wo, was getan und warum? Worauf hat er reagiert, was hat er damit beabsichtigt?

Nicht zufällig sind dies genau die Fragen, die mit den “Fünf W” verbunden sind, die jeder Journalist in seiner Grundausbildung kennen lernt: Wer, was, wann, wo, warum.

Dies sind die fünf Fragen, die Journalisten in ihren Artikeln beantworten müssen, damit ihre Geschichte stimmig ist. Und so verhält es sich auch in Sachen “Persönlichkeit”. Um ein stimmiges Bild einer Persönlichkeit zu zeichnen, müssen wir Geschichten erzählen. Und in aller Regel haben die Geschichten nicht nur einen Akteur – nämlich den Menschen, den wir charakterisieren wollen – sondern viele.

Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie eine Persönlichkeit entsteht. Manche meinen ja, die Persönlichkeit stecke in unseren Genen, wie ein Fertigprodukt, das vom Leben nur noch ausgepackt werden müsse. Jede Versuch der Persönlichkeitsbildung wäre dann für die Katz’.

Journalisten, die das Verblüffende lieben, berichten gelegentlich über getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge, die sich nach zwanzig, dreißig Jahren erstmals begegnen und feststellen, dass sie dieselben Vorlieben und Abneigungen, Talente und Schwächen haben. Für dieses beeindruckende Phänomen gibt es allerdings keinerlei wissenschaftliche Beweise. Und es ist auch höchst unwahrscheinlich.

Man bedenke, dass die Zahl der menschlichen Gene recht begrenzt ist, aber die Zahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen die Zahl der Sterne im Universum überschreitet. Wie sollte eine solche gewaltige Fülle von Informationen Platz haben im Humangenom?

Die Natur hat einen anderen Weg gefunden. Der Mensch ist hochgradig lernfähig – und so entnimmt er einen Großteil der benötigten Informationen seiner Umwelt.

Strategien der Lebensbewältigung

Die gilt auch für die Persönlichkeit. Im Normalfall ist die erste und wichtigste Persönlichkeitsbildnerin eines Kleinkinds die Mutter. Im Wechselspiel mit der Mutter lernt das Kind, seinen Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen – in einer Form, die zunehmend auch auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht nimmt. Und dabei entwickelt sich ein individueller Stil des “in der Welt Seins“.

Später dann treten weitere Persönlichkeitsbildner hinzu: Der Vater, die Geschwister, die Spielkameraden, Mitschüler, Lehrer, Pfarrer, Trainer im Sportverein, Professoren – und nicht zu vergessen die Phantome unserer schönen, neuen Fernsehwelt.

All diese realen und fiktiven Personen sind Vorbilder, nach denen wir unsere Persönlichkeit formen. Sie sind oft aber teilweise auch Spiegel, die uns Rückmeldung geben über unser Verhalten und die uns helfen, es besser an andere Menschen und wechselnde Situationen anzupassen.

Und so ist die Persönlichkeit nicht nur, aber auch eine Strategie der Lebensbewältigung. Sie wird geformt durch die Einflüsse und Rückmeldungen aus unserer Umwelt. Selbstverständlich spielen auch die Erbanlagen eine gewisse Rolle. Sie haben in etwa dieselbe Funktion wie angeblich die Sterne in der Astrologie. Sie machen geneigt, aber sie zwingen nicht. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass wir bestimmte Lebensbewältigungsstrategien entwickeln und andere nicht.

Man könnte nun fragen, warum unsere Persönlichkeit in aller Regel relativ stabil wirkt, wenn sie nicht genetisch verankert ist. Warum bevorzugen wir nicht heute diese, morgen jene Strategie der Lebensbewältigung?

Die Antwort darauf ist sehr simpel. Es ist die Macht der Gewohnheit. Gewohnheiten entstehen auch dann, wenn die entsprechenden Handlungen nicht durch überwältigenden Erfolg gekrönt werden. Sie müssen einfach nur in die Landschaft passen und unsere Bedürfnisse in einem halbwegs zufrieden stellenden Maße befriedigen. Dieser Punkt wird insbesondere von den behavioralen Theorien der Persönlichkeitsentwicklung betont, mit denen ich in dieser Hinsicht übereinstimme.

Und so sind auch die sog. Persönlichkeitsstörungen aus meiner Sicht (die ich natürlich nicht beweisen kann) Strategien zur Bewältigung des Lebens. Sie sind oft nicht gerade Formen der Meisterung des eigenen Geschicks, aber dennoch passen sie in die Landschaft und befriedigen halbwegs die eigenen, oft sehr reduzierten Bedürfnisse.

So gibt sich der Narzisst nicht selten sogar mit feindseligen Reaktionen seiner Umwelt zufrieden, denn immerhin sind sie ja auch eine Form der Beachtung, die er braucht wie der Vampir das Jungfrauenblut.

Selbstverständlich sind Persönlichkeitsstörungen (was immer dies im Detail sein mag) keine optimale Lebensbewältigung. Deshalb ist ihre Anwendung häufig mit gesteigertem Stress verbunden. Stress aber vermindert unsere Fähigkeit zur Umsicht und zum Überblick.

Daher ahnen viele Menschen mit diesen sog. Persönlichkeitsstörungen, dass etwas schief läuft in ihrem Leben. Aber sie klammern sich dennoch an ihre Verhaltensmuster, sie können nicht über ihren Schatten springen. Denn alle Alternativen, die sie bewusst oder unbewusst für realisierbar erachten, sind – so ist ihre offene oder uneingestandene Befürchtung – noch deutlich schlechter, wenn nicht verheerend, lebensbedrohlich.

Selbst die – aus Sicht der Mitmenschen – allerschauerlichsten Persönlichkeitsstörungen sind – subjektiv betrachtet – für den Betroffenen die beste Wahl. Und wenn ihn dann der gesunde Kern seiner Seele in eine Psychotherapie drängt oder der Druck seiner Umwelt, dann wird er vielleicht oberflächlich kooperieren, der Behandlung aber unbewusst Widerstand entgegen setzen.

Es gibt allerdings auch sog. Persönlichkeitsstörungen, auf die diese Psycho-Logik nicht zutrifft. Sie kann vor allem die Psychopathie, Soziopathie, die antisoziale Persönlichkeitsstörung nicht erklären. Bei den davon Betroffenen spielt die Angst keine Rolle; vielmehr ist die Unfähigkeit, sich angemessen zu fürchten, einer der wichtigsten Gründe für das Verhalten dieser “Monster”.

Bei den meisten anderen Persönlichkeitsstörungen aber ist die Angst die treibende Kraft, die dem störenden Verhaltensmuster zugrunde liegt und die den Widerstand gegen eine Veränderung motiviert. Selbst die – aus Sicht der Mitmenschen – schlimmsten Persönlichkeitsstörungen sind – subjektiv betrachtet – für den Betroffenen die beste Wahl. Sie reduziert die – oft unbewusste – Angst unter den gegebenen Umständen am besten.

Beziehungsstörungen

Wovor aber fürchten sich die “Persönlichkeitsgestörten”? Auch vor Ihnen, lieber Leser! Sie fürchten sich vor ihren Mitmenschen. Sie sind heillos verwirrt, konsterniert, ratlos. Im Spiegel der anderen, diese zum Teil auch als Vorbild nehmend, haben sie ihre Strategie der Lebensbewältigung entwickelt – und was ist der Dank?

Der Begriff “Persönlichkeitsstörungen” ist im Grunde irreführend. Gestört ist nämlich nicht die Persönlichkeit, sondern gestört sind die Beziehungen. Gestört sind die Beziehungen zu Eltern, Lebenspartnern, Kameraden, Kollegen, Vorgesetzten. Gestört sind soziale Systeme, nicht Individuen.

Dies erkennt man sehr schnell, wenn man Geschichten erzählt. Solange man versucht, Persönlichkeiten ins Korsett psychiatrischer Manuale, psychodiagnostischer Schemata zu zwängen, wird einem nicht auffallen, dass sich dieses Problem nicht erschöpfend auf der Ebene eines Individuums abhandeln lässt.

Sobald man aber beginnt, die “Persönlichkeitsstörungen” in Form von Geschichten zu erarbeiten, zeigt sich schnell ein anderes, vielschichtigeres Bild.

Das liebe Geld

Die zeitgenössische Psychotherapie und Psychiatrie verweigern sich dieser Sicht der Dinge. Und dies nicht aus böser Absicht oder Dummheit, sondern der Not gehorchend. Zwar kann man in Grenzen auf das Umfeld eines “Betroffenen” einwirken – und dies geschieht ja auch in der Familientherapie – aber diese Grenzen sind doch eng gezogen.

Einfacher ist da der auf das Individuum bezogene Ansatz. Psychopharmaka sind schnell verschrieben, und psychotherapeutische Sitzungen lassen sich leicht verwirklichen. Ob’s hilft?

Ja, es hilft. Aber kaum mehr als ein Placebo. Oft bleibt sogar nur der Placebo-Effekt. Und so dienen diese Veranstaltungen vor allem der Gewissensberuhigung in einer Gesellschaft, die ihre grundlegenden psycho-sozialen Probleme nicht lösen will oder kann.

Strategien zur Bewältigung des Lebens werden selbstverständlich wie jedes Verhalten durch Verstärker geformt. Der allgemeine Verstärker ist das Geld. Das Geld spielt auch bei den sog. Persönlichkeitsstörungen eine große Rolle, direkt und indirekt.

Ein Beispiel: Ein Mensch mit einer sog. Selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung wird am Arbeitsplatz gemobbt. Die treibende Kraft ist ein Kollege, der einen Freund hat und es gern sähe, wenn dieser Freund anstelle des Gemobbten des Position im Unternehmen einnehmen würde. Der Gemobbte verschafft sich endlich durch Kündigung Erleichterung und wird dafür nicht nur durch Stress-Reduktion, sondern auch noch durch Arbeitslosenunterstützung, ggf. auch durch eine Abfindung verstärkt. Diese Erfahrung führt zu einer weiteren Verfestigung der sog. Persönlichkeitsstörung. Sein Verhalten ist selbstunsicherer als jemals zuvor, denn nun ist er ja arbeitslos und nichts mehr wert; gut, dass er wenigstens noch seine Arbeitslosenunterstützung hat.

Geld spielt als allgemeines Äquivalent fast jeder Art von Verstärkung eine zentrale Rolle in der Steuerung menschlichen Verhaltens – und daher entwickeln sich die sog. Persönlichkeitsstörungen nicht unabhängig vom jeweiligen Wirtschaftssystem. Gilt dieses System als effektiv, dann werden die Persönlichkeitsstörungen u. a. psychische Phänomene als “Kollateralschäden” hingenommen. Und dann ist es natürlich schwierig, wenn nicht unmöglich, Interventionen zur Lösung des Problems einzuleiten, die wirksamer wären als Pillen oder individuelle Psychotherapie. (Mit dem Zusammenhang zwischen Wirtschaftssystem und “Persönlichkeitsstörungen) habe ich mich beispielhaft in einem Betrag zum Narzissmus auseinandergesetzt.

Was tun?

Was aber nützen diese Einsichten den Betroffenen, also allen Akteuren in gestörten sozialen Systemen? Wenn erst das Kind in den Brunnen gefallen ist, wenn einer also zum Störenfried erklärt wurde, damit die anderen ihre Ruhe haben, dann ist es für den “Persönlichkeitsgestörten” oft schon zu spät.

Sicher, manche eignen sich besser für die Rolle des “Schwarzen Schafs” als andere. Bei manchen bleibt der “Schwarze Peter” einfach immer wieder hängen. Dennoch: Es kann im Prinzip jeden treffen. Und darum muss auch jeder vorsorgen.

Wer in sechs Wochen einen Marathon-Lauf gegen eine starke Konkurrenz gewinnen will, tut gut daran, vorher zu trainieren. Wer nicht unter die Räder kommen will in diesem Spiel, das idiotischerweise “psychische Krankheit” heißt, der übe sich beizeiten.

Es gibt viele Schutzmechanismen, die wir entwickeln können. Der wichtigste ist die Meisterung der Angst vor den Mitmenschen. Wenn sich dieses Gift erst einmal in unsere Seele gesenkt hat, dann werden wir uns über kurz oder lang in einer Weise verhalten, die anderen, nicht wohlmeinenden Zeitgenossen Ansatzpunkte gibt, uns als gestört, verrückt, psychisch krank, abartig etc zu stigmatisieren. Das muss ich nicht weiter ausführen.

Allerdings sollte man sich nicht allein darauf verlassen, dass seelisches Muskeltraining schon die nötige Kraft erzeugen wird, um allen Widrigkeiten des Daseins zu trotzen. Wer sich auch juristisch davor schützen möchte, irgendwann einmal gegen den eigenen Willen psychiatrisch behandelt zu werden, sollte eine vernünftige Patientenverfügung unterschreiben.

Anmerkungen

(1) Vul, E. et al. (2009). Puzzlingly High Correlations in fMRI Studies of Emotion, Personality, and Social Cognition. Perspectives on Psychological Science, Vol. 4, No. 3, 274-290. Es handelt sich hier um eine Analyse einschlägiger empirischer Studien, verbunden mit einer Befragung von Forschern; Kernsatz: “Although the method sections of articles in this area did not provide much information about how analyses were being done, a survey of researchers provided a clear and worrisome picture. Over half of the investigators in this area used methods that are guaranteed to offer greatly inflated estimates of correlations.”

(2) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

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Die Effizienz der Psychotherapie

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Firlefanz

Wenn es Menschen nach einer Psychotherapie besser geht als zuvor, so freut mich dies natürlich aufrichtig. Dennoch gestatte ich mir die Dreistigkeit, den Wermutstropfen kritischer Reflexion wohlwollend in den süßen Wein des Heilungserlebens zu gießen – und zwar in der Gewissheit, dass

  • er den Genuss nicht beeinträchtigen wird und, mehr noch,
  • die Hoffnung als berechtigt gelten darf, dass er, der Wermutstropfen, durch seine Kontrastwirkung den Wohlgeschmack und die Erfahrung der Süße sogar abrundet und intensiviert.

Wer zum Abschluss einer Psychotherapie so hoch gestimmt ist, als höre er bereits aus der Ferne das zarte Klingen der Glöcklein am Schlitten des Weihnachtsmannes, den könnte sogar beißender Spott über die Narretei einer solchen “Behandlung” nicht irritieren. Doch nichts liegt mir ferner als Sarkasmus oder Hohn.

Gründe

Die Gründe, sich in eine Psychotherapie zu begeben, sind erstaunlich vielfältig und unterschiedlich:

  • Ein Mensch leidet seelisch, ist verzweifelt, kennt die Gründe für sein Leiden nicht und wenn er sie kennt, so weiß er dennoch nicht, wie er sein Leiden aus eigener Kraft überwinden soll.
  • Ein Mensch hat keinen Anlass zur Klage über seine seelische Befindlichkeit, aber Mitmenschen meinen, er hätte es sich, durch schlechtes Betragen in der Vergangenheit, redlich verdient, einmal auf der Couch des Psychoanalytikers die Seele baumeln zu lassen.
  • Ein Mensch ist gelangweilt, mutlos und verzagt und möchte seinem Leben eine neue Richtung geben, weiß jedoch noch nicht, wohin die Reise gehen soll.
  • Ein Mensch ist gelangweilt und sucht einen Zeitvertreib bzw. jemanden zum Reden.
  • Ein Mensch fühlt sich vernachlässigt und wünscht sich mehr Aufmerksamkeit für seine Befindlichkeiten.

Aus all diesen und noch viel mehr Gründen gehen Menschen in eine Psychotherapie. Ihnen ist gemeinsam, dass ihre momentane Lage, der Ist-Zustand, nicht ihren Wünschen entspricht. Der Ist-Zustand ist entweder im Licht des eigenen Urteils unbefriedigend oder aber aber der Betroffene gibt dem enervierenden Druck von Mitmenschen, denen er missfällt, schlussendlich nach. Die Psychotherapie soll nun den Ist-Zustand überwinden und einen mehr oder weniger klar erkannten und definierten Soll-Zustand herstellen.

Diagnose

Der Mensch geht zu einem Psychotherapeuten und dieser stellt ihm eine Diagnose. Selbst wenn der Mensch diese Diagnose akzeptiert, bedeutet dies natürlich nicht, dass bei ihm eine Störung oder Krankheit mit objektiven Mitteln festgestellt wurde. Es sind sich jetzt nur zwei oder (zählt man die wohlmeinenden Mitmenschen noch hinzu) mehrere Personen einig, dass etwas nicht stimmt und gerichtet werden muss. Doch das Unstimmige hat nun einen Namen; also muss die Kasse bezahlen.

Behandlung

Die Psychotherapie nimmt ihren Lauf. Mal geht’s bergauf und mal bergab; doch im günstigsten Fall ist der Patient über kurz oder lang übern Berg und neue Horizonte tun sich vor ihm auf. Dort in der Ferne, und, ach, zum Greifen nahe schon, glitzert der offene Ozean unter einer wärmenden Sonne, die aus wolkenlos blauem Himmel strahlt. Der Patient ist geheilt. Nicht nur er ist zufrieden, auch der Therapeut schüttelt ihm mit heiterer Miene zum Abschied die Hand – und erst die wohlmeinenden Zeitgenossen, wie froh sie sind.

Erfolg

Allein: Auch dieser schöne Erfolg wird nicht auf den Skalen von Messgeräten sichtbar; er ist nur eine von mehreren Menschen geteilte Einschätzung. Selbst wenn während der Psychotherapie gar nichts Einschneidendes geschehen wäre, könnte sich diese Übereinstimmung einstellen, denn schließlich ist nur zu oft der Wunsch der Vater des Gedankens. Man kann sich die Welt nicht nur schöntrinken, sondern auch schönpsychotherapieren.

Nun mag man einwenden, es gäbe doch auch objektive Kriterien des Erfolges. Nehmen wir einmal an, der Mensch habe sich einer Psychotherapie unterzogen, weil er zuvor unter Stress zu häufig aufbrauste, seine Affektkontrolle verlor und Mitmenschen beleidigte, so dass diese meinten: Da es an ihnen nicht liegen könne, müsse der Mensch wohl psychisch krank sein. Der Psychotherapeut erfragte zu Beginn der Therapie die Häufigkeit des Aufbrausens und siehe da: In den ersten Wochen nach dem Ende der Psychotherapie braust unser Mensch deutlich seltener oder vielleicht auch gar nicht mehr auf.

Dies ist vermutlich für Mensch und Mitmenschen gleichermaßen erfreulich; doch solch Erstaunlichkeit als Erfolg der Psychotherapie zu verbuchen, wäre doch sehr gewagt, sofern man sich im Rahmen des logischen Denkens bewegen möchte. Denn ist gibt schließlich eine hübsche Reihe anderer Erklärungen für dieses Phänomen:

  • Während der Psychotherapie wirkten andere, außertherapeutische Einflüsse auf den Patienten ein, die für die Verringerung der Rate des Aufbrausens verantwortlich waren.
  • Die Häufigkeit des Aufbrausens unterliegt bei diesem Menschen natürlichen Schwankungen; er befand sich zu Beginn der Behandlung auf dem Weg zum Scheitelpunkt der Häufigkeit des Aufbrausens und am Ende der Therapie in einer Abwärtsbewegung zur Talsohle. Mit anderen Worten: Dieser Mensch wäre auch ohne Psychotherapie in den ersten Wochen danach weniger aufbrausend gewesen.
  • Die Verminderung des Aufbrausens war ein Placeboeffekt. Der Mensch glaubte fest an den Erfolg der Therapie. Nicht die Therapie selbst also, sondern seine Überzeugung von ihrer Wirksamkeit reduzierten seine Neigung zum Verlust der Affektkontrolle.
  • Der Mensch, sein Therapeut und seine Mitmenschen legten bei ihren Zählungen der Häufigkeit des Aufbrausens vor der Behandlung andere Maßstäbe an als nach ihr. Der Wunsch, dass die Psychotherapie ein Erfolg sein möge, führte dazu, dass nach der Behandlung gewisse Zustände, die vorher als Aufbrausen gezählt worden wären, hinterher nicht mehr registriert wurden.

Ich will es bei diesen vier Alternativerklärungen belassen, um den Leser nicht zu ermüden; denn die Zahl kritischer Einwände gegen den angeblichen Erfolg einer solchen Behandlung ist nur durch die Fantasie des Kritikers begrenzt.

Aus diesem Grunde kann über den Erfolg eines Psychotherapieverfahrens nur eine methodisch saubere empirische Studie entscheiden – mit Zufallsauswahl von Patienten und Therapeuten sowie mit einer Kontrollgruppe, die eine Placebo-Behandlung enthält, und einer weiteren Gruppe, die nicht behandelt wird (No-Treatment-Group).

Zufriedenheit

Den geheilten Patienten werden solche Feinheiten allerdings nicht weiter bekümmern, denn schließlich geht es ihm jetzt ja viel besser und alles andere kann ihm egal sein. Er ist zufrieden, und es ist müßig, mit zufriedenen Menschen darüber zu diskutieren, ob sie zufrieden seien.

Der Zufriedene wird sich auch nicht durch das Argument beeindrucken lassen, dass Zufriedenheit im Allgemeinen nur schwach mit dem Grad der Zielerreichung korreliert. Wen kümmert das, wenn der Psychotherapeut ja so sympathisch war und es einem außerdem viel besser geht? Darauf kommt es an. Man kann schließlich alles auch schlechtreden.

Allerdings hat der geheilte Patient das Problem, die Zufriedenheit nicht nur über Tage, über Wochen, sondern zumindest bis zum Antritt einer weiteren Psychotherapie aufrecht zu erhalten. Nach meinen Beobachtungen verwandeln sich vor allem jene Patienten, die sich ihrer Zufriedenheit recht eigentlich und in ihrem tiefsten Inneren nicht so sicher sind, in leidenschaftliche Missionare für die gute Sache der Psychotherapie. So überzeugt man nicht nur andere, sondern letztlich auch immer wieder sich selbst vom Nutzen dieser psychiatrischen Maßnahme. Dies ist ja auch das Geheimnis der Anonymen Alkoholiker, die auf ähnliche Weise dem Rückfall vorzubeugen trachten (un dies offenbar mitunter sogar erfolgreich).

Täuschung

Ist also Psychotherapie nur etwas für Blöde, die nicht bemerken, dass sie sich selbst belügen und betrügen? Schließlich gibt es, im Licht der empirischen Forschung betrachtet, keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass Psychotherapie einen eigenständigen Effekt besäße, der sich nicht auf den Glauben und die Erwartungen von Patienten, Mitmenschen und Therapeuten zurückführen ließe.

Denn, Hand aufs Herz: Wäre es unter diesen Umständen und angesichts der Heilkraft des Glaubens, nicht intelligenter, nicht zielführender, an sich selbst zu glauben, anstatt an Psychotherapien und Psychotherapeuten?

Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheint. Denn an sich selbst zu glauben ist leichter gesagt als getan. Nach meiner Erfahrung tun sich die meisten Psychiatriepatienten damit von Haus aus schwer. In aller Regel fällt es nur jenen Psychiatriepatienten leicht, an sich selbst zu glauben, die sich unter dem Druck wohlmeinender Mitmenschen, wider besseres Wissen, in eine Psychotherapie begeben haben.

Aus diesem Grunde brauchen Menschen mit geringem Selbstvertrauen, auch wenn sie nicht blöde sind, vielleicht eine Psychotherapie, weil sie nicht an sich selbst glauben können. Wäre dies so, dann würde eine solche Lösung das Selbstbewusstsein des Betroffenen auch nicht gerade stärken. Schade eigentlich, denn ohne gut entwickeltes Selbstbewusstsein ist auch die Freude über eine gelungene Psychotherapie irgendwie kalter Kaffee, wenn Sie mich fragen, lieber Leser.

Letztlich läuft es darauf hinaus, dass eine Psychotherapie sogar das Selbstbewusstsein schwächt, weil sie die Neigung fördert, die psychotherapeutischen Künste des Therapeuten oder die Brillanz seiner Methode für die Selbstveränderung verantwortlich zu machen, obwohl diese ausschließlich vom Patienten selbst bewirkt wurde. Paradoxerweise schadet Psychotherapie dem Selbstbewusstsein umso mehr, je “erfolgreicher” sie bei oberflächlicher Betrachtung ist.

Feinstoff

Doch helfen solche nüchternen Betrachtungen wie die hier vorgetragenen den leidenden Menschen wirklich weiter? Können sie überhaupt die feinstofflichen Wirklichkeiten, um die es hier geht, auch nur im Entferntesten erfassen? Solche Fragen sind natürlich berechtigt, denn schließlich ist Verstand nicht alles; es gibt ja auch noch Gefühl, Intuition und die höheren Wirklichkeiten erhabener Kräfte. Allein, auch dort, wie überall, muss sich letztlich doch alles praktischen Erwägungen fügen.

Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie hätten ein Aua am schlimmen Finger und führen damit nach Lourdes, um Heilung zu finden. Was auch geschieht. Allein, und so etwas ist ja nicht undenkbar, stellen Sie sich nunmehr vor, sie fielen wenig später vom Glauben ab. Da würden sie doch sofort wieder krank wegen ihres schlechten Gewissens, weil sie sich so undankbar gezeigt haben. Und schon hätten sie wieder ein Aua am schlimmen Finger und das Spiel ginge von vorn los. Wäre es da nicht klüger, rein praktisch gedacht, sich der Tretmühle des Esoterischen entwindend, zum Thron der Vernunft emporzusteigen, sich auf die eigene Kraft zu besinnen und sich, das Aua am schlimmen Finger betreffend, der Heilkraft empirisch erhärteter Verfahren anzubefehlen? Ich mein’ ja nur.

Eurythmics

Sweet dreams are made of this. Es freut mich natürlich, wenn es Menschen nach einer Therapie besser geht als zuvor. Wenn sie danach den Hauptpreis in der Tombola gewinnen und steif und fest behaupten, dies hätten sie ihrer Psychotherapie oder ihrem guten Therapeuten zu verdanken, dann soll mir das auch recht sein. Who am I to disagree? Auch wenn diese glücklich Geheilten ehrfurchtsvoll zu ihrem Psychotherapeuten aufschauen, bis Genickstarre eintritt, hätte ich nichts dagegen einzuwenden. Everybody’s looking for something.

Es haben sich ja auch Fakire, die stundenlang auf Nagelkissen sitzen, unsere Bewunderung verdient. Und die Leute im Big-Brother-Container oder im Dschungelcamp zeigt sogar das Fernsehen; da muss also etwas dran sein. Es wäre unfair, Psychotherapien mit einer Elle zu messen, die nicht von dieser Welt ist. Dies möge der geneigte Leser am Ende meiner Zeilen über erfolgreiche Psychotherapien bedenken. Überdies: Die Kasse, lieber Leser, übernimmt die Therapiekosten und Beiträge zahlen Sie sowieso. Logisch: Da muss man nehmen, was man kriegen kann.

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Der Physikalist Sigmund Freud

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Manche meinen, die Psychoanalyse sei eine hermeneutische Disziplin, eine geisteswissenschaftlich fundierte Kunst der Sinndeutung. Sie wird daher vielfach als weiche, menschliche Alternative zum “biologischen” Ansatz der modernen, naturwissenschaftlich orientierten Psychiatrie betrachtet.

Nur wenige wissen, dass sich Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, als Naturforscher betrachtete (er war von Haus aus Neurologe) und dass er von denselben Grundannahmen ausging wie die heutigen Neurowissenschaftler.

Zur Frage des Verhältnisses von

  • psychischen Vorgängen wie Denken, Fühlen etc.
  • und den materiellen Grundlagen

hat er sich in seiner Schrift “Traumdeutung” unmissverständlich geäußert. Dort betrachtet er die mentalen Prozesse als vollständig determiniert durch nicht-psychische Systeme.

“Alles, was Gegenstand unserer inneren Wahrnehmung werden kann, ist virtuell, wie das durch den Gang der Lichtstrahlen gegebene Bild im Fernrohre. Die Systeme aber, die selbst nichts Psychisches sind und nie unserer psychischen Wahrnehmung zugänglich werden, sind wir berechtigt anzunehmen, gleich den Linsen des Fernrohres, die das Bild entwerfen. In der Fortsetzung dieses Gleichnisses entspräche die Zensur zwischen zwei Systemen der Strahlenbrechung beim Übergange in ein neues Medium.”

Da sich Freud der Grenzen neurowissenschaftlicher Erkenntnis zu seiner Zeit sehr wohl bewusst war, gebrauchte er Gleichnisse. Aber er wählt diese Vergleiche gezielt aus, um seinen naturwissenschaftlichen Standpunkt klarzumachen. Ein “virtuelles Bild” ist bekanntlich ein gesetzmäßiger, physikalischer Sachverhalt. In der Traumdeutung heißt es daher unmissverständlich:

“Selbst wo das Psychische sich bei der Erforschung als der primäre Anlass eines Phänomens erkennen lässt, wird ein tieferes Eindringen die Fortsetzung des Weges bis zur organischen Begründung des Seelischen einmal zu finden wissen. Wo aber das Psychische für unsere derzeitige Erkenntnis die Endstation bedeuten müsste, da braucht es darum nicht geleugnet zu werden.”

Man darf Freud daher als Physikalisten reinsten Wassers betrachten. Unter Physikalismus versteht man eine Weltanschauung, nach der alles, was existiert, physisch ist. Die Tatsache, dass sich seine Bücher oft wie Erzählungen auf hohem literarischen Niveau lesen, täuscht darüber hinweg, dass es sich dabei um naturwissenschaftliche Arbeiten handelt.

Manche, die sich vom Schwung und der Eleganz dieser Erzählungen mitreißen lassen, sind deswegen nicht in der Lage, den wissenschaftlichen Gehalt der Texte Freuds voll auszuschöpfen. Bei diesen Erzählungen handelt es sich nämlich um wortgewaltige Vermessungen der vorläufigen Endstation.

1933 erschien die “Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse”; in diesem Band findet sich ein Aufsatz mit dem Titel “Über eine Weltanschauung”. Dort setzt sich Freud, in wenig schmeichelhaften Worten mit Religion und Philosophie auseinander und lobt die Naturwissenschaften.

In diesem Text bringt er auch einige programmatische Sätze zu Papier, die kaum misszuverstehen sind:

  • “Geist und Seele sind in genau der nämlichen Weise Objekte der wissenschaftlichen Forschung wie irgendwelche menschenfremden Dinge.”
  • “Nimmt man aber die Erforschung der intellektuellen und emotionalen Funktionen des Menschen und der Tiere in die Wissenschaft auf, so zeigt sich, dass an der Gesamteinstellung der Wissenschaft nichts geändert wird, es ergeben sich keine neuen Quellen des Wissens oder Methoden des Forschens.”

Es dürfte somit wohl klar sein, dass sich “psychoanalytische Hermeneutiker” nicht auf Freud berufen können, denn in keiner Phase seines Lebens hat er obige Einstellung in Zweifel gezogen.

Hier wird auch deutlich, dass Freud dem Mentalen keinen eigenständigen Status zuerkennt. Geist und Seele sind, so schreibt Freud, in genau der nämlichen Weise Objekte der wissenschaftlichen Forschung wie menschenfremde Dinge. Hätte das Mentale aber einen eigenständigen Status, dann wäre es eine neue Quelle des Wissens, was Freud aber verneint.

Manche Hermeneutiker behaupten, Freud sei im Laufe seines Lebens von seinem ursprünglichen, naturwissenschaftlichen Verständnis abgerückt. Diese Behauptung wird jedoch durch den Text “Über eine Weltanschauung” eindeutig widerlegt. Irgendwelche menschenfremden Dinge erforscht man nicht hermeneutisch.

Es ist natürlich verführerisch, zumindest das zentrale Charakteristikum der Psychoanalyse, die Deutung nämlich, im Sinne der Hermeneutik zu verstehen.

Doch Freud betont ausdrücklich, dass die Deutung exakt den technischen Regeln zu folgen habe, die der Theorie entsprechen. Und diese Theorie ist eine naturwissenschaftliche, eine erklärende, keine geisteswissenschaftliche Grundlage für das Verstehen geistiger Produktionen des Menschen.

Wenn beispielsweise das Nachlassen der Ideenproduktion in der freien Assoziation als Anzeichen von Widerstand gedeutet wird, so beruht diese Deutung eindeutig auf der Beobachtung von Verhalten, und nicht auf irgendwelchen Eigentümlichkeiten eines Textes.

Die von Freud dem Analytiker empfohlene gleichschwebende Aufmerksamkeit betont die besondere Bedeutung der Beobachtung des Verhaltens in der Psychoanalyse. Diese muss jeder Deutung vorangehen.

Freud wird in seinem Vortag “Über eine Weltanschauung” nicht müde hervorzuheben, dass das analytische Vorgehen dem naturwissenschaftlichen Procedere weitgehend entspricht und der einzige Unterschied darin besteht, dass die Psychoanalyse auf das Experiment verzichten muss.

Für Freud ist dieses beobachtbare Verhalten selbstverständlich durch organische, also neuronale Prozesse fundiert. Doch da diese nicht bekannt sind, ist die Deutung des psychischen Gehalts Endstation.

Man darf Freud dankbar sein, dass er seine Position so unmissverständlich formuliert hat, denn eine Psychologie, eine Psychotherapie gar, die völlig beliebig und unkontrolliert über den Menschen und seine Seele fabulieren darf, ist wirklich das letzte, was die Menschheit in einer von fragwürdigen Ideologien durchseuchten Welt braucht. Die Psychologie muss sich zur Einhaltung der Regeln verpflichten, die auch in anderen und insbesondere in den Naturwissenschaften obligat sind.

Da Freud Arzt war und sein Interesse dementsprechend der Heilung von Kranken galt, wodurch er sein Einkommen generierte, hat sich in seine Theorie allerdings ein Denkfehler eingeschlichen, der noch immer der Korrektur harrt. Seiner Profession entsprechend, meinte er, Muster des Verhaltens und Erlebens in kranke und gesunde einteilen zu können.

Dabei hat er seine eigene Erkenntnis missachtet, dass nämlich alles menschliche Verhalten, nicht nur das kranke, sondern auch das gesunde eine organische Grundlage hat. Diese ist aber weitgehend noch unbekannt. Das war zu Freuds Zeiten so und das ist heute nicht anders. “Krank” könnte eine “Störung” nur genannt werden, wenn man die organische Grundlage identifiziert hätte. Dies ist bei den “psychischen Krankheiten” aber nicht der Fall.

Und selbst wenn man eine organische Grundlage gefunden hätte, würde dies zur Diagnose einer Krankheit nicht ausreichen. Schließlich hat auch das “gesunde” Verhalten und Erleben eine körperliche Grundlage. Zwischen “gesund” und “krank” könnte man nur auf Grundlage eines Modells des einwandfrei (seiner Natur entsprechend) funktionierenden Nervensystems unterscheiden. Von einem solchen Modell ist die heutige Neurowissenschaft und Psychiatrie jedoch Lichtjahre entfernt.

Für mich ist die Psychoanalyse jener Teil der Psychologie, der das Unbewusste zum Thema hat. Sie ist aber aus meiner Sicht keine legitime Methode zur Behandlung von Kranken – denn hypothetisch Kranke kann man nur hypothetisch behandeln – und dafür sollte man, wenn man noch alle Tassen im Schrank hat, kein echtes Geld ausgeben.

***

Siehe auch: Pflasterritzenflora: Psychiatrie, Physikalismus

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Anatomy of an Epidemic

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Eine sehr sachliche, empirisch gestützte Analyse des gegenwärtigen Zustandes der Psychiatrie stammt aus der Feder des Medizinjournalisten Robert Whitaker:

Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America (New York: Broadway Paperbacks, 2010) (Amazon)

John Horgan schrieb im Scientific American über dieses Buch:

“Whitaker hat mich davon überzeugt, dass die amerikanische Psychiatrie, in Absprache mit der Pharmaindustrie, den größten Fall von Iatrogenese – schädlicher medizinischer Behandlung – in der Geschichte verübt haben könnte (1).”

Ich empfehle dieses Buch mit großem Nachdruck, weil sich die Analyse Whitakers aus meiner Sicht fast 1:1 auf deutsche Verhältnisse übertragen lässt und weil Derartiges angesichts der verursachten Kosten und Schäden jeden Steuerzahler und jeden Versicherten nicht kaltlassen kann.

Für die Huffington Post bat der Psychologe Bruce E. Levine den Autor der “Anatomy of an Epidemic”, seine Befunde kurz zusammenzufassen. Whitaker sagt u. a.:

“Die Forschungsliteratur erzählt eine bemerkenswert in sich geschlossene Geschichte: Obwohl psychiatrische Medikamente kurzfristig effektiv sein mögen, steigern sie die Wahrscheinlichkeit einer Chronifizierung auf lange Sicht (2).”

Wussten Sie, dass

  • von allen Methoden zur Linderung von Depressionen die Behandlung mit Psychopharmaka am schlechtesten abschneidet
  • es Schizophrenen, die langfristig mit Neuroleptika behandelt wurden schlechter geht als Schizophrenen, die diese Substanzen gar nicht oder nur vorübergehend eingenommen haben
  • Depressive, die wegen dieser Störung behandelt wurden, wesentlich häufiger arbeitsunfähig wurden als solche, die nicht behandelt wurden
  • Neuroleptika Hirnstörungen hervorrufen, die den Zustand von Schizophrenen verschlechtern
  • Antidepressiva langfristig Depressionen verstärken
  • der Entzug von Benzodiazepinen (Mittel zur Beruhigung und zum Schlafen) die Betroffenen wacher, entspannter und weniger ängstlich macht
  • Die Störungsverläufe bei “bipolaren Patienten” vor Einführung der medikamentösen Behandlung wesentlich positiver waren als danach
  • Depressive, die medikamentös behandelt werden, häufiger in die Frührente gehen als solche, die nicht behandelt wurden
  • “Bipolare Patienten”, die mit Psychopharmaka behandelt wurden, dieselben kognitiven Defizite entwickeln wie Schizophrene, was vor der psychopharmakologischen Ära nicht der Fall war
  • langfristige Nutzer von Benzodiazepinen kognitive Einschränkungen erleiden
  • Depressive ohne Medikamente deutlich kürzere depressive Phasen erdulden müssen als mit Medikamenten
  • Schizophrene ohne Medikamente langfristig häufiger wieder “normal” werden als mit Neuroleptika
  • sich die Symptome bei Kindern mit Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung durch die einschlägigen Medikamente schon mittelfristig verschlechtern
  • bei “bipolare Patienten” der stärkte Prädiktor für eine Verschlechterung ihres Zustandes die Gabe von Antidepressiva ist?

Wenn Sie all dies bereits wussten, dann sollten Sie das Buch von Whitaker kaufen, um es an Bedürftige zu verschenken, die all dies noch nicht wissen. Wenn Sie all dies noch nicht wussten, dann sollten Sie das Buch von Whitaker kaufen, denn mir, ehrlich gesagt, würde ich das nicht glauben, da wollte ich meine Behauptungen dann schon in einem kompetenten Sachbuch bestätigt finden. Wenn Sie all dies nicht glauben, sollten Sie das Buch von Whitaker kaufen, damit Sie die Studien, auf die sich Whitaker beruft, widerlegen können. Viel Spaß dabei.

Egal, was Sie glauben oder nicht glauben, wissen oder nicht wissen: Kaufen Sie dieses Buch, aus welchen Gründen auch immer: Kaufen Sie es!

Es enthält im Übrigen noch wesentlich mehr kritische Gesichtspunkte, als ich oben aufgelistet habe. Und es beruht nicht etwa auf Meinungen des Autors oder anderer Experten, sondern auf einer gründlichen Analyse einschlägiger empirischer Studien. Im Blog “Mad in America” finden sich Links zu einer Auswahl dieser Studien, die im Netz heruntergeladen werden können.

In letzten Teil seines Buches beschreibt Whitaker Alternativen zur gegenwärtigen Mainstream-Psychiatrie. Diese wurden nicht von Scientology entwickelt, auch nicht von irgendwelchen anderen “Glaubensgemeinschaften”, sondern von Psychiatern. Sie wurden auch erfolgreich getestet. Die Erfolge sind sogar beeindruckend. Doch sie konnten sich nicht durchsetzen. Wenn sie wissen wollen, warum: Dann lesen Sie dieses Buch.

Nebenbei: Whitaker ist kein Scientologe, sondern er beschreibt die Rolle dieser Sekte sehr präzise. Scientologen fungieren offenbar als “nützliche Idioten” für Psychiatrie und Pharmaindustrie. Wie leicht kann man doch Kritik entwerten, wenn man den Kritiker als Scientologen brandmarkt. Wenn es Scientology nicht gäbe, dann müssten Psychiatrie und Pharma-Industrie diese Sekte erfinden.

PS: Inzwischen sind weitere Bücher erschienen, die Whitakers Befunde bestätigen. So schreibt beispielsweise der Mitbegründer der Cochrane Collaboration und Leiter des Nordic Cochrane Centre, der Medizinprofessor Peter C. Gøtzsche in seinem Buch: “Deadly Medicines and Organised Crime“:

“Und ich bin in keiner Weise ‘Antipsychiatrie’. Aber meine Studien in diesem Bereich führten mich zu einem sehr unbequemen Schluss: Unsere Bürger wären viel besser dran, wenn wir alle Psychopharmaka vom Markt nehmen würden, da Ärzte unfähig sind, mit ihnen umzugehen. Es ist unausweichlich, dass ihre Verfügbarkeit mehr Schaden als Nutzen hervorruft (3).”

PPS: Natürlich darf man nicht verschweigen, dass an Whitakers Buch auch vehemente Kritik geübt wurde. Sie stammt von den üblichen Verdächtigen. Wie der Autor selbst seinen Kritikern antwortet, können Sie hier nachlesen.

Anmerkungen

(1) ”Whitaker has persuaded me that American psychiatry, in collusion with the pharmaceutical industry, may be perpetrating the biggest case of iatrogenesis—harmful medical treatment–in history.”

(2) ”The literature is remarkably consistent in the story it tells. Although psychiatric medications may be effective over the short term, they increase the likelihood that a person will become chronically ill over the long term.”

(3) ”And I am not ‘antipsychiatry’ in any way. But my studies in this area lead me to a very uncomfortable conclusion: Our citizens would be far better off if we removed all the psychotropic drugs from the market, as doctors are unable to handle them. It is inescapable that their availability creates mor harm than good.”

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Der kritische Psychiatrie-Konsument

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Werbung

Der Psychiatrie-Konsument wird umworben wie niemals zuvor:

  • Durch Schlagzeilen – beispielsweise folgender Art: “Messerstecher muss in Psychiatrie”, “Wunderpille gegen Depressionen” – wird seine Aufmerksamkeit (A) erregt.
  • Durch Lektüre derartiger Artikel oder durch Recherchen im Internet wird sein Interesse (I) geweckt.
  • Durch Lock-Botschaften, die ein besseres Leben versprechen, wird sein Wunsch (engl. Desire (D)) nach psychiatrischen Produkten und Dienstleistungen angestachelt.
  • Schließlich schreitet er, geschilderten Vorbildern folgend, zur Aktion (A) und sucht eine psychiatrische Praxis auf.

Das AIDA-Modell lässt sich offensichtlich auch auf den Psychiatrie- und Psychopharmaka-Markt anwenden.

Ich weiß, ich weiß: Die Psychiatrie ist ein Rettungsanker für die Verzweifelten; doch auch die Mühseligen und Beladenen haben Anspruch auf Verbraucherschutz. Der kritische Psychiatrie-Konsument ist gut beraten, sich seine Kaufentscheidung gut durch den Kopf gehen zu lassen. Denn deren Konsequenzen werden ihn u. U. ein Leben lang begleiten, wenn nicht verfolgen.

Suggestion

Freud

Freud

Die Psychoanalyse grenzt sich von der Hypnosetherapie u. a. mit der Behauptung ab, ihr Effekt beruhe nicht auf Suggestionen, sondern auf Deutungen. Zwar wird der Suggestion eine gewisse, untergeordnete Rolle bei der “Nacherziehung” des Patienten zugestanden; aber diese psychoanalytische Suggestion unterscheidet sich fundamental von der hypnotischen; denn, so Freud:

“Die hypnotische Therapie sucht etwas im Seelenleben zu verdecken und zu übertünchen, die psychoanalytische etwas freizulegen und zu entfernen.”

Und weiter:

“So wird es uns möglich, aus der Macht der Suggestion einen ganz anderen Nutzen zu ziehen; wir bekommen sie in die Hand; nicht der Kranke suggeriert sich allein, wie es in seinem Belieben steht, sondern wir lenken seine Suggestion, soweit er ihrem Einfluss überhaupt zugänglich ist.”

Dem Einwand, dass man dadurch die Objektivität der psychoanalytischen Erkenntnis gefährde, begegnet Freud wie folgt:

“Die Lösung seiner (des Patienten, HUG) Konflikte und die Überwindung seiner Widerstände glückt doch nur, wenn man ihm solche Erwartungsvorstellungen gegeben hat, die mit der Wirklichkeit in ihm übereinstimmen. Was an den Vermutungen des Arztes unzutreffend war, das fällt im Laufe der Analyse wieder heraus, muss zurückgezogen und durch Richtiges ersetzt werden (3).”

An diesem Selbstverständnis der Psychoanalyse wurde häufig Kritik geübt. Der Psychoanalytiker ruhe nicht, heißt es, bis er dem Analysanden seine Auffassung aufgeschwatzt habe; und diese Auffassung gewinne ihre Überzeugungskraft aus ihrer Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen Konsens, der herrschenden Wirklichkeitsinterpretation. Weniger polemisch formuliert, aber im Kern übereinstimmend mit meine Aussage, findet sich diese Sichtweise der Psychoanalyse beispielsweise in Berger und Luckmanns Buch zur gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit (2).

Deutung

Wenn man sich nicht eines gewissen Wohlwollens gegenüber der Psychoanalyse entschlagen möchte (5), mag man einräumen, dass psychoanalytische Deutungen unter bestimmten Bedingungen durchaus nach menschlichem Ermessen mit der Wirklichkeit im Analysanden übereinstimmen können. Ein Beispiel:

Müller sei Vorsitzender eines Fußballvereins. Schmidt sei der Trainer. Schmidt hat drei Spiele gegen schwache Gegner verloren. Es ist ganz klar, dass er vor dem Rauswurf steht. Nun ist Vorstandssitzung. Müller muss damit rechnen, dass die Mehrheit für die Entlassung von Schmidt stimmen wird. Müller weiß aber auch, dass am nächsten Sonntag ein Spiel gegen den Erzrivalen ansteht. Würde dies gewonnen, wäre Schmidt gerettet. Schmidt ist der Schwiegersohn von Müller. Müller will sich nicht dem Verdacht aussetzen, dass er Schmidt trotz schwacher Leistungen deckt, weil er Ehemann der Tochter ist. Die Vorstandsitzung ist ihm also alles andere als angenehm. Er ist im Stress, als er die Vereinssitzung eröffnet. Nach einer kurzen Eröffnungsrede soll eine Aussprache über das Trainerproblem erfolgen. In seiner Eröffnungsrede gedenkt Müller eines am Vortag verstorbenen Fußballhelden aus den glanzvollen Tagen des Vereins. Die Erinnerungen an die sorgenfreien, schönen Zeiten überfluten ihn und seine Zuhörer. Zum Übergang hatte er sich den Satz ausgedacht: “Hiermit erkläre ich die Aussprache für eröffnet!” Stattdessen aber sagt er: “Hiermit erkläre ich die Aussprache für beendet.”

In diesem Fall ist es keine Suggestion, diesen Versprecher als eine Fehlleistung zu deuten, der die unbewusste Absicht zugrunde lag, den Trainer zu retten. Es gibt nämlich keinen vernünftigen Grund, dieser Interpretation zu widersprechen. Man darf voraussetzen, dass sie einer Wirklichkeit in Müllers Seelenleben entspricht. Der Schluss auf Unbewusstes, die nicht-suggestive Deutung wird möglich, weil sie sich, für ein Individuum aufgrund seiner Situation, nach Abwägung aller Umstände, zwingend ergibt.

Soziale Konstruktion

Selbst bei allergrößtem Wohlwollen wird man nicht voraussetzen dürfen, dass solche zwingenden Interpretationen das Charakteristikum alltäglicher psychoanalytischer Behandlungen sind. Im Allgemeinen dürfte es in einer derartigen Therapie darum gehen, die aus dem Ruder gelaufene Wirklichkeitsauffassung des Patienten wieder dem Konsens der Mehrheit bzw. dem Glaubenssystem des Analytikers (des aufgeklärten Bürgertums) anzupassen – weitgehend unabhängig davon, ob die Deutungen mit Prozessen in seiner Innenwelt übereinstimmen oder nicht. Dass Derartiges nicht erst heute, sondern schon auf der Couch des Altmeisters eine Rolle spielte, davon wusste der “Wolfsmann” Sergei Pankejeff ein Lied zu singen.

Dieser Verdacht, psychoanalytische Behandlung diene vor allem der Korrektur abweichender Auffassungen, darf unbesorgt auf die Psychiatrie insgesamt übertragen werden. Die so genannte “Krankheitseinsicht” ist wohl oft genug nichts weiter als die Übernahme der Auffassung des Psychiaters durch seinen Patienten.

Wenn ein Psychiater einem Patienten beispielsweise sagt, dieser leide an einer Schizophrenie, weil das chemische Gleichgewicht in seinem Gehirn gestört sei, so ist die natürlich eine Suggestion, da es viele vernünftige Gründe gibt, daran zu zweifeln. Denn erstens ist die Diagnose “Schizophrenie” subjektiv, da sie nicht auf objektiven Tests beruht. Und zweitens ist die These des “chemischen Ungleichgewichts” als Ursache der “Schizophrenie” wissenschaftlich nicht erwiesen.

Durch seine “Krankheitseinsicht” signalisiert der Patient, dass er bereit ist, sich in die mit seiner Diagnose – einem strategischen Etikett – verbundenen Maßnahmen zu fügen. Er hat sich, dank “Krankheitseinsicht”, entschieden, die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen, eine Rolle, die gesellschaftlich konstruiert wurde, um mit bestimmten Formen sozialer Abweichung umzugehen.

Dies schließt nicht aus, dass manche Deutungen eines Psychoanalytikers oder Erklärungen eines medikamentös arbeitenden Psychiaters zutreffen können. Aber bekanntlich sind Halbwahrheiten die gefährlichsten Lügen. Kein Weg aus der Irreführung wird beschritten, wenn richtige Einsichten in einen Zusammenhang eingebettet werden, der durch soziale Amnesie (4) gekennzeichnet ist, durch ein absichtsvolles oder fahrlässiges Vergessen der sozio-ökonomischen Verhältnisse, die Menschen eigentümliche Verhaltensmuster aufdrängen.

Vorsicht, Vertreter!

Es gibt keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln, dass ein Konsument psychiatrischer Dienstleistungen oder pharmaindustrieller Produkte  dem Anbieter dieser Leistungen mit dergleichen Skepsis begegnen sollte, die auch gegenüber Gebrauchtwagenhändlern, Staubsaugervertretern, Kandidaten politischer Parteien, Sektenpredigern, die im Grunde gegenüber jedem angebracht ist, der etwas zu verkaufen hat.

Wenn ich einen Staubsauger kaufen will, dann sollte, nach Abwägung aller Vor- und Nachteile, auch im Vergleich mit anderen Produkten, kein gewichtiger Einwand dagegen sprechen, ein bestimmtes und nicht etwa ein anderes Modell auszuwählen. Wenn sich jemand für eine psychiatrische Dienstleistung oder für ein psychopharmakologisches Produkt entscheidet, dann sollte dies nach Abwägung aller Vor- und Nachteile tatsächlich auch geboten sein.

Dies bedeutet: Die Nützlichkeit dieser Dienstleistung oder dieses Produkts sollte sich zwingend aus den Lebensumständen des jeweiligen Individuums ergeben. Jeder Anschein, dass die Nützlichkeit nur suggeriert sein könnte, sollte den potenziellen Konsumenten sofort dazu veranlassen, eine kritische Distanz einzunehmen. Schließlich sind Psychiater und Psychotherapeuten ja auch Verkäufer und man wird ihnen nur gerecht, wenn man dies bei seinen Entscheidungen gebührend berücksichtigt.

Modischem Freud-Bashing widerstrebend, drängt es mich festzuhalten, dass der Begründer der Psychoanalyse, verglichen mit heutigen Psychiatern, geradezu ein Ausbund an Tugend war: Erstens hat er sich ernsthaft bemüht, die suggestiven Momente der Psychotherapie zu begrenzen und zweitens hat er die Wirksamkeit seiner Methode nicht wie ein Marktschreier übertrieben. Er sagte einmal, dass sich die Psychoanalyse nicht mit den Erfolgen von Lourdes messen könnte, da bekanntlich mehr Menschen an die Wundertaten der Muttergottes glaubten als an das Unbewusste.

Glaube

Dies bringt mich zu einem weiteren Gesichtspunkt, der zur Vorsicht mahnt. Die Wirkungen der Psychotherapien und der Psychopharmaka werden in erheblichem Maße durch den Glauben an ihre Heilwirkungen hervorgerufen. Dies sollte den Psychiatern und Psychotherapeuten bekannt sein. Wenn es ihnen nicht bekannt sein sollte, dann kommen sie als Behandler ohnehin nicht in Frage, weil sie keine Ahnung haben.

Wenn es ihnen aber bekannt ist, dann werden sie – bewusst oder unbewusst – geneigt sein, die Glaubenskraft ihrer Patienten zu verstärken. Glaubenskraft und kritisches Denken stehen aber in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Ich formuliere dies so vorsichtig, um die Frommen unter meinen Lesern nicht zu vergrätzen.

Nun mag man einwenden, dass manche Menschen psychisch so gestört seien, dass sie Vernunftgründe gar nicht erfassen könnten. Bei diesen Menschen müsse mit Suggestionen und ggf. sogar mit Zwang gearbeitet werden, um sie wieder zur Vernunft zu bringen. Nehmen wir einmal an, dies wäre der Fall (ich glaub’s ja nicht, aber egal): Welchen Sinn hätte es dann, unvernünftigen Menschen zu suggerieren oder sie gar dazu zu zwingen, etwas so Unvernünftiges zu tun wie beispielsweise Neuroleptika oder Antidepressiva zu konsumieren? Diese Substanzen sind doch keine homöopathischen Mittel, die nach dem Motto: “Gleiches heilt Gleiches” verabreicht werden. Es handelt sich dabei vielmehr um schädliche, um mitunter überaus schädliche Nervengifte. Wie sollte denn jemand wieder in den Vollbesitz der Vernunft gelangen, weil man ihm höchst Unvernünftiges aufnötigt?

Der Guru

Irgendwann einmal und irgendwo in den Ritzen zwischen Raum und Zeit gewährte der große Indianerschwindler Carlos Castaneda der Journalistin Graciela Corvalán ein Interview. (1) In diesem berichtet er u. a. über eine Begegnung mit einem Jogameister in einem Ashram in Kalifornien.

“Ich versuchte in diesem Gespräch Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen mit den Reisen außerhalb des Körpers zu entdecken. Es wurde aber nichts Wichtiges besprochen. Es gab zwar eine Menge Umständlichkeiten und Zeremonien, aber gesagt wurde nichts. Gegen Ende des Gesprächs nahm dieser Mensch so etwas wie einen Wäschesprenger aus Metall und begann mich mit einer Flüssigkeit zu bespritzen, deren Geruch mir ganz und gar nicht gefiel. Sobald er sich zurückgezogen hatte, fragte ich, womit er mich eben bespritzt hatte. Jemand trat zu mir und erklärte mir, ich dürfe mich sehr glücklich schätzen, denn er habe mich gesegnet. Ich bestand darauf zu erfahren, was das Gefäß enthielt. Schließlich sagte man mir, dass alle Ausscheidungen des Meisters aufbewahrt wurden. ‘Alles, was aus ihm kommt, ist heilig.’”

Castaneda erzählte Corvalán, dass ihm nach dieser Erläuterung nicht mehr der Sinn danach stand, sein Gespräch mit dem Jogameister fortzusetzen, allein: Viele andere lagen ihm trotz des besonderen Natur dieser Segnungen zu Füßen. So groß kann die Macht der Suggestion sein.

Wer noch bei Trost ist, sollte solche Jogameister meiden – und andere Typen, deren Segnungen aus Unrat bestehen, natürlich auch.

Verbraucherschutz

Der Psychiatrie-Konsument benötigt Verbraucherschutz nötiger denn je – angesichts von Marketingmethoden, die immer aggressiver werden, und angesichts des weitgehenden Versagens der Psychiatrie im Bereich der Diagnostik, der medikamentösen Therapie und der Psychotherapie, eines Versagens allerdings, das den meisten Menschen nicht bewusst ist.

Der mündige Verbraucher, der nicht geschützt werden muss, ist in der Lage, eine kritische Distanz zu den Produkten und Dienstleistungen zu wahren, die er zu erwerben gedenkt. Eine solche Haltung gegenüber den Angeboten der Psychiatrie einzunehmen, ist jedoch schwierig, wenn nicht unmöglich für Menschen, die sich in seelischen Ausnahmezuständen befinden. Es ist leider nicht zu übersehen, dass Psychiatrie und Pharmaindustrie diese charakteristische Schwäche des durchschnittlichen Psychiatrie-Konsumenten ausnutzen, denn sie unterliegen, mag auch guter Wille sie leiten, den Gesetzen des Marktes, denen sie sich schlussendlich beugen müssen.

Die Mainstream-Medien werden dem Gedanken des Verbraucherschutzes nur selten gerecht; sie neigen vielmehr dazu, warum auch immer, das Lied des Psychiatrie- und Pharma-Marketings zu singen. Nach einer Recherche im Netz habe ich den Eindruck gewonnen, dass die Verbraucherschutzzentralen die Psychiatrie als Thema mit besonderer Brisanz noch nicht für sich entdeckt haben. Zwar nehmen Verbände der Psychiatrie-Erfahrenden Funktionen des Verbraucherschutzes wahr, allerdings sind diese verstreuten Gruppen angesichts des Millionenheers der Psychiatriepatienten doch wohl eher nur als Tropfen auf den heißen Stein zu betrachten.

Der kritische Psychiatrie-Konsument ist heute eher Wunschbild, denn Realität. Die überwiegende Mehrheit der sich betroffen Wähnenden ist Wachs in den Händen der Marketingstrategen aus Psychiatrie und Pharmaindustrie. Websites wie “Irrenoffensive“, “Zwangspsychiatrie“, “meinungsverbrechen.de“, “Psychiatrie no go” und eine Handvoll vergleichbarer Angebote gehen im Meer unkritischer oder pseudo-kritischer Websites leider immer noch unter. Wer “Psychiatrie” ins Suchfeld von “Google News” eingibt, erhält Links zu Zeitungsartikeln, die sich in 8 von zehn Fällen mit Messerstechern beschäftigen, die, so heißt es meist schon in der Schlagzeile, in die Psychiatrie müssen. Es bleibt kaum aus, dass der durchschnittliche Leser ein unkritisches und irrationales, weil angstbesetztes Verhältnis zur Psychiatrie entwickelt.

Dem Grad seiner Stärke entsprechend, macht ein Bedrohungserleben die Betroffenen hochgradig unkritisch und suggestibel. Aus diesem Grunde neigten Prediger vergangener Zeiten dazu, den Menschen erst die Hölle richtig heiß zu machen, bevor sie ihnen mit frommen Sprüchen den rechten Weg wiesen. Dieser Methode, von der man im kirchlichen Bereich zum Glück weitgehend abgekommen ist, frönen nach wie vor die Strategen des Psychiatrie-Marketings, wenn sie die schrecklichen Folgen nicht rechtzeitig oder gar nicht psychiatrisch behandelter seelischer Leiden an die Wand malen. Der durchschnittlicher Psychiatrie-Konsument fragt dann erst gar nicht mehr, ob ihm nicht Alternativen zur psychiatrischen Behandlung dienlicher wären. Das ist, wie wir heute definitiv aus der empirischen Forschung wissen, eine Fehler, der sich als verhängnisvoll erweisen kann.

Anmerkungen

(1) Corvalán, G.: Der Weg der Tolteken. Ein Gespräch mit Carlos Castaneda. Frankfurt a. M.: Fischer, 1987

(2) Berger, P. L. & Luckmann, T. (1969/1987). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag

(3) Freud, S. (1920). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Seite 529 ff.

(4) “… memory driven out of the mind by the social and economic dynamic of this society…” – Jocoby, R. (1975) Social Amnesia: A Critique of Contemporary Psychology. Boston: Beacon Press

(5) Meinen Respekt zumindest will ich Freud nicht versagen, denn, anders als heutige Zeitgenossen, fühlte er sich immerhin genötigt, seine Behauptungen auch zu begründen.

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Wissendes Nichtwissen

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Logischer Widerspruch

Ein Zustand, den es laut klassischer, aristotelischer Logik gar nicht geben dürfte – wissendes Nichtwissen – prägt dennoch unser Bewusstsein in vielen alltäglichen Situationen. Ein Beispiel:

Ein Vorgesetzter der mittleren Ebene, nennen wir ihn Huber, ist sich sicher, dass er Entscheidungen nur überzeugend vor seinen Untergebenen vertreten kann, wenn er selbst davon überzeugt ist. Er gilt als authentischer Mensch und will auch so gesehen werden. Ehrlichkeit ist ihm seit Kindesbeinen ein Herzensanliegen.

Huber steht nun vor der Aufgabe, einen seiner Mitarbeiter zu befördern. Es kann ihm nicht verborgen geblieben sein, dass der Oberboss des Unternehmens – aus welchen Gründen auch immer – erwartet, dass die Wahl auf den Mitarbeiter Meyer fällt.

Huber weiß natürlich, dass ein beförderter Mitarbeiter einerseits die besten Aussichten auf Erfolg in der neuen Position hat, wenn er sich der Unterstützung der oberen Führungsebene gewiss sein kann. Andererseits aber ist bei Meyer nicht zu erwarten, dass dieser sich trotz der Protektion besser bewähren wird als geeignetere Mitarbeiter.

Herr Huber hat also die Aufgabe zu bewältigen, den vom Chef favorisierten Mitarbeiter Meyer auszuwählen, der aber an sich nicht der Beste für diesen Posten ist, und diese Entscheidung überzeugend vor den anderen Mitarbeitern zu vertreten. Dies kann ihm aufgrund seines Naturells aber nur gelingen, wenn er auch selbst davon überzeugt ist, dass der beförderte Mitarbeiter der Beste sei.

Die in diesem Fall einzig mögliche Konfliktlösung setzt wissendes Nicht-Wissen voraus. Huber muss wissen, dass der Oberboss Meyer favorisiert, sonst könnte und würde er ihn nicht auswählen, da er nicht der Beste ist. Gleichzeitig darf er dies aber nicht wissen, sonst könnte er die Wahl vor seinen Mitarbeitern nicht überzeugend vertreten.

Empirische Studien, die dieses Phänomen belegen, sind mir nicht bekannt. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass dieses Phänomen des Handelns auf Basis wissenden Nichtwissens tatsächlich existiert, im Alltag sogar sehr häufig vorkommt, weil eben Zwangslagen der beschriebenen Art nicht gerade selten sind.

Dass Menschen gezwungen sind, zugleich ehrlich und unehrlich zu sein, ist offenbar ein Alltagsphänomen. Man sagt: Diese Menschen machen sich etwas vor. Ja, und sie machen sich zudem vor, nicht zu wissen, dass sie sich etwas vormachen, obwohl sie dies wissen müssen, um sich etwas vorzumachen.

Man kann dieses Verhalten natürlich in Hypnose-Experimenten herauspräparieren. Mein Tagebucheintrag über selektive, hypnotische Blindheit weist in diese Richtung. Damit ist allerdings kein Beweis für die Existenz dieses Phänomens im Alltag verbunden. Die Basis solcher Experimente besteht darin, dass ein Befehl X nur realisiert werden kann, wenn man eine Information Y bemerkt und zugleich nicht bemerkt. Wenn beispielsweise einem Hypnotisanden eine selektive Blindheit für eine Kiste befohlen wird, so muss er, um die negative Halluzination (1) perfekt zu machen, das Teppichstück unter der Kiste halluzinieren, also sehen, wo sie sich befindet.

Wenn ich mich recht entsinne, so hat die Neo-Psychoanalytikerin Karen Horney dieses Phänomen als “vermerken” bezeichnet, als einen Schwebezustand zwischen Wissen und Nicht-Wissen. Es handelt sich dabei um motiviertes Missachten und Bestehenlassen von A-Logik. Laut Theorie der “kognitiven Dissonanz” wird ein solcher Zustand des Widerspruchs, beispielsweise zwischen ursprünglicher Überzeugung und Entscheidung, als unangenehm erfahren, so dass seine Auflösung angestrebt wird; es scheint aber auch die Möglichkeit zu geben, die Erfahrung dieses Widerspruchs aus dem Bewusstsein auszublenden, was verhindert, dass sich kognitive Dissonanz einstellt.

Ironie

Dies bringt mich zur Ironie. Ironisch ist eine Aussage, die etwas anderes meint als dass, was gemeint zu sein scheint, wenn man diese Aussage wortwörtlich nimmt.

Einem Hypnotisand wird suggeriert, dass er ein Flusspferd vor sich sähe. Wenn er ein guter Hypnotisand ist, so wird er auf Befragen bestätigen, dass er nun ein Hippopotamus vor sich sehe, es sei sehr groß und behäbig, schaue friedlich drein und es zwinkere ihm gelegentlich zu.

Dies ist natürlich pure Ironie. Der Hypnotisand weiß durchaus, dass er die “Vision” des Tieres auf Anweisung des Hypnotiseurs konstruiert. Damit er es aber konstruieren kann, darf er dies zugleich nicht wissen. Das Flusspferd muss wie herbeigezaubert plötzlich vor seinen Augen auftauchen. Das Hypnotische an der Situation wurde vermerkt. Die Dissonanz, die dem wissenden Nichtwissen innewohnt, wurde an den äußersten Rand des Bewusstseins gedrängt und der Reflexion entzogen. Sie wird nicht als unangenehm, sondern durchaus als lustvoll erlebt.

Dies ist also im strengen, literaturwissenschaftlichen Sinn romantische Ironie. Dies macht den hypnotischen Zauber aus – und ermöglicht ihn. Der romantische Ironiker will das Produzierende mit dem Produkt darstellen. Das Kunstwerk soll in der Schwebe gehalten werden

  • zwischen Konstruktion kraft Suggestion des Fiktiven als real und
  • Dekonstruktion des realen Scheins durch Transparenz seiner Konstruktionsprinzipien
  • und zwar so, dass dennoch die literarische Glaubwürdigkeit des Werks nicht in Frage gestellt wird.

Was könnte hypnotischer sein?

Um Zeit zu sparen zitiere ich eine Passage aus Wikipedia, die den Grundgedanken recht passabel zum Ausdruck bringt:

“Die vollendete Ironie hört auf, Ironie zu sein und wird ernsthaft, sagt Schlegel. Denn weil sie sich selbst in Frage stellt, kann sie komisch sein, erreicht in ihrem beständigen Willen zu solcher Selbstkritik aber eben eine höher liegende Ernsthaftigkeit. In jenem ursprünglichen Sokratischen Sinne […] bedeutet die Ironie eben nichts andres, als dieses Erstaunen des denkenden Geistes über sich selbst, was sich oft in ein leises Lächeln auflöst (Schlegel).”

Ist es nicht auch diese Mutation von Komik zur Ernsthaftigkeit, die das Faszinierende an einer Showhypnose ausmacht?

Verbrechen in Hypnose

Kann diese Mutation so weit gehen, dass ein Verbrechen in Hypnose begangen wird?  Ein solches Verbrechen würde im Zustand des wissenden Nichtwissens verübt. Der hypnotisierte Täter müsste wissen, dass er dem posthypnotischen Befehl eines Hypnotiseurs gehorcht und dies zugleich nicht wissen, weil er sonst dem Befehl ja nicht entsprechen würde (und wenn doch, dann wäre er ein kein Komplize wider Willen).

Kann man Komplize wider Willen sein? Kritiker meinen, dies sei nicht möglich, weil die Gesamtpersönlichkeit wissendes Nichtwissen ja selbst inszeniere. Demgegenüber halte ich es für denkbar, wenngleich nicht für sicher, dass es dem Hypnotiseur gelingen könnte, in seinem Opfer eine romantische Faszination zu entzünden, die es diesem unmöglich macht, seine Bereitschaft zu dieser Inszenierung zu verweigern oder, wenn’s ernst wird, zurückzuziehen. Dieser Hypnotiseur müsste ein Meister-Verführer sein, ein Mephisto der allerfeinsten Sorte.

Wenn jemand einen posthypnotischen Befehl befolgt, so handelt er. Dies heißt, er folgt einer Absicht. Diese Absicht ist der Reflexion entzogen, wird also nicht in Frage gestellt. Hypnotischer Zwang führt demgemäß nicht zu Automatismen, sondern zu Handlungen, denen ein felsenfester Entschluss zugrunde liegt. Es ist der felsenfeste Entschluss, sich hypnotisieren zu lassen und den Befehlen des Hypnotiseurs bedingungslos zu folgen.

Raubt jemand eine Bank aus, so liegt dem ein felsenfester Entschluss zu Grunde. Handelte der Bankräuber in einem Zustand einer romantischen Faszination, die absichtlich von einem anderen Menschen entfacht wurde, dann darf man dies meines Erachtens als Verbrechen in Hypnose betrachten. Zumindest kenne ich kein starkes Argument, das dagegen spricht.

Man könnte einwenden, in diesem Fall sei der Bankräuber wider Willen der Faszination des Hypnotiseurs erlegen, nicht aber durch Hypnose zu einer Tat veranlasst worden, die er ohne diese auf keinen Fall begangen hätte.

Dies mag sein, in vielen Fällen. Bekanntlich wurden schon Menschen ermordet, weil der Anstifter die Täter faszinierte, Beispiel: Charles Manson. Ob die Täter aber von starker, ihnen eigentümlicher Mordlust getrieben waren, für deren Ausleben die Hypnose nur Anlass war, kann ich nicht beurteilen.

“Psychische Krankheit”

Aus meiner Sicht ist wissendes Nichtwissen der vorherrschende Bewusstseinszustand von Menschen, die sich selbst als psychisch krank empfinden. Einerseits wissen sie, dass sie die Rolle des “psychisch Kranken” nur spielen; andererseits aber sind sie davon zutiefst überzeugt, tatsächlich an einer “psychischen Krankheit” zu leiden, unter Phänomenen also, die sich ihrer Kontrolle entziehen.  Sie entscheiden sich tagtäglich dazu, sich “psychisch krank” zu verhalten und “psychisch Krankes” zu erleben und gleichzeitig erfahren sie sich als gezwungen dazu.

Für diese Interpretation der “psychischen Krankheit” spricht, dass es trotz intensiver Suche seit mehr als hundert Jahren bisher noch nicht gelungen ist, Hirnmechanismen zu identifizieren, die für “psychische Krankheiten” verantwortlich sein könnten. Dies bedeutet zwar nicht, dass es diese Mechanismen nicht gibt (vielleicht hat man sie nur noch nicht entdeckt), aber dies bedeutet mit Sicherheit, dass man sie zum gegebenen Zeitpunkt niemandem unterstellen darf. Nach Lage der Dinge muss man also in den “psychisch Kranken” ganz normale Menschen sehen, die, wie wir alle gelegentlich, in den Zustand des wissenden Nichtwissens verfallen sind – bis zum Beweis des Gegenteils, mit dem ich, ehrlich gesagt, nicht rechne.

Anmerkung

(1) Negative Halluzination bedeutet, etwas nicht wahrzunehmen, was wahrnehmbar vorhanden ist. Entsprechend versteht man unter einer positiven Halluzination die Wahrnehmung eines Sachverhalts, der nicht vorliegt.

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School Shootings

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Halali

Schulmassaker sind überaus seltene Ereignisse.

Auch ohne entsprechende Statistiken zur Hand zu haben, behauptete ich mit unerschütterlicher Gewissheit, dass wesentlich mehr Menschen von rücksichtslosen oder alkoholisierten Autofahrern getötet werden als von Schulschützen. Dieses Thema findet allerdings wenig Beachtung in den Medien; es sei denn, ein “Promi” wäre in einen solchen Unfall verwickelt. Die Toten, die von Trunkenbolden hingemeuchelt werden, nimmt man offenbar achselzuckend als Kollateralschaden einer automobilen und alkoholisierten Gesellschaft in Kauf.

Gerade weil es sich um seltene Ereignisse handelt, erregen Schulmassaker ein öffentliches Interesse, das keineswegs dem Blutzoll, den sie fordern, proportional ist.

Nach einem Vorfall wie beispielsweise in der Columbine High School oder in der “Sandy Hook Elementary School” stoßen die einschlägigen Experten auf offene Ohren in den Medien und nur wenige lassen sich diese Chance entgehen, mit in der Regel ziemlich eindimensionalen, simpel gestrickten Vorschlägen zur Prävention solcher Straftaten aufzuwarten.

Dies ist natürlich legitim, denn Ereignisse wie der Massenmord in  Columbine oder Newtown erregen die Gemüter heftig  und heftig erregte Gemüter sind suggestiven Botschaften besonders schutzlos ausgeliefert, weil der Affektsturm den Verstand beeinträchtigt, wenn nicht ausschaltet. Ein Experte wäre also töricht, falls er die Gunst der Stunde nicht nutzen würde, um Wasser auf die Mühlen seines Gewerbes zu leiten.

Was tun?

Nachdem sich die Frage nach den Ursachen heillos in den Fallstricken der Spekulation verheddert hat, wendet man sich im Allgemeinen der Prävention zu. Die Suche nach Maßnahmen zur Verhinderung extrem seltener Ereignisse gleicht der Einhorn-Jagd: Die meisten Schüsse gehen ins Leere, einige treffen konventionelles Rotwild oder Hasen, manche auch den Wandersmann, der zufällig vorbeikommt. Doch den Experten und sein Publikum eint das Jagdfieber – und so ist man an Erläuterungen zur Kosten-Nutzen-Relation von Schnellschüssen auf bewegliche Ziele im Nebel nicht sonderlich interessiert.

Obwohl sich die Mehrheit der Experten bei der Ursachensuche auf die Sprachregelung geeinigt hat, dass Schulmassaker ein “komplexes, multikausales Geschehen” seien, neigt sie in Sachen Prävention zu eher einseitigen Lösungsvorschlägen.

Dies ist allerdings weniger erstaunlich, als man auf den ersten Blick meinen sollte, wenn man sich vor Augen führt, dass “multikausal” auf Deutsch bedeutet: “Nichts Genaues weiß man nicht.” Weiß man aber nichts Genaues nicht, dann liegt es nahe, dann ist es verlockend, mit einer möglichst plausiblen, möglichst simplen Wunderkur aufzuwarten. Bekanntlich heilt Gleiches Gleiches.

Die in den Vereinigten Staaten nach entsprechenden Gewalttaten diskutierten Vorschläge lassen sich grob in drei Produktgruppen unterteilen. Die Anbieter preisen die Vorzüge ihres Produktes an und die Konkurrenten machen sie madig. Und das geht so:

Verschärfung der Waffengesetze

Pro:

  • Die leichte Verfügbarkeit von Waffen erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres Missbrauchs.
  • Eine liberale Gesetzgebung verharmlost die mit Waffen verbundene Gefahr und ermöglicht es Menschen, die nicht im Umgang mit ihnen geschult wurden, sich Waffen zu verschaffen.
  • Auch wenn man nicht alle Gegenstände, die als Waffen dienen können, verbieten kann, so ist es doch nicht zu bestreiten, dass moderne Schusswaffen pro Zeiteinheit mehr Menschen töten können als abgebrochene Stuhlbeine oder Brotmesser.

Kontra:

  • Die leichte Verfügbarkeit von Waffen erhöht die Wahrscheinlichkeit, sich im Notfall mit ihnen gegen Angreifer zur Wehr setzen zu können.
  • Eine liberale Gesetzgebung führt dazu, dass sich viele Menschen schon von Kindesbeinen an mit Waffen vertraut machen und den verantwortungsvollen Umgang mit ihnen bereits im Elternhaus erlernen.
  • Nicht die Waffen töten Menschen, sondern Menschen töten Menschen. Ein Mensch mit dem Drang zu töten, wird sich auch illegal effiziente Waffen verschaffen.

Verbesserte Angebote für “psychisch Kranke”

Pro:

  • Viele Schulschützen sind “psychisch krank”.
  • Wenn man potenziell Gewalttätige rechtzeitig erkennt, kann man sie behandeln und Massaker verhindern.

Kontra:

  • Es ist nicht möglich, die Gefährlichkeit von “psychisch Kranken” zu prognostizieren (1).
  • Nur ein kleiner Teil der “psychisch Kranken” wird häufiger gewalttätig als Normalbürger. Und bei diesem kleinen Teil wird die Gewalttätigkeit weitgehend durch gleichzeitigen Missbrauch von Drogen und Alkohol erklärt (2).
  • Die Medikamente, die zur Behandlung “psychisch Kranker” eingesetzt werden, können die Gewaltneigung verstärken (3).
  • Es gibt keinerlei Studien, die darauf hindeuten, dass irgendeine Form psychiatrischer Behandlung die Häufigkeit von School Shootings oder ähnliche Phänomene vermindern könnte.

Re-Christianisierung der Gesellschaft

Pro:

  • Schulmassaker sind die Folge antichristlicher Tendenzen in der Gesellschaft.
  • Das Gegengift besteht darin, dass gesellschaftliche Leben wieder nach biblischen Grundsätzen auszurichten.

Kontra:

  • Die Kriminalgeschichte des Christentums zeigt, dass diese Religion ihren moralischen Anspruch niemals gerecht wurde (4).
  • Auch die Bibel ist ein zutiefst Gewalt verherrlichendes Buch (5).

Jenseits der Utopien

Es wäre mir wohler, wenn ich noch einen vierten Lösungsvorschlag auflisten könnte, nämlich die libertär-sozialistische Revolution, die Überwindung kapitalistischer Barbarei durch eine freiheitliche, gerechte und solidarische Gesellschaft. Doch kein nennenswerter Experte, der heute auf dem Markt der Utopien seine Produkte feilbietet, besitzt die Kühnheit, diesen Ladenhüter anzupreisen.

Marx hat aus meiner Sicht zwar unbestreitbar Recht mit seinem Urteil, dass das menschliche Wesen kein dem Individuum innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sei.

Und es ist sicher auch nicht falsch, in diesem Sinne zu behaupten, ein Schulmassaker sei Bestandteil dieses Ensembles und Maßnahmen zur Vorbeugung müssten auch genau dort ansetzen, und nicht beim Individuum.

Aber es ist utopisch zu glauben, dass eine Mehrheit der Bevölkerung in Amerika oder sonstwo bereit wäre, den geliebten Kapitalismus aufzugeben, um Massenmorde in Schulen zu verhindern.

Wenn aber die Verschärfung der Waffengesetze, die Psychiatrisierung Verdächtiger, die Re-Christianisierung der Gesellschaft und die sozialistische Revolution aus unterschiedlichen Gründen keine eindeutig brauchbaren und bei realistischer Betrachtung erwägenswerten Lösungen sind: Was bleibt dann? Was tun?

Ich plädiere dafür, dass jeder wieder seinen Geschäften nachgeht, sein Leben lebt, den lieben Gott einen guten Mann sein lässt. Jeder sollte sich bemühen, seine Affekte zu meistern und wieder Vernunft einkehren zu lassen. Wenn seltene Ereignisse Überreaktionen hervorrufen, dann ist das immer schlecht und niemals gut. Mir ist durchaus bewusst, dass Politiker (nicht nur in Demokratien) nach solchen grausamen Ereignissen immer unter massivem Druck stehen. “Nun muss endlich etwas geschehen!”, rufen die Massen. “Wir haben die Lösung!”, antworten die Einpeitscher.

Ja, aber die Gewalt! Ja, aber man muss doch etwas tun!

Sicher.

Man muss wieder seinen Geschäften nachgehen, sein Leben leben, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, seine Affekte meistern und wieder Vernunft einkehren lassen. Und dies ist scheinbar gar nicht so schwer. Fast alle Menschen reagieren, meist früher als später, nach einem seltenen, emotional aufwühlenden Ereignis so.

Dennoch steht zu befürchten, dass Politiker in der Folge solcher Katastrophen verantwortungslose Maßnahmen ergreifen, die zum Scheitern verurteilt sind, weil sie nicht bemerken, dass die meisten Menschen schon längst wieder ihren Geschäften nachgehen, ihr Leben leben, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, ihre Gefühle, mehr schlecht als recht, meistern und wieder, soweit ihnen dies möglich ist, Vernunft einkehren lassen.

Zum Glück ist diese Gefahr nicht besonders groß, denn die meisten Menschen, sogar Politiker, können sich mit dem Lauf der Welt, wenngleich mitunter zähneknirschend, abfinden, allein unser Experten nicht. Sie wollen die Zitrone bis zum letzten Tropfen ausquetschen. In der Welt der Funktionäre kommen die Turbulenzen nicht so schnell zur Ruhe, wohl auch, weil die Waffenlobbyisten und die Friedenstauben, die Psychiater und die Antipsychiater, die Christen und die Antichristen mit ihren Megaphonen mächtig Wind machen.

Schulmassaker sind, so grausam, empörend, rätselhaft und aufwühlend sie auch immer sein mögen, winzige Randerscheinungen in modernen Industriegesellschaften. Dass sie vorübergehend mächtig aufgebauscht werden, liegt nicht an ihrer tatsächlichen Bedeutung, sondern daran, dass sie die Kriterien für mediale Hysterie (selten, aufwühlend, rätselhaft, schrecklich) erfüllen.

Die Liste der School-Shootings ist zwar beachtlich lang, aber wenn man sie beispielsweise mit der Liste von gewalttätigen Gangs vergleicht, dann erkennt man die untergeordnete Bedeutung des Problems der Amokläufe an Schulen.

Was es zu bedenken gilt: Es gibt keine prognostischen Methoden, die, ohne aberwitzig häufige falsch positive und falsch negative Einstufungen, vorherzusagen vermöchten, ob ein Mensch in Gefahr steht, ein School Shooting zu begehen. Es gibt ebenso wenig, vernünftig begründbare und realisierbare, Methoden, Amokläufe an Schulen durch Maßnahmen in oder außerhalb von Schulen zu verhindern oder deren Wahrscheinlichkeit einzuschränken. Es besteht auch wenig Hoffnung, dass Maßnahmen zur wirksamen Prävention entdeckt werden, die sich im Rahmen unserer demokratischen, rechtsstaatlichen, kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung realisieren lassen. Gegen Tsunamis kann man mehr tun. Zucken wir also nur mit den Achseln und genießen wir unsere Freiheit und unseren Wohlstand.

Anmerkungen

(1)  Cooke, D., & Michie, C. (2010). Limitations of diagnostic precision and predictive utility in the individual case: A challenge for forensic practice. Law and Human Behavior, 34, 259-274
(2) Fazel S, Gulati G, Linsell L, Geddes JR, Grann M (2009) Schizophrenia and Violence: Systematic Review and Meta-Analysis. PLoS Med 6(8): e1000120. doi:10.1371/journal.pmed.1000120
(3) Breggin, P. (2008). Medication Madness. The Role of Psychiatric Drugs in Cases of Violence, Suicide and Murder. New York: St. Martin’s Press
(4) Deschner, K. (2005). Kriminalgeschichte des Christentums. Bd. 1-8. CD-ROM-Version, Digitale Bibliothek, Directmedia GmbH, Berlin
(5) Buggle, F. (2004). Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Aschaffenburg: Alibri

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Die so genannte Schizophrenie

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UFO

Ufo über Kaulbachplatz

UFO über dem Kaulbachplatz (Nürnberg)
bei Nacht (© Didi01 / pixelio.de)

Wer im deutschen Netz nach Seiten über die Ursachen der Schizophrenie sucht, stößt fast immer zu Beginn des Texts auf einen Satz, der, mit geringfügigen Variationen, in etwa wie folgt klingt:

“Die Ursachen der Schizophrenie sind bis heute noch nicht abschließend geklärt.”

Danach werden die üblichen Verdächtigen verhaftet. Mutmaßliche Täter, lies: Verursacher der Krankheit, seien in folgenden Milieus zu vermuten: Genetik, Hirnprozesse, Stressoren im soziales Umfeld.

Wer die Geschichte und die “Befunde” der Schizophrenie-Forschung etwas genauer kennt, der weiß, dass hier fast jedes Wochenende eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Die neueste Sau heißt “Schaltkreise”. Nicht mehr die Neurotransmitter, nein, irgendwelche seit Kindheit gestörten “circuits” im Gehirn seien dafür verantwortlich, dass manche Leute mitunter halluzinieren, sich verfolgt fühlen, sich an seltsame Ideen klammern, keinen Bock auf irgendwas mehr haben, simple logische Zusammenhänge nicht mehr auf die Reihe bekommen, nachts immer wieder einmal senkrecht im Bett stehen usw.

Kurz: Auch nach Jahrzehnten intensiver Forschung weiß die Psychiatrie immer noch nicht, warum sich manche Leute durch ihr bizarres und rätselhaftes Verhalten und ihr bekundetes groteskes Erleben redlich bemühen, Arbeitsplätze und Einkommen in Kliniken, Praxen und in der Pharmaindustrie zu sichern. Es ist nicht etwa so, dass ein allmählicher Erkenntnisfortschritt zu verzeichnen wäre; keineswegs: Das Gegenteil ist der Fall. Keine Sau gleicht der anderen. Die Schizophrenie-Forschung gehorcht eher den Gesetzen der Mode als denen des Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnis.

Das Wort “abschließend“, dass eine prominente und sinnstiftende Position im Standardsatz einschlägiger Webseiten zu den Schizophrenie-Ursachen einnimmt, suggeriert also etwas anderes, als tatsächlich der Fall ist. Dennoch wird beharrlich und unkorrigierbar an ihm festgehalten. Wer dies nicht glaubt, kann ja die Betreiber solcher Netzangebote auf den beschriebenen Sachverhalt hinweisen (Beweise dafür, dass er tatsächlich vorliegt, finden sich zu Hauf in meiner  Website) und dann überprüfen, ob die Phrase “bis heute nicht abschließend geklärt” daraufhin verschwindet und durch die zutreffende Formulierung “bis heute nach wie vor ungeklärt” ersetzt wird.

Man mag sich fragen, warum ich auf diesem Wörtchen “abschließend” so nachdrücklich herumreite. Darauf kann ich Ihnen, lieber Leser, im Augenblick keine Antwort geben, denn die Ursachen eines merkwürdigen, möglicherweise bedrohlichen, unerwarteten Ereignisses sind noch nicht abschließend geklärt.

Es geht um Folgendes: Als ich gerade darüber nachdachte, welche Begründung fürs Herumreiten ich am besten zu Papier bringen sollte, trat ich ans Fenster meines Arbeitszimmers und blickte auf den Kaulbachplatz vor der gleichnamigen U-Bahn-Station. Im Zentrum dieses Platzes befindet sich ein Rasenstück mit einigen Bäumen und Büschen an der Westseite. Passanten streben zum Eingang des U-Bahnhofs, manche tragen verdächtige Hüte, aber nicht alle. Sie scheinen es nicht zu bemerken – zumindest kümmern sie sich nicht um das UFO, das auf dem Rasenstück gelandet ist. Wie lange es sich dort schon befindet, weiß ich nicht genau. Als ich gestern aus dem Fenster blickte, war es noch nicht dort.

Seltsame Wesen, die nackt, grau und eierköpfig sind, stehen auf Leitern und wischen die Scheiben ihres Fahrzeugs. Wieso es keinen Massenauflauf gibt, wieso die Leute zur U-Bahn streben, als sei nichts geschehen, kann ich nicht ergründen. Meine Hypothese, dass die Mannschaft des UFOs Außerirdische sind, die mit ihren Strahlenwaffen das Bewusstsein der Passanten kontrollieren, ist noch nicht abschließend geklärt. Es könnte sich natürlich auch um Filmaufnahmen handeln. Darauf deutet zumindest der Kamerawagen hin, der an der westlichen Einmündung der Schweppermannstraße in den Kaulbachplatz steht. In diesem Fall könnte man vermuten, dass es sich bei den Passanten um Statisten handelt, die sich rollengemäß verhalten. Aber es könnte natürlich auch sein, dass die UFO-Besatzung den Kamerawagen dort geparkt hat, um mich in die Irre zu führen und dass der Kameramann, der auf dem Dach steht und zu filmen scheint, in Wirklichkeit ein Gestaltwandler ist, der heimtückisch eine menschliche Form angenommen hat.

Oder sollte es etwa so sein, dass ein Psychiatriekritiker wie ich – das musste ja so kommen – halluziniert und sich von Außerirdischen verfolgt fühlt. Bevor mitlesende Psychiater nun auf die Idee kommen, meinen Schaltkreisen besonderes Augenmerk zu widmen, möchte ich vorsorglich darauf hinweisen, dass ich eine Patientenverfügung ausgefertigt habe, in der ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte grundsätzlich und uneingeschränkt keiner psychiatrischen Behandlung und Diagnose, unter welchen Bedingungen auch immer, zustimme. Dies empfehle ich … Moment, jemand klingelt an der Tür, bin gleich zurück…

So, da bin ich wieder. Denken Sie sich nur: Ich wurde gerade zu einer Spritztour eingeladen. Wann ich zurück sein werde, weiß ich nicht genau. Die Leute, die mich einluden, trugen keine weißen Kittel. Wahrscheinlich bin ich also nur ein paar Stündchen weg, allein: dies aber auch nur, wenn’s unfallfrei abgeht: Die Leute scheinen Raser zu sein; Überlichtgeschwindigkeit, puuh. Ob ich das riskieren kann? Ist ja schon gut, ich komme, ich komme!

Das Telefon reißt mich aus meiner Trance. Nein, nein, nein, rufe ich, auch ich wisse nicht, warum die Tochter Schizophrenie habe und was man dagegen tun könne und aufgrund dieser Unwissenheit und Ratlosigkeit könne ich auch niemanden beraten. Ja, es sei mir egal, dass andere da weniger zögerlich seien, denn…

Fahren wir fort.

Ein strategisches Etikett

1969 gab der psychiatriekritische Psychiatrieprofessor Thomas Szasz der Zeitschrift “The New Physician” ein Interview. Ein kurzer Abschnitt daraus wurde seither unzählige Male zitiert; er wurde zum Motto der psychiatriekritischen Bewegung der Psychiatrieerfahrenen.

“‘Schizophrenie’ ist ein strategisches Etikett, wie es ‘Jude’ im Nazi-Deutschland war. Wenn man Menschen aus der sozialen Ordnung ausgrenzen will, muss man dies vor anderen, aber insbesondere vor einem selbst rechtfertigen. Also entwirft man eine rechtfertigende Redewendung. Dies ist der Punkt, um den es bei all den hässlichen psychiatrischen Vokabeln geht: sie sind rechtfertigende Redewendungen, eine etikettierende Verpackung für ‘Müll’; sie bedeuten ‘nimm ihn weg’, ‘schaff ihn mir aus den Augen’, etc. Dies bedeutete das Wort ‘Jude’ in Nazi-Deutschland, gemeint war keine Person mit einer bestimmten religiösen Überzeugung. Es bedeutete ‘Ungeziefer’, ‘vergas es’. Ich fürchte, dass ‘schizophren’ und ‘sozial kranke Persönlichkeit’ und viele andere psychiatrisch diagnostische Fachbegriffe genau den gleichen Sachverhalt bezeichnen; sie bedeuten ‘menschlicher Abfall’, ‘nimm ihn weg’, ‘schaff ihn mir aus den Augen’ (1)”.

Dies ist Klartext. Szasz charakterisiert eine reale pragmatische Dimension der psychiatrischen Diagnosen, die nämlich auch Markierungen auf einer Skala des Ausmaßes von Ausgrenzung sind. Es geht um Macht. Genauer: um Definitionsmacht, die Gewalt legitimiert und mit ethischer Blindheit verbindet.

Objektivität der Diagnosen

Wenn die psychiatrische Diagnostik objektiv wäre und nur von überprüfbaren medizinischen Kriterien abhinge, wäre es schwierig, eine Diagnose wie die der Schizophrenie als strategisches Etikett einzusetzen. Denn dies setzt zumindest ein gewisses Maß an Willkür voraus. Doch die internationalen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten, das amerikanische DSM und der psychiatrische Teil der ICD, sind alles andere als wissenschaftlich.

Für diese Klassifikationssysteme psychischer Störungen gibt es weder eine theoretische Begründung, noch eine empirische Absicherung. Dies liegt daran, dass zu jeder der so genannten psychischen Krankheiten eine Vielzahl von einander widersprechende Theorien und empirische Befunde existieren. Die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen und psychiatrischen Richtungen haben eigene Störungstheorien. Darauf fußend, wurden häufig auch eigene diagnostische Kriterien entwickelt, die untereinander und von den ICD bzw. vom DSM abweichen. Aus diesem Grunde stellen die psychiatrischen Diagnosen der ICD und des DSM nur den “kleinsten gemeinsamen Nenner” dar, der politisch ausgehandelt wurde – in nationalen und internationalen Gremien der Psychiatrie. Bei den Kriterien der einzelnen “Krankheitsbilder” handelt es sich auch keineswegs um empirisch ermittelte “Cluster”, sondern um willkürliche Zusammenstellungen von Verhaltensmuster und Bekundungen mentaler Prozesse. Die Einschätzung hinsichtlich der Ausprägung dieser Merkmale erfolgt auch nicht mittels objektiver Instrumente (beispielsweise einheitlicher, an repräsentativen Stichproben “geeichter” Tests), sondern sie beruht auf dem Gutdünken des jeweiligen Diagnostikers. Ob der Herr Mustermann eine  “psychische Krankheit” hat und, wenn ja, welche, hängt eindeutig und systematisch davon ab, welchem Menschen- bzw. Weltbild der jeweils diagnostizierende und behandelnde Psycho-Experte anhängt – und sicher auch davon, in welcher Gemütsverfassung er sich gerade befindet. Da diese Diagnose-Schemata nur den kleinsten gemeinsamen Nenner darstellen, konzentrieren sie sich auf das, was übrig bleibt, wenn man Theorie, Empirie und Wissenschaft wegstreicht, nämlich auf die mutmaßlichen Abweichungen eines Menschen von sozialen Normen und den Erwartungen seiner Mitmenschen. Dies aber sind keine medizinischen Kategorien. Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinen Aufsatz “Die psychiatrische Diagnostik” auseinandergesetzt (Pflasterritzenflora, 14. 11. 2013).

Unzulänglichkeit von ICD und DSM

Ich halte die internationalen Klassifikationssysteme der Psychiatrie für unzulänglich,

  1. weil sie nicht in der Lage sind, nachvollziehbar darzulegen, was das “spezifisch Kranke” an der (extremen) sozialen Devianz sein soll
  2. weil sie es nicht vermögen, die neuronale Basis der angeblich kranken sozialen Devianz  empirisch stringent von der neuronalen Basis der so genannten Normalität abzugrenzen
  3. weil sie keinen eindeutigen Bezug zwischen gestörten Verhaltensweisen und Störungen des Nervensystems herzustellen vermögen (im ICD sind Gehirnkrankheiten sogar ein Ausschlussgrund der Diagnose von Psychosen und vielen anderen so genannten “psychischen Krankheiten”)
  4. weil diese  Systeme das Modellhafte, das Hypothetische der Diagnosen verschleiern und die sozialen Störungen, auf die sie sich beziehen, verdinglichen (mystifizierend, also ohne faktischen Nachweis ins Nervensystem verlagern) und individualisieren
  5. weil die Reliabilität und die prognostische Validität der Diagnosen unzulänglich sind (unterschiedliche Diagnostiker gelangen bei denselben Menschen zu unterschiedlichen Diagnosen und die Genauigkeit der Vorhersage des Verhaltens der Diagnostizierten liegt nur unwesentlich über dem Niveau des Kaffeesatzlesens)
  6. weil sich die Diagnosen etikettierend und stigmatisierend auf willkürlich herausgegriffene Menschen auswirken
  7. weil die Diagnosen der Angstabwehr durch Pseudo-Erklärung dienen und somit einen rationalen Diskurs in der Gesellschaft beeinträchtigen
  8. weil sie eine Schein-Legitimierung für meines Erachtens nicht verfassungskonforme Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen darstellen.

Angstbewältigung

All dies gilt natürlich auch für jene Diagnose, von der Szasz sagte, sie sei ein strategisches Etikett. Wie zu erwarten war, stieß Szasz mit seiner Einschätzung der Diagnose “Schizophrenie” auf erheblichen Widerstand. Um diesen Widerstand zu verstehen, muss man sich nach den Funktionen des Etiketts “psychische Krankheit” fragen. Diese sind vielfältig. Eine davon ist aus psychoanalytischer Sicht jedoch die entscheidende. Psychiatrische Diagnosen dienen der Angstbewältigung durch Pseudo-Erklärung. Eine weitere, damit zusammenhängende Funktion ist die Gewissensentlastung bis hin zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen zum “Wohle des Patienten”. Dies ist eine vordergründige Funktion, die sofort ins Auge springt. Sie erklärt aber nicht, warum Menschen, die weder selbst, noch indirekt durch Freunde, Bekannte, Verwandte etc. betroffen sind, sich dennoch an diesen Begriff klammern als sei er die sprichwörtliche Planke des Ertrinkenden.

Beim Widerstand gegen Kritik an der Psychodiagnostik spielt fraglos die Angstbewältigung durch Pseudo-Erklärung die entscheidende Rolle. Es hat eine entlastende Funktion, einem potenziell bedrohlichen Phänomen eine vermeintliche Ursache zuzuschreiben, von der man glaubt, dass sie beeinflussbar sei (“Heilung” der “Krankheit” durch “Ärzte”). Diese Funktion der Angstreduktion erfüllt die mutmaßliche Ursache aber nur so lange, wie sie nicht in Frage gestellt wird. Das Dumme ist nur, dass solche Abwehrreaktionen zwar im Sinne einer Angstreduktion kurzfristig wirksam sind, langfristig aber das Problem durch Reflexionsvermeidung verschlimmern.

Das heißt: Langfristig nimmt die Furcht vor dem angstauslösenden Objekt durch Abwehrmechanismen noch zu. So ist es auch zu erklären, warum viele Menschen “psychisch Kranke”, vor allem aber die so genannten Schizophrenen (Psychotiker) für besonders gefährlich halten, obwohl statistisch erwiesen ist, dass sie nicht gefährlicher sind als die so genannten Normalen. Jeder Durchschnittsbürger, der hin und wieder einmal unter Alkoholeinfluss Auto fährt, stellt tendenziell eine größere Gefahr für die Allgemeinheit dar als ein abstinenter Schizophrener.

Derartiges Wissen ist mitunter sogar Menschen schwer zu vermitteln, die ansonsten durchaus rational denken können. Hier spielen die Angstvermeidung durch Pseudo-Erklärung und deren langfristig angstverstärkenden Wirkungen eine erhebliche Rolle. Dies gilt für alle so genannten “psychischen Krankheiten” – und zwar in dem Ausmaß, wie die mit ihnen verbundenen Verhaltensmuster Angst auslösen. Besonders gegenüber den so überaus rätselhaften und irrational erscheinenden “Schizophrenen” bilden Psychiater und die Mehrheit der Nicht-Betroffenen eine Allianz, die auf uneingestandenen Interessen und verkappten Trugschlüssen beruht.

Die Psychiater genießen in diesem Bereich eine Definitionsmacht, die sich auch ökonomisch auszahlen kann, denn im Zusammenspiel mit der Justiz kann ein Mensch durch eine Schizophrenie-Diagnose in einen Zwangskunden der Psychiatrie verwandelt werden. Die Nicht-Schizophrenen aber wünschen sich mitunter nichts sehnlicher als genau dies, dass nämlich ein Mensch mit bizarren und bedrohlich wirkenden Verhaltensmustern weggesperrt werden möge.

Ist Schizophrenie real?

Es mag den Leser überraschen, dass ich einerseits die Existenz psychischer Krankheiten bestreite und andererseits die “Schizophrenie” für real halte. Dieser scheinbare Widerspruch ist allerdings leicht aufzulösen.

Aus meiner Sicht gibt es durchaus Menschen, die man aufgrund ihres Verhaltens und Erlebens – freilich nicht im gängigen psychiatrischen Sinn -  als “schizophren” (volkstümlich: “verrückt”) bezeichnen könnte (5). Es gibt jedoch keinen guten Grund dafür, dieses Muster aus Emotionen, Stimmungen, Wahrnehmungen, Motivationen, Gedanken und Handlungen als Krankheit zu deuten – zumal doch ins Auge springt, wer tatsächlich von dieser Diagnose betroffen ist: Menschen, die stören, deren Verhalten man sich nicht erklären kann, die niemanden haben, der sich für sie einsetzt, um Menschen also, die überwiegend aus der Unterschicht stammen.

Ich behalte daher den Begriff “Schizophrenie” bei, weil Menschen mit solchen psychischen Auffälligkeiten uns tatsächlich im Alltag begegnen können. Man könnte sie mit Marsmenschen vergleichen, die nicht vom Mars kommen, sondern irdischen Ursprungs sind. Die Verwendung dieses Begriffs als psychiatrische Diagnose lehne ich aber ab, weil es sich dabei um ein strategisches Etikett handelt, mit dem man reinen Gewissens Menschen als angeblich Kranke ausgrenzen, ja einsperren kann, obwohl gegen sie nichts Justiziables vorliegt. Die “Schizophrenie” ist keine Krankheit, sondern ein Lebensstil. Warum sich ein Mensch für diesen Lebensstil entscheidet, ist noch nicht abschließend geklärt. Ja, hier stimmt die Floskel tatsächlich, denn zu den Ursachen der “Schizophrenie”, als Lebensstil, als psychologisch und soziologisch nachvollziehbare Reaktion begriffen, gibt es in der Tat eine Menge empirische Studien mit einigen überaus bedenkenswerten Befunden (2).

Zum Thema der “Verrücktheit” habe ich mich in der Pflasterritzenflora hier ausführlich geäußert.

Erscheinungsformen

Zu den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “Symptome der psychischen Krankheit Schizophrenie” gedeutet werden, zählen u. a.

  1. ein Zerfließen der Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt, zwischen dem Ich und den Anderen
  2. eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung in Form von Illusionen, Halluzinationen, veränderter Leibempfindungen etc.
  3. verzerrte Denkabläufe im Sinne von Verworrenheit, Unlogik oder Ideen, die von dem abweichen, was die Mehrheit für real hält
  4. Verflachte, extrem situationsunangemessene Gefühle, aber auch extreme Gefühlsausbrüche (Angst, Wut).

Die Psychiatrie unterscheidet willkürlich, also ohne empirische Absicherung diverse Unterformen der “Schizophrenie”, nämlich

  1. die paranoide Schizophrenie, bei der Wahnideen und akustische Halluzinationen im Vordergrund stehen
  2. die katatone Schizophrenie, die durch Starrheit oder extreme Erregung, bizarres Posieren und andere merkwürdige Körperhaltungen gekennzeichnet ist
  3. die desorganisierte Schizophrenie, deren Hauptmerkmale eine unzusammenhängende Sprache, chaotisches Verhalten sowie flache bzw. unangemessene Affekte sind.

Die schizophrenen “Symptome” werden in vier Gruppen unterteilt, nämlich

  1. die positiven “Symptome” (z. B. Stimmenhören, so genannten Wahnideen, verschrobene Sprache mit sinnlosen Wörtern etc.)
  2. die negativen “Symptome” (sozialer Rückzug, Probleme beim emotionalen Ausdruck, Schwierigkeiten bei der Selbstversorgung etc.)
  3. die kognitiven “Symptome” (Probleme der Informationsverarbeitung, des Umweltverständnisses, des Gedächtnisses etc.);
  4. die emotionalen “Symptome” (Depressionen, panische Ängste etc.)

Da es sich bei der Schizophrenie nicht um eine Krankheit handelt, habe ich den Begriff “Symptome” in Anführungszeichen gesetzt. Dass solche Phänomene bei einer nicht unerheblichen Zahl von Menschen vorübergehend oder dauerhaft auftreten, soll nicht bestritten werden. Warum sich Menschen für diesen Lebensstil entscheiden, wissen wir meist nicht. Lebensstile hängen von Vorlieben und Abneigungen ab; wer könnte schon sagen, wann und warum sich die eigenen Präferenzen entwickelt haben? Die Ursachen liegen im Dunkel der Lebensgeschichte, der sie mit Anspruch auf hinlängliche Gewissheit selten zu entreißen sind. Warum sollte dies bei “Schizophrenen” anders sein als beim Rest der Menschheit?

Eine Stoffwechselstörung

Die Psychiatrie behauptet in ihren Broschüren und Websites, dass die Schizophrenie durch das Zusammenwirken genetischer und anderer biologischer sowie sozialer Faktoren hervorgerufen wird.

Die genetische Komponente wird durch Zwillingsstudien erhärtet, angeblich. Diese ermitteln u. a. die sog. Konkordanzrate. Eine Konkordanzrate von X % bedeutet: Wenn ein Zwilling schizophren ist, dann ist der andere Zwilling mit einer Wahrscheinlichkeit von X % ebenfalls erkrankt. Die Konkordanzrate liegt bei eineiigen Zwillingen bei durchschnittlich 46 %, wohingegen sie bei zweieiigen Zwillingen im Mittel 14 % beträgt (Andreasen & Black 1993, 149 f.). Dass Dumme nur: Es handelt sich bei diesen Studien meist um Forschungen mit Zwillingen, die gemeinsam aufwuchsen. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Menschen des Umfelds dieser Zwillinge eineiige nicht anders behandeln als zweieiige. Dass diese Voraussetzung zutrifft, darf aus guten Gründen bezweifelt werden. Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinem Aufsatz “Ist der Mensch ein Produkt seiner Umwelt, seiner Gene oder..?” auseinandergesetzt.

Gern räume ich aber ein, dass menschliches Verhalten generell, also nicht nur das “schizophrene” auch von den Erbanlagen beeinflusst sein könnte. Da also “schizophrenes” Verhalten und Erleben möglicherweise teilweise auch auf genetischen Faktoren beruht, könnte man geneigt sein anzunehmen, dass es sich dabei um eine Krankheit handeln müsse. Diese Schlussfolgerung ist allerdings kurzschlüssig.

Schließlich spielen vermutlich bei allen menschlichen Verhaltensweisen und Erlebnisformen genetische Faktoren eine eine mehr oder weniger große Rolle. Das Verhalten von Menschen bei Intelligenztests beispielsweise ist auch in einem gewissen Maß genetisch bedingt. Ist Intelligenz deswegen eine Krankheit?

Ein Blick zurück in die Geschichte der Schizophrenie-Forschung:

Vor einigen Jahrzehnten glaubte die Wissenschaft, das Rätsel der “Schizophrenie” gelöst zu haben. Man hatte entdeckt, dass die halluzinogene Droge LSD den Neurotransmitter Serotonin blockiert. Neurotransmitter sind Überträgerstoffe, die im Nervensystem freigesetzt werden. Da nun aber LSD psychische Veränderungen hervorruft, die man für schizophrenieähnlich hielt, meinte man, den Serotoninmangel als Verursacher der Schizophrenie gefunden zu haben.

Allerdings stellte sich bald heraus,

  1. dass einige Substanzen mit LSD-ähnlicher Wirkung das Serotonin nicht blockieren,
  2. dass andere Drogen die Serotonin-Aktivität zwar vermindern, aber keine Halluzinationen auslösen, und
  3. dass die Wirkungen des LSD sich deutlich von schizophrenen Symptomen unterscheiden.

Und so musste die Hypothese des Serotoninmangels als Ursache der Schizophrenie aufgegeben werden.

Schon bald aber wurde ein neuer Übeltäter ausgemacht, nämlich der Neurotransmitter Dopamin. Diesmal allerdings sollte kein Mangel, sondern ein Überschuss für die Schizophrenie verantwortlich sein. Dies schloss man aus der Tatsache, dass fast alle der damals gebräuchlichen Medikamente zur Behandlung der Schizophrenie Dopamin blockierten.

Wenn also, so lautete die Schlussfolgerung, eine Verringerung der Aktivität des Dopamins im Gehirn die Symptome der Schizophrenie lindert oder beseitigt, dann leiden die Schizophrenen offenbar an einem Überschuss dieses Botenstoffs. Schließlich blockieren diese antipsychotischen Medikamente die Nervenzellen, die auf Dopamin reagieren (Rezeptoren), so dass dieser Überträgerstoff dort nicht aktiv werden kann.

Die Sache hatte allerdings einen Haken: Man konnte in den Gehirnen von Schizophrenen keinen ungewöhnlich hohen Dopaminspiegel feststellen. Um diesen Haken geradezubiegen, entwickelte man die Hypothese, die Schizophrenen hätten besonders viele Dopamin-Rezeptoren, so dass die gleiche Menge Dopamin bei ihnen eine stärkere Wirkung habe als bei nicht-schizophrenen Menschen. Forschungen zu diesem Thema erbrachten zunächst keine eindeutigen Ergebnisse. Schließlich wurde die Hypothese verfeinert. Inzwischen waren verschiedene Typen von Dopamin-Rezeptoren entdeckt worden, und zwei von diesen, genannt D2 und D3, wurden als “Übeltäter” identifiziert.

Allerdings ließ sich auch diese verfeinerte Hypothese nicht eindeutig bestätigen. Eine multinationale Studie mit Patienten und Forschern aus Deutschland, Österreich und Großbritannien ergab z. B., dass die erhöhte D2/D3 -Rezeptor-Dichte bei den Schizophrenen ausschließlich das Ergebnis der Behandlung dieser Patienten mit antipsychotischen Medikamenten war. Es stellte sich nämlich heraus, dass Blockierung der Rezeptoren mit diesen Substanzen eine Erhöhung der Rezeptordichte zur Folge hatte.

Mittlerweile wurden die sog. atypischen Neuroleptika entwickelt. Einige dieser neuen Medikamente gegen Schizophrenie beeinflussen den D2-Rezeptor nicht oder nur in sehr geringem Maß. Zunächst wurde eingewendet, dass diese eben die Mittel der Wahl seien für jene Patienten, bei denen die Schizophrenie nicht auf einer Dopamin-Störung beruhe. Allerdings stellte sich heraus, dass diese atypischen Neuroleptika auch bei jenen Patienten wirksam sind, die gleichermaßen positiv auf die traditionellen Medikamente reagieren.

Ein weiterer Faktor spricht ebenfalls gegen die Dopamin-Hypothese. Die antipsychotischen Drogen, die in den Dopamin-Haushalt eingreifen, blockieren die Aktivität dieses Neurotransmitters innerhalb weniger Stunden nach der Einnahme. Sie benötigen jedoch in der Regel mehrere Wochen, bevor ein nennenswerter antipsychotischer Effekt einsetzt. Eine überzeugende Erklärung für diesen Widerspruch wurde bisher noch nicht gefunden.

Entsprechende Studien sind unter Fachleuten nach wie vor umstritten. Eine ausführliche Schilderung und kritische der bisher vergeblichen Bemühungen, die neurophysiologischen Grundlagen der Schizophrenie zu erforschen, findet sich in einem Buch des amerikanischen Neuropsychologen Elliot S. Valenstein: “Blaming the Brain”. Mit diesem Komplex habe ich mich auch in meinem Pflasterritzenflora-Beitrag “Psychiatrie – Neurotransmitter und Schaltkreise” auseinandergesetzt.

Entzündungen?

Unter dem Titel: “Angriff aufs Gehirn” berichtet der Spiegel (32 – 2012) über neue Entdeckungen zu einer angeblich gemeinsamen Ursache von Störungen, die bisher als sehr unterschiedlich galten:

“Ärzte sind einer organischen Ursache von Nervenleiden auf der Spur. Viele Schizophrenien, Epilepsien oder Demenzerkrankungen werden offenbar durch fehlgeleitete Immunzellen ausgelöst – und können mit Cortison geheilt werden.”

Die Forschung, so heißt es, stehe allerdings noch am Anfang, jedoch:

“Der Neurologe (Harald Prüß, HUG) hält es sogar für möglich, dass ein erheblicher Teil aller Schizophrenien durch Hirnentzündungen verursacht werden. ‘Die typischen Verläufe’, argumentiert Prüß, ‘erinnern verdächtig an eine andere Autoimmunkrankheit: die Multiple Sklerose’.“ (Grammatikfehler aus Original übernommen, HUG).

Man reibt sich die Augen: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“, dichtete einst Hölderlin. Behält der am Ende seines Lebens angeblich “geistig umnachtete” Dichter auch auf diesem Gebiet recht?

Denn die Gefahr ist nicht mehr zu übersehen. Die bisherigen psychiatrischen Theorien, die Stoffwechselstörungen des Gehirns als Ursache “psychischer Krankheiten” postulieren, sind im Licht empirischer Forschungen ausnahmslos gescheitert, grandios gescheitert. Auch die Behauptung, die Psychopharmaka wirkten dem “chemischen Ungleichgewicht” im Nervensystem entgegen, hat sich als wissenschaftlich unbegründet herausgestellt. Die Psychiatrie steht also vor einem Scherbenhaufen.

Und nun wird ernsthaft erwogen, die Schizophrenie sei (so wie die Epilepsie und die Demenz) die Folge einer Hirnentzündung. Wenn das so ist, dann wurden bisher die entsprechenden Erkrankten allesamt mit den falschen Medikamenten behandelt. Beispiel: Schizophrenie. Den Neuroleptika kann man ja nun wirklich alles nachsagen, nur keine entzündungshemmende Wirkung.

Wie unlängst die Pflasterritzenflora berichtete, schrieb eine große Nummer in der Pharmawirtschaft, der Neurowissenschaftler Fibiger, dass die Pharma-Industrie sich fast vollständig aus der Psychopharmaka-Forschung zurückgezogen habe, wegen düsterer Zukunftsaussichten dort. Da die Psychiatrie nicht wisse, sagt er, wie das normale Hirn funktioniere und erst recht nicht, welche Pathomechanismen den psychischen Krankheiten zugrunde lägen, könne die Pharma-Forschung nur im Trüben fischen – und dabei sei seit 30 Jahren nichts Neues mehr herausgekommen.

Doch nun das! Wie schön. Jetzt kann man ja wieder die Ärmel aufkrempeln und nach neuen, speziellen entzündungshemmenden Mitteln für Schizophrene, Epileptiker und Demenzkranke suchen. Oder handelt es sich hier wieder einmal nur um die sattsam bekannten Säue, die eine nach der anderen durchs Dorf getrieben werden?

Schaltkreise

Das National Institute of Mental Health (NIMH), das weltweit größte psychiatrische Forschungszentrum, hält offenbar wenig von solchen Spekulationen über Hirnentzündungen und setzt vielmehr auf die Erforschung gestörter Schaltkreise, die angeblich für die “Schizophrenie” und andere “psychische Krankheiten” ursächlich sein sollen.

In seinem Director‘s Blog (3) äußert sich der Leiter des NIMH, Thomas Insel zum Stand der Forschung, kurz zusammengefasst, wie folgt:

  1. Es wurde zu einem NIMH-Mantra, psychische Krankheiten als Gehirnstörungen zu beschreiben.
  2. Psychische Störungen unterscheiden sich aber von den klassischen neurologischen Störungen. Neurologische Störungen beruhen auf fokalen Läsionen (Schädigungen, die von einem bestimmten Zielpunkt ausgehen).
  3. Psychische Krankheiten sind scheinbar Störungen von Schaltkreisen im Gehirn.
  4. Die Störungen der Schaltkreise entstehen im Lauf der Hirnentwicklung eines Menschen.
  5. Die moderne Hirnforschung macht es möglich, diese gestörten Schaltkreise zu identifizieren.
  6. Trotz ihrer atemberaubenden, explosionsartigen Entwicklung steht die neurowissenschaftliche Forschung allerdings noch ganz am Anfang.
  7. Wir wissen noch nicht einmal, was ein Schaltkreis ist. Wo beginnt er? Wo endet er? Wie hängt das Muster der Aktivität, das wir auf den Brain Scans sehen, mit dem zusammen, was tatsächlich im Gehirn geschieht? In welche Richtung fließt die Information?
  8. Die Metapher „Schaltkreis“ könnte sogar völlig unzulänglich sein, um zu beschreiben, wie mentale Vorgänge aus neuronalen Abläufen hervorgehen.
  9. „Während die neurowissenschaftlichen Entdeckungen schnell und wild kommen, können wir eine Sache bereits jetzt sagen, nämlich, dass frühere Begriffe psychischer Störungen als chemische Ungleichgewichte oder soziale Konstrukte antiquiert auszusehen beginnen. Viel von dem, was wir jetzt über die neuronale Basis psychischer Störungen lernen, ist zur Zeit noch nicht reif für die Klinik, aber es kann nur geringer Zweifel daran bestehen, dass klinische Neurowissenschaft schon bald Menschen zu gesunden helfen wird.“ („While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated. Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic, but there can be little doubt that clinical neuroscience will soon be helping people with mental disorders to recover.“)
Thomas Insel

Thomas Insel (NIMH)

Ich wiederhole: Die Sichtweisen, dass psychische Störungen chemische Ungleichgewichtszustände im Gehirn oder soziale Konstrukte (also von Psychiatern erfundene Fiktionen) seien, beginnen, antiquiert zu erscheinen.

Abschließend darf natürlich das Bekenntnis zum baldigen Durchbruch in der neurowissenschaftlichen Forschung nicht fehlen. Dies ist nicht nur das Mantra des NIMH, sondern der gesamten modernen Psychiatrie seit Jean-Martin Charcot, also seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Sind diese ominösen „Schaltkreise“ auch nur eine substanzlose Mode, so wie es die „chemischen Ungleichgewichte“ waren? Wird hier an einer neuen Legende gestrickt, die wieder einmal für ein paar Jahrzehnte leidenden Menschen ein Vertrauen in die Psychiatrie einflößt, das nicht gerechtfertigt ist?

Ich werde die Entwicklung auf dem Gebiet der “Schaltkreise” aufmerksam und unparteiisch verfolgen und berichten, wenn sie hier etwas Neues und Bemerkenswertes ergibt. Antipsychiatrische Leidenschaft und missionarischer Eifer sind mir fremd. Es geht mir nicht darum, die Psychiatrie schlechtzumachen. Der Leser darf in der Pflasterritzenflora eine von der Pharmaindustrie und den Marketingabteilungen der Psychiatrie unabhängige Berichterstattung erwarten; nicht mehr und nicht weniger.

Man darf aber wohl, ohne sich dem Verdacht der Gehässigkeit auszusetzen, mit gutem Recht betonen, dass sämtliche biologischen Theorien der “Schizophrenie” entweder bereits widerlegt wurden oder nach wie vor unbewiesen sind.

Trauma

Trotz widersprüchlicher Befunde und einer unzulänglichen empirischen Basis ist die Schizophrenie für die traditionelle Psychiatrie eine überwiegend angeborene Hirnstörung, die in erster Linie medikamentös behandelt werden muss. Neuere Erkenntnisse deuten jedoch darauf hin, dass seelische Verletzungen im Ursachenbündel dieser psychischen Störung eine erhebliche, wenn nicht die zentrale Rolle spielen.

Auf zwei Konferenzen in Madrid und London trat 2006 ein internationales Forscherteam mit empirischen Befunden an die Öffentlichkeit, die leider nur einen Sturm im Wasserglas auslösten, obwohl sie die Fundamente der gängigen “Schizophrenie”-Theorie nachhaltig erschütterten. Die Kernaussage lautet: Schwere psychische Traumatisierungen, z. B. sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlungen und emotionale Verwahrlosung, sind ein wesentlicher Faktor im Ursachenbündel der “Schizophrenie”.

Die Forscher bestreiten den genetischen Einfluss nicht, betonen aber, dass psychische Traumata von der “Schizophrenie”-Forschung bisher zugunsten biologischer Faktoren erheblich unterschätzt wurden. Die traditionelle Forschung räume zwar ein, dass Traumata bei einigen psychiatrischen Krankheiten wie beim Posttraumatischen Stress-Syndrom oder der Dissoziativen Identitätsstörung eine bedeutende Rolle spielen – als Ursache der Schizophrenie würden sie bisher aber kaum in Erwägung gezogen.

Zu dieser Gruppe von Forschern, die psycho-traumatische Ursachen der “Schizophrenie” annehmen, zählen der Neuseeländer J. Reed, der Niederländer J. van Os, der Brite A. P. Morrison sowie der Kanadier C. A. Ross. Diese Wissenschaftler analysierten die empirische Literatur, die zwischen 1872 und Juli 2005 zu diesem Thema erschienen ist, und stellten ihre Ergebnisse 2005 in der englischsprachigen psychiatrischen Fachzeitschrift „Acta Psychiatrica Scandinavica“ vor. Trotz des langen Zeitraums fand sich nur eine kleine Zahl von empirischen Studien, die den Zusammenhang zwischen Trauma und Schizophrenie bei Frauen (46) oder Männern (31) untersuchen. Die Auswertung dieser Studien ergab jedoch ein deutliches und einheitliches Bild mit u. a. folgenden Befunden:

  1. Sexueller Missbrauch, körperliche Misshandlung und emotionale Vernachlässigung sind signifikante Korrelate der “Schizophrenie”; sie stehen vor allem in engem Zusammenhang mit visuellen Halluzinationen sowie dem Stimmenhören (kommentierende und kommandierende Stimmen)
  2. Je schwerer das psychische Trauma war, desto ausgeprägter sind die psychotischen Symptome
  3. Psychologische Ansätze sind zur Behandlung traumatisierter Menschen mit der Diagnose „Schizophrenie“ effektiver als eine überwiegend medikamentöse Behandlung.
  4. Die Forscher fanden Häufigkeiten des sexuellen Missbrauchs zwischen 51 und 97 Prozent.

Die Studien beruhten allerdings überwiegend nicht auf so genannten „harten Daten” (Gerichtsurteile, Polizeiakten), sondern auf den Erinnerungen der Patienten an Missbrauch und Misshandlungen. Kritiker dieser Resultate könnten einwenden, dass diese Berichte nicht sehr zuverlässig seien, da Erinnerungen falsch sein könnten und da eine Verwechslung von Realität und Phantasie bekanntlich zum Krankheitsbild der “Schizophrenie” gehöre. Das Forscherteam hält diese Bedenken aber nicht für stichhaltig, da eine größere Zahl von wissenschaftlichen Studien zeige, dass derartige Angaben von Psychotikern einer strengen Überprüfung in der Regel standhielten. Falsche Anschuldigungen wegen sexuellen Missbrauchs seien bei Schizophrenen nicht häufiger als in der Normalbevölkerung.

Die Studie von Reed und seinen Mitarbeitern ist ein weiterer Mosaikstein eines neuen und alten Bildes der so genannten psychischen Krankheiten. Die moderne, biologisch orientierte Psychiatrie hatte die alte Erkenntnis, dass seelische Verletzungen eine wesentliche Ursache späteren psychischen Leidens seien, durch Brain-Scans und Spekulationen über Neuro-Transmitter beinahe aus dem Bewusstsein verdrängt. Nun aber zeichnet sich eine Neuorientierung ab (4). Die Bedeutung der Traumata wird wiederentdeckt und – was unter Marketinggesichtspunkten noch bedeutender ist – ihr Einfluss auf Hirnprozesse und -strukturen wird mit den modernen Methoden der medizinischen Wissenschaft untersucht.

Ob diese neue Sichtweise das alte Paradigma allerdings ersetzen kann, ist fraglich. Viel zu viele wichtige Leute haben es lieb gewonnen und werden sich nicht kampflos von ihm trennen, vor allem jene nicht, die bei Pharmaproduzenten in Arbeit und Brot stehen und solange nicht, bis die Patente der gängigen “Antipsychotika” abgelaufen sind.

Therapie

Die Schizophrenie wird heute weltweit überwiegend medikamentös behandelt. Die Mehrheit der Psychiater ist davon überzeugt, dass Psychotherapien oder andere psycho-soziale Hilfen nur als Ergänzung zur Therapie mit den sog. Neuroleptika sinnvoll sind.

Die Neuroleptika werden seit Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts zur Behandlung der Schizophrenie eingesetzt. Sie können die “Krankheit” nicht “heilen”, also die soziale Devianz nicht völlig ausmerzen, aber sie unterdrücken vor allem die positiven “Symptome” in vielen Fällen erheblich – zumindest ihr kurzfristiger Nutzen für manche Menschen ist kaum zu bestreiten. Bei etwa dreißig Prozent der Betroffenen wird die “Symptomatik” durch Neuroleptika jedoch nicht (nennenswert) beeinflusst (Julien 1997, 293).

Außerdem haben diese Substanzen z. T. erhebliche, höchst unangenehme und beeinträchtigende “Nebenwirkungen”. Zu diesen “Nebenwirkungen” zählen u. a.

  1. Frühdyskinesien (früh auftretende spontane, unwillkürliche Muskelbewegungen im Gesicht, der Augen, Zunge, des Halses, im Schlund und Nacken, der Schulter, des Rumpfs und der Extremitäten
  2. Spätdyskinesien (stereotype, unwillkürliche, mitunter irreversible, also sich nicht zurückbildende Bewegungsstörungen, die frühestens nach drei bis sechs Monaten und in der Regel erst nach mehrjähriger Therapie bzw. bei abruptem Absetzen der Medikamente auftreten und im Extremfall zur Unfähigkeit führen, selbständig zu essen und sich anzukleiden
  3. pharmakogenes Parkinson-Syndrom, also eine durch Neuroleptika ausgelöste Parkinson-Erkrankung (Schüttellähmung) bzw. pharmakogene Encephalitis lethargica.

Weitere “Nebenwirkungen” sind u. a. Sehstörungen, Harnverhaltung, Trockenheit der Schleimhäute, vermehrter Tränen- und Speichelfluss, Potenzstörungen, Gewichtszunahme, Diabetes u. v. m. Den Begriff der “Nebenwirkungen” habe ich mit Bedacht in Anführungszeichen gesetzt. Denn eine erwünschte Hauptwirkung im Sinne eines echten antipsychotischen Effekts besitzen diese Medikamente nicht, bestenfalls unterdrücken sie einige der mit der so genannten Schizophrenie verbundenen Phänomene.

Die so genannten klassischen Neuroleptika verwandeln den Patienten in einen Parkinson-Kranken. Für den Morbus Parkinson (Schüttellähmung) sind zwar die Bewegungsstörungen charakteristisch, diese Erkrankung ist u. U. aber auch mit anderen Symptomen verbunden, und zwar mit einer emotionalen Abstumpfung und als Folge mit einer starken Demotivation. Emotionale Abstumpfung und Demotivation sind die Hauptsymptome der Apathie. Die Neuroleptika können zudem eine weitere künstliche neurologische Störung, nämlich eine lethargische Encephalitis hervorrufen (Breggin, 1996, Seite 114 f.). Bei der natürlichen lethargischen Encephalitis (Europäische Schlafkrankheit) kann der Parkinsonismus eine  Folgeerkrankung sein (postencephalitischer Parkinsonismus). Die neueren, die sogenannten atypischen Neuroleptika erzeugen zwar, wenn überhaupt, nur in schwächerem Ausmaß Bewegungsstörungen, machen aber ebenfalls apathisch und können gleichermaßen überaus gefährliche Nebenwirkungen nach sich ziehen.

Die antipsychotische Wirkung der Neuroleptika besteht also darin, dass sie die Patienten gegenüber den zuvor beängstigenden Symptomen wie Halluzinationen, Stimmenhören und Wahnideen apathisch machen. Dafür nimmt man in Kauf, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Folgeschäden auftreten.

Mit diesem Komplex habe ich mich ausführlich in meinem Pflasterritzenflora-Beitrag über Neuroleptika auseinandergesetzt.

Die heute vorherrschende, überwiegend medikamentöse Behandlung von “Schizophrenen” wird allerdings von einigen Psychiatern heftig kritisiert.

Zu diesen Kritikern zählt der inzwischen verstorbene amerikanische Arzt Loren R. Mosher, der die medikamentenfreie Behandlung von “Schizophrenen” für möglich und genauso effektiv hält. Er warf der American Psychiatric Association (APA) eine “unheilige Allianz” mit der Pharma-Industrie vor. Die APA sei in erheblichem Maße von finanziellen Zuwendungen der Pharma-Industrie abhängig. Dies habe zu einer Voreingenommenheit für die medikamentöse Behandlung und zu einer Geringschätzung der medikamentenfreien Alternativen geführt (Mosher 1999). Mosher ist einer der Väter des Soteria-Konzepts, das eine weitgehend medikamenten-freie stationäre Betreuung von “Schizophrenen” vorzieht, die zudem strikt auf Gewaltanwendung verzichtet. Trotz überzeugender Erfolge gibt es heute weltweit nur eine Handvoll Einrichtungen, die nach dem Soteria-Konzept arbeiten.

Opiate

Die heute üblichen Medikamente zur Behandlung der “Schizophrenie” haben erhebliche, z. T. verheerende “Nebenwirkungen” – und sind häufig mit nicht heilbaren Spätschäden verbunden. Im 19. Jahrhundert waren Opiate das Mittel der Wahl zur Therapie dieser psychischen Störung. Opiate können zwar abhängig machen, aber sie besitzen sonst kaum schwerwiegende Nebenwirkungen. Ihre antipsychotische Wirkung ist nicht schwächer als die der Neuroleptika.

Den offensichtlichen Vorzügen der Opiate stehen allerdings eingefleischte Vorurteile gegenüber. Wie bei den Methadon-Programmen für Drogenabhängige sollten diese Vorurteile endlich überwunden werden. Mir klingt schon jetzt, bevor ich die Schaltfläche “Veröffentlichen” angeklickt habe,  das Geschrei in den Ohren: “Opiate machen doch süchtig!!!” Ja, ja, sicher, die Gefahr ist gegeben. Ansonsten aber haben sie wenig Nebenwirkungen – vor allem keine derart gravierenden wie Neuroleptika aller Arten.

Und helfen Opiate denn auch gegen “Schizophrenie”?

Es gibt nur wenig aktuelle Forschung zu diesem Thema. Aber wer sich ein wenig auskennt in der Welt der Drogenabhängigen, der weiß, dass eine nennenswerte Zahl von ihnen an den “Symptomen” der so genannten Schizophrenie leidet und nicht wenige Opiate zur Selbstmedikation dieser Störungen einsetzen. In Methadon-Programmen führt eine regelmäßige, verlässliche und angemessene Versorgung mit der Substanz dann auch in vielen Fällen zu einer wesentlichen Besserung der “psychotischen Symptomatik”. Das ist auch kein Wunder, denn schon die Alten wussten, dass Opiate eine beachtliche antipsychotische Tendenz besitzen.

Daraus folgt: Sinnvoll wäre eine psychologische Beratung der Betroffenen, die Trauma-Erfahrungen nicht ausklammert (oder als Irrsinn abtut), wenn die “schizophrenen” Klienten davon sprechen – wie wirr und phantastisch auch immer. Die Unterbringung nach dem Soteria-Konzept ist mitunter hilfreich. Wie bereits erwähnt, sieht das Soteria-Konzept eine stationäre Betreuung von Menschen in psychotischen Krisen vor. Die Patienten werden rund um die Uhr von semiprofessionellem Personal begleitet. Die Grundhaltung ist akzeptierend und Medikamente werden, wenn überhaupt, nur sehr sparsam und mit Einverständnis der Betroffenen eingesetzt. Falls Psychopharmaka dennoch unerlässlich bzw. vom “Patienten” gewünscht  sein sollten, wäre zur Krisenintervention, u. U. auch als Langzeitanwendung, an Opiate zu denken. Aus meiner Sicht wären diese Drogen, trotz Abhängigkeitsgefahr, den Neuroleptika mit all ihren aktuellen und langfristigen, z. T. verheerenden “Nebenwirkungen” auf jeden Fall vorzuziehen.

Die Würfel sind gefallen

Blicken wir den Tatsachen ins Auge. Die Würfel sind leider gefallen zugunsten der Neuroleptika. Dies zeigt sich auch in der Forschung, besser: es zeigt sich in der Nicht-Forschung. Abgesehen von ein paar Studien gibt es kaum systematische Vergleiche zwischen Opiaten und Neuroleptika. Die Neuroleptika, auch die atypischen, haben sämtlich erhebliche “Nebenwirkungen”, z. T. verheerende. Die Langzeitbehandlung mit diesen Medikamenten richtet mehr Schaden an als sie Nutzen stiftet.

Häufig sind die Betroffenen nicht bereit, Neuroleptika (regelmäßig) einzunehmen – und wenn Ärzte ihrer Pflicht zur wahrheitsgemäßen Information über diese Medikamente entsprechen, dann wird die Bereitschaft zur Einnahme noch erheblich geringer. Es ist also höchste Zeit, im Sinne der Patienten mit einer “Schizophrenie”-Diagnose über Alternativen nachzudenken.

Opiate könnten eine solche Alternative sein. Dies wird von vielen Fachleuten mit Entsetzen zurückgewiesen. Neuroleptika mit ihre teilweise katastrophalen “Nebenwirkungen” sind aber mit Sicherheit die schlechtere Lösung. Man hat sich jahrelang mit Händen und Füßen gegen die Behandlung von Fixern mit Methadon gesträubt, noch heftiger gegen die Heroin-Programme. Heute gibt es keinen Zweifel mehr: Substitution und Heroinprogramme sind erfolgreich.

Ähnliches würde man vermutlich erleben, wenn man Substitutionsprogramme für Neuroleptika-Gebraucher anbieten würde. Natürlich, gegen diese Idee würde sich noch viel stärkerer Widerstand regen als gegen die Substitution.

Doch warum eigentlich: Was ist die rationale Basis dieses Widerstands? Dass Opiate süchtig machen können? Kann das ein Argument sein, wenn die Alternative die oft lebenslang für erforderlich gehaltene Einnahme von Neuroleptika ist – also von Medikamenten mit verheerenden “Nebenwirkungen”? Ist das ein rationales Argument? Vor einer vorschnellen Beantwortung dieser Frage sollte man bedenken, dass Neuroleptika ebenfalls abhängig machen, was sich an Entzugserscheinungen zeigt.

Auch Neuroleptika wirken, weil sie sedieren, genauso wie Opiate. Opiate sedieren aber mit weniger Nebenwirkungen – vor allem besitzen sie, in reiner Form, keine verheerenden “Nebenwirkungen”, so wie die Neuroleptika. Wie bei der Substitution heißt die Devise: Schaden begrenzen, “Harm Reduction”. Selbstverständlich dürfte auch die Bereitschaft der Betroffenen, Opiate zur Linderung ihrer Beschwerden zu nehmen, weitaus größer sein als bei den Neuroleptika. Opiate haben nämlich eine stimmungsaufhellende, wohltuende Wirkung – ganz im Gegensatz zu den Neuroleptika.

Natürlich: Unserem Anspruch, Krone der Schöpfung zu sein, entsprechen wir mit “Opiaten in der Birne” zweifellos nicht – aber mit kaum einem Medikament bewegt sich der Mensch aus meiner Sicht weiter auf ein subhumanes Niveau zu als mit Neuroleptika.

Substitution und Heroinprogramme beweisen, dass Opiate eben nicht nur Schmerzmittel sind. Sie wirken sich auch positiv auf sehr komplexe bio-psycho-soziale Problemlagen (Abhängigkeiten) aus. “Schizophrenie” ist ebenfalls, wie sogar die Psychiatrie einräumt, eine sehr komplexe bio-psycho-soziale Problemlage. Die “Schizophrenie” besitzt sogar, da die entsprechenden Formen des Verhaltens und Erlebens auch als Abwehrmechanismen fungieren – so wie der Konsum von Alkohol und Drogen – suchtartige Aspekte. Dies wird nur leider aufgrund einer einseitig biologischen (also biologistischen) Sichtweise häufig übersehen.

Dass Opiate heute kaum noch ernsthaft zur Milderung psychotischen Verhaltens und Erlebens erwogen werden, hat keine rationalen medizinischen Gründe. Dies ist die Folge einer unseligen Drogenpolitik, die u. a. zu einer völlig wirklichkeitsfremden Einstellung gegenüber bestimmten psychoaktiven Substanzen in der Bevölkerung und natürlich auch bei Politikern geführt hat.

Es spielen sicher aber auch Geschäftsinteressen eine Rolle. Die oft absurd hohen Schwarzmarktpreise sollten nicht zu der Ansicht verleiten, Opiate seien zwangsläufig teure Medikamente. Man kann sie sogar erheblich billiger produzieren als Neuroleptika, weil sie nicht patentgeschützt sind. Deswegen aber sind sie für die Pharmaindustrie nicht besonders attraktiv.

Ärzte, die sich wegen der Suchtgefahr Sorgen machen, könnten es zunächst einmal mit Präparaten versuchen, die ein stark reduziertes Suchtpotential besitzen, weil sie ein Opioid mit einem Opioid-Antagonisten kombinieren. Ansonsten ist die Suchtgefahr, wenn eine kostengünstige Versorgung mit der Substanz gewährleistet ist, ohnehin eines der geringeren Probleme im Gesamtzusammenhang einer alternativen “Schizophrenie”-Behandlung.

Außerdem sollte man mit einer weiteren Legende aufräumen, dass nämlich bei “Schizophrenie” nur ein Stillstand der Symptome, aber keine “Heilung” zu erreichen sei. Eine Überwindung der sozialen Devianz ist möglich – und bei einem “geheilten” Schizophrenen entfiele dann auch der ursprüngliche Grund für den Opiatkonsum, der allerdings auch eine, evtl. gesondert zu behandelnde, Eigendynamik gewinnen kann. Wegen dieser Eigendynamik und wegen der Gefahren, die mit gestrecktem Stoff verbunden sind: Hände weg von der Selbstmedikation!

Nachbemerkung

Ich sympathisiere mit der psychiatriekritischen Betroffenenbewegung, die “Schizophrenie” für ein “strategisches Etikett” zur Ausgrenzung von Menschen mit außergewöhnlicher Wirklichkeitserfahrung hält.

Andererseits kann ich mich aufgrund von Erfahrungen mit “Schizophrenen” auch nicht vor der Einsicht verschließen, dass manche dieser Menschen selbst erheblich zu dieser Ausgrenzung beitragen und die Grenzen der Belastbarkeit ihrer Mitmenschen bis an den Rand des Erträglichen und darüber hinaus testen.

Diese Tests halte ich nicht für “krankheitsbedingt”, das ist vor allem eine Charakterfrage. Menschen mit außergewöhnlicher Wirklichkeitserfahrung müssen mitunter ein wenig an ihrem Charakter arbeiten, um zu lernen, ihre außergewöhnliche Wirklichkeitserfahrung sozialverträglich auszuleben. Es gilt, die eigene Verantwortung zu erkennen und sich entsprechend verantwortlich zu verhalten.

Von Fall zu Fall ist es ratsam, sich zu diesem Zweck von anderen helfen zu lassen. Hilfe ist aber nur dann sinnvoll, wenn sie verantwortliches Verhalten und Selbstbestimmung fördert und wenn sie auch das zu leisten vermag, was sie verspricht.

Anmerkungen

(1) Szasz, T. (1969). Interview with Thomas Szasz. The New Physician, June, 453 – 476

(2) Bentall, R. (2009). Doctoring the mind: is our current treatment of mental illness really any good? New York, NYU Press; Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.

(3) Insel, T. (2011). Director’s Blog: Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits, http://www.nimh.nih.gov/about/director/2011/mental-illness-defined-as-disruption-in-neural-circuits.shtml

(4) Ob diese Neuorientierung durch den Rückzug der Industrie aus der Psychopharmaka-Forschung gefördert wurde, ist eine offene Frage.

(5) In seinem Buch “Schizophrenie. Das heilige Symbol der Psychiatrie” (Frankfurt a. M., 1982: Fischer Taschenbuch Verlag) schreibt der kritische Psychiater Thomas S. Szasz:

“Kurz, obwohl die Schizophrenie keine Krankheit ist, muss der Begriff Schizophrenie nicht unbedingt sinnlos sein: Ebenso wie der Begriff Ehe bezieht er sich gewöhnlich auf ein komplexes und – von Epoche zu Epoche, Klasse zu Klasse und Kultur zu Kultur – höchst variables Verhaltensspektrum seitens der “Patienten”, der “Psychiater” sowie der Öffentlichkeit, die dieses Verhalten billigt, missbilligt oder einfach miterlebt. Wir können uns, falls wir es wünschen, erneut dem Versuch widmen, diese Handlungsweisen und Beziehungen zu verstehen und sie in einer Weise zu verändern, die uns wünschenswert erscheint. Aber wir können dies nicht tun, solange wir Psychiater bleiben. Ebenso wie Ehemänner und Ehefrauen einander durch das existenzielle Band zwischen ihnen erschaffen, bedingen auch Irre und Irrenärzte einander. Darin liegt die medizinische Tragödie und die moralische Herausforderung der Psychose und der Psychiatrie (169 f.).”

Literatur

Andreasen, N. C. & Black, D. W.: Lehrbuch Psychiatrie. Weinheim (Psychologie Verlags Union) 1993
Breggin, P. R.: Giftige Psychiatrie, Band 1. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1996
Julien, R. M.: Drogen und Psychopharmaka. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1997
Mosher, L. R.: Are Psychiatrists Betraying Their Patients? (researchers, psychiatrists indebted to drug companies). Psychology Today, Sept. 1999
Read, J. et al.: Childhood trauma, psychosis and schizophrenia: a literature review with theoretical and clinical implications. Acta Psychiatrica Scandinavia, 112: 330-350, 2005
Ross, C. A. & Joshi, S.: Schneiderian symptoms and childhood trauma in the general population. Comprehensive Psychiatry, 33, 1992, 269-273
Valenstein, E. S.: Blaming the Brain. The Truth About Drugs and Mental Health. New York (The Free Press), 1998

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Personalisierte Psychiatrie?

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Positives Denken

Viele Psychiater sind Meister des positiven Denkens. Gelernt ist halt gelernt. Ein Beispiel dafür ist Florian Holsboer. Der Mann ist Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Eine Kostprobe seiner Kunst lieferte er in der Zeitung “Der Tagesspiegel” (online 19.11.2012) ab. Holsboers Artikel ist mit einer Schlagzeile überschrieben, die sofort hoffnungsfroh stimmt:

“Personalisierte psychiatrische Behandlung. Auf dem Weg zu einer individuellen Versorgung.”

Wer die Sache nüchtern betrachtet, darf daraus schließen, dass die psychiatrische Behandlung bisher nicht individuell, also auf den Patienten zugeschnitten ist. Holsboer räumt dies auch implizit, also unausgesprochen im ersten Satz seiner Ausarbeitung ein. Hier heißt es, dass die Psychiatrie, anders als andere Fachdisziplinen der Medizin, sich in der Diagnostik nicht auf objektive Laborbefunde stützen könne. Damit seien, als Hauptnachteil, unbefriedigende Behandlungserfolge mit Psychopharmaka verbunden – und zwar selbst dann, wenn die Patienten zusätzlich eine Psychotherapie erhielten.

Nüchtern denkende Leute würden hier zunächst einmal konstatieren, dass die psychiatrische Diagnostik demgemäß subjektiv, also willkürlich ist und nur auf dem Gut- oder Schlechtdünken des Diagnostikers beruht. Der Münchener Psychiater übergeht diesen naheliegenden Gesichtspunkt aber elegant, indem er die Subjektivität, als Unwissenschaftlichkeit der psychiatrischen Diagnostik nur für unbefriedigende Behandlungserfolge verantwortlich macht, die Zunft aber nicht insgesamt als wissenschaftliche Disziplin in Frage stellt.

Bisher, so schreibt er weiter, habe die Pharmaindustrie eine Strategie verfolgt, die sich auf Medikamente konzentrierte, die bei allen Patienten wirken sollen. Angesichts der erwähnten schlechten Behandlungserfolge sei die Zeit der Block-Buster nun aber vorbei. Holsboer, der positive Denker, vergisst zu erwähnen, dass sich fast alle namhaften Pharma-Unternehmen wegen der schlechten Geschäftsaussichten dort aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen haben.

Holsboer bezieht sich in seinem Artikel überwiegend auf Antidepressiva, aber sein Befund trifft auch auf andere Wirkstoffe zu. Damit all dies nicht gar so betrüblich klingt, fügt er hinzu, dass Antidepressiva immerhin bei 70 Prozent der Patienten wirkten – und deckt den wohltätigen Mantel des Schweigens über den Stand der Forschung. Dieser besagt, dass Antidepressiva nicht oder nicht nennenswert effektiver sind als Placebos.

Der Weg ist voller Windungen und Wendungen, doch die Zukunft ist licht

Nun aber wollen wir uns nicht länger im Dunklen tummeln, denn, ach, wie licht ist doch die Zukunft. Es habe sich nämlich herausgestellt, dass sich bei Patienten, die unter einer bestimmten psychiatrischen Diagnose zusammengefasst würden, ganz unterschiedliche “Krankheitsmechanismen” zeigten. Dies ist wohl wahr. Kritische Geister schließen aus den Erkenntnissen der modernen neurowissenschaftlichen Forschung, dass diese so genannten psychiatrischen Diagnosen wie Schizophrenie oder Depression keine einheitlichen Prozesse im Nervensystem widerspiegeln und darum nicht valide sind. Holsboer hat eingangs ja bereits eingeräumt, dass es keine objektiven Laborbefunde gibt, auch bei den Brainscans sieht es nicht besser aus.

Die Therapie der Zukunft, schreibt der Direktor des Max-Planck-Instituts, ziele daher auf den individuell vorliegenden Mechanismus. Bei genauerer Betrachtung lässt sich aber nicht übersehen, dass dieser Mechanismus, sowohl beim Individuum, als auch beim Kollektiv, nach wie vor völlig unbekannt ist. Die Neurotransmitter-Hypothesen sind allesamt im Lichte der empirischen Forschung grandios gescheitert, und für die gestörten elektrischen Schaltkreise, die nun verantwortlich gemacht werden, fehlt jeder, selbst der zarteste Anflug eines Hauchs des Verständnisses.

Es komme darauf an, die Wechselwirkung zwischen Genvariationen und äußeren Einwirkungen wie Stress und Traumatisierung zu verstehen. Der nüchterne Beobachter der Szene weiß aber, dass im Augenblick, trotz mehrerer Jahrzehnte intensiver Forschung, noch keine methodisch einwandfreien Beweise für genetische Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten vorliegen.

Aber Holsboer lässt sich von der empirischen Forschung nicht irre machen. Das größte Problem sei die Blut-Hirn-Schranke. Das Hirn hat bekanntlich einen eingebauten Mechanismus, der dafür sorgt, dass nicht jeder Dreck ins Allerheiligste eindringen kann. Diese Blut-Hirn-Schranke arbeite aber von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Mit Gentests könne man feststellen, welches Medikament bei welchem Patienten am besten durchkomme.

Die teilweise gravierenden Nebenwirkungen der heutigen Medikamente räumt auch Holsboer ein. Neue sind allerdings nicht in Sicht. Die empirische Forschung zeigt, dass die vorhandenen Medikamente auf lange Sicht mehr Schaden anrichten als nutzen. Und die Pharmaindustrie scheint mehrheitlich nicht gewillt zu sein, sich weiterhin auf das riskante Abenteuer aufwändiger Psychopharmaka-Forschung einzulassen.

Wer den hier vorgetragenen kritischen Einwänden nicht glauben mag, kann, sofern er Zeit und Lust dazu hat, mein Tagebuch durchblättern. Dort findet man zahllose Hinweise auf empirische Studien, die meine Positionen bestätigen. Für Eilige bietet folgender Tagebuch-Eintrag einen guten Überblick: Ist die Psychiatrie noch zu retten und wenn ja, von wem? Außerdem gibt es inzwischen ein Reihe ausgezeichneter Bücher zum gegenwärtigen Stand der Psychiatrie. Ein besonders zu empfehlendes Werk habe ich in der “Pflasterritzenflora” rezensiert: Anatomy of an Epidemic.

Ein Interview

Weil Florian Holsboer ein so positiv denkender Psychiater ist und dies Anerkennung verdient, will ich es nicht versäumen, auf seine Website hinzuweisen, auf der er sein neues Buch “Biologie für die Seele” bewirbt und sich als Vorreiter einer personalisierten Psychiatrie zu erkennen gibt. Der Professor ist nicht nur Psychiater, sondern auch Chemiker – sagt, wer also könnte sich kompetenter zur Seelenchemie äußern als Florian Holsboer?

Im Wissenschaftsmagazin “Geist & Gehirn” (12, 2011) findet sich unter dem Titel “Psychische Störungen sind Hirnerkrankungen” ein Interview mit dem vielseitigen Gelehrten, in dem er mit Nachdruck behauptet, was der Titel verspricht. Er ist also nicht nur ein optimistischer, sondern auch ein mutiger Mann. Denn es ist ja für einen Wissenschaftler schon riskant, eine so steile These ohne die Spur eines Beweises zu vertreten. Fakt ist, dass bisher bei keiner “psychischen Krankheit” gestörte Gehirnprozesse festgestellt werden konnten.

Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” (1)

Was erzählt uns der Professor da eigentlich, mag sich nun mancher fragen, der mir zu glauben geneigt ist. Auf die Frage, ob alle psychischen Störungen Hirnerkrankungen seien, antwortet der Professor im genannten Interview unverzagt:

“Ja, sicher. Im Kern handelt es sich immer um ein Ungleichgewicht in der Biochemie der Zellen des Gehirns. Die organische Ursache psychischer Erkrankungen war übrigens in der Antike bereits akzeptiert. Galens Säftelehre besagt ja genau das.”

Säftelehre

Galen detail

Galen (Wikipedia)

Genau das? Genau das ist wahrlich ein starkes Stück.

Nach Galens Säftelehre (Humoralpathologie) walteten im menschlichen Körper vier Säfte, nämlich das Blut, die gelbe und die schwarze Galle sowie der Schleim. Waren die Säfte ausgewogen, so galt der Mensch als gesund. War das Gleichgewicht jedoch gestört, so litt er an der einen oder anderen Erkrankung, zu denen auch die seelischen zählten.

Diese Lehre beherrschte die westliche Medizin bis ins 19. Jahrhundert. Sie wurde auf Basis der Ideen Galens weiterentwickelt, aber keineswegs auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Säfte wurden diversen Elementen, Zuständen und Personen zugeordnet, das Blut beispielsweise der Luft, dem sanguinischen Temperament, den Farben rot und blau, dem Geschmacksrichtungen bittersüßlich und aromatisch, der Eigenschaft heiter, der Kindheit, dem Apostel Johannes und der Himmelsrichtung Osten. Wir erkennen hier also unschwer, dass die Säftelehre keineswegs die organische Grundlage psychischer Störungen akzeptiert, sondern sie mystisch interpretiert und dabei einzelnen Organen eine symbolische Bedeutung beimisst. Hierzu habe ich mich ausführlicher in meinem Beitrag “Hat es psychische Krankheiten schon immer gegeben?” geäußert.

Nicht nur in der Antike, sondern auch in der späteren Zeit, bis ins 19. Jahrhundert hinein verstand man unter Krankheiten, unter den Krankheiten der Seele, unter der Seele selbst und auch unter dem Beruf des Arztes etwas anderes, ja etwas vollständig anderes als heute. Wenn sich Holsboer in die Tradition antiker Ärzte stellt, dann ist ihm vielleicht, so will ich annehmen, gar nicht bewusst, dass er sich damit in die Tradition von Quacksalbern einordnet.

Zyniker könnten dies hämisch mit dem Kommentar quittieren, dass Holsboer damit ja gar nicht so falsch liege, trotz der modernen “bildgebenden Verfahren” und des anderen Schnickschnacks der so genannten biologischen Psychiatrie. Wer, so wie ich, etwas mehr und wohlwollendes Verständnis aufbringt, muss zumindest einräumen, dass sich der Professor, anders als viele seiner deutschen Kollegen, an der Front des modernen Denkens in der Psychiatrie bewegt.

NIMH

Im Interview sagt er:

“Die offiziellen Diagnosen entstehen am Konferenztisch, nicht im Labor. Solange die Ergebnisse der Neurowissenschaften nicht integriert werden, halte ich davon nicht viel.”

Dies klingt wie aus dem Munde Thomas Insels, der dem “National Institute of Mental Health” (NIMH) vorsteht und mit dieser US-Behörde wissenschaftlich weltweit den Ton angibt. Das NIMH hat unlängst beschlossen, nur noch Forschungen zu fördern, die unabhängig vom Diagnose-Manual der amerikanischen Psychiatrie, dem DSM gestaltet werden. Holsboer, der auch führende Positionen in der Pharmaindustrie eingenommen hat, bewegt sich auch sonst auf der Linie des NIMH.

In einem Beitrag seines Director’s Blog konstatiert und beklagt Thomas Insel den Rückzug der Pharmaindustrie aus der Psychopharmaka-Forschung und stellt die bange Frage, wer diese denn in Zukunft entwickeln werde. Er schreibt:

“Drug development is costly.  And, according to industry figures, it is usually unsuccessful.  Current figures estimate a cost of nearly $1.8 billion across 25 separate projects to successfully launch a single drug.  With an annual budget of $1.4 billion, NIMH will not be able to replace pharma.  Short of replacing pharma, can we feed the pipeline at various points to ensure that drug development does not grind to a halt? Could a few key discoveries from NIMH-supported science yield the “quick win-fast fail” tools that would re-incentivize industry to invest in innovation?”

Im Holsboer-Interview heißt es:

“Die Entwicklung eines Medikaments kann leicht mehrere hundert Millionen Euro kosten. Rund 85 Prozent davon werden für die klinischen Studien ausgegeben. Bei unspezifischen Medikamenten brauchen Sie allerdings extrem viele Patienten, um eine Wirkung nachzuweisen.”

Es klingt wie eine Antwort auf Insels zweifelnde Frage, wenn Holsboer nun fortfährt:

“Solche (Studien), die auf eine ganz bestimmte Patientengruppe zugeschnitten werden, kosten nur einen Bruchteil.”

Docta spes?

Dass sich Leute wie Florian Holsboer und Thomas Insel von der Kraft des positiven Denkens mitreißen lassen, ist sicher erfreulich und sorgt für frischen Welt im Reich der Psychiatrie. Allein, was, außer Optimismus, haben diese Leute als Faktenbasis zu bieten, die diesen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft auch rechtfertigen könnte? Tatsache ist, dass die Neurotransmitter-Thesen gescheitert sind und die Suche nach den gestörten Schaltkreisen die Kinderschuhe noch nicht einmal anprobiert hat. Eine personalisierte Psychiatrie ist erst recht nicht in Sicht.

Die Neurowissenschaften, die in den Medien gern als Silberstreif am Horizont gefeiert werden, erweisen sich bei näherer Betrachtung als ein Sammelsurium methodisch fragwürdiger “Erkenntnisse” auf Basis einer atemberaubenden Perspektivlosigkeit. Die entscheidenden Fragen wurden nicht nur noch nicht beantwortet, schlimmer, man weiß gar nicht, welche Fragen man eigentlich stellen soll. Aber, immerhin, ist nicht die Idee zur Kostensenkung in der Psychopharmaka-Forschung eine gute? Oder?

Anmerkung

(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

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Psychiatriekritik, leicht und verständlich

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Neben allerlei Zuspruch und Ermutigung erntete die Pflasterritzenflora im Lauf der Zeit auch einige Kritik: Die Texte seien mitunter zu lang, gekennzeichnet durch vielfache Ab- und Ausschweifungen und sie seien für Leute, die sich noch nicht mit der Thematik beschäftigt hätten, oftmals schwer verständlich.

Meine Replik darauf lautete zumeist: Ich schriebe nun einmal nicht für alle, nur einen kleinen Kreis der wirklich Interessierten wolle ich ansprechen, ich sei kein Politiker, kein Missionar, sondern griffe um des Spaßes willen zur Feder, und wem das nicht gefiele, der könne sich ja den Blogs zuwenden, die das Thema in gefälliger Form abhandelten.

Die kurzen Sätze, die schlichte Argumentation, die Beschränkung auf ein eng eingegrenztes Thema, die ins Format einer DIN-A4-Seite gepresste Gedankenführung, das Vermeiden von Fremdwörtern, von seltenen Begriffen und seltsamen Redewendungen… all dies ist natürlich und unbestritten ein Muss für Leute, die möglichst viele Klicks ernten und A-Blogger werden möchten. Wer ehrlich und aufrichtig von seiner Botschaft beseelt ist und ohne Eitelkeit, nur der Sache verpflichtet die Herzen bewegen und die Hirne aufwühlen möchte, muss selbstredend auch so schreiben, am besten wie die Bildzeitung.

Allein: Was nützte es denn, ich erreichte die Massen, jedoch mit Formulierungen, die gar nicht das treffen, was ich zu sagen habe. Leicht verständlich ist bekanntlich nur das, was die Leute ohnehin schon wissen und immer und immer wieder gern hören. Leicht verständlich ist bekanntlich nur das, was zu verstehen keine Mühe macht, keine Eigenleistung, kein Nachdenken, kein Recherchieren, kein kritisches Vergleichen und Überprüfen erfordert. Leicht verständlich ist bekanntlich nur das, was Komplexität reduziert, so sehr, dass…

Halt! Ist es nicht gerade die Kunst, Schwieriges einfach zu formulieren, so dass es jeder versteht, ohne dass dabei der Kern der Sache unter den Tisch fällt? Ist es nicht gerade die Kunst, die Leute da abzuholen, wo sie im Augenblick stehen und ihnen dann, Schritt für Schritt, neue Horizonte zu erschließen? Ist es nicht gerade die Kunst, das Sprache des Volkes zu sprechen?

Vielleicht? So lautete jedenfalls eine Forderung der politisch Bewegten in meiner Jugend, als die Leute heute Hippies, morgen Maoisten und übermorgen Sozialdemokraten oder Grüne waren. Immer besser passten sie sich in ihren Verlautbarungen den Denkschemata der Massen an und heute lesen wir in der Bildzeitung und anderen leicht verständlichen Blättern in schlichter Sprache mit kurzen Sätzen in Artikeln mit höchstens 150 Wörtern von ihren segensreichen Taten.

Das Verständnisproblem der Psychiatriekritik besteht nicht darin, dass die Psychiatrie eine schwierige Wissenschaft wäre, eine Geflecht komplizierter Zusammenhänge, die es in einer dem Laienverstand entsprechenden Weise zu entwirren gelte. Nein, das Verständnisproblem besteht darin, dass die Selbstverständlichkeiten, die sich hinter einem Wust von hochgeschraubten Ideologien verbergen, für die Masse der Menschen nur schwer zu verdauen sind. Krass formuliert kann man sagen: Psychiatriekritik wird von vielen nicht verstanden, weil sie Psychiatriekritik nicht verstehen wollen.

Es ist ja nicht schwer zu verstehen, dass, wer “psychische Krankheiten” nicht objektiv zu diagnostizieren vermag und wer nicht weiß, was sie angeblich verursacht, sie (ja was denn eigentlich) weder erforschen, noch behandeln kann. Es ist ja nicht schwer zu verstehen, dass die willkürliche psychiatrische Diagnostik eine beständige Versuchung darstellt, die Zahl der “psychisch Kranken” zu Gunsten des eigenen Geldbeutels zu erhöhen. Es ist ja wirklich nicht schwer zu verstehen, dass bei Medikamentenstudien, die von der Pharmaindustrie betrieben oder massiv finanziell beeinflusst wurden, die Gefahr der Verfälschung besteht. Man könnte sich hier in einer langen Liste dessen ergehen, was ja nun wirklich nicht schwer zu verstehen ist, selbst wenn man es in langen und verschachtelten Sätzen mitzuteilen geruht.

Tatsache ist, dass sie die Mehrheit der Menschen ein Leben ohne Psychiatrie nicht vorstellen kann und auch nicht will. Und das hat auch einen Grund. Die Psychiatrie hat auf einem Weg voller Windungen und Wendungen schließlich eine bequeme, eine allzu bequeme Art entwickelt, Problemfälle unserer Gesellschaft zu entsorgen, notfalls (und wie leicht wird etwas zum Notfall, wenn ein starkes Bedürfnis dahintersteht) – notfalls also auch mit Gewalt, mit “helfendem Zwang”.

Für diese Masse der Menschen schreibe ich nicht. Wenn dies arrogant klingt, elitär, so sei es. Ich schreibe für Individuen, für Persönlichkeiten, die sich der Mühe des Lesens unterziehen wollen. Ich glaube nämlich nicht, dass Leute, die, dank meines Schriebs, verstanden haben, was sie ohnehin schon wussten und wissen wollten, durch meine, durch derartige Texte zu irgendetwas Gutem veranlasst werden könnten.  Es ist wohl wahr, dass der Einfluss eines Blogs mit der Zahl seiner Leser steigt. Oder präziser formuliert: Der Einfluss seines Autors, unabhängig davon, was er mit seiner Botschaft Gutes bewirkt.

Nun könnte ich, abschließend, den berühmten Einzelnen, der meine Texte mit Gewinn gelesen hat, als denjenigen rühmen, für den sich man Schaffen gelohnt, der die Anstrengung meines Schreibens gerechtfertigt habe. Dies könnte ich, entschlage mich dessen aber, nicht nur, weil mir die Pathetik nicht behagt, sondern weil es schlicht und ergreifend auch nicht stimmt, nicht wirklich. Erstens reicht mir der Einzelne nicht, zwei oder drei sollten es schon sein, mindestens, und selbst wenn ich die beisammen hätte, wäre ich immer noch nicht zufrieden. Falls mir ein Text keinen Spaß beim Schreiben bereitet, so ist er nichts wert für mich, ganz gleich, wie viele Einzelne davon berauscht, beglückt oder auch nur gut informiert sein mögen.

Psychiatriekritik muss Spaß machen. Eine Lust muss es sein, Unwürdiges unwürdig zu nennen, Heuchlerisches heuchlerisch, Geschäftemacherei Geschäftemacherei, Repression Repression, Dummheit Dummheit. Noch mehr Freude kommt auf, wenn man all dies nicht nur behauptet, sondern durch Fakten belegen kann. Das nenne ich die Freiheit der Berge, über die bekanntlich nichts geht. Dort droben, den blauen Himmel über sich, mit seinem Herrgott (so viel Kitsch muss sein) allein zu sein, wie schön ist das!

So, das musste ich mir einfach einmal von der Seele schreiben. Wenn jemand hier mitliest, so weiß er jetzt, wie’s mir ums Herz bestellt ist.

PS: Dieser Tagebucheintrag ist, für meine Verhältnisse, ziemlich kurz, noch nicht einmal tausend Wörter lang. Daraus sollte der kritische Leser aber nicht den Schluss ziehen, dass ich insgeheim schon in die Knie gehe. Beileibe nicht. Nur: Die Tinte ist aus.

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Die falsche Psychiatriekritik

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Psychiatrie-Kritik, die aus gutem Grund die Existenz psychischer Krankheiten bestreitet, kann natürlich auch von politisch rechten Kreisen als Argumentationshilfe dazu missbraucht werden, die Kürzung und Streichung von Mitteln für Leute zu propagieren, die unter jenen Phänomenen leiden, die von der Psychiatrie als “Symptome” einer “psychischen Krankheit” missdeutet werden.

Fernab davon, sich die Logik angemessener Psychiatriekritik zu erschließen oder sie sich gar zu eigen zu machen, werden sich Rechte mit derartigen Intentionen vor allem die Rosinen herauspicken. Wenn, so werden sie argumentieren, Psychotherapie ohnehin nicht wirksamer ist als ein Placebo, warum muss das dann die Solidargemeinschaft der Versicherten bezahlen? Wenn es letztlich doch von der Entscheidung des Einzelnen abhängt, ob er auf bedrückende Lebensumstände mit psychischen Störungen reagiert, warum soll er dann noch mit kostspieligen Angeboten ermutigt werden, sich hängen zu lassen. Wenn Therapien für Kriminelle nichts bringen, warum stecken wir die psychisch Gestörten nicht in den billigeren Normalknast?

Es ist mir bewusst, dass auch meine Argumentation in der Pflasterritzenflora, wenn man sie einseitig auffasst, solche Gedanken nahelegen könnte. Doch ich betone mit großem Nachdruck, dass meine Texte so keineswegs gemeint sind. Im Gegenteil: Menschen mit Lebensproblemen benötigen, wenn sie diese beanspruchen, nicht weniger, sondern nur andere Formen der Hilfe. Diese anderen Formen sind zwar in der Tat häufig billiger als die Maßnahmen der traditionellen Psychiatrie; allein, wären sie teurer, so würde ich sie dessen ungeachtet dennoch für notwendig halten.

Die Psychiatrie ist zu einem gigantischen Apparat angeschwollen, der für die Betroffenen wenig leistet und für die Allgemeinheit überaus kostspielig ist. Die psychiatrischen Medikamente nutzen wenig und häufig schaden sie sogar erheblich, was neben vermeidbaren menschlichen Leid oftmals ebenso überflüssige Folgekosten verursacht.

Angemessene, sogar großzügige finanzielle Unterstützung alternativer Projekte, die auf Selbsthilfe mit semiprofessioneller Begleitung setzen, würde nicht nur bessere Leistungen hervorbringen, sondern sie wäre auch deutlich billiger, verglichen mit der heutigen Psychiatrie. Denn diese ist, vor allem im Bereich der Ärzte, mit hohen Personalkosten verbunden, obwohl Mediziner zur Lösung der Probleme, um die es hier geht, gar nicht, oder allenfalls für Hilfsdienste am Rande, gebraucht werden. Hinzu treten natürlich auch die schamlosen Preise für so genannte Medikamente, die ihr Geld nicht wert sind.

Ich plädiere also nicht für eine Verschlechterung der Hilfen, sondern für eine Verbesserung und nehme billigend in Kauf, :) , dass dies zu einer Kostenreduzierung führen könnte. Wahrscheinlich ließe sich eine gewaltige Menge Geld einsparen. Man könnte es beispielsweise in die Bildung stecken oder zur Verbesserung von Freizeitangeboten für Jugendliche aufwenden. Es ist aus meiner Sicht jedenfalls nicht einzusehen, warum Mittel für die Psychiatrie verschleudert werden, die uns bisher einen seriösen Nachweis ihrer Kosteneffizienz schuldig geblieben ist.

Falsche Psychiatriekritik bedeutet, den beklagenswerten Zustand der Psychiatrie zum Anlass zu nehmen, um bei den Ärmsten der Armen zu sparen. Falsche Psychiatriekritik bedeutet, mit Hinweis auf die Ineffizienz der Psychiatrie soziale Kälte und Härte zu legitimieren. Es ist zwar richtig, dass Menschen sich dazu entscheiden, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen. Und ist trifft auch zu, dass sie niemand und nichts dazu zwingt, weder eine Hirnstörung, noch eine frühkindliche Traumatisierung oder miserable Lebensumstände. Man kann auch nicht bestreiten, dass Menschen die Rolle des “psychisch Kranken” einnehmen, weil ihnen dies als die beste Alternative unter den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erscheint.

Allein: Nicht immer liegen sie falsch mit dieser Einschätzung. Mitunter ist es wirklich besser, sich eine Depression zu nehmen, als sich vom Boss schikanieren zu lassen. Gelegentlich ist eine Angststörung besser als eine Arbeit unter gesundheitsschädlichen und nervenaufreibenden Bedingungen in der Fabrik. Dass Menschen es vorziehen, unter solchen oder ähnlichen, menschenunwürdigen Bedingungen “psychisch krank” zu werden, kann ich nachvollziehen. Auch wenn Umweltfaktoren niemanden dazu zwingen, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen, so tragen sie nicht selten erheblich dazu bei, dass jemand in sie hineinrutscht.

Falsche Psychiatriekritik zeichnet sich dadurch aus, dass sie solche Gesichtspunkte verharmlost oder gar verleugnet. Unser Kapitalismus wird als die beste aller möglichen Welten betrachtet und wer damit nicht zurechtkommt, soll verrecken. Dem Staat fällt die Aufgabe zu, die Devianten in Strafanstalten oder in als Hospital getarnte Zuchthäuser zu stecken. Falsche Psychiatriekritik ist schlimmer als die Ideologie der herrschenden Mainstream-Psychiatrie.

Angemessene Psychiatriekritik ist stets konstruktiv, auch wenn sie für die Abschaffung der Psychiatrie plädiert. Es gilt, Hilfen zu entwickeln, die den Leuten nicht die Verantwortung für sich selbst rauben, die ihre Eigeninitiative nicht untergraben, die ihre Lebensprobleme nicht chronifizieren und die ihre Fähigkeit zur Selbsthilfe fördern. Natürlich: Die Adressaten solcher Hilfen werden nicht in willige Konsumenten von Psychopharmaka umgeformt. Sie werden nicht die Betten psychiatrischer Kliniken füllen. Doch wer, außer der Psychiatrie und der Pharmaindustrie, sollte eigentlich etwas dagegen haben?

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Fixierung

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Ratten

Es gibt diverse Methoden, die einfachste aber ist diese: Man nimmt Ratten und befestigt sie mit Klebeband an allen vier Gliedmaßen auf dem Boden ihres Käfigs im Versuchslabor. Dann lässt man sie ein paar Stunden oder auch länger ausharren. Nach dem Ende dieses Experiments vergleicht man schließlich die jeweils interessierenden physiologischen oder verhaltensbiologischen Parameter bei diesen Ratten mit denen der Mitglieder einer Kontrollgruppe von Versuchstieren, die sich in ihren Käfigen frei bewegen konnten.

Der so erzeugte Stress führt bei den betroffenen Ratten regelhaft zu nicht wünschenswerten körperlichen Veränderungen, beispielsweise zu solchen, die Alterungsprozesse beschleunigen und die Wahrscheinlichkeit degenerativer Alterserkrankungen erhöhen (1). Chronischer Immobilisierungsstress kann bei Ratten die Aggression gegenüber vertrauten Artgenossen steigern, Ängste verstärken und die Angstkonditionierung fördern (2). Die Liste der möglichen Folgewirkungen ist lang und gruselig. Ich überlasse dem interessierten Leser entsprechende Recherchen im Internet.

Menschen

Hinrichtung, gefunden in Wikipedia

Hinrichtung, gefunden in Wikipedia

Menschen werden natürlich eher selten mit Klebeband am Boden festgehalten; dafür gibt es Gurte. Die Fixierung an einem bis zu elf Punkten hat sich als zweckentsprechend erwiesen. Am häufigsten werden Gurte an Arme und Beine angelegt, mitunter kommt noch ein Bauchgurt hinzu (3). Auf dem Bild links kann man erkennen, wie Todeskandidaten in den Hinrichtungsstätten der Vereinigten Staaten fixiert werden.

 ”Sie begann, mir die Füße zu fesseln, dann band sie mir die Hände fest auf den Rücken und endlich schnürte sie mir die Arme wie einem Delinquenten zusammen.
‘So’, sprach sie in heiterem Eifer, ‘kannst du dich noch rühren?’
‘Nein.’
‘Gut -’
Sie machte hierauf aus einem starken Seile eine Schlinge, warf sie mir über den Kopf und ließ sie bis zu den Füßen hinabgleiten, dann zog sie sie fest zusammen und band mich an die Säule.
Mich fasste in diesem Augenblicke ein seltsamer Schauer.”

Dies ist ein Auszug aus dem berühmten Buch Leopold Sacher-Masoschs: Venus im Pelz. Manchen Leuten bereitet es offenbar Freude und Lust, gefesselt zu werden. Anderen aber nicht. Dies sollte man respektieren.

Heute berichtet die Münchener Abendzeitung in ihrer Online-Ausgabe, dass der Nürnberger Martin Heidingsfelder Strafanzeige gegen die Verantwortlichen des Isar-Amper-Klinikums erstattet habe. Im Bezirkskrankenhaus Taufkirchen, dessen Betreiber das Klinikum ist, war ein Patient ununterbrochen acht Wochen lang ans Bett gefesselt worden, um ihn ruhig zu stellen. Dies gehe, so heißt es in dem Bericht, aus Unterlagen hervor, die der Abendzeitung vorlägen.

Tierschutz & Menschenschutz

Von Tierschützern wird das Schicksal von Laborratten beklagt, immerhin aber macht man sich in diesem Bereich Gedanken darüber, wie man die notwendige Fixierung so schonend wie möglich für die ohnehin gestressten Tiere gestalten kann. In einer tierärztlichen Dissertation wurde beispielsweise gezeigt, dass durch schonende Handhabung der Tiere eine deutliche Stressreduktion zu erreichen ist (4).

Auch im Humanbereich macht man sich Gedanken über die Reduzierung der Fixierung, stellt deren Notwendigkeit als Ultima Ratio jedoch, ähnlich wie im Falle der Laborratten, nicht in Frage. So heißt es beispielsweise in einer Broschüre der Unfallkasse Baden-Württemberg:

“Bei einer ernsthaften Fremd- und oder Eigengefährdung eines kranken Menschen, lässt sich eine Immobilisation, Fixierung oder Isolierung leider nicht immer vermeiden.
Die Fixierung eines Patienten gegen seinen Willen gehört zu den unangenehmsten Aufgaben der Mitarbeiter in den Gesundheitsberufen. Wenn die Fixierung planlos, ohne gegenseitige Absprachen und mit nicht geschultem Personal durchgeführt wird, kann dies zu erheblichen physischen und psychischen Verletzungen sowohl bei Mitarbeitern als auch bei Patienten führen. Diese Verletzungen und Schmerzen entstehen durch unsachgemäße Vorgehensweise bei der Immobilisation. Beispiele hierfür sind Abknien auf Gelenke, Hals oder sonstige Körperteile, Haare ziehen, kneifen, kratzen, Schläge, Tritte und Hals zudrücken. Diese Vorgehensweisen müssen bei einer Immobilisation / Fixierung eines kranken Menschen absolutes Tabu sein.”

Nicht geschultes Personal ist ja stets ein erhebliches Problem bei solchen Dingen. In der bereits erwähnten tierärztlichen Dissertation kann man beispielsweise lesen:

“Bei der Fixierung durch unerfahrene Experimentatoren, welche dabei Handschuhe trugen, war die Beunruhigung der Tiere deutlich geringer, als bei den Tieren, welche durch unerfahrene Personen ohne Handschuhe gehalten wurden. Der Grund dafür ist, dass die zuletzt genannten Personen aus Angst verletzt zu werden wahrscheinlich fester zugriffen, was die Tiere mehr belastete. Ungeübten Experimentatoren wird deshalb das Tragen von Handschuhen empfohlen (4).”

Dass es – zumindest beim Menschen – auch anders geht, beweist Großbritannien. Dort sind Fixierungen gesetzlich verboten, die Patienten müssen stattdessen von entsprechend geschultem Personal festgehalten werden, schreibt der Spiegel in einem Artikel vom 6.6.2012 (Zwang in der Psychiatrie: Das letzte Mittel). Ganz anders offenbar in Tansania: Dort wurde  ein Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, gefesselt und gefoltert, weil man wohl meinte, er sei von Dämonen besessen. Er erhielt inzwischen Asyl in den Vereinigten Staaten.

Dass manche Leute darin gehindert werden müssen, anderen Schaden zuzufügen, und sei es auch durch eine Fixierung oder andere freiheitseinschränkende Maßnahmen, will ich nicht bestreiten. Welcher halbwegs verständige Mensch würde daran zweifeln. Allein, strittig sind Gründe, Dauer und Methoden. Wenn jemand in wilder Wut andere attackiert und anders nicht zu beruhigen ist, dann wird man ihn wohl niederringen und festhalten dürfen, keine Frage, solange, bis er wieder bei Sinnen ist.

Doch häufig gestalten sich die Fälle ja nicht so eindeutig; mitunter musste schon ein bloßes Bedrohungserleben eines Arztes oder eines Angehörigen des Pflegepersonals dazu herhalten, eine lang andauernde Fixierung zu rechtfertigen. Es soll auch schon vorgekommen sein, dass Demente in Altenheimen fixiert wurden, weil Pflegepersonal fehlte, das sich angemessen um die Betroffenen hätte kümmern können.

Vollends irrational wird die Diskussion zur Rechtfertigung einer derartigen Freiheitsberaubung durch den Begriff der “psychischen Krankheit”. Derartige Diagnosen sind bekanntlich willkürlich, so können nicht durch objektive Verfahren erhärtet werden. Im Zusammenhang mit einer solchen Diagnose können dann schon eher geringfügige, evtl. körperlich ausgedrückte Äußerungen des Unwillens zu einem “Bedrohungserleben” führen, das u. U. als Grund für eine Fixierung herhalten muss.

In den Anstalten der Zwangspsychiatrie sind Fixierungen an der Tagesordnung – und wer will nachprüfen, aus welchen Gründen die Betroffenen tatsächlich fixiert wurden?

“Sie zieht einen kurzen Dolch hervor, ich schrecke zusammen, wie seine Klinge mir vor den Augen blitzt, ich glaube wirklich, dass sie mich töten will. Sie aber lacht und durchschneidet die Stricke, die mich fesseln.”

Selbst in einem erotischen Spiel, wie hier in “Venus im Pelz” beschrieben, ist die Gefahr stets gegenwärtig. Wie muss sich ein Mensch fühlen, der wider Willen ans Bett gefesselt wurde, in einem seelischen Ausnahmezustand?

Der Zustand der unfreiwilligen Fesselung – dessen Folgen in einer Mischung aus Demütigung, Furcht und körperlichem Unbehagen, ja, auch Schmerzen bestehen – muss, jenseits der Tötung oder der aktiven Schmerzzufügung (durch glühende Eisen, Baseballschläger, Elektroschocker und ähnliche Gerätschaften), wohl als das Schlimmste bezeichnet werden, was Menschen anderen Menschen körperlich antun können. In diesem Zustand können Minuten zur ewigen Qual werden, vor allem dann, wenn man sich seines weiteren Schicksals nicht gewiss sein kann.

Wer das nicht glaubt, der möge sich doch einmal, für eine endlose Nacht, fixieren lassen, mit der zuvor gegebenen, unwiderruflichen Anweisung, ihn nicht vor Ende der vereinbarten Zeit zu befreien. Ich wette, dass sich schreckliche Dinge im Hirn des Betroffenen abspielen werden, auch wenn er sich bewusst ist, die Versuchsperson in einem selbst verordneten Experiment zu sein.

Die Fixierung bereitet den Betroffenen große Pein, und wer garantiert uns denn, dass sie beispielsweise in der Zwangspsychiatrie nur zur Gefahrenabwehr und nicht etwa zur Disziplinierung der “Patienten” eingesetzt wird? Laut Presseberichten kommt es nach Auffassung der Grünen im Bayerischen Landtag immer wieder zu überzogenen Fixierungsmaßnahmen. Merkur-online berichtet:

“Die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Kerstin Celina, fordert nun einen zeitnahen Bericht im Sozialausschuss, ‘um mögliche Menschenrechtsverletzungen in der geschlossenen Unterbringung aufzuklären’.”

Bett mit Gurten und Zwangsjacke, Wikipedia, Ciell

Bett mit Gurten und Zwangsjacke, Wikipedia, Ciell

Menschenrechtsverletzungen? Nach Auffassung von Wolfgang Kaleck u. a. sind psychiatrische Zwangsbehandlungen und UN-Behindertenrechtskonvention, die in Deutschland Gesetzeskraft hat, eindeutig unvereinbar (6). Diese Einschätzung dürfte dann wohl auch die Fixierungen einschließen, die in geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten vorgenommen werden. Schließlich steht angesichts der Behindertenrechtskonvention im Grunde nicht nur die zwangsweise Unterbringung und Behandlung so genannter psychisch Kranker allgemein, sondern sogar der Maßregelvollzug für angeblich psychisch kranke Straftäter in Frage.

“Er lässt sie in ein Fauteuil setzen, in dem Federn verborgen sind; durch ihr Gewicht löst sie die Federn aus und sieht sich plötzlich von eisernen Bändern gefesselt. Gleichzeitig richten sich zwanzig Dolche auf ihren Körper. Der Mann onaniert vor ihr und sagt ihr, dass sie, wenn sie nur die geringste Bewegung mache, von den Dolchen durchbohrt würde, worauf er seinen Samen auf sie ausspritzt.”

So heißt es in den “120 Tagen von Sodom” des Marquis de Sade. Horkheimer und Adorno (Dialektik der Aufklärung) sahen in de Sade einen radikalen Aufklärer, der zeige, wie sich die Vernunft moralfrei als zynische Zweckrationalität gebärde. De Sade demonstriere, was sich hinter der humanistischen Fassade der Aufklärung verberge.

Die Fixierung gilt als Behandlungsmaßnahme, die “nach strenger Indikationsprüfung” und Abwägung aller Vor- und Nachteile nur als “Ultima Ratio” angewendet werden darf. Wer die Berichte über mutmaßliche Fixierungs-Exzesse in psychiatrischen Anstalten oder Pflegeeinrichtungen zur Kenntnis nimmt, den könnte schon der Verdacht beschleichen, hier gebärde sich mitunter, im Gewande der “Ultima Ratio”, Vernunft moralfrei als zynische Zweckrationalität.

Anmerkungen

(1) Liu, J. et al. (1996). Immobilization stress causes oxidative damage to lipid, protein, and DNA in the brain of rats. The FASEB Journal, Volume 10, Nov., 1532 – 1538

(2) Wood G. E. et al. (2008). Chronic immobilization stress alters aspects of emotionality and associative learning in the rat. Behav Neurosci., Apr;122(2):282-92

(3) Fogel D, Steinert T. (2012). Aggressive und gewalttätige Patienten – Fixierung. Lege artis 2012; 2: 28–33

(4) Mende, G. (1999). Untersuchung zur Beurteilung der Belastung von Laborratten durch einfache Manipulationen, an den Parametern Kortikosteron und Prolaktin. INAUGURAL-DISSERTATION, Institut für Tierschutz, Tierverhalten und Labortierkunde des Fachbereiches Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin

(5) Wesuls, R. et al. (2005). Professionelles Deeskalationsmanagement (ProDeMa) Praxisleitfaden zum Umgang mit Gewalt und Aggression in den Gesundheitsberufen. Unfallkasse Baden-Württemberg

(6)  Kaleck, Wolfgang/ Hil­brans, Sönke/ Schar­mer, Se­bas­tian 2008: Gut­ach­ter­li­che Stel­lung­nahme. Ra­ti­fi­ka­tion der UN Disa­bi­lity Con­ven­tion vom 30.03.2007 und Aus­wir­kung auf die Ge­setze für so ge­nannte psy­chisch Kranke am Bei­spiel der Zwangs­un­ter­brin­gung und Zwangs­be­hand­lung nach dem PsychKG Ber­lin

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Philip Hickey’s excellent blog

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Zur Zeit erlebt die Psychiatriekritik einen kleinen Aufschwung, vor allen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Deutschland ist in dieser Hinsicht nach wie vor verschlafen, und psychiatriekritische Blogs deutscher Zunge gehen im Meer der ins Netz gestellten Werbebroschüren für Psychiatrie und Psychopharmakologie leider kläglich unter. Im englischsprachigen Ausland sind psychiatriekritische Blogs nicht nur deutlich zahlreicher; einige davon haben auch ein eindeutig höheres Niveau als die besten bei uns. In lockerer Folge werde ich in Zukunft auf eine Auswahl dieser Sites hinweisen. Ich beginne mit Philip Hickey.

Hickey ist ein Psychologe im Ruhestand. Er arbeitete in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Er bekleidete klinische und administrative Postionen im psychiatrisch-psychotherapeutischen Bereich, in Gefängnissen und in der Suchtkrankenhilfe. Sein Blog “Behaviorism and Mental Health” ist gigantisch. Wäre er in Deutsch, so könnte ich die Pflasterritzenflora unbesorgt einstellen oder ich müsste mich mächtig ins Zeug legen, um Schritt zu halten.

Seine Psychiatriekritik ist glasklar, präzise und sie orientiert sich an den Fakten, nicht an Ideologien. Der Titel des Blogs klingt akademisch und harmlos, aber dahinter verbirgt sich reiner Sprengstoff. Jeder Artikel ist ein Lesevergnügen. Wer Englisch halbwegs flüssig lesen kann und wem die Pflasterritzenflora gefällt, der sollte in Philip Hickeys Blog schauen; er wird nicht enttäuscht sein.

In einem seiner ersten Blog-Einträge vom 25. März 2009 heißt es:

“The central theme of this website is that the APA’s framework, in which an increasingly wide number of human problems are conceptualized as mental illnesses and best treated by psychotropic drugs, is spurious and counterproductive.”

Es ist falsch und kontraproduktiv, menschliche Probleme als “psychische Krankheiten” aufzufassen und mit Psychopharmaka zu behandeln. Seit den Anfängen seines Blogs weist Hickey in vielen Beiträgen zu unterschiedlichen Aspekten menschlichen Verhaltens und Erlebens nach, dass es sich bei dieser Behauptung keineswegs um antipsychiatrische Propaganda, sondern um eine Tatsache handelt.

“Mental illness is a man-made concept that has no objective reference – it corresponds to nothing real.  An artifactual tribute to human self-deception, ambition, and greed, it is a wrong turning in the history of human development.  Every day thousands of people die prematurely on the altar of this gilded idol (9. Dezember 2013).”

Psychische Krankheiten, schreibt Hickey, sind ein von Menschen gemachtes Konzept, das keine objektive Referenz hat – es entspricht nichts Realem. Als künstlicher Tribut an menschliche Selbsttäuschung, Ehrgeiz und Gier, ist es eine falsche Wende in der menschlichen Entwicklung. Jeden Tag sterben Tausende von Menschen vorzeitig auf dem Altar dieses vergoldeten Idols.

Hickey steckt keineswegs den Kopf in den Sand:

“Obviously the problems listed in the DSM are real.  That’s not the issue.  What’s being challenged here is the contention that the clusters of problems set out in the manual can be validly conceptualized as symptoms of medical disease entities (9. Januar 2014).”

Selbstverständlich gibt es die Lebensprobleme, die Psychiater als “Symptome” “psychischer Krankheiten” deuten; doch diese Deutung ist falsch und sie schadet den Betroffenen. Die Psychiatrie fußt nicht auf solider Wissenschaft, denn es gibt nicht ein einziges rational nachvollziehbares Argument dafür, menschliche Lebensprobleme als Krankheiten zu begreifen.

Leuten, die ihm vorhalten, seine theoretische Kritik sei unerheblich, denn schließlich seien psychiatrisch-psychopharmakologische Behandlungen wirksam, hält er entgegen:

“But there is no evidence that any psychopharmaceutical product fixes or alleviates any pathological process.  Indeed, what seems to be the case is that these drugs “work” by producing abnormal neurological states.”

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass irgendein pharmazeutisches Produkt irgendeinen pathologischen Prozess stoppt oder abmildert; vielmehr scheint es eher so zu sein, dass diese “Medikamente” abnorme neurologische Zustände hervorrufen.

Wenn aber keine gestörten Hirnprozesse unsere Lebensprobleme verursachen, was ist dann dafür verantwortlich?

“For psychiatry, problems of thinking, feeling, and/or behaving are illnesses caused by genetic and/or neurological factors, with little or no causal link to parenting behavior.

But the notion that what we do or don’t do to our children when they are young has a profound effect on how they function in adult life is obvious, and has been obvious throughout recorded history.”

Was wir mit unseren Kindern anstellen, wenn sie jung sind, wirkt sich tief greifend darauf aus, wie sie als Erwachsene funktionieren. Dies ist offensichtlich und war während der gesamten aufgezeichneten Geschichte offensichtlich (1).

Hickeys Blog findet international inzwischen auch die Anerkennung, die diese Webpräsenz und sein Autor zweifellos verdienen. Er ist neuerdings Blogger bei “Mad in America“, der viel beachteten Website einer amerikanischen,  psychiatriekritischen Vereinigung, deren Präsident Robert Whitaker, der Autor von “Anatomy of an Epidemic“, ist. Der angesehene britische Psychotherapeut Prof. Peter Kinderman verlinkt in seinem Blog zwei andere Blogs, und einer davon ist “Philip Hickey’s excellent blog”.

Anmerkung

(1) Dieser Sichtweise kann ich zustimmen, aber nur mit dem Hinweis, dass wir dennoch keine Sklaven unserer Kindheit sind, sondern dass wir uns dazu entscheiden können, eventuell verhängnisvollen Kindheitseinflüssen im erwachsenen Leben entgegenzuwirken.

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Psychiatrie, Schmerz

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Gestern

In der Nazi-Zeit war Friedrich Panse überzeugter Nationalsozialist, Gutachter in der T4-Aktion zur Ermordung so genannter psychisch Kranker; nach dem Krieg avancierte er zum Ordinarius und zum Leiter einer psychiatrischen Anstalt. Für die Soldaten im 2. Weltkrieg war eine Abwandlung seines Namens der Inbegriff des Schreckens: das Pansen.

Im Reservelazarett Porz-Ensen, nahe Bonn, traktierte er Soldaten, die im Stahlgewitter die Nerven verloren hatten, mit starken elektrischen Strömen. Er hatte ein entsprechendes Verfahren aus dem 1. Weltkrieg, Kaufmanns Kur, weiterentwickelt und seine Innovation wurde nach ihm als “Pansen” bezeichnet (1).

Im Vordergrund dieser Behandlung stand der überaus schmerzhafte Hautreiz, der durch starke elektrische Ströme hervorgerufen wurde. Ergänzt wurde diese Folter durch Suggestionen. Den “Patienten” wurde beispielsweise gesagt: “Sie werden merken, wie der Arm heiß und rot wird. Dies ist der erste Schritt zur Heilung.”

Einer seiner engsten Mitarbeiter war Günter Elsässer (4). Auch er konnte seine Karriere nach dem Krieg fortsetzen, wurde Professor für Psychiatrie und gehörte dem Sachverständigenbeirat des Bundesarbeitsministeriums für Fragen der Kriegsopferversorgung sowie dem Vorstand der “Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie” an.

Obwohl er wusste, dass es sich beim Pansen um eine Form der Behandlung handelte, deren Effekte im Wesentlichen durch das Quälen der “Patienten” hervorgerufen wurden (er hatte sich im Eigenversuch davon überzeugt), bewertete er dieses Verfahren in Schriften aus den Jahren 1961 und 1977 überaus positiv und stellte es verharmlosend dar (2,3).

Menschen wurden auf Liegen geschnallt. Man befestigte elektrische Kontakte an besonders schmerzempfindlichen Hautstellen. Man jagte starke elektrische Ströme durch die Elektroden. Die Opfer schrien, bäumten sich auf, flehten um Gnade. Doch es half nichts. Erst wenn sie auf ihre “kriegshysterischen” Symptome verzichtet hatten, wurden sie entlassen, zurück an die Front oder in die Werkhallen der Rüstungsindustrie.

Seit dem Siegeszug der Elektrizität im 19. Jahrhundert bedient sich die Psychiatrie der elektrischen Ströme. Ein Pionier war Guillaume-Benjamin-Amand Duchenne (de Boulogne), dessen bedeutendster Schüler Jean-Martin Charcot war – Inhaber des ersten psychiatrischen Lehrstuhls in Frankreich und einflussreichster Nervenarzt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert entwickelten sich Geräte zur elektrischen Stimulation zu einem wesentlichen Bestandteil des psychiatrischen Instrumentariums. Nicht alle Behandlungen waren (extrem) schmerzhaft, aber der Regler, mit dem man die Intensität und Dauer der Reizung festlegen konnte, lag in der Hand des Arztes.

Heute

In Canton, Massachusetts (USA) behandelt das Judge Rotenberg Educational Center behinderte und verhaltensauffällige Schüler u. a. mit Elektroschocks. Man verwendet dazu u. a. ein am Körper befestigtes Gerät, dass dazu dient, mittels Fernbedienung schmerzhafte Hautreize auszuteilen. Mitunter erfolgt die Folterung aber auch automatisch, wenn die Schüler ein unerwünschtes bzw. zuvor verbotenes Verhalten zeigen, z. B. wenn sie einen bestimmten Bereich verlassen. Aber auch die konventionelle Form – Delinquent auf Liege festgeschnallt – wird nach wie vor praktiziert. Die Methoden haben sich weiterentwickelt, aber sie beruhen auf demselben Grundgedanken wie das Pansen oder Kaufmanns Kur.

Die Vereinten Nationen bezeichneten die “Behandlung” im Judge Rotenberg Educational Center zwar als Folter; aber die Befürworter sind ungebrochen, wie einst Elsässer in Sachen “Pansen”, von ihrer Harmlosigkeit und ihren segensreichen Wirkungen überzeugt. Die Gründe für diese Faszination liegen klar auf der Hand: Mittels elektrischer Ströme kann man Schmerzreize präzise dosieren, sie treten zuverlässig ein, sie hinterlassen keine bleibenden Spuren und früher oder später fügen sich alle so Traktierten den Anweisungen der Leute, die den Regler in den Händen halten.

Es versteht sich von selbst, dass auch Geheimdienste und militärische Spezialeinheiten die Elektrizität zur Verhaltensformung nach wie vor in Ehren halten. In Abu Ghraib gehörte sie offenbar zum Standard-Programm. Dies geht u. a. aus einer eidesstattlichen Versicherung eines Opfers hervor:

“The interrogators returned and forcefully placed me on top of a carton box containing can food. They then connected the wires to my fingers and ordered me to stretch my hand out horizontally, and switched on the electric power. As the electric current entered my whole body, I felt as if my eyes were being forced out and sparks flying out. My teeth were clattering violently and my legs shaking violently as well. My whole body was shaking all over.”

Strom ist Strom

Man mag den Vergleich zwischen Porz-Ensen, Canton (Mass.) und Abu Ghraib empört zurückweisen. Es sei, so könnte man argumentieren, widerliche antipsychiatrische Propaganda. Doch: Strom ist Strom und Schmerzen sind Schmerzen. Mit Elektrizität kann man die grausamsten Schmerzen erzeugen, die ein Mensch überhaupt zu erdulden vermag, ohne sein Bewusstsein zu verlieren. Es beginnt vielleicht mit einem leichten, kaum merklichen Kribbeln, steigert sich dann zu einem Beißen und Stechen, das immer heftiger, immer wilder, immer durchdringender wird, bis es sich schließlich zu Empfindungen steigert, für die es keine Worte gibt.

Wer diese Klaviatur beherrscht, kann mit den Körpern der Opfer als Instrumenten Symphonien des Schmerzes zum Erklingen bringen. Und ob nun zur Rechtfertigung dieser Musik die Heilung des Patienten oder die Sicherheit des Staates vorgebracht wird, ist im Grunde zweitrangig.

Strom ist Strom. Da macht es keinen Unterschied, ob man ein “Patient” einer psychiatrischen  Behandlung oder ein (angeblicher) Terrorist in den Händen von Spezialeinheiten ist. Schmerz ist Schmerz. Die Wirkungen dieser Behandlung mit starken Strömen hängt im Kern von der Dauer und Intensität des Schmerzes ab. Unter dem Gesichtspunkt der Effizienz gibt es keinen Unterschied zwischen Porz-Ensen, Canton und Abu Ghraib. Überall da, wo menschliches Verhalten durch Elektrizität geformt wird, muss man sich unweigerlich der Algebra des Schmerzes unterordnen.

Schmerz ist Schmerz

Wilhelm Neutra war ein Meister solcher Klänge. Im 1. Weltkrieg behandelte er Kriegsneurotiker. Hierzu schreibt er in seinem Buch “Seelenmechanik und Hysterie”:

“Ein hysterisch Gelähmter mit kompletter Astasie-Abasie möchte zwar seinem präsidialbewussten Willen entsprechend wieder gesund sein; seine innere Heilbereitschaft sei aber, nehmen wir an, viel zu gering, um durch irgendein Suggestivmittel zur Gesundheit zu führen. Der Kranke wird deshalb der Schmerzbehandlung unterzogen, um seine Qualen zu vermehren, die eben an sich absolut nicht ausreichen, um eine genügende Expansion des Gesundungstriebes zu erzeugen. Seine Beine werden also mit dem faradischen Pinsel bearbeitet. Zunächst liegt der Patient dabei ganz ruhig und außer den durch den elektrischen Strom ausgelösten Muskelzuckungen tritt keine aktive Bewegung in die Erscheinung. Die Heilbereitschaft besteht noch nicht. Würde man in diesem Stadium den Patienten auf die Beine stellen, so wäre er immer noch vollkommen unfähig, auch nur einen Augenblick zu stehen.
Wir verstärken den Strom und damit die Schmerzempfindung. Der Patient zeigt nun mimische Schmerzäußerungen, verzieht das Gesicht und beginnt ev. zu weinen. Gleichzeitig krampft er aktiv irgendwelche Muskeln der Beine zusammen, auch solche, die, nicht vom elektrischen Strome getroffen, sich nicht passiv kontrahieren. Die Heilbereitschaft wird rege und erzeugt immer wieder aktive Beinbewegungen, sobald der Schmerz durch den elektrischen Pinsel einsetzt. Aus der Tiefe der völlig unbewussten Schmerzreaktion taucht die Bewegungsmöglichkeit ins Halbbewusstsein empor. Aber dieser Grad reicht noch immer nicht aus und es wäre verfehlt, es dabei bewenden zu lassen. In diesem Stadium würde das Maximum des Erfolges darin bestehen, dass schon die Angst vor dem neuerlichen Elektrisieren die Beinbewegungen ermöglicht, aber ein Stehen oder sogar Gehen wäre noch vollkommen ausgeschlossen. Um den Erfolg rasch zu komplettieren, wird der Strom neuerdings verstärkt.
Die mimischen Schmerzäußerungen oder das Weinen verwandelt sich in Zorn und Raserei. Der Patient wehrt sich aus Leibeskräften, um sich der Qual zu entziehen. Die Kaltblütigkeit des Arztes, der sine ira zielbewusst weiterarbeitet, und die Handfestigkeit seiner Gehilfen, die dem Patienten die Unzulänglichkeit seiner Fluchtversuche beweist, steigert endlich die Heilbereitschaft bis zu einer solchen Expansion, dass die Steh- und Gehfähigkeit eintritt. Aber noch ist das therapeutische Martyrium gewöhnlich nicht zu Ende. Während früher nur die Befreiung von der Qual erstrebt wurde, ist in diesem Zeitpunkte oft nur die grobe Funktionsstörung gewichen, die volle Heilung jedoch noch nicht erzielt.
Der Patient kann jetzt wohl stehen und gehen, aber sein Gang ist ungelenk, unelastisch, unkoordiniert. Die Heilbereitschaft der Hysterie begnügt sich damit nicht bloß, sondern strebt geradezu nur eine derartige Besserung des Zustandes an, als notwendig ist, um die Lustbilanz aktiv zu machen. Wir müssen uns eben nur daran erinnern, dass die Hysterie psychenergetisch ein Ziel des Lusttriebes und ein Werk der in seinem Dienste stehenden Krankheitsbereitschaft sei. Um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben, setzt nun der Arzt seine Folterarbeit fort, bis endlich der Lusttrieb, diesmal aber in seiner Verkleidung als Heilbereitschaft sich in die Gesundheit flüchtet, die unter den gegebenen Umständen einzig und allein die Qualfreiheit verbürgt.”

Schmerz ist Schmerz, ganz gleich, wie er erzeugt wird. Elektrizität ist praktisch, aber auch offensichtlich inhuman, erregt Widerstände, sogar die Vereinigten Nationen schalten sich ein. Daher beschreitet die Aversionstherapie häufig andere Wege und nutzt Methoden, bei denen der Charakter ärztlicher Folterarbeit nicht sofort ins Auge springt. Wer einen Menschen tagelang an ein Bett fesselt, so dass er sich kaum bewegen, sich nicht umwenden, seine Glieder nicht nach Belieben ausstrecken kann, der fügt Menschen Schmerzen zu, erhebliche Schmerzen zu, beispielsweise. Da kann man natürlich behaupten, dies diene dem Schutz des Betroffenen vor sich selbst oder anderer vor ihm.

Schmerz ist Schmerz, egal, welche Ziele sich mit ihm verbinden, Schmerz bringt die Leute dazu, sich so zu verhalten, wie man es von ihnen erwartet, wenn sie sich eine Linderung des Schmerzes davon versprechen. Dass kann auch denen nicht verborgen bleiben, die Leute aus Gründen der Sicherheit fixieren. Täter und Opfer stehen im Verhältnis wechselseitiger Konditionierung zueinander; was da abläuft, wird sicher nicht immer bewusst reflektiert. Der Effekt zeigt sich dennoch. Und dieser, nicht die angeblichen Gründe, sind für die Faszination der Fixierung verantwortlich.

Neuroleptika können überaus unangenehme so genannte Nebenwirkungen hervorrufen. Die Akathisie beispielsweise, die neuroleptisch ausgelöste Sitzunruhe, wird als qualvoll erlebt. Es handelt sich hier um die Kombination innerer Unruhe mit einem unbezwingbaren Bewegungsdrang. Kein Wunder also, dass u. a. dieser Effekt genutzt wurde, um das Verhalten von “psychisch kranken” Straftätern zu formen, beispielsweise im kalifornischen Staatsgefängnis in Vacaville (5).

Auch hier gilt wieder: Unabhängig davon, was mit solchen “Medikamenten” “offiziell” beabsichtigt wird – sobald sie irgendeine Form des qualvollen Missbehagens auslösen, können sie das Verhalten des Betroffenen im Sinne dessen formen, der jeweils am längeren Hebel sitzt. Und für Menschen, die unter Zwang behandelt werden oder die das Damoklesschwert der Zwangsbehandlung über sich schweben sehen, sitzt die Psychiatrie immer am längeren Hebel.

Die schmerzensreiche Psychiatrie

Sogar Befürworter der Psychiatrie schildern die psychiatrischen Anstalten früherer Zeiten oftmals als Orte des Grauens. Patienten wurden in Drehstühlen gefoltert, mehr oder weniger raffinierten Schockkuren ausgesetzt, in Zwangsjacken gesteckt, ja, sogar mit glühenden Eisen gezwickt. Heute, so heißt es aber, sei Humanität in die Hallen der Psychiatrie eingezogen.

Seit Veröffentlichung des Berichts über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland, der sog. Psychiatrie-Enquete, seien Schritt für Schritt die alten Missstände überwunden worden. Heute hießen den Patienten freundliche Ärzte und Pfleger in lichten Räumen willkommen.

Da ich als Psychiatriekritiker bekannt bin, sind die Leute, die mit mir Kontakt aufnehmen, vermutlich nicht repräsentativ für alle Psychiatriepatienten. Und so sind die Horrorgeschichten, die mir über die gegenwärtige Psychiatrie berichtet werden, vielleicht nur Ausnahmen, übertrieben oder gar erfunden. Dies bedenkend, macht mich dennoch ihre schiere Zahl ebenso stutzig wie die Vielfalt der Persönlichkeiten und Lebensgeschichten der Menschen, die mir schreiben, mich anrufen oder gar vor meiner Türe stehen.

Sollte vielleicht doch etwas dran sein als den Geschichten des Grauens und der Qual? Oder anders gefragt: Wenn psychiatrische Maßnahmen nicht durch Erzeugung von Schmerzen oder anderen Formen qualvollen Missbehagens wirken, auf oben beschriebene Art, wie wirken sie dann?

Anmerkungen

(1) Forsbach, R. (2012). Friedrich Panse – etabliert in allen Systemen. Psychiater in der Weimarer Republik, im “Dritten Reich” und in der Bundesrepublik. Nervenarzt 2012 · 83:329–336

(2) Elsässer, G. (1961). Erfahrungen an 1400 Kriegsneurosen. Aus einem neurologisch-psychiatrischen Reserve-Lazarett des 2. Weltkrieges. In: Gruhle, H.W. (Hg.): Psychiatrie der Gegenwart, Bd III. Springer Verlag, Berlin Göttingen Heidelberg, 1961, S. 623-630

(3) Elsässer, G. (1977): Günter Elsässer. In: Pongratz, L.J. (Hg.): Psychiatrie in Selbstdarstellungen. Huber, Berlin Stuttgart Wien, 1977, S. 54-81

(4) Kaul, M. B. (2012). Günter Elsässer: Von der Erbforschung zur Psychotherapie. Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Medizin des Fachbereichs Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen

(5) Sage, W. (1974). Crime and the Clockwork Lemon. Human Behavior, September 1974, 16-25

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