Quantcast
Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
Viewing all 323 articles
Browse latest View live

Moral

$
0
0

Unter allen möglichen Perspektiven ist der moralische Blick auf die Geschichte die schlechteste. Sie führt zur Schwarz-Weiß-Malerei, zum krampfhaften Versuch, die Welt in Gute und Böse einzuteilen. Doch menschliche Geschichte findet überwiegend in Grauzonen statt. Das gilt für den Alltag der Massen gleichermaßen wie für die Großtaten der Elite. Daher führt die moralische Analyse geschichtlicher Abläufe in die Irre, zwangsläufig. Schiere Dämonen und pure Heilige sind eine seltene, eine sehr seltene Erscheinung. Und oft halten diese Charaktere dem kritischen Blick nicht stand.

Diese Einsicht gilt natürlich auch für die Vergangenheit und Gegenwart der Psychiatrie. Das Weltbild mancher Psychiatriekritiker ist bemerkenswert schlicht. Auf der einen Seite stehen die bösen Psychiater, Kriminelle, die aus Niedertracht und Gewinnsucht Menschen malträtieren. Auf der anderen Seite finden sich die guten Psychiatrieerfahrenen, die völlig unschuldig, ohne eigenes Fehlverhalten in die Mühlen der Psychiatrie geraten sind. Das ist Politik, die bekanntlich, so lernen wir bei Carl Schmitt, mit der Unterscheidung von Freund und Feind beginnt.

Diese Haltung mag politisch klug sein (oder auch nicht), doch der Raster ist zu grob, um die Wirklichkeit widerzuspiegeln. Nirgendwo in dieser unvollkommenen Welt gibt es Menschen, die nur gut oder nur böse sind. Warum sollte dies ausgerechnet im Bereich der Psychiatrie anders sein? Von Soldaten hört man mitunter, dass diese Fiktion, nämlich die, zu den unbedingt Guten zu gehören, die sich der unbedingt Schlechten erwehren müssen, die entscheidende mentale Voraussetzung zum Überleben an der Front sei. Doch bei Leuten, die den Krieg für überflüssig halten, erzeugt eine solche Einstellung auch physisch spürbares Unbehagen.

Wenn der moralische Blick auf die Menschheitsgeschichte Frucht bringend wäre, dann müssten moralische Eingriffe in deren Ablauf tatsächlich auch humane Fortschritte nach sich ziehen. Doch leider, leider, zeigt sich bei nüchterner Betrachtung, dass in freundlichen und feindlichen Lagern die Moral zwar gern im Munde geführt wird, die tatsächlichen Handlungen aber vom Eigeninteresse diktiert werden oder oftmals auch schierer Irrationalität unterliegen.

Also selbst jene, die von guter Tat beseelt dem moralischen Ziel entgegenstreben, werden in Momenten geistiger Klarheit erkennen, dass die Ergebnisse, die schlussendlich dabei herauskommen, in den Grauzonen zwischen Gut und Böse angesiedelt sind und keineswegs in den lichten Reichen der höheren Werte.

Und so empfehle ich auch den Psychiatriekritikern eine pragmatische Einstellung. Diese wurzelt nicht in Ideologien, sondern fußt auf empirischer Forschung, aus der sie ungeschönte Schlussfolgerungen zieht.

Eine Psychiatriekritik, die sich darin erschöpft, dem erschauernden Publikum haarsträubende Missstände zu schildern, Szenen mit satanischen Psychiatern, die die armen, unschuldigen Opfer schinden und quälen, nützt letztlich allenfalls jenen, die sie verbreiten. Im Internet bringen solche Geschichten viele Klicks und ihr Urheber darf sich als A-Blogger steigender Aufmerksamkeit erfreuen. Doch den Massen der Betroffenen hilft das nichts, gar nichts, im Gegenteil. Sie geraten noch mehr in Vergessenheit, weil sie das Interesse der Allgemeinheit auf die Star-Opfer konzentriert.

Der Fall Gustl Mollath. Dessen Chronik kann man in Gabriele Wolffs Blog nachlesen. Aufschlussreicher im vorliegenden Zusammenhang als die Einträge der Autorin sind die Kommentare. Die Einblicke in die Welt moralisierender Psychiatriekritik sind Schwindel erregend. Alle Platzhirsche eilen, sich balgend, zur Krippe. Jedes weitere Wort ist zu viel.

Man möge mich nicht falsch verstehen: Es ist legitim, und dies sowohl aus journalistischer, als auch aus fachlicher Perspektive, einen prominenten Fall als Anknüpfungspunkt zu wählen, um den Leser in eine Thematik einzustimmen. Doch wer dann an einem solchen Fall kleben bleibt, nicht willens oder in der Lage ist zu abstrahieren, der instrumentalisiert sein prominentes Opfer aus bewusstem oder unbewusstem Eigennutz.

Natürlich weiß ich, dass die Mainstream-Medien so funktionieren: Es wird auf “Teufel  komm’ raus!” emotionalisiert und personalisiert. Die Menschen sind daran gewöhnt und reagieren auf nichts anderes mehr als auf dieses geistige Fastfood. Wer den schnellen Erfolg will, muss sich diesem Trend beugen. Da scheint jede weitere Diskussion überflüssig, solange man sich nicht fragt, wem damit eigentlich gedient ist.

The post Moral appeared first on Pflasterritzenflora.


Psychiatrie, Erfolg

$
0
0
optische-taeuschung

Gefunden in Wikipedia, Fibonacci

Erfolg liegt im Auge des Betrachters. Dies gilt auch für die Psychiatrie. Zwar ist die psychiatrische Diagnostik nicht valide und die psychiatrische Prognostik nicht treffsicherer als die Glaskugelschau. Zwar sind die psychiatrischen Medikamente entweder nicht (nennenswert) effektiver als Placebos oder sie ersetzen eine angebliche Erkrankung durch eine tatsächliche neurologische Störung (Neuroleptika). Zwar ist die Elektrokrampftherapie nicht wirksamer als eine Scheinbehandlung und bei der Psychotherapie hängt der Erfolg weitgehend vom gemeinsamen Glauben der Patienten und Therapeuten an ihn ab. Dennoch fällt es nicht so leicht, die Psychiatrie als ein gescheitertes Projekt zu kennzeichnen. Ihre schiere Existenz, ja, ihr atemberaubendes Wachstum, ihr beständig steigender Einfluss und die erheblichen Kosten, die sie verschlingt, und dies weltweit, sprechen eine andere Sprache.

Wer Psychiatrie als erfolgloses Unterfangen einstuft, wer ihr ankreidet, dass es ihren Patienten – zumindest langfristig – schlechter ginge als Menschen in vergleichbaren Lebenslagen, die nicht von ihr behandelt wurden, der wählt unter Umständen einen falschen Maßstab zu ihrer Beurteilung. Aus Sicht der Pharmaindustrie beispielsweise hat sich die Psychiatrie als glänzende Agentur zur Vermarktung psychopharmazeutischer Produkte herausgestellt. Aus dem Blickwinkel des Staates stellt sich ihre Bereitschaft, schwierige und aufsässige Menschen ruhigzustellen, sicher als tadellos dar. Aus der Perspektive von Angehörigen, die sich eine Entlastung von störenden Familienmitgliedern ersehnen, ist an der Psychiatrie nichts Grundsätzliches auszusetzen. Richter, die suspekte Angeklagte wegen geringfügiger Vergehen für lange Zeit hinter psychiatrische Gitter bringen möchten, haben an der Psychiatrie eindeutig nichts zu kritisieren. Geheimdienste und militärische Spezialeinheiten, die nach Wegen zur Kreation mandschurischer Kandidaten suchten, konnten sich über die Kooperationsbereitschaft der Psychiatrie gewiss nicht beklagen.

Eindeutig also liegt der Erfolg auch hier im Auge des Betrachters. Wer die Psychiatrie beim Wort nimmt und sie als medizinische Veranstaltung auffasst, der kann selbstverständlich kein rosiges Bild von ihren Leistungen zeichnen. Dass sie als medizinische Wissenschaft der Kritik nicht standhält, wurde vielfach dokumentiert, beispielsweise in der Pflasterritzenflora oder in eine größeren Zahl von Büchern wie in der Schrift “Mad Science. Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs” von Kirk, Gomory und Cohen. Dass sie aber dennoch kein Meer der Verwüstung hinterlässt, dass sogar viele ihrer “Patienten” mit ihren Leistungen zufrieden sind, zumindest halbwegs, dies steht auf einem anderen Blatt.

Die Psychiatrie ist beileibe kein Fremdkörper in modernen Gesellschaften. Sie findet nicht mehr auf dem Lande, in Hintertupflingen oder gar am Arsch der Welt, verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, hinter hohen Mauern statt. Sie ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen; sie wurde in die Gemeinden integriert; und der Aufenthalt in den entsprechenden Krankenhäusern dauert oftmals nicht lang (auch wenn er alle Jahre wieder stattfindet). Sozialpsychiatrische Dienste kümmern sich um die Patienten und die ambulante Versorgung ist passabel ausgebaut. Selbstverständlich gibt es mitunter Wartezeiten; aber gerade dies zeigt doch, wie beliebt und notwendig die Psychiatrie ist. Es ist ganz in Ordnung so, wenn sich Menschen, die von gesellschaftlichen Normen oder den Erwartungen ihrer Mitmenschen signifikant abweichen und darunter leiden, in psychiatrische Hände begeben.

Man kennt es nicht anders. Es war vielleicht nicht immer so, aber solange man zurückdenken kann, wurde es so gehandhabt. In den Mainstream-Medien erfahren wir, dass dies die beste Lösung sei. Bereits bei den kleinsten Anzeichen einer psychischen Störung solle man den Psychiater aufsuchen, denn bei einer Früherkennung der Malaise habe man die besten Aussichten auf eine dauerhafte Linderung des Leidens. Und da die Psychiatrie die Hilfe für Menschen mit Lebensprobleme haushoch dominiert, fehlen den meisten Betroffenen auch die Vergleichsmöglichkeiten, wenn es um die Beurteilung des Erfolgs der ergriffenen psychiatrischen Maßnahmen geht. Also: Was bleibt einem da auch schon anderes übrig, als zufrieden zu sein?

Die Psychiatrie inszeniert die Bewältigung von Lebensproblemen als Krankenbehandlung. Das ist ein grandioses Schauspiel. Da es sich um Theater, da es sich um therapeutisches Theater im Geiste Jean-Martin Charcots handelt, spielt es recht eigentlich keine Rolle, dass die mutmaßlich Kranken nichts Pathologisches auszeichnet und dass die therapeutischen Maßnahmen in Wirklichkeit Mittel zur Disziplinierung der Devianten sind. Die Kritiker in den Medien sind im Allgemeinen voll des Lobes und die psychiatrischen Show-Stars in den Talkshows machen ihre Sache meist ja auch wirklich gut. Klar: Nörgler wird es immer geben. Der Massengeschmack wird nicht von jedermann geteilt. Manche finden in den Kirchen Zuflucht oder suchen Bestand in esoterischen Zirkeln.

Doch die Karawane zieht weiter. Die “Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde” schreibt: “Neben dem Leid der Betroffenen weisen die Daten auch auf die volkswirtschaftliche Dimension psychischer Erkrankungen hin. In Deutschland sind ca. 40 Mio. Arbeitsunfähigkeitstage auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Die Kosten für die Volkswirtschaft belaufen sich auf etwa 7 Mrd. Euro im Jahr.” Und beklagt: “Die DGPPN als wissenschaftliche Fachgesellschaft sieht den in den letzten 20 Jahren errungenen Fortschritt in der Versorgung psychisch erkrankter Menschen gefährdet, denn niedergelassenen Psychiater erhalten heute weniger Honorar für jeden Patienten als noch im Jahr 2007 und das neue Abrechnungssystem benachteiligt chronisch Kranke in den psychiatrischen Kliniken.”

Hier geht es also um richtig viel Geld und um dessen Verteilung. Und mehr noch: Es geht um noch mehr Geld in der Zukunft und dessen angemessene Verteilung in die richtigen Taschen. Wer wird sich da mit kleinlichen Fragen nach dem Erfolg derartiger Veranstaltungen aufhalten. Wo so viel Geld ausgegeben wird, wo noch mehr Geld ausgegeben werden soll und und vermutlich, trotz aller Sparbemühungen, auch ausgegeben wird, da ist auch Erfolg. Das steht fest. Wer wollte daran zweifeln?

Die Psychiatrie ist notwendig. Sie ist ein Wirtschaftsfaktor mit vielfältigen Verflechtungen in den volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang. Die 7 Milliarden beziehen sich ja nur auf die Kosten in den Unternehmen. Insgesamt sieht die Sache noch weniger erfreulich aus: “Die volkswirtschaftlichen Kosten aufgrund von psychischen Störungen steigen weiter an. Derzeit liegen die direkten Kosten (Versorgungskosten) bei etwa 28,6 Mrd. Euro”, heißt es im BKK-Faktenspiegel (5/2012, Seite 3). Alles in allem: “Der Ausfall an Bruttowertschöpfung aufgrund von Krankheitskosten durch psychische Störungen beträgt für 2011 rund 45,4 Mrd. Euro.”

Die Psychiatrie ist notwendig. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ihre Diagnosen nicht valide, ihre Prognosen nicht besser als die Glakugelschau sind und ihre Therapien entweder nur eine Placebowirkung haben oder den Teufel mit Beelzebub austreiben. Die Psychiatrie ist notwendig, weil sie als politisch-ökonomischer Komplex in unsere Gesamtwirtschaft im Besonderen und in unsere Gesellschaft im Allgemeinen unlöslich integriert ist. Die Psychiatrie ist notwendig, weil sich niemand, niemand auch nur vorstellen kann, wie die Gesellschaft funktionieren und der Rubel rollen soll ohne sie.

Und die Psychiatrie wird im Laufe der Zeit immer, immer notwendiger. In den Vereinigten Staaten, die in dieser Angelegenheit Vorreiter und Gradmesser sind, wurde 1956 für “Mental Health Services” $ 1 Milliarde ausgegeben; heute sind es $ 113 Milliarden (siehe Kirk et al.). Es ist müßig, sich mit der Frage aufzuhalten, wodurch diese Kostensteigerung begründet ist. Veränderungen im medizinischen Bereich (mehr Kranke, bessere Diagnosemethoden o. ä.) reichen als Erklärung beim besten Willen nicht aus. Es sind vielmehr ökonomische Prozesse, die dieser finanziellen Explosion zugrunde liegen.

In Deutschland: 28,6 Milliarden Versorgungskosten allein. Im BKK-Faktenspiegel heißt es: “Diese könnten laut Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bis 2030 auf rund 32 Mrd. Euro anwachsen.”Es ist müßig, sich zu fragen, wer dies bezahlen soll. Wir alle: Steuerzahler, Mitglieder der Solidargemeinschaft der Versicherten. Theoretisch, rein theoretisch aber auch nur, gibt es kostengünstigere, kosteneffizientere Formen der Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen, durchaus. Menschliche Nähe, Zuspruch, ein offenes Ohr wirken mitunter Wunder und Hilfe zur Selbsthilfe ist allemal billiger als medizinische Maßnahmen für Leute, die in Wirklichkeit gar nicht krank sind, sondern unter Lebensproblemen leiden. Doch grau ist alle Theorie – und der goldene Baum muss grünen, im Garten derjenigen, die immer schon profitiert haben und auch weiterhin absahnen wollen.

The post Psychiatrie, Erfolg appeared first on Pflasterritzenflora.

Psychiatrie, Sympathie, Aktivität

$
0
0

Marsmenschen

Ob ich denn, so werde ich gelegentlich gefragt, die psychisch Kranken überhaupt nicht leiden könne. Wieso? Weil ich mich so abfällig, so geringschätzig über sie äußere. Weil ich ihnen unterstellte, selbst schuld an ihrem Unglück zu sein.

Sind Ihnen Marsmenschen sympathisch? So lautet meine Gegenfrage. Da ich nicht an die Existenz “psychisch Kranker” glaube, sollte es doch eigentlich keine Rolle spielen, ob ich sie sympathisch finde oder nicht. Ein Marsmensch ist eine Fantasiegestalt; der eine hat diese, der andere jene Vorstellung von ihm. Der eine meint, er sei grün und groß, der andere hält ihn für grau und klein. Manche meinen, er sei weise, seine Intelligenz erschließe ihm geistige Räume weit jenseits unseres Fassungsvermögens; andere aber sind davon überzeugt, dass es sich bei den Marsmenschen um teuflische Aliens handele, die in menschlicher Gestalt seit Jahrhunderten auf Erden wohnen und für alle Kriege, Finanzkrisen, Erdbeben, atmosphärischen Störungen sowie das miserable Fernsehprogramm verantwortlich seien.

Die Psychiater betrachten die “psychisch Kranken” offenbar als Außerirdische, die mit der Gabe des Gestaltwandels ausgestattet als Michel Deutscher oder Petra Mustermann in ihrem Behandlungszimmer auftauchen. Sie haben allerdings nur sehr vage Vorstellungen davon, woran man einen solchen Gestaltwandler erkennen kann, und daher sind sie sich häufig hinsichtlich ein und derselben Person nicht einig. Zudem verfügen sie natürlich nicht über objektive Tests, um “psychisch Kranke” zu identifizieren und von “psychisch Gesunden” zu unterscheiden.

Es sollte also wirklich gleichgültig sein, ob ich solche Schimären sympathisch finde. Man könnte mich genauso gut fragen, ob ich Harry Potter leiden kann. Nein, die Geschichten finde ich ziemlich ätzend und den Schauspieler, der Harry Potter verkörpert, den kenne ich nicht. Aber, und nun kommen wir zum entscheidenden Punkt, natürlich gibt es Menschen, die als “psychisch Kranke” bezeichnet werden. Und natürlich ist es legitim zu fragen, was ich von diesen Menschen halte. Sie bevölkern schließlich die Bühne der Pflasterritzenflora. Von diesen handelt, direkt oder indirekt, ein großer Teil der Notizen in diesem Blog.

“Psychisch Kranke”

Vor der Beantwortung dieser Frage will ich mich nicht drücken, obwohl ich sie letztlich für ziemlich bedeutungslos halte. Die Wahrheit meiner Aussagen zu den so genannten psychischen Krankheiten und zur Psychiatrie hängt nicht von meinen persönlichen Einstellungen, von meinen Emotionen und Stimmungen ab. Wer den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen überprüfen möchte, muss die empirischen Studien zur Hand nehmen, auf die ich mich beziehe. Hier zählt letztlich nur, was im Licht der Forschung erhärtet werden konnte. Die persönlichen Befindlichkeiten des Autors solcher Äußerungen spielen keine Rolle, absolut nicht.

Und dennoch weiß ich natürlich, dass sich unter meinen Lesern, und hier vor allem den weiblichen, eine ganze Reihe von Leuten findet, die gern wissen möchten, wie ich die Dinge mit dem Herzen sehe. Nüchtern betrachtet ist dies zwar unerheblich, aber wer könnte dieses Thema schon ausschließlich kühlen Blutes auffassen. Zwar hoffe ich, dass mir dies gelingt, aber ganz sicher bin ich mir dabei nun doch wieder nicht.

Auch wenn es, zumindest aus meiner Sicht, keine “psychisch Kranken” gibt, so existieren ohne Zweifel Menschen, die als solche betrachtet werden bzw. sich selbst so einstufen. Und diese Menschen kann man natürlich mögen oder nicht mögen. Nur, sie bilden keine homogene Gruppe, man kann diese Menschen nicht an Merkmalen, die alle teilen, leicht erkennen. Manche haben eine psychiatrische Diagnose, manche nicht. Manche benehmen sich auffällig, anderen merkt man gar nicht an, dass sie als “psychisch Kranke” aussortiert worden sind. Daher kann man Leute, die als “psychisch krank” etikettiert wurden oder sich selbst so bezeichnen, nicht pauschal sympathisch oder unsympathisch finden.

An der ersten Stelle meiner Hitliste stehen Menschen, die als “psychisch krank” diagnostiziert wurden, die aber nicht “krankheitseinsichtig” sind und die den Wahrheitsgehalt ihrer Diagnose bestreiten. Unter diesen auf den ersten Platz gesetzten Menschen sind jene mir die Allerliebsten, die grundsätzlich die Existenz psychischer Krankheiten in Zweifel ziehen. Weniger sympathisch, aber immer noch sympathischer als alle anderen, sind mir jene, die sich, trotz widersprechender Diagnose, nicht als “psychisch Kranke” sehen, manch andere aber dafür halten.

An der letzten Stelle meiner persönlichen Hitliste der Sympathie finden sich jene Menschen, die von dem Glauben durchdrungen sind, psychisch krank und daher für ihr Geschick und ihre Taten nicht oder nur eingeschränkt verantwortlich zu sein. Gegenüber diesen Menschen empfinde ich eine deutliche Antipathie, die sich in manchen Fällen zu einer massiven, sogar intoleranten Abneigung steigern kann, nämlich dann, wenn die “psychisch Krankheit” strategisch genutzt wird, um eigenes Verhalten der Kritik zu entziehen oder um Mitleid zu erheischen, selbst wenn dies unbewusst oder unreflektiert geschieht.

Zwischen diesen Extrempositionen tut sich eine Grauzone mit vielfältigen Schattierungen von Schwarz und Weiß auf. Mitunter, das räume ich ein, bin ich, was Zu- und Abneigungen betrifft, nicht ganz konsequent, finde gelegentlich Leute ziemlich nett, die eher dem Negativpol zugehören und andere ätzend, die eindeutig antipsychiatrische Revolutionäre sind. In dieser Frage sollte man bei mir also keine allzu große Logik erwarten, schließlich handelt es sich hier ja auch um emotionale Befindlichkeiten.

Rollen

Der Mensch ist kein Krokodil, kein Hai; sein Verhalten wird nicht durch Automatismen dominiert. Es beruht auf Entscheidungen. Diese können mehr oder weniger bewusst, mehr oder weniger durchdacht sein. Manchen wird die Rolle des “psychisch Kranken” aufgedrängt, weil sie zu spielen für sie unter gegebenen Bedingungen die beste aller realistischen Alternativen ist. Niemand aber muss sich diese Rolle auch innerlich anverwandeln. Niemand unterliegt dem Zwang, sich selbst als “psychisch krank” zu empfinden.

Wenn man beispielsweise zwangseingewiesen wurde und zwangsbehandelt wird,  dann kann man krankheitsuneinsichtig sein und sich dennoch dafür entscheiden, die Rolle des “psychisch Kranken” aktiv zu verkörpern. Man gaukelt den Psychiatern, den Psychologen, dem sonstigen Hilfspersonal vor, ein krankheitseinsichtiger psychisch Kranker auf dem Wege zur Besserung zu sein – in der Hoffnung, so schneller entlassen zu werden.

Die eigene Initiative, die persönliche Aktivität ist der entscheidende Aspekt. Wer sich in einer Situation befindet, in der es die beste aller Möglichkeiten ist, die Rolle des psychisch Kranken zu spielen, sollte sich nicht hängenlassen, sich der Passivität hingeben und allenfalls einmal ziellos aufmucken. Auf mich jedenfalls wirkt der “Patient” gleich viel sympathischer, wenn er seine Rolle als Chance zur künstlerischen Entfaltung begreift. Wer nicht nur jammert und wehklagt, weil er zutiefst von seinem Leid durchdrungen ist, sondern dabei zumindest ein Quäntchen Selbstironie mitschwingen lässt, macht in meinen Augen einfach eine bessere Figur als der übliche “psychisch Kranke”.

Dieser Gedanke kann natürlich auch auf die Revolutionäre übertragen werden, auf die wackeren Streiter gegen die Menschen verachtende Psychiatrie. Selbst unter diesen Leuten finden sich manche, die auch Jahre nach ihrer Psychiatrieerfahrung immer noch negativ an die Rolle des “psychisch Kranken” gefesselt sind, indem sie sich als Opfer der Psychiatrie inszenieren, als ob dies ein Beruf sei. Manche leiden unter einer Art von Wiederholungszwang und benehmen sich tendenziell immer noch in einer Weise, die ihnen einmal die ungerechtfertigte Unterbringung eingebracht hat, um zu erproben, ob sie sich dies nun, als streitbare antipsychiatrische Revolutionäre, leisten können, ohne hinter psychiatrische Gitter einzufahren. Sympathischer finde ich jedenfalls die Menschen, die, trotz schlimmer und schlimmster Erfahrungen, locker bleiben und auch einmal über sich selbst lachen können. Die Rolle des Psychiatrieerfahrenen kann man durchaus kreativ gestalten.

Die Zünfte

Gut, werden manche nun sagen: Jetzt wissen wir, wie du es mit den psychisch Kranken hältst, du schlimmer Finger. Aber wie siehst du die Psychiater, die Psychologen, deine eigene Zunft? Wenn man dir Glauben schenken will, dann unterscheiden dich sich doch wohl eher nur graduell von KZ-Wächtern – oder verstehen wir dich da falsch?

Die so genannten psychisch Kranken sind Menschen wie du und ich. Ganz normal. Sie spielen Rollen und sie entscheiden sich in aller Regel für jene Rollen, die ihnen unter den zur Verfügung stehenden Alternativen als die besten erscheinen. Wir alle verfahren so, natürlich auch Psychiater und Psychologen. Unter den “psychisch Kranken” gibt es solche, die wissen, dass sie die Rolle des “psychisch Kranken” spielen und solche, die tatsächlich glauben, psychisch krank zu sein.

Auch unter den Psychiatern und Psychologen finden sich solche und solche. Analog zur Hitliste der “psychisch Kranken” könnte ich nun gleichermaßen eine Sympathie-Skala für Psychologen und Psychiater skizzieren. Dem interessierten Leser überlasse ich es, sich dies selbst auszumalen. Nur so viel: Ein wenig Selbstironie kann auch dem Psychiater und dem Psychologen nicht schaden. Mir ist bewusst, dass viele gar nicht anders können, als diese Berufe auszuüben, weil sie nichts anderes gelernt haben und weil sich ihnen keine akzeptablen Chancen in anderen Bereichen bieten. Wenn sie doch wenigstens die Wahrheit sagen würden, nachdem sie in Rente gegangen sind.

Meine Sichtweise des Theaters, dass “psychisch Kranke”, “Psychiater”, “Psychologen”, “Psychotherapeuten”, “Angehörige” usw. aufführen, ist also eine durch und durch romantische. Wenn ich es betrachte, so hellt ein Augenzwinkern, ein wenig Ironie sogleich meine Stimmung auf und diese verfinstert sich bei jeder Form der Verbissenheit, bei jedem Mangel an der gebotenen Distanz zu sich selbst.

The post Psychiatrie, Sympathie, Aktivität appeared first on Pflasterritzenflora.

Idealistische und materialistische Psychiatriekritik

$
0
0

Die idealistische Psychiatriekritik ruht auf folgendem Grundgedanken:

  1. Es gibt eine natürliche und eine übernatürliche Welt.
  2. Die Psyche (Seele) gehört zur übernatürlichen Welt.
  3. Krankheit ist ein Geschehen in der Natur.
  4. Daher kann die Psyche nicht erkranken.
  5. Und so hat die Psychiatrie kein legitimes Arbeitsfeld. Es gibt keine psychischen Krankheiten.

Folgende Überlegung kennzeichnet die materialistische Psychiatriekritik:

  1. Alles, was existiert, gehört zur Natur; es gibt nichts Übernatürliches.
  2. Die Psyche existiert als Vorstellung im Gehirn, nicht aber als etwas Reales, nicht nur Imaginiertes. Man kann sie mit einem Einhorn vergleichen, nicht mit einem Reh.
  3. Ein Reh kann erkranken, nicht aber ein Einhorn. Man kann sich zwar vorstellen, das Einhorn sei krank, dennoch fehlt ihn in Wirklichkeit nichts, weil es nur eine Fantasiegestalt ist.
  4. Entsprechend kann auch die Psyche nicht erkranken.
  5. Und so hat die Psychiatrie kein legitimes Arbeitsfeld. Es gibt keine psychischen Krankheiten.

Die Auseinandersetzung zwischen idealistischer und materialistischer Psychiatriekritik ist also, philosophisch betrachtet, eine Spielart der Leib-Seele- bzw. Körper-Geist-Debatte. Diese Debatte ist (beinahe) so alt wie die Philosophie selbst, sie wird seit Jahrhunderten geführt und bisher blieb die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele, Körper und Geist schlussendlich ungeklärt.

Ist die Natur eine Entäußerung des Geistes, ist der Geist ein Geschehen in der Natur? Sind psychische Abläufe identisch mit Prozessen im Nervensystem bzw. im gesamten Körper? Wer diese Frage philosophisch diskutieren möchte, muss viel Zeit mitbringen; ein Leben, und währe es auch noch so lang, reichte dazu mitnichten aus.

Meine Position ist die materialistische; und zwar aus pragmatischen Gründen. Der philosophischen Debatte weiche ich bewusst aus, weil mir die mit meinem Standpunkt verbundenen Probleme durchaus klar sind und ich mir nicht anmaße, zeitnah zu ihrer Lösung beitragen zu können. Daran nämlich, dass der Versuch, Geistiges, Psychisches auf Physisches zu reduzieren, in seiner gegenwärtigen Form gescheitert ist, kann kein Zweifel bestehen. Dies soll hier nicht diskutiert werden; der Interessierte finde eine brillante Auseinandersetzung mit diesem Thema in Thomas Nagels Alterswerk: “Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False.”

Meine pragmatische Argumentation klammert die philosophischen Fragestellungen aus. Mir fehlt vor allem auch die Zeit dazu, mich ihnen zu widmen. Mein Anknüpfungspunkt sind praktische Fragen. So müsste beispielsweise der idealistische Psychiatriekritiker die Existenz von Störungen des Verhaltens und Erlebens, die auf körperlichen Erkrankungen beruhen, folgerichtiges Denken vorausgesetzt, entschieden leugnen – denn schließlich ist die Psyche etwas Übernatürliches und kann folglich nicht erkranken.

Aus meiner Sicht ist eine solche Sichtweise unhaltbar und für betroffene Patienten wohl auch unzumutbar. Schätzungsweise leiden beispielsweise mindestens 40 Prozent der Patienten mit Hirntumoren unter psychischen Phänomenen, die, zumindest bei oberflächlicher Betrachtung und unter Zeitdruck, als “Symptome einer psychischen Erkrankung” missdeutet werden könnten. Am häufigsten zeigen sich diese Phänomene bei Patienten mit Temporallappentumoren (bis zu 90 Prozent und mehr). Es ist kaum möglich, diese Symptome als Ausdruck schwieriger Lebensumstände aufzufassen, denn bei anderen Patienten mit Karzinomen vergleichbarer Prognose findet sich diese Häufung der einschlägigen Phänomene nicht.

Generell scheint mir zu gelten, dass alle bekannten Tatsachen für die materialistische These sprechen und keine dagegen. Noch nie wurde bei einem Toten eine psychische Aktivität festgestellt, ebenso wenig konnte die Existenz von körperlosen Geistern bisher nachgewiesen werden. Man kann durch elektrische Stimulation des Gehirns zuverlässig psychische Reaktionen hervorrufen. Die Wirkungen des Alkohols oder gar von Halluzinogenen sind bekannt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Immer dann, wenn wir mit psychischen Abläufen konfrontiert sind, dann haben wir es mit den Lebensäußerungen eines Organismus aus Fleisch und Blut zu tun.

Selbstverständlich können Erkrankungen von Organismen auch mit pathologischen Veränderungen des Verhaltens und Erlebens verbunden sein. Daraus folgt aber nicht, dass alle (von wem auch immer) unerwünschten Veränderungen des Verhaltens und Erlebens eine körperliche Ursache haben. Sehr wohl natürlich ist jedes Verhalten und Erleben von körperlichen Prozessen begleitet, dies gilt für krankes, wie für gesundes; dies bedeutet aber keineswegs, dass die letztliche Ursache im körperlichen Bereich zu suchen ist. So kann man einen psychisch normalen Menschen mit intaktem Gehirn unter Hypnose dazu bringen, zu halluzinieren, an Wahnideen zu glauben, hyperaktiv zu werden und was weiß ich nicht alles. Verursacht wurde dies dann aber offensichtlich nicht durch das Gehirn, sondern durch den hypnotischen Prozess, also durch ein Rollenspiel in einem bestimmten sozialen Kontext.

In meinen Augen ist idealistische Psychiatriekritik ein Papiertiger, und, wenn es hier der Steigerung noch bedarf, ein zahnloser Papiertiger. Über eine philosophisch begründete und esoterisch anmutende Psychiatriekritik kann der Psychiater achselzuckend hinweggehen. Er lässt den Nimbus der Naturwissenschaften für sich arbeiten. Computer, Tomographen und moderne genetische Forschung beeindrucken den Laien zumeist einfach mehr als philosophische oder gar religiöse Erwägungen.

Demgegenüber schlägt materialistische Psychiatriekritik die Kritisierten mit den eigenen Waffen. Wer vorgibt, Kranke zu behandeln, der muss mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisen, dass diese Patienten tatsächlich krank sind. Dies ist der Psychiatrie bei den “Schizophrenen”, den “Depressiven”, den “Persönlichkeitsgestörten” und bei all den anderen so genannten psychisch Kranken bisher nicht gelungen.

Der Prüfstein materialistischer Psychiatriekritik ist die empirische Forschung. Hier allerdings ist die Spreu vom Weizen zu trennen. Es wurde inzwischen nachgewiesen, war Gegenstand peinlicher Prozesse, dass die Pharmaindustrie die Forschung verfälschend und zu ihren Gunsten beeinflusst hat. Studien, auf die dies zutrifft oder die aus anderen Gründen methodisch fragwürdig sind, gilt es natürlich auszusondern. Was dann übrigbleibt, zeichnet, zumindest bisher, ein überaus klägliches Bild vom Zustand der gegenwärtigen Psychiatrie.

Die moralische Legitimität will ich der idealistischen Psychiatriekritik ebenso wenig absprechen wie ihre philosophische Berechtigung;  allein: Sie muss ihre Debatten auf einem Felde führen, das dafür bekannt, vielleicht dazu verdammt ist, keine allgemein befriedigenden Antworten zu finden, nicht einmal solche, die auch nur vorübergehend weitgehend ungeteilte Zustimmung finden. Demgegenüber beugt sich die materialistische Psychiatriekritik dem Urteil seriöser empirischer Forschung.

Natürlich räume ich ein, dass die idealistische Psychiatriekritik mächtige Affekte für sich arbeiten lassen kann, allen voran den anti-naturwissenschaftlichen Affekt, der in einer starken Minderheit des Volkes virulent ist. Die suggerierte Frontstellung: hier die böse biologische Psychiatrie, dort die gute humanistische Gesinnung. Hier die kalten Apparate, dort die ewigen Wahrheiten. Meine Güte, wenn es doch so einfach wäre! Das ist keine Psychiatriekritik, letztlich, wenn man unter Kritik eine Äußerung der Vernunft versteht. Das ist Politik mit antipsychiatrischen Affekten. Es mag ja sein, dass eine solche Politik Erfolg hat, und sei es nur den, dass sie ihre Protagonisten in die Presse oder ins Fernsehen bringt.

Aber ich bezweifele, dass man so Erfolge erarbeiten kann, die wirklich der Sache dienen. Die Verhältnisse sollen sich ja schließlich nicht nur verändern, sie sollen sich verbessern. Ohne sachliche Kritik, die sich auf Fakten bezieht, wird sich dies aber nicht bewerkstelligen lassen.

The post Idealistische und materialistische Psychiatriekritik appeared first on Pflasterritzenflora.

Irre

$
0
0

Irre. 1970 stahl ein Mann in den Vereinigten Staaten eine Halskette. Das Schmuckstück war rund 20 Dollar wert. Er wurde erwischt. Ein Richter entschied, dass er schuldunfähig sei. Irre. Er kam in eine Anstalt für “psychisch kranke” Kriminelle. Dort sitzt er immer noch. Kurzfristig nahm er an einem ambulanten Programm teil. Dieses Projekt musste jedoch aus Geldmangel eingestellt werden. 2007 beantragte ein Pflichtverteidiger seine Entlassung. Doch der zuständige Richter starb. Erst vor wenigen Wochen wurde der Fall einem lebenden Richter übergehen.

Diese Geschichte habe ich mir nicht ausgedacht, sondern sie beruht auf einem Bericht der Washington Times vom 22. Januar 2014. Zu Beginn seiner Einkerkerung habe sich der Mann hin und wieder mit anderen Patienten gestritten. Es ging um Geld, Nahrungsmittel, Kleidung. Seit Jahren aber sei er ausgesprochen friedlich.

Irre? Man mag dies als Einzelfall betrachten. In der Tat: Mehr als vierzig Jahre! Das ist Rekord. Doch schauen wir genauer hin. In jedem Einzelfall verbirgt sich Grundsätzliches. Der Mann wurde in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen, weil man ihn für psychisch krank und schuldunfähig hielt. Diese Auffassung wurde durch ein psychiatrisches Gutachten gestützt.

In meinem Beitrag “Die psychiatrische Diagnostik” habe ich gezeigt, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide sind, auf Deutsch: Sie taugen nichts. Der Mann blieb in der Anstalt, weil man ihn für gefährlich hielt und dann vergessen hatte. In meinem Beitrag “Psychiatrie und Justiz” habe ich gezeigt, dass die psychiatrische Prognostik nicht treffsicherer ist als die Glaskugelschau. Kein Wunder also, dass auch die psychiatrischen Gutachten ihr Papier nicht wert sind. Dies habe ich in meinem Beitrag “Psychiatrische Gutachten” gezeigt.

Irre. Es zeigt sich in einer Fülle vom empirischen Studien, dass schiere Willkür die psychiatrische Diagnostik und Prognostik regiert. Ob jemand wegen einer Straftat in die Psychiatrie muss, hängt von der schieren Meinung seiner Richter ab. Sie stützen sich auf subjektive psychiatrische Gutachten. Wann er dann wieder herauskommt, hängt ebenfalls von der schieren Meinung seiner Richter ab. Sie stützen sich wiederum auf subjektive psychiatrische Gutachten. Wer Pech hat, sitzt vierzig Jahre hinter psychiatrischen Gittern.

Nicht nur in Amerika, auch in Deutschland ereignen sich solche Horrorgeschichten. Der Fokus titelte: Desinteressierte Ärzte sperrten Tic-Kranken 24 Jahre als debilen Gewalttäter weg. Das war 1998. 2013 lautete der Fokus-Titel: 38 Jahre zu Unrecht in der Psychiatrie. Es geht hier in beiden Berichten im denselben “Patienten”.

Einzelfälle? Natürlich, keine Frage. Das sind Einzelfälle. Man kann in ihnen aber Gemeinsamkeiten entdecken. Man muss nur genauer hinschauen. Es ist die schiere Willkür, die diese Fälle verbindet.

Was lernen wir daraus? Psychiater haben vor Gericht nichts zu suchen. Es sei denn als Angeklagte. Und Straftäter haben in der Psychiatrie nichts zu suchen. Gerechtigkeit herrscht, wenn Menschen der schwere ihrer Tat entsprechend bestraft werden. Ungerecht ist es, sie aufgrund von Mutmaßungen auf unbestimmte Zeit einzusperren. Ganz einfach, leicht zu erkennen. Man muss nur genauer hinschauen.

The post Irre appeared first on Pflasterritzenflora.

Kritische Psychologie

$
0
0

Die Bezeichnung “kritische Psychologie” hat mindestens drei mögliche Bedeutungen:

  1. Ein Psychologe ist kritisch, wenn er menschliche Verhältnisse hinterfragt. In diesem Sinn ist jeder wissenschaftlich orientierte Psychologe kritisch, denn den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, gehört zum Wesen jeder Wissenschaft, ist ihr tägliches Brot.
  2. Ein Psychologe ist kritisch, wenn er die Arbeitsweise der traditionellen Psychologie in Zweifel zieht und durch eine andere, bessere ersetzt wissen möchte. Gemäß dieser Definition sind heutzutage viele Psychologen (methoden-)kritisch, denn eine ganze Menge dieser Leute neigen mehr oder weniger esoterischem Denken zu und arbeiten mit Methoden, deren Effizienz und deren theoretische Grundlagen nicht oder nicht ausreichend empirisch getestet wurden.
  3. Ein Psychologe ist ein Vertreter der Kritischen Psychologie, wenn er sich einer Denkschule zurechnet, die sich mit dem Namen Klaus Holzkamp verbindet. Nur ein kleines Häuflein von Kollegen entspricht dieser dritten Definition.

Ich bin kritischer Psychologe im ersten, im banalen Sinn dieses Begriffs. Darüber hinaus bin ich zwangsläufig kritisch, indem ich die gegenwärtige Psychiatrie aus Sicht der traditionellen Psychologie analysiere.

Traditionelle Psychologie? Dieser Begriff bedarf wohl einer Erläuterung. Traditionell ist die Psychologie eine empirische Wissenschaft mit naturwissenschaftlichem Anspruch. Sie bevorzugt das Experiment. Sie wertet die Ergebnisse quantitativ aus. Das Leitbild ist das methodisch einwandfreie Experiment. Versuchspersonen werden nach dem Zufallsprinzip aus einer Grundgesamtheit ausgewählt in diese Stichprobe wird auf eine oder mehrere Versuchsgruppen und eine Kontrollgruppe verteilt. Quasi-Experimente sind statthaft, wenn sich das Ideal aus ethischen oder pragmatischen Gründen nicht verwirklichen lässt, aber es ist dann zwingend erforderlich, die Einschränkungen der internen und externen Validität eines solchen Versuchs zu benennen und bei der Interpretation zu berücksichtigen.

Einwandfrei? Selbstverständlich ist es problematisch, die weite Welt menschlicher Lebensäußerungen in die enge Begrenzung des psychologischen Labors zu sperren; aber dennoch ist das ideale psychologische Experiment das Beste, was wir haben. Alle anderen Ansätze haben gewisslich mehr Schwachstellen. Diese will ich nicht verteufeln; andere Erkenntniswege, und hier will ich die psychoanalytische Methode im strikten Freudschen Sinne besonders hervorheben, haben zweifellos einige Gesichtspunkte ans Licht gebracht, die mit dem traditionellen psychologischen Ansatz schwerer oder gar nicht zu erforschen gewesen wären.

Doch das klassische Experiment hat den Vorzug der Übersichtlichkeit seiner Bedingungen und es ist im Idealfall allein aufgrund des Versuchsplans und der erhaltenen Daten interpretierbar. Durch die zufällige Auswahl und Verteilung der Versuchspersonen auf die experimentellen Bedingungen lassen sich unsystematische Störfaktoren kontrollieren. Der Siegeszug der modernen Naturwissenschaften ging mit der Durchsetzung der experimentellen Methode einher. Natürlich räume ich ein, dass Menschen etwas anderes sind als eine schiere Ansammlung von Molekülen, Atomen oder Quarks. Das Experimentieren mit Menschen wirft nicht nur ethische, sondern auch erhebliche methodische Probleme auf. Moleküle, Atome oder Quarks denken nicht über den Sinne der Experimente nach, in die sie einbezogen sind.

Dennoch: Die verblindete, randomisierte, placebo-kontrollierte Studie mit einer zusätzlichen No-Treatment-Bedingung ist fraglos das Beste, was wir haben, um psychiatrische bzw. psychotherapeutische Abläufe zu beleuchten. Daher bin ich kein kritischer Psychologe im Sinn der zweiten oder dritten Definition, sondern ein traditioneller, empirisch und naturwissenschaftlicher Psychologe, der Psychotherapie und Psychiatrie im Licht der empirischen Forschung und damit zwangsläufig kritisch betrachtet.

Dass viele Psychologen heute Psychiatrie und Psychotherapie ganz und gar nicht kritisch sehen, muss ich mit großen Staunen und auch einer gewissen Ungläubigkeit, die sich mitunter zur Verzweiflung steigert, zur Kenntnis nehmen. In den Lehrbüchern der Psychologie wird ja nach wie vor die oben skizzierte Methodik der traditionellen Psychologie als verbindlich dargestellt. Und wenn man diese Methodik auf die genannten Gegenstände anwendet, dann kann man recht eigentlich kaum zu wesentlich anderen Schlussfolgerungen gelangen als ich. Meine Kritik ist wirklich nicht besonders originell; und wenn ich wie ein sehr seltener Vogel in der psychologischen Landschaft erscheine, so kann dies keine wissenschaftlichen, es muss andere Gründe haben.

Beispiel: Es kann eigentlich kein Zweifel daran bestehen, dass die diagnostischen Verfahren der Psychiatrie nicht valide sind. Wenn auch eine gewisse Reliabilität, die allerdings erheblich zu wünschen übrig lässt, wohl gegeben sein mag, so kann von Validität angesichts des völligen Fehlens von replizierbaren Korrelationen zwischen den so genannten psychischen Krankheiten und Hirnprozessen wohl kaum gesprochen werden. Aus Sicht der traditionellen Psychologe ist dieser Sachverhalt ein Ausschlusskriterium aus dem Reich der Wissenschaft. Die psychiatrische Diagnostik steht somit auf dem Niveau der Glaskugelschau oder des Rutengangs. Die meisten Psychologen finden diese Tatsache noch nicht einmal der Erwähnung wert. Andere verharmlosen die mangelnde Validität und behaupten, eine verbindliche Definition der “psychischen Krankheiten” sei das Entscheidende. Das mag ja für Esoteriker das Entscheidende sein, die außer mehr oder weniger präzisen Definitionen ihrer feinstofflichen Kräfte und Wirkmächte nicht allzu viel zu bieten haben. Wer Psychologe sein will, in einer würdigen Bedeutung dieses Begriffs, kann sich meines Erachtens damit nicht zufrieden geben.

In ihrem Lehrbuch “Quasi-Experimentation” bezeichnen Cook und Campbell das Experiment als den Königsweg zur Erkenntnis, schränken aber ein, dass natürlich die Übertragung experimenteller Ergebnisse auf die Realität, deren Bedingungen denen des Labors sehr unähnlich sein können, allerdings Probleme aufwirft. Bekanntlich existiert eine “Schere” zwischen dem Ausmaß experimenteller Kontrolle und dem Grad der Übertragbarkeit. Tendenziell sind die Bedingungen einer Studie den realen umso ähnlicher, je mehr Probleme sie bei der Verwirklichung der klassischen experimentellen Methodik aufwerfen. Das Buch “Quasi-Experimentation” setzt sich mit den Bedrohungen der internen Validität von Experimenten auseinander, die vom idealen Versuchsplan abweichen.

Die Autoren schreiben, dass die Randomisierung keinesfalls alle Bedrohungen der Validität eines Experiments ausräumen könne, sondern nur jene, die sich unsystematisch auf die Teilnehmer der Versuchs- und Kontrollgruppen gleichermaßen auswirken können. Doch:

“Rather, the case for random assignment has to be based on the claim that it is a better means of ruling out threads to internal validity und statistical conclusion validity than most quasi-experimental and nonexperimental alternatives – i.e., fewer and less plausible assumptions about alternatives usually need to be made after a randomized experiment than after a quasi-experiment or a non-experiment (1).

Bedrohungen externer Validität kann die Randomisierung allerdings nicht ausschalten. Ein realitätsfremdes Experiment bleibt ein solches, auch wenn die Versuchspersonen zufällig den Versuchsbedingungen zugeordnet wurden.

Gern stimme ich Theodore Sarbin, dem Pionier der Narrativen Psychologie, zu, dass Menschen große Geschichtenerzähler sind und dass die Geschichten, die wir uns selbst und anderen über uns selbst und unsere Welt erzählen, fraglos eine wichtige Grundlage fruchtbarer Hypothesen über menschliches Verhalten und Erleben darstellen (2). Die Narrative Psychologie kann die experimentelle und quasi-experimentelle Forschung jedoch nicht ersetzen, denn Wissenschaft heißt im Kern: Suche nach den Ursachen. Die Erzählungen über (vermeintliche) Ursachen bzw. Motive eigenen oder fremden Verhaltens müssen überprüft werden; der beste Weg dazu ist und bleibt das Experiment.

Nein, ein kritischer Psychologe in irgendeinem nicht banalen Sinn dieses Wortes bin ich nicht, sondern ein durchaus traditioneller. Mir ist bewusst, dass der Erkenntnisfortschritt mittels der klassischen experimentellen Methoden langsam, ja, quälend langsam ist. Man sollte aus meiner Sicht aber nicht der Verlockung nachgeben, die Spekulation an die Stelle der methodisch sauberen empirischen Forschung treten zu lassen. Dadurch kann man den Erkenntnisfortschritt nicht beschleunigen, nicht wirklich.

Ein Psychologe, der sich zu einer methodisch-methodologisch einwandfreien Psychologie bekennt, kann kein Psychotherapeut sein. Denn ein Psychotherapeut behandelt psychische Krankheiten. Aus Sicht der methodisch sauberen, der traditionellen Psychologie sind “psychische Krankheiten” jedoch invalide Konstrukte, die außerhalb der Wissenschaft stehen. Ein traditioneller Psychologe kann natürlich “behavior modification” betreiben, da diese nur bestimmtes Zielverhalten verändern, nicht aber Krankheiten therapieren will. Schon der Begriff “Verhaltenstherapie” ist ein Zugeständnis an das medizinische Weltbild. Die Vertreter der frühen Verhaltenstherapie grenzten sich im Übrigen auch scharf von der Psychotherapie ab und betonten, keine Krankheiten, sondern Verhaltensstörungen zu behandeln.

Die in der Pflasterritzenflora vorgetragene Psychiatriekritik ist also keine politische, keine moralische, sondern eine wissenschaftliche, und sie beansprucht Gültigkeit auch nur insoweit, wie sie sich durch empirische Studien erhärten lässt. Da ich keine Maschine, sondern ein menschliches Individuum bin, mag mir das eine oder andere subjektive Wort über Psychiatrie, Psychiater und Psychotherapeuten entfleuchen; persönliche Wertungen vollends auszumerzen, ist meine Sache nicht. Man möge also nicht alles auf die wissenschaftliche Goldwaage lesen, was man in der Pflasterritzenflora vorgesetzt bekommt. Das Grundgerüst meiner Ausführungen muss aber wissenschaftlich fundiert sein; wer hier Schwächen entdeckt, macht sich um mein Seelenheil verdient, wenn er mich in Kommentaren darauf hinweist.

Anmerkungen

(1) Cook, T. D. & Campbell, D. T. (1979). Quasi-Experimentation. Boston: Houghton Mifflin Co.

(2) Sarbin, T. R. (ed.) (1986). Narrative psychology: the storied nature of human conduct. Westport: Praeger

The post Kritische Psychologie appeared first on Pflasterritzenflora.

Psychiatrie: Die Weichspüler

$
0
0

Selbstverständlich gibt es auch Psychiater mit einem offenen Ohr für Kritik. Sie sagen:

  • Unbestritten ist eine psychische Störung mehr als nur eine Hirnerkrankung, auch psychologische und gesellschaftliche Faktoren müssen berücksichtigt werden.
  • Fraglos reicht es nicht aus, Patienten nur mit Medikamenten ruhigzustellen, klarerweise müssen wir uns auch um die Biographie eines Erkrankten kümmern, um sein soziales Umfeld, um den Arbeitsplatz etc.
  • Natürlich stigmatisieren psychiatrische Diagnosen und daher müssen wir großes Fingerspitzengefühl in dieser Hinsicht unter Beweis stellen.
  • Klar: In der Bevölkerung sind falsche Vorstellungen über psychische Kranke, insbesondere über deren Gefährlichkeit, weit verbreitet, denen wir entgegenwirken müssen.
  • Sicher sind in der Psychiatrie Tendenzen festzustellen, alle erdenklichen Lebensprobleme zu medikalisieren; dem muss Einhalt geboten werden.
  • Eindeutig sind psychische Krankheiten etwas anderes als körperliche Krankheiten, denn anders beispielsweise als beim gebrochenen Fuß hängt die psychiatrische Diagnose von kulturbedingten Vorannahmen zum Normalen ab.
  • Selbstredend ist in der Psychiatrie ein hohes Maß an Empathie erforderlich; ohne Bereitschaft, sich auf die Sichtweise des Patienten einzulassen, läuft hier gar nichts.

Solche Psychiater mit derartig wohlmeinenden Einstellungen sind erstaunlicherweise recht zahlreich. Wer unbefangen, vorurteilsfrei mit ihnen spricht, der kann sich des Eindrucks nicht entschlagen, dass er bei einem solchen Experten in guten Händen ist. Selbstverständlich, so werden wir einräumen, ist die Psychiatrie eine relativ junge Wissenschaft, die es mit hoch komplexer Materie zu tun hat und einfach noch nicht alles weiß, was zu wissen wünschenswert wäre. Selbstverständlich, so müssen wir anerkennen, wirkt sich die individuelle Vielfalt der Menschen gerade in der Psychiatrie erschwerend auf die ärztliche Tätigkeit aus. Gut nur, werden wir nach einem Gespräch mit einem solchen wohlmeinenden, aufgeschlossenen Psychiater sagen, gut nur, dass es Fachleute mit dieser erfrischend praktischen und humanen Einstellung gibt!

Das ist die eine Seite. Es war wichtig und richtig, sie ins Auge zu fassen. Ja, es gibt Psychiater mit vortrefflichen Einstellungen zu ihrem Metier, zu ihren Patienten, zu ihrer Wissenschaft. Allein, wie sieht die andere Seite aus? Wie steht es um die Korrelation zwischen der Einstellung und dem Verhalten? Kann der Arzt unter den massiven Zwängen seines Alltags überhaupt all das verwirklichen, was seine Einstellung verspricht? Oder ist er nur – bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich, reflektiert oder gedankenlos – ein Weichspüler, der die Psychiatrie schönredet? Wenn die Psychiatrie angesichts des Wohlwollens dieser durchaus zahlreichen Psychiater auch nur einen Bruchteil dessen realisieren könnte, was sich aus den erwähnten Einstellungen herauslesen lässt, dann müsste sie doch ein Dorado für die Mühseligen und Beladenen sein.

Die Ärztezeitung schreibt:

“So stieg in Deutschland zwischen 1990 und 2002 die Rate unfreiwilliger Einweisungen um 67 Prozent von 114,4 auf 190,5 (jeweils bezogen auf 100.000), in England um 24 Prozent von 40,5 auf 50,3, in den Niederlanden um 16 Prozent von 16,4 auf 19,1.”

wie kommt es, dass trotz all dieser wohlmeinenden Ärzte die Zahl der zwangsweise Untergebrachten anschwillt?

Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

“Wie der Arzt Werner Kissling vom Center for Disease Management der Technischen Universität München gezeigt hat, ist die Zahl der Therapieunwilligen in der Neurologie und Psychiatrie besonders groß (Psychiatrische Praxis, Bd. 36, S.258, 2009).”

Warum verweigern rund 50 Prozent der Schizophrenen, der Depressiven die Einnahme ihrer Medikamente oder setzen sie schon nach wenigen Wochen ab, ohne den Arzt darüber zu informieren?

Anita Holzinger und Mitarbeiter (1) befragten Wiener über Psychotherapeuten und Psychiater. Das Urteil fiel besonders für die Psychiater ziemlich harsch aus. Psychiater gingen zu wenig auf die Problematik des Einzelnen ein (hinterfragten weniger die wirklich relevanten Dinge, gingen eher nach Schema F vor). Sie würden  die Wünsche der Patienten nicht ausreichend respektieren. Sie würden nur Medikamente verschreiben, gegen Schlaflosigkeit, zur Beruhigung, gegen Depressionen.

Es steht zu vermuten, dass solche Einstellungen auch in anderen deutschsprachigen Regionen mehrheitsfähig sind. Vorurteile, natürlich! Was sonst? Wer an die vielen, vielen wohlmeinenden Psychiater mit den perfekten Einstellungen denkt, kann einfach nicht glauben, dass die Meinungen der befragten Wiener tatsächlich die Realität widerspiegeln. Oder?

Seit vielen, vielen Jahren werde ich regelmäßig von Menschen kontaktiert, die mir offensichtlich nur ihr Leid über die Psychiatrie klagen wollen. sie rufen meist unter Vorwänden an, aber letztlich läuft ihre Botschaft darauf hinaus, dass sie von Pontius zu Pilatus gelaufen seien, aber kein Psychiater habe ihnen helfen können, keiner habe Ahnung gehabt, viele hätten sich, mehr oder weniger engagiert, zwar bemüht, auf sie einzugehen, hätten es schlussendlich aber nicht geschafft.

Selbstverständlich bin ich als Psychiatriekritiker im Netz bekannt und daher ist meine Stichprobe nicht repräsentativ. Aber dennoch kann ich mich, wenn ich mir ein subjektives Urteil erlauben darf, vor dem Eindruck nicht verschließen, dass viele, allzu viele der wohlmeinenden Psychiater tatsächlich Weichspüler sind.

Mein Verdacht findet eine Stütze in wissenschaftlichen Tatsachen: Psychiatrische Diagnosen sind nicht valide. Psychiatrische Behandlungen sind entweder nicht nennenswert effektiver als ein Placebo oder sie treiben den Teufel mit Beelzebub aus, indem sie eine mutmaßliche psychische Krankheit medikamentös durch eine tatsächliche neurologische Erkrankung ersetzen. Wie sollten Psychiater da tatsächlich helfen können, selbst wenn sie wohlmeinend sind und eine prima Einstellung haben?

Anmerkung

(1) Holzinger, A. et al. (2010). Was denken Sie was ein Psychiater macht? Und was denken Sie macht ein Psychotherapeut? Ergebnisse einer Repräsentativerhebung bei der Wiener Bevölkerung. Psychiatrische Praxis 37 (2010) 329

The post Psychiatrie: Die Weichspüler appeared first on Pflasterritzenflora.

Ethik

$
0
0

Anlässlich der Verleihung der Hans-Prinzhorn-Medaille in Berlin im Jahre 2004 verglich der Laudator Prof. Dr. Hartmut Hinterhuber aus Innsbruck in seiner Rede den Preisträger Roland Kuhn mit niemand geringerem als mit Seneca:

“Roland Kuhn – den wir heute ehren – ist wie Lucius Annaeus Seneca Naturforscher und auch Ethiker und Philosoph. Beide vertreten sie die Meinung, das Wissen um die Natur solle den Menschen mehr läutern und bessern als belehren. Der heute Auszuzeichnende verkörpert Spitzenleistungen in der forschenden Medizin, groß sind auch seine Impulse für Kultur, Philosophie und Daseinsanalyse.”

Der 1912 in Biel geborene und 2005 gestorbene Roland Kuhn war ein Schweizer Psychiater und der Entdecker des Imipramins. Diese Substanz gilt als erster Arzneistoff zur Behandlung der Depression. Dies ist natürlich nicht richtig, denn Alkohol und Opium beispielsweise werden seit urerdenklichen Zeiten zur Linderung von Gemütsverstimmungen eingesetzt; sie wirken ebenso wenig ursächlich wie Imipramin oder andere so genannte Antidepressiva. Doch dies ist eine andere Geschichte, zurück zu einem Mann, der angeblich durch Wissen über die Natur Menschen läutern und bessern wollte.

Dieser hoch geschätzte Mann verwirklichte zwischen 1950 und 1978 des vorigen Jahrhunderts klinische Tests an mindestens 1600 Versuchspersonen, und dies ohne Einwilligung der Patienten. Diese unrühmliche Geschichte wurde nunmehr, neun Jahre nach seinem Tode bekannt, wie Schweizer Zeitungen, beispielsweise der Tagesanzeiger und das Bieler Tagblatt berichteten. Zwischen 1954 und 1957 starben insgesamt 23 Versuchspersonen, wobei die Todesfälle niemals untersucht wurden. Kuhn testete auch mehrere nicht zugelassene Substanzen gleichzeitig ohne zureichende Information und Einverständnis der Patienten.

Heute melden sich ehemalige Patienten zu Wort, die an diesen Versuchen teilnehmen mussten, und berichten Schreckliches: Angstzustände, Panikattacken, Alpträume. Einer sagte: Sie haben mich mit Medikamenten vollgestopft wie eine Gans. Kuhn führte auch Tests an Schwangeren durch, um die Auswirkungen des Präparats auf das ungeborene Kind zu überprüfen. Der Tagesanzeiger schreibt:

“Für die zunehmend strenger auftretenden Zulassungsbehörden und die höheren ethischen und wissenschaftlichen Ansprüche habe Kuhn nur Hohn übrig gehabt. Die Reglementierung und den damit verbundenen personellen und materiellen Aufwand störten ihn. Im Jahr 1988 setzt der Thurgau eine Ethikkommission zur Überwachung der klinischen Versuche ein: Im gleichen Jahr rief Kuhn seine Forscherkollegen auf: ‘Kehrt zurück zu jenen Methoden, die seinerzeit zu großem Erfolg geführt haben.’”

Kuhn experimentierte auch mit Kindern sowie einer betagten, schwer kranken Frau, die zum Zeitpunkt der Versuchsreihe nur noch 33 Kilo wog, schreibt der Beobachter.

Roland Kuhn war nicht nur Pharma-Forscher, sondern auch Psychotherapeut, der sich der Daseinsanalyse verschrieben hatte. Er war ein Spezialist für die Kombination von pharmazeutischer und psychotherapeutischer Behandlung, wie sein Freund Charles Kahn berichtet. Die Daseinsanalyse, die auf der Philosophie Martin Heideggers beruht, will die Weltentwürfe “psychisch kranker” Menschen verstehen. Zumindest auf den ersten Blick unterscheidet sich die Daseinsanalyse wohltuend von psychiatrischen Ansätzen, die den psychiatrischen Patienten im Kern auf ein “krankes Gehirn” reduzieren. Im Licht unseres neueren Wissens über Roland Kuhn darf man allerdings den Verdacht hegen, dass dieser die Daseinsanalyse zur tarnenden Verklärung seiner eigentlichen Tätigkeit im Felde fragwürdiger Medikamenten-Versuche missbrauchte.

Zu seinen Lebzeiten fiel kein Schatten auf sein Forscherleben; er wurde als Pionier, besonders der Depressionsforschung, in hohen Ehren gehalten und er war sich seiner Bedeutung durchaus bewusst. 1997 schrieb der Spiegel:

“‘Jammern und Weinen’, erinnert sich der Schweizer Psychiater Roland Kuhn, 85, das sei der Alltag depressiver Patienten gewesen damals, 1939, als er noch Oberarzt an der kantonalen Thurgauischen Psychiatrischen Klinik Münsterlingen war. Vor 40 Jahren, im Herbst 1957, wendete sich das Blatt: Kuhn führte in die Behandlung des jahrtausendalten Menschheitsübels als erster eine wirksame Arznei ein.

Das Medikament, eine Chemikalie namens ‘Iminodibenzylderivat (G 22355)’, später ‘Imipramin’ (Markenname Tofranil) genannt, wird am kommenden Wochenende in Frankfurt am Main gewürdigt; ‘alle Psychiater in leitender Position an Universitäten und Krankenhäusern’ sind dazu eingeladen. Professor Kuhn, ein vitaler Grauschopf, hält den Festvortrag. Sein Fazit: In der ‘Behandlung depressiver Erkrankungen begann 1957 ein neues Kapitel’.”

Wir wissen heute, dass generell nur sehr wenige Patienten tatsächlich von Antidepressiva profitieren und dass viele, wenngleich sie bestenfalls eine schwache Placebowirkung verspüren, unter teilweise gravierenden Nebenwirkungen zu leiden haben (1). Manche meinen zwar, dass diese Substanzen bei schweren Depressionen einem Placebo klinisch bedeutsam überlegen seien, aber eine gründliche Übersichtsarbeit von Moncrieff, Wessely & Hardy zeigt, dass diese Behauptung im Licht der seriösen empirischen Forschung nicht aufrecht erhalten werden kann (2).

Von einem neuen Kapitel kann also nicht die Rede sein, und derjenige, der es angeblich aufschlug, war, angesichts dessen, was wir heute über ihn wissen, auch kein Mensch, bei dem sich der Vergleich mit Seneca aufdrängt. Seneca sagte:

„Die Philosophie ist keine Kunstfertigkeit, die man dem Volk präsentiert oder die sich überhaupt zum Vorzeigen eignet, sie beruht nicht auf Worten, sondern auf Taten. Auch wendet man sich ihr nicht zu, um mit angenehmer Unterhaltung den Tag zu verbringen, um die Freizeit vom Makel der Langeweile zu befreien. Sie formt und bildet den Geist, sie ordnet das Leben, bestimmt unsere Handlungen; sie zeigt, was zu tun und zu lassen ist.“

Roland Kuhn wusste offenbar nicht, was zu tun und zu lassen ist. Daher verbietet sich ein Vergleich mit dem Römer.

Anmerkung

(1) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

(2) Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10

Related Articles

Depression

Die Freiheit zur Depression

Health Narratives

The post Ethik appeared first on Pflasterritzenflora.


Psychiatrischer Zwang, offener Dialog

$
0
0

Offener Dialog

Die Idee klingt gut. In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts entwickelten Jaakko Seikkula, Markku Sutela und ihr interdisziplinäres Team am Keropudas-Krankenhaus in Tornio, Finnland eine neue Form des Umgangs mit Menschen in akuten Krisen, die von der Psychiatrie als psychotisch eingestuft werden.

Die Grundidee: So früh wie möglich schart ein Team aus mindestens zwei professionellen Mitarbeitern einer Klinik möglichst das gesamte soziale Netzwerk eines Menschen in einer akuten “psychotischen” Krise sowie alle sonstigen involvierten Helfer und die übrigen unmittelbar Betroffenen um sich und tritt in einen offenen Dialog ein. Die Person in der Krise steht dabei im Mittelpunkt. Man spricht nicht im Kreise der Professionellen über den Fall, sondern mit dem direkt und allen indirekt Betroffenen. Zunächst geht es darum, die individuelle Sicht des Menschen in der Krise zu verstehen und dann jeden Teilnehmer zu ermutigen, seine eigene Perspektive einzubringen. So entsteht ein neues Gewebe von Bedeutungen, zu dem jeder Teilnehmer beigetragen hat. Dies kann in einem oder auch in einer größeren Zahl von Treffen geschehen. (Siehe hierzu die Website des Institute for Dialogic Practice).

Die Ergebnisse erscheinen ermutigend, wenngleich eine abschließende Beurteilung angesichts einer geringen Zahl von Studien nicht möglich ist. Seikkula untersuchte die Resultate des Open-Dialogue-Projekts über einen Zeitraum von fünf Jahren (1); Versuchspersonen waren Patienten mit einer ersten “psychotischen Episode”:

  • 67 Prozent nahmen niemals Neuroleptika
  • 33 Prozent schluckten sie gelegentlich
  • 20 Prozent gebrauchten sie am Ende der Fünf-Jahres-Periode
  • 67 Prozent entwickelten während des gesamten Untersuchungszeitraums keine “psychotischen Symptome”
  • 79 Prozent hatten keine “Symptome” am Ende des Experiments
  • 73 Prozent arbeiteten nach fünf Jahren oder gingen zur Schule
  • 7 Prozent waren zu diesem Zeitpunkt arbeitslos
  • 20 Prozent erhielten Transferzahlungen als “Behinderte”.

Diese Ergebnisse können sich sehen lassen (auch wenn die methodischen Probleme natürlich ins Auge springen). Entsprechend stieß der neue Ansatz aus Westlappland weltweit auf großes Interesse bei psychiatriekritischen Professionellen, die ein neues Paradigma in der Psychiatrie durchzusetzen versuchen. Manche Aktivisten unter den psychiatriekritischen Betroffenen waren ebenfalls sehr angetan (siehe hier). Auch ich will nicht verhehlen, dass ich dieses Projekt spontan sympathisch fand, als ich zum ersten Mal davon hörte und dass ich nach wie vor gern daran glauben möchte, dass es tatsächlich auch funktioniert.

Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass dieser Ansatz sogar in traditionellen Bereichen der Psychiatrie auf steigendes Interesse stoßen wird, wenn erst einmal alle Patente für Neuroleptika abgelaufen sind und keine neuen Produkte mehr auf den Markt kommen (was, wie es aussieht, durchaus denkbar ist). Wenn dann nur noch Generika eingesetzt werden, also keine Quasi-Monopolpreise mehr verwirklicht werden können, dürfte das Interesse der Pharmaindustrie an den Neuroleptika schrumpfen und dann ist auch wieder der Blick frei für alternative Maßnahmen.

Psychiatrischer Zwang

Ja länger ich mich mit diesem Thema beschäftige, desto skeptischer werde ich, gleichsam wider Willen, denn irgendwie finde ich den offenen Dialog ja wirklich erfrischend und human. Allein: der offene Dialog ist ein herrschaftsfreier Diskurs bzw. er ist nur als ein herrschaftsfreier Diskurs wirklich ein neues Paradigma; wäre er kein herrschaftsfreier, so hätten wir es mit Marketing in Form des alten Weins in neuen Schläuchen zu tun.

Herrschaftsfrei ist der Dialog, wenn folgende Bedingungen realisiert sind:

  • Die Kommunikationspartner sind gleichberechtigt
  • Sie haben die gleichen Möglichkeiten sich zu äußern
  • Die Kommunikation ist symmetrisch
  • Die Entscheidungsfindung erfolgt durch den “Zwang des besseren” Argumentes.

Diese Art der Kommunikation sollte eigentlich in demokratischen Gesellschaften, die aus freien und gleichen Bürgern bestehen, selbstverständlich sein; ist sie aber nicht, wie wir alle wissen. Natürlich kann man sich diesem Ideal unter den herrschenden Bedingungen zumindest annähern, sofern bestimmte Konstellationen gegeben sind, beispielsweise in einem Verein oder in einer Bürgerinitiative. Aber ob dies auch möglich sein wird, wenn einzelne Kommunikationsteilnehmer die Rolle des “psychisch Kranken” eingenommen haben, bleibt dahingestellt.

Über allen Bürgern schwebt das Damoklesschwert psychiatrischer Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung; aber bei Leuten mit einer psychiatrischen Diagnose ist der Faden, an dem das Schwert hängt, wirklich ausgesprochen dünn. Das psychiatrische System ist im Kern ein Zwangsverhältnis, auch in jenen Fällen, in denen es sich bemüht, geeignete Kandidaten durch Überzeugung, Überredung oder mehr oder weniger subtiles Zeigen der Instrumente für eine freiwillige Behandlung zu gewinnen.

Also läuft der offene Dialog immer Gefahr, in eine schwer durchschaubare Apologetik der herrschenden Psychiatrie abzugleiten – und zwar unabhängig vom redlichen Bemühen aller Beteiligten. Was geschieht denn mit einem, der sich im offenen Dialog letztlich doch weigert, den Gesslerhut zu grüßen? Es könnte doch sein, dass einer auf dem Standpunkt des “Irren” beharrt und deswegen dem psychiatrischen Anliegen, für Ordnung zu sorgen, nachhaltig widerspricht. Nicht immer wird es im offenen Dialog gelingen, dem Widerspenstigen eine goldene Brücke zu bauen, die ihn in die Gemeinschaft der halbwegs Normalen zurückführt.

Unter diesen Bedingungen werden sich viele “Irre” im offenen Dialog so verhalten, als handele es sich um ein besonders schonendes und daher auch letztlich um ein besonders heimtückisches Ritual zur Unterwerfung unter die psychiatrische Gottheit. Sie werden sich einem untergründigen Zwang ausgesetzt sehen, der sie umso härter zu treffen vermag, weil er u. U. ebenso wenig zu spüren ist wie der Druck der Luft (um einen Aphorismus Lichtenbergs zu paraphrasieren). Dies ist jedenfalls nicht meine Vision  eines angemessenen Umgangs mit Menschen, die unter Lebensproblemen leiden oder deren Verhalten und Erleben für andere, in nicht rechtlich relevanter Weise, zum Problem geworden ist.

Man möge mich nicht falsch verstehen: Den Ansatz des offenen Dialoges finde ich vortrefflich. Es gibt durchaus Menschen, die Hilfe brauchen, auch solche, die sie (zunächst) nicht wollen, mit denen man aber dennoch reden muss. Keineswegs bin ich der Auffassung, dass man den Kopf in den Sand stecken sollte, wenn der Nachbar plötzlich nachts im Treppenhaus wilde Flüche gegen Außerirdische ausstößt, wenn der Kollege behauptet, das Unternehmen sei von Illuminaten unterwandert und deswegen wichtige Akten vernichtet, wenn offenbar verwirrte Leute mit gezückten Messern durch die Straßen laufen. Deeskalierende Strategien sind sicher notwendig.

Falls jemand vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen wird, weil er sich oder andere gefährdet, so finde ich dies durchaus akzeptabel. Etwas ganz anderes aber ist es, wenn jemand aufgrund fragwürdiger psychiatrischer Diagnosen und Prognosen eventuell auf Jahre hinter psychiatrischen Gittern verschwindet, um dort ggf. einer ineffektiven Behandlung unterzogen zu werden. Solange diese Gefahr besteht, kann es meines Erachtens keinen offenen Dialog geben, der diesen Namen auch verdient.

Psychiatrisierung körperlicher Störungen

Es tut der Medizin insgesamt nicht gut, wenn einer ihrer Zweige Aufgaben einer Polizei mit gleichsam polizeistaatlichen Befugnissen übernimmt. Zwangsverhältnisse in einem Bereich strahlen ja zumindest atmosphärisch auf allen anderen Bereiche eines Sektors aus. Die Neigung zur Psychiatrisierung körperlich Kranker – vor allem bei seltenen Erkrankungen, die schwer zu diagnostizieren oder bei chronischen Krankheiten mit unklarer Befundlage, die schwer zu behandeln sind – erfüllt mich mit großer Sorge. In einem echten offenen Dialog kann nicht im Vorhinein feststehen, dass jemand an einer “psychischen Krankheit” leidet. Dies sollte eigentlich auch Leuten einleuchten, die dem Glauben an die Existenz solcher Krankheiten anhängen.

Gerade im Falle der Psychiatrisierung körperlicher Beschwerden erkennt man die verheerende Auswirkung des psychiatrischen Jargons auf den offenen Dialog. Denn der Erkrankte, der körperliche Ursachen seines Leidens erwägt und mit seinem Arzt besprechen möchte, wird durch diesen Jargon, der eindeutig dogmatische Wurzeln hat, letztlich abgewürgt. Erkrankte, die unter umweltbedingten Störungen leiden, wissen davon vermutlich ein Lied zu singen. Offener Dialog, durchaus, aber dann doch bitte ergebnisoffen.

Dies gilt natürlich auch für die so genannten Psychotiker. Niemand, niemand kennt wirklich die Gründe, warum einer “psychotisch” wird. Mitunter spricht manches dafür, dass die entsprechenden Phänomene das Resultat einer Kette freier Entscheidungen sind, weil sie letztlich dem Betroffenen als die beste aller Lösungen für seine Lebensprobleme erscheinen. Mitunter aber könnte sich hinter ihnen auch eine Vielzahl körperlicher Erkrankungen verbergen, die sich auf das Verhalten und Erleben auswirken können. Und selbstverständlich könnten auch Umweltgifte, Medikamenten-Cocktails usw. dabei eine erhebliche Rolle spielen. Es mag viele Gründe für “psychotisches oder sonst wie seltsames Verhalten und Erleben geben; Genaues weiß man letztlich nicht.

Notwendig ist er durchaus, der offene Dialog. Er sollte gesamtgesellschaftlich geführt werden; er sollte sich damit beschäftigen, ob “psychische Krankheiten” tatsächlich existieren oder ob es sich dabei schlicht und ergreifend um einen Mythos handelt – um einen Mythos freilich, der im Interesse des Staates, der Psychiatrie, der Pharma-Industrie und vieler anderer Nutznießer liegt.

Anmerkung

(1) Seikkula. J. (2006). Five-year experience of first-episode nonaffective psychosis in open-dialogue approach. Psychotherapy Research, 16, 214-228

The post Psychiatrischer Zwang, offener Dialog appeared first on Pflasterritzenflora.

Forensik transparent

$
0
0

Forensik transparent ist eine Website, die der “Arbeitskreis Forensische Psychiatrie Transparent” ins Netz gestellt hat. Dies ist ein ein Zusammenschluss von Verantwortlichen aus forensischen Kliniken in Rheinland-Pfalz, im Saarland und in Baden-Württemberg.

Das Angebot will nach eigenen Angaben um Verständnis für die Chancen und Risiken des Maßregelvollzugs werben. Ich aktiviere den Link zur Rubrik “Wissen” und dann auf das “Lexikon“. Schließlich klicke ich auf den Eintrag “Neuroleptika”. Dort lese ich u. a.:

“Neuroleptika dienen zur Behandlung schwerer psychischer Störungen wie Psychosen. Sie sind auch wirksam gegen Halluzinationen während des Alkoholentzugs oder zur Dämpfung anderer Erregungs- und Angstzustände. Sie stellen das Gleichgewicht zwischen den aus den Fugen geratenen Botenstoffen im Gehirn wieder her. Konkret: Informationen und Signale im Gehirn werden wieder richtig weitergeleitet, Symptome gehen zurück oder verschwinden sogar ganz. Das geschieht nicht über Nacht. Die Wirkung des Medikamentes baut sich erst allmählich auf.”

Das fängt ja gut an. Im Kapitel “The chemical imbalance hoax” weist der Leiter des “Nordic Cochrane Center” und Mitbegründer der “Cochrane Collaboration”, Peter Gøtzsche anhand von Studien, die den gegenwärtigen Forschungsstand kennzeichnen, differenziert nach, dass die These der “aus den Fugen geratenen Botenstoffe” eindeutig widerlegt ist (1). Auch der Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH), Thomas Insel haut in dieselbe Kerbe. Er bezeichnet diese These als “antiquiert” (2).

Die gemeinnützige Cochrane Collaboration ist ein sehr bedeutendes, international anerkanntes und weltweit arbeitendes Institut zur medizinischen Qualitätssicherung. Das NIMH ist das weltweit größte, dem amerikanischen Gesundheitsministerium unterstellte Forschungszentrum mit einem jährlichen Etat von 1,5 Milliarden Dollar. Es ist schwer vorstellbar, dass den Urhebern von “Forensik transparent” das aktuelle Wissen zu diesem Sachverhalt nicht bekannt sein sollte. Thomas Insel und Peter Gøtzsche sind keine Verschwörungstheoretiker mit zweifelhaftem Ruf, sondern lupenreine, renommierte Wissenschaftler. Ihr Wort zählt etwas in der internationalen Wissenschaftler-Gemeinde.

Unter dem Stichwort “Atypische Neuroleptika” heißt es:

“Atypische Neuroleptika sind Medikamente, die bei der Behandlung von psychischen Krankheiten, vor allem von Psychosen, eingesetzt werden. Sie wirken im Gehirn auf Botenstoffe, insbesondere Dopamin, ein. Während Medikamente früherer Generationen von Neuroleptika teilweise Muskelsteifigkeit und Beweglichkeitseinschränkungen zur Folge haben, werden atypische Präparate diesbezüglich besser vertragen. Aber auch sie sind nicht frei von Nebenwirkungen. Unter anderem nehmen verhältnismäßig viele Patienten stark an Gewicht zu.”

Bereits vor Jahrzehnten als Legende erwiesen hat sich die Behauptung, dass ein Ungleichgewicht der Botenstoffe durch Medikamente korrigiert werden müsste. Es hat sich inzwischen auch, wie man ebenfalls bei Gøtzsche nachlesen kann, herausgestellt, dass die atypischen Neuroleptika keineswegs besser sind als die alten.

Unter “Einsichtsfähigkeit” wird vorgetragen:

Einsichtsfähigkeit -  im forensischen Sinne ist die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen. Ein Beispiel: Ein Mensch, der an einer Psychose erkrankt ist, hört eine Stimme, die ihm befiehlt, eine andere Person zu töten. Er meint auch, die Stimme sei jene Gottes, der natürlich berechtigt ist, die geltenden Gesetze außer Kraft und neue einzusetzen. Er ist deshalb krankheitsbedingt überzeugt, dass sein Handeln gesetzeskonform ist. Damit ist seine Einsichtsfähigkeit aufgehoben.”

Braham, Trower und Birchwood haben sich den Stand der Erkenntnis zu diesem Thema allerdings etwas genauer angeschaut und ihr Urteil ist ernüchternd. Die einschlägige Forschung, so schreiben sie, steckt noch in den Kinderschuhen und hat mit massiven methodologischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Alles in allem habe sich aber gezeigt, dass “command halluzinations” für sich genommen nicht in der Lage seien, entsprechende Aktionen auszulösen. Falls sie in die Tat umgesetzt würden, so seien zusätzliche, vermittelnde psychologische Prozesse dafür verantwortlich (3).

Es ist also keineswegs gesichert, dass ein mutmaßlich psychisch Kranker, dem “Stimmen” die Tötung eines Menschen befehlen, automatisch die Tat auch ausführen müsste, weil er “krankheitsbedingt” nicht einsichtsfähig sei.

Weiter, Klassifikationssysteme:

“Klassifikationssysteme psychischer Störungen definieren genaue Krankheitsmerkmale (Symptome), die vorhanden sein müssen, damit eine Diagnose gestellt werden kann. Die international gebräuchlichsten Klassifikationssysteme sind die ICD (International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) der American Psychiatric Association (APA). Für die psychiatrische Versorgung in Deutschland, Österreich und der Schweiz gilt offiziell die ICD-10, die zehnte Neuauflage der ICD.”

In seinem Director’s Blog bezeichnete Thomas Insel das DSM als nicht valide (siehe hier). Zu einem ähnlichen Urteil gelangen Greenberg (4), Davies (5), Gøtzsche (1), Kirk et al. (6) und viele, viele andere. Dasselbe gilt für den psychiatrischen Teil der ICD, der sich nicht wesentlich vom DSM unterscheidet. Es kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass diese Klassifikationssysteme genaue Krankheitsmerkmale (Symptome) definieren, weil dies nämlich bei nicht validen diagnostischen Verfahren gar nicht möglich ist.

Dies war eine Kostprobe des “forensischen Wissens” aus Sicht der Betreiber von “Forensik transparent”. Dieses “Wissen” hält offensichtlich der kritischen Überprüfung nicht stand.

In der Rubrik “Aktuelles” findet sich folgendes Zitat:

“Auch aktuelle Zahlen aus weiteren Bundesländern belegen eindrucksvoll den Erfolg forensisch-psychiatrischer Nachsorge bei der Vermeidung von Deliktrückfälligkeit. So präsentierte Roland Freese, Ärztlicher Direktor der Vitos forensisch-psychiatrischen Ambulanz in Haina in seinem Referat die Ergebnisse einer Langzeiterhebung in Hessen. Von insgesamt 1.358 Personen, die sich nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug in einer Nachsorgebetreuung befanden, wurden lediglich vier Prozent mit einer neuen Straftat rückfällig. Das ist erheblich weniger als die Rückfallgefahr bei Maßregelpatienten, die keine Nachsorge erhalten, und unterscheidet sich noch deutlicher von der Deliktrückfälligkeit bei Straftätern, die aus einer Justizvollzugsanstalt entlassen werden: Mehr als jeder zweite setzt hier seine kriminelle Karriere fort.”

Das ist also ein eindrucksvoller Beleg? Für was? Für die methodisch-methodologische Inkompetenz der Verfasser dieses Textes? Eindrucksvolle Belege könnte man allenfalls durch ein randomisiertes Design erbringen. Man hätte nach dem Zufallsprinzip Gruppen zusammenzustellen, die beispielsweise aus 1. Maßregelpatienten mit Nachsorge, 2. Maßregelpatienten ohne Nachsorge, 3. Straftätern aus Justizvollzugsanstalten bestehen. Bei einem nicht-randomisierten Design ergibt sich nämlich die Gefahr von Selektionseffekten. M. a. W.: Es könnten vorab systematische Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen, die sich auf die Rückfallhäufigkeit auswirken. Über die Notwendigkeit der Randomisierung, der Kontrollgruppen und der Auswirkungen des Fehlens dieser Maßnahmen informieren beispielsweise Cook & Campbell (7). Die oben erwähnte Untersuchung war nicht randomisiert.

Keineswegs will ich behaupten, dass nicht-randomisierte Studien wertlos seien; sie besitzen fraglos eine heuristische Funktion und dienen weiterer Hypothesengenerierung, aber mit ihnen kann man keinesfalls “eindrucksvoll” den Erfolg einer Maßnahme belegen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Schmidt-Quernheim kommt in einer einschlägigen Dissertation zu dem Schluss:

“Das tatsächliche empirisch gesicherte Wissen über die Nachbehandlung forensischer Patienten gemäß § 63 StGB ist derzeit unverändert gering, da nur wenige methodisch anspruchsvollere Untersuchungen existieren (8).”

Der Autor schreibt:

“Eine randomisierte kontrollierte Studie ist im forensischen Kontext mithin nicht realisierbar, ethisch nicht vertretbar und sowohl politisch als auch juristisch nicht durchsetzbar: Bei dem hohen Rechtsgut der ‚Sicherheit der Bevölkerung’ wäre es tatsächlich schwer zu vermitteln, einer zufällig ausgewählten Gruppe entlassener Maßregelpatienten forensische Nachsorge nicht als Weisung aufzugeben.”

Wenn dies tatsächlich zuträfe, dann müsste man in der Forensik eben auf eindrucksvolle Belege für die Erfolge von Maßnahmen verzichten; was überhaupt nicht geht, ist, diese zu behaupten, obwohl man sich nur auf Impressionen stützen kann.

Die weitere Analyse dieses neuen Angebots, dass ich heute zufällig beim Zeitungslesen entdeckte, möchte ich mir ersparen. Leider kann ich nicht erkennen, dass hier, in irgendeiner vernünftigen Deutung des Begriffs, für Transparenz gesorgt würde. Meine Stichprobe erbrachte nichts als “Informationen”, die seit Jahrzehnten von der psychiatrischen Marketingmaschinerie vorgetragen werden und die sich als falsch oder zumindest als fragwürdig herausgestellt haben. Ich gab das Wort “Kritik” in die Volltextsuche dieser Website ein und erhielt als Antwort: “KEINE Ergebnisse gefunden.”

Anmerkungen

(1) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”

(2) Insel, T. (2011). Director’s Blog: Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits

(3) Braham, L.G., Trower, P. & Birchwood, M. (2004). Acting on command hallucinations and dangerous behavior: A critique of the major findings in the last decade. Clinical Psychology Review, Volume 24, Issue 5, September 2004, Pages 513–528

(4) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

(5) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(6) Kirk, S. A. et al. (2013) Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction

(7) Cook, T. D. & Campbell, D. T. (1979). Quasi-Experimentation. Boston: Houghton Mifflin Co.

(8) Schmidt-Quernheim, F. (2011). Evaluation der ambulanten Nachsorge forensischer Patienten (§ 63 StGB) in Nordrhein-Westfalen, Dissertation, Universität Duisburg-Essen

The post Forensik transparent appeared first on Pflasterritzenflora.

Mad in America

$
0
0

Laut “Mission Statement” ist die Website “Mad in America” eine Ressource und Gemeinschaft für alle, die an einem Überdenken psychiatrischer Dienstleistungen in den Vereinigten Staaten und im Ausland interessiert sind. Zu den Bloggern dieser Seite zählen Menschen mit gelebter Erfahrung, Psychiater, Sozialarbeiter, Psychologen, Programm-Manager, Journalisten, soziale Aktivisten und Rechtsanwälte.

Die Liste der Autoren liest sich wie ein “Who is Who” der Psychiatriekritiker des (überwiegend) angelsächsischen Raums. Allen voran Robert Whitaker, der Autor der bahnbrechenden Bücher “Mad in America” und “Anatomy of an Epidemic“.

Um nur einige weitere Blogger zu nennen:

  • Der Rechtsanwalt Ted Chabasinski ist immer noch “still crazy after all these years”. Chabasinski wurde schon als Kind psychiatrisiert, erhielt als Versuchsperson in einem Experiment massive Elektroschocks.
    Auf seiner Autorenseite wird der Name der Ärztin nicht genannt, die dafür verantwortlich war; aber wer sich in der Geschichte der Psychiatrie auskennt, weiß natürlich, um wen es sich handelt: Lauretta Bender. In ihrem Werk “Electroshock and Minors” beschreiben die Autoren Steve Baldwin und Melissa Oxload u. a. die gruseligen Missetaten dieser Medizinerin. Aber ich schweife ab.
    Chabasinski überlebte, wurde Anwalt für Patientenrechte.
  • Der Psychologe Phil Hickey ist ein Mega-Blogger, der es richtig krachen lässt. Sein Blog habe ich in der Pflasterritzenflora bereits besprochen.
  • Der Psychologe Jay Joseph setzt sich seit vielen Jahren kritisch mit den Forschungen zu den angeblichen genetischen Ursachen der mutmaßlichen psychischen Krankheiten auseinander. Er ist Autor der Bücher “The Gene Illusion” und “The Missing Gene“.
  • Sandra Steingard versucht, kritische Gesichtspunkte in ihrer Arbeit als Psychiaterin fruchtbar zu machen.
  • Mit den Augen einer Mutter betrachtet Maria Bradshaw die Abwege der Psychiatrie; sie verlor ein Kind durch einen Selbstmord, der durch Antidepressiva hervorgerufen wurde.

Dies sind nur Beispiele aus einer langen Liste hochkarätiger Autoren. Hinsichtlich der psychiatriekritischen Kernfragen (Existenz “psychischer Krankheiten”; medizinisches Modell “psychischer Krankheiten”; Reform oder Überwindung der Psychiatrie; Selbsthilfe vs. Fremdhilfe) unterscheiden sie sich erheblich voneinander. Mit manchen Positionen kann ich mich nicht einverstanden erklären. Doch jeder Beitrag, den ich bisher gelesen habe, war informativ und regte zu konstruktivem Nach- und Weiterdenken an.

Die Website verfügt über ein umfassendes Archiv, auf dessen Grundlage allein man sich mühelos in die komplexe und vielschichtige Problematik der Psychiatrie einarbeiten könnte. Die Seite mit den Ressourcen konzentriert sich naturgemäß auf den englischsprachigen Raum und erinnert mich schmerzlich daran, dass ich schnellstmöglich eine Liste mit Ressourcen für die Pflasterritzenflora erarbeiten müsste. Neben der Möglichkeit, Beiträge durch Kommentare kritisch zu begleiten, bietet die Website auch Foren zur Diskussion psychiatrischer Themen an.

Aufgrund der Vielzahl renommierter Autoren, der Vielschichtigkeit und Differenziertheit der Beiträge, der journalistischen Qualität der Texte und des übersichtlichen Aufbaus der Präsenz ist “Mad in America” aus meiner Sicht die zur Zeit beste psychiatriekritische Website weltweit.

Diese Website unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen auch dadurch, dass es sich hier nicht um die Propaganda-Seite einer antipsychiatrischen Bewegung handelt, sondern um ein psychiatriekritisches Portal, das eine Gesamtschau unterschiedlicher, zum Teil konträrer Meinungen, Ansätze und Perspektiven bietet.

Leider sind wir im deutschen Sprachraum noch nicht so weit, ein vergleichbares Projekt auf die Beine stellen zu können. Dafür ist erstens die Zahl einschlägig qualifizierter Autoren zu klein, die für eine Website dieser Art als Blogger in Frage kämen, und zweitens, so fürchte ich, ist die Furcht vor freier Meinungsäußerung unter eigenem Namen in den deutschsprachigen Ländern erheblich größer als in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, den Ländern also, aus denen die meisten Mad-in-America-Blogger stammen.

Es hilft also nichts, Leute: Falls Ihr es noch nicht könnt, lernt Englisch lesen.

PS:

Hier beschreibt der Spiritus Rector der Website, Robert Whitaker in einen Youtube-Video in ein paar Minuten “purpose, history, achievements, community, and future plans of Mad In America“.

The post Mad in America appeared first on Pflasterritzenflora.

Psychiatrie, Psychosomatik, Körper, Geist

$
0
0

Die uralte Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist

Besitzt der Geist (als Inbegriff unserer Gedanken, Gefühle und Stimmungen) eine eigenständige Existenz, die vom Körperlichen grundsätzlich verschieden ist? Diese Frage begleitet den Menschen seit den Anfängen des philosophischen Denkens in grauer Vorzeit. Schließlich erleben wir uns einerseits als in der Welt seiend, zusammen mit anderen Menschen, Tieren, Pflanzen und toten Gegenständen; aber andererseits können wir uns auch, kraft unseres Bewusstseins, über die Objekte der Erfahrung denkend, träumend und fantasierend erheben und ihnen in unserer Innenwelt ein Eigenleben geben. In dieser Innenwelt können wir sogar mit Objekten umgehen, für die es kein Gegenstück in der erfahrbaren Außenwelt gibt. Einerseits sind also die Gegenstände unserer Erfahrung in unserer Außenwelt nicht grundsätzlich anderer Art als wir selbst, andererseits aber stehen wir der Welt als etwas prinzipiell Anders-, ja, Einzigartiges, als Ich nämlich, gegenüber. Das Ich ist einerseits in der Welt und steht andererseits an ihrer Grenze und schaut in sie hinein.

Bei den unterschiedlichen Auffassungen zur Frage des Verhältnisses von Körper und Geist lassen sich zunächst zwei elementare Postionen unterscheiden, nämlich der Dualismus und der Monismus. Der Dualismus unterstellt, dass Körper und Geist unterschieden seien, aber aufeinander einwirken könnten. Den Monismus gibt es in drei Varianten: Der materialistische Monismus (dessen moderne Spielart als “Physikalismus” bezeichnet wird) behauptet, dass auch der Geist etwas Körperliches sei. Für den idealistischen Monismus ist alles Geist. Und für den neutralen Monismus schließlich bestehen alle Erscheinungen der Natur, zu der aus dieser Sicht auch unsere Innenwelt zählt, aus gleichartigen Elementen, die an sich aber weder Geist, noch Körper seien; vielmehr entstünde die “Geistigkeit” bzw. “Materialität” von Erscheinungen durch die jeweils besondere Art der Beziehungen dieser Elemente zueinander.

Das so genannte Leib-Seele-Problem (moderner: Körper-Geist-Problem) ist eine Kernfrage der Philosophie. Sie wurde bisher noch nicht entschieden. Ob sie jemals geklärt werden kann oder ob wir bei diesem Versuch an die Grenzen des Denkens oder unserer Sprache gelangen, bleibt dahingestellt. Es gibt Philosophen, die behaupten, es handele sich hier um ein Scheinproblem, weil es prinzipiell nicht lösbar sei. Andere halten es nach wie vor für ein Problem, das geklärt werden könne, jedoch nach wie vor der Klärung harre. Ob jemals geklärt werden kann, welche der beiden Parteien Recht hat?

Eine pragmatische Haltung

Die Pflasterritzenflora ist ein Blog zu Fragen der Psychiatrie, Psychologie und Psychokratie. Nur zu gern würde ich mir bei philosophischen Fragen Neutralität auferlegen; allein, das ist schwer möglich, da die genannten Themen nun einmal offensichtlich Fragen aufwerfen, die zum Reich der Philosophie gehören. Was Körper und Geist sind und wie sie, wenn verschieden, zusammenspielen… diese Probleme können ja nicht ausgeklammert werden, wenn man sich mit den Thesen der so genannten biologischen Psychiatrie, der Psychosomatik oder auch der behavioristischen Lerntheorie und Verhaltenstherapie auseinandersetzt.

Anders aber als die Philosophie, können es sich Psychiatrie und Psychologie nicht leisten, durch die Jahrtausende hindurch offene Fragen zu diskutieren, ohne eine Antwort zu finden. Denn von diesen Disziplinen wird erwartet, dass sie Lösungen für Probleme entwickeln, die sich den Menschen hier und heute stellen, die sie bedrängen, die eine rasche Meisterung erheischen. Der Mainstream dieser Wissenschaften hält sich daher nicht mit philosophischen Feinheiten auf – wie alle Naturwissenschaften und wie alle Wissenschaften, die sich an den Naturwissenschaften orientieren bzw. zu orientieren vorgeben.

Der psychiatrische und psychologische Mainstream ist heute durch eine materialistische Position gekennzeichnet. Es wird vorausgesetzt, dass menschliches Verhalten und Erleben Effekte des Nervensystem seien und dass psychische Störungen demgemäß durch Eingriffe in das Nervensystem behoben werden könnten. Sogar die Psychotherapie versteht man als einen Eingriff dieser Art, der sich nicht chemischer Substanzen, elektrischer Ströme oder des chirurgischen Skalpells bediene, sondern der Worte. Im Zeitalter der Computer und Tomographen greift man vermehrt zu bildgebenden Verfahren, um Voraussetzungen und Wirkungen solcher Maßnahmen zu illustrieren. Die bunten Bilder faszinieren Wissenschaftler und Laien gleichermaßen.

Die materialistische Position findet großen Anklang bei den allermeisten Naturwissenschaftlern. Einer der wenigen Naturforscher, die diese Einheitsmeinung kritisieren, war der Biologe John C. Eccles. Er schreibt, dass “Materialisten aller Spielarten (…) großes Aufhebens darum (machten), dass ihre Gehirn-Geist-Theorie in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen (stehe)”; gegen diesen Standpunkt ließen sich aber gewichtige Einwände vorbringen: Erstens gebe es nirgendwo in den Gesetzen der Physik, Chemie oder Biologie einen Hinweis auf Bewusstsein. Zweitens befänden sich alle materialistischen Theorien im Widerspruch zur Evolution, da es eindeutig eine Entwicklung des Bewusstseins gebe, die sich in neuronalen Veränderungen widerspiegele, was unmöglich wäre, wenn das Bewusstsein ein wirkungsloses Epiphänomen wäre. Drittens müsste eine materialistische Theorie auch sich selbst als vollständig determiniert durch die neuronale Anlage des Gehirns erklären und sie entziehe sich daher der Diskussion, denn wir müssten in diesem Falle immer genau das sagen und akzeptieren, was wir sagen und akzeptieren (reductio ad absurdum) (1).

Obwohl Nobelpreisträger, konnte sich Eccles mit dieser Kritik in der Fachwelt nur wenig Gehör verschaffen. Dafür mag es viele Gründe geben. Mediziner beispielsweise neigen mitunter der materialistischen Position zu, weil sie in einem nicht philosophischen, sondern krude weltlichen Sinne materialistisch ist: Sie bringt Geld, denn wenn es sich bei den psychischen Störungen um körperliche Erkrankungen handelt, dann sind, ohne Wenn und Aber, zu deren Behandlung Ärzte zuständig und können demgemäß auch Geld damit verdienen.

Dies ist jedoch vermutlich nicht der einzige Grund für die Attraktivität der materialistischen Position, denn auch Nicht-Profiteure hängen ihr an. Ihr großer Vorzug für viele Gemüter besteht darin, dass sie sich auf Greifbares bezieht. Gedankliche Artistik ist nicht vonnöten, um mit ihr zu arbeiten. Auf der einen Seite haben wir das Gehirn, dass wir mit bildgebenden Verfahren durchleuchten und auf der anderen Seite das menschliche Verhalten, das wir mit bloßem Auge beobachten können. Es liegt mir fern, diese Faszination durch das Greifbare als unreifes, oberflächliches Denken zu entwerten. Im Gegenteil, es scheint sogar für Angehörige von Disziplinen, die hier und heute Handfestes zur Lösung schwerwiegender Probleme beizutragen haben, durchaus vernünftig zu sein, sich dieser Sicht der Dinge anzuschließen.

Psychiatriekritik jenseits der Philosophie

Daher bin ich nicht geneigt, mich psychiatriekritisch auf die philosophische Grundpostion der Mainstream-Psychiatrie und Mainstream-Psychologie einzuschießen. Auch wenn ich um die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme weiß, sympathisiere ich sogar mit dieser hemdsärmeligen Haltung. Sie führt uns aus der abgeschlossenen Gedankenwelt der Philosophie hinaus in Freie der empirischen Forschung. Die Frage stellt sich: Was wissen wir heute bereits über das Zusammenspiel von Gehirn und psychischen Störungen?

Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London stellen unmissverständlich fest:

“More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging (2).”

Nach mehr als drei Jahrzehnten der Forschung mit bildgebenden Verfahren konnten in den Gehirnen der so genannten psychisch Kranken keine konsistenten oder reliablen, funktionellen oder anatomischen Abweichungen vom Normalen entdeckt werden. Die Autoren üben sich nach diesem Präludium in einer Kunst, die der Hirnforscher John Eccles “Schuldschein-Materialismus” genannt hat: Wenn man nur eifrig die Methoden und die Veröffentlichungspraxis verbessere, dann könne man auch irgendwann einmal zu klinisch relevanten Ergebnissen gelangen. Klartext: Zur Zeit wird noch geschludert und gemogelt, was nicht passt, wird nicht publiziert. Aber wenn das erst einmal abgestellt worden sei, dann habe das psychiatrische “Neuroimaging” eine glanzvolle Zukunft.

Der Neurowissenschaftler William R. Uttal gelangt in seiner Analyse des Forschungsstandes ebenfalls zu einem unmissverständlichen Fazit: Die bunten Bilder des Neuroimaging verführen uns dazu, organisierte Muster der Hirntätigkeit zu sehen, wo in Wirklichkeit u. U. nur eine zufällige Aktivierung herrsche (3).

Auch wenn ich gern bereit bin, philosophische Nuancen außer Acht lassend, einzuräumen, dass menschliches Verhalten und Erleben Produkte der Aktivität unseres Nervensystems sind, so muss man doch mit aller Entschiedenheit betonen, dass die Psychiatrie, bisher jedenfalls, noch nicht nachzuweisen imstande war, dass es sich bei den so genannten psychischen Erkrankungen auch tatsächlich um Krankheiten im Sinne der materialistischen Doktrin handelt.

Robert Kendell und Assen Yablensky gelangen nach einer Analyse der einschlägigen Literatur berechtigterweise zu dem Schluss, dass die psychiatrische Diagnostik nicht als valide aufgefasst werden könne, sofern eine valide Diagnostik Krankheitsbilder voraussetze, die nachweislich diskrete Entitäten mit natürlichen Grenzen darstellten (4). Daher ist es auch nicht zu erwarten, dass die Psychiatrie jemals nachweisen kann, dass die in ihren Manualen aufgeführten “Krankheitsbilder” ursächlich mit irgendwelchen Hirnprozessen zusammenhängen. Derart unscharfen, willkürlichen Konstrukten wird vermutlich in der Realität nichts entsprechen.

Aber immerhin ist es denkbar, dass sich irgendwelche anderen Merk- und Denkwürdigkeiten des Verhaltens und Erlebens als verursacht durch irgendwelche ererbten oder erworbenen Störungen bzw. Schädigungen des Gehirns herausstellen werden. Es sind ja bereits eine ganze Reihe von körperlichen Krankheiten bekannt, die sich kausal auf das Verhalten und Erleben der betroffenen Menschen auswirken; und natürlich ist nicht auszuschließen, dass Vergleichbares auch auf einzelne Phänomene zutrifft, die sich im Sammelsurium der “Symptome” finden, die in den diagnostischen Manualen der Psychiatrie aufgelistet werden.

Aber gerade weil es eine vernünftige Haltung in der Medizin ist, sich nicht in Spekulationen zu verlieren und sich an das Greifbare zu halten, gerade darum müssen sich Ärzte auf das konzentrieren, was sie bereits wissen. Und so hat die Psychiatrie als Hilfe für Menschen mit Lebensproblemen, zumindest zur Zeit, keine Berechtigung, weil sie sich an nichts Greifbares halten kann, noch nicht einmal ansatzweise.

Die so genannte Psychosomatik

Völlig absurd im Lichte der Mainstream-Medizin ist die so genannte Psychosomatik, da man sie eigentlich, aus materialistischer Sicht, als Somatosomatik bezeichnen müsste. Denn wenn die Psyche etwas Körperliches ist, wenn sie eine Leistungsform des Gehirns darstellt, dann wirkt auch im Falle der so genannten psychosomatischen Krankheiten ein Teil des Körpers, nämlich das Gehirn, auf andere Teile des Körpers, beispielsweise auf rheumatisch erkrankte Glieder ein.

Doch ganz gleich, wie wir das Kind taufen wollen: Bevor wir ihm sinnvollerweise einen Namen zueignen können, wäre die Frage zu klären, ob es überhaupt geboren oder gar gezeugt wurde. In seinem Buch über Mythen der Psychologie zeigt Rolf Degen anhand einer größeren Zahl von Studien, dass es bisher noch nicht gelungen ist, die Existenz der so genannten psychosomatischen Krankheiten wissenschaftlich zu belegen (5). Auch in der Pflasterritzenflora findet sich eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik (Psychosomatik).

Wissenschaftlich betrachtet, ist Psychosomatik fraglos Hokuspokus. Allerdings, so muss man wohl einräumen, ist es für einen Arzt nun wirklich allzu verlockend, immer dann, wenn er bei einem Patienten nichts Greifbares findet, die Psyche verantwortlich zu machen.

Obwohl er sich, wenngleich sehr daran interessiert, nicht direkt damit beschäftigte, gilt Sigmund Freud als der Vater der Psychosomatik, da er die gedanklichen Voraussetzungen dafür schuf. Er war ein materialistischer Monist reinsten Wassers. Hierzu habe ich mit in der Pflasterritzenflora bereits ausführlich geäußert (Der Physikalist Sigmund Freud). In seinen Schriften reflektierte er den Widerspruch zwischen dem Glauben an die körperliche Basis seelischen Geschehens und dem Zwang, mangels einschlägigen neurologischen Wissens in psychologischen Begriffen darüber sprechen zu müssen. Dieses Reflexionsniveau ist der heutigen Psychiatrie fast vollständig verloren gegangen. In mancher psychosomatischen Klinik wuchert esoterischer Wildwuchs, für den Mediziner verantwortlich zeichnen, die dennoch behaupten werden, dass sich die Erkenntnisse und Sichtweisen der modernen medizinischen Wissenschaft bruchlos in ihr “ganzheitliches Konzept” einfügen ließen.

Die moderne medizinische Wissenschaft beruht aber, auch was die Psyche betrifft, auf dem materialistischen Monismus. Wie bereits erwähnt, halte ich diese Ausrichtung für Frucht bringend. Allerdings muss man sich dann, angesichts fehlender Erkenntnisse zu menschlichen Lebensproblemen, ehrlicherweise aus Gebieten zurückziehen, zu denen man nichts beizutragen vermag. Doch das Gegenteil ist der Fall: Überall da, wo dieses Ungenügen überdeutlich wird, präsentieren sich Psychiatrie und Medizin insgesamt im esoterischen Narrengewand unter den Namen “Psychotherapie” und “Psychosomatik”.

Huxley, Orwell

Hier scheiden sich die Geister in der Psychiatrie-Kritik. Die einen kritisieren das esoterische Brimborium als Ausdruck der allgemeinen Scharlatanerie, die den harten Kern der so genannten biologischen Psychiatrie nicht minder auszeichnet. Die anderen werfen der Psychiatrie vor, solche “humanistischen Ansätze” zugunsten einer rein medikamentösen Behandlung an der Rand zu drängen. Die einen wollen mehr Gespräche, mehr Psychotherapie, mehr verständnisvolle Begleitung, statt Pillen, die anderen bezweifeln die Zuständigkeit der Medizin für menschliche Lebensprobleme. Die einen verorten die Medizin im naturwissenschaftlichen Paradigma, die anderen plädieren für eine philosophische Neubesinnung im Rahmen eines dualistischen oder gar idealistisch-monistischen Weltbilds.

Die Antwort auf die Frage, welche Art von Psychiatriekritik man bevorzugt, hängt wohl davon ab, welche Ziele man verfolgt. Aus meiner Sicht geht es darum, der Tendenz entgegenzuwirken, immer weitere Bereiche des menschlichen Lebens medizinischer Zuständigkeit unterzuordnen. Diese Medikalisierung ist aus meiner Sicht ein Grundübel des Kapitalismus. Sie dient nicht nur dem Geldscheffeln. Dies auch, aber der wichtigere Grund besteht darin, dass der Kapitalismus mit den Konsequenzen des Individualismus, den er selbst entfacht hat, nicht mit eigenen Mitteln zurechtkommt. Daher fördern die Sachwalter dieses Wirtschaftssystems einen medizinischen Paternalismus, der alle, die bei der Entfaltung ihrer Persönlichkeit die engen Bahnen ökonomischer Rationalität verlassen, ihrer Verantwortung beraubt und sie der Führung durch Experten unterwirft. Dies ist eindeutig ein teilweiser Rückschritt in den Feudalismus.

Diese Tendenz zum therapeutischen Staat kann zu Verhältnissen führen, mit denen verglichen jede Diktatur ein Schlaraffenland ist. 1949 schrieb Aldous Huxley an George Orwell:

“Bereits in der nächsten Generation werden die Herrschenden der Welt feststellen, dass frühkindliche Konditionierung und Narkohypnose als Herrschaftsinstrumente sehr viel effizienter sind als Schlagstöcke und Gefängnisse, und dass Machthunger sich nicht nur dann befriedigen lässt, wenn man die Leute zum Gehorsam prügelt, sondern ebenso gut, wenn man sie mittels Suggestion dazu bringt, ihr Sklavendasein zu lieben.

Ich habe, anders gesagt, den Eindruck, dass aus dem Alptraum von 1984 unweigerlich der Alptraum einer Welt entstehen wird, die mehr Ähnlichkeit hat mit der Welt, wie ich sie in “Brave New World” porträtiert habe. Diese Entwicklung wird auf das Bedürfnis nach immer größerer Effizienz zurückzuführen sein.” (6)

Auch wenn psychiatrische Methoden nicht zur Heilung mutmaßlicher psychischer Erkrankungen taugen, so haben sie sich als Mittel der Repression und Bewusstseinskontrolle durchaus bewährt. Wer mehr humanistische Ansätze in der Psychiatrie fordert, sollte sich nicht wundern, wenn er de facto Entwicklungen fördert, durch die Menschen dazu gebracht werden, ihr Sklavendasein zu lieben.

Anmerkungen

(1) Eccles, J. C. (1996). Wie das Selbst sein Gehirn steuert. München, Zürich: Piper

(2) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46

(3) Uttal, W. R. (2012). Review – Reliability in Cognitive Neuroscience. A Meta-Meta-Analysis. Cambridge, Mass.: MIT Press

(4) Kendell, R. & Jablensky, A. (2003). Distinguishing Between the Validity and Utility of Psychiatric Diagnoses, Am J Psychiatry; 160:4–12

(5) Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Frankfurt a. M.:Eichborn

(6) Smith, G. V. (1969). Letters of Aldous Huxley. New York: Harper & Row

The post Psychiatrie, Psychosomatik, Körper, Geist appeared first on Pflasterritzenflora.

Psychiatrie, Gewalt, Medien

$
0
0

Wer das Stichwort “Psychiatrie” bei “Google News” eingibt, sieht sich an normalen Tagen, an denen nicht irgendein Prominenter in die Psychiatrie musste, mit einer Welt voller Messerstecher konfrontiert. Gut, ich gebe zu, dass mitunter auch andere Waffen von angeblich psychisch Kranken für Gewalttaten verwendet werden; meist aber, so will es scheinen, greifen die Täter zum Nächstliegenden, dem Messer.

“Eine dauerhafte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus droht einem 29-jährigen Mann, der im Oktober vergangenen Jahres im Streit um eine Frau einen Kontrahenten mit einem Küchenmesser niedergestochen hatte. Nach bisherigen Ermittlungen leidet der Täter unter derart massiven Wahnvorstellungen, dass die Staatsanwaltschaft von einer Anklage wegen versuchten Totschlags absah und jetzt bei Gericht eine Antragsschrift vorlegte, die die zwangsweise Einweisung des Täters in eine Klinik fordert”, heißt es da beispielsweise im Kölner Stadt-Anzeiger.

Der unbedarfte Leser kann zwangsläufig nur den Eindruck gewinnen, dass es sich bei den “psychisch Kranken” um furchtbar gefährliche Leute handeln müsse: Man liest es ja täglich in der Zeitung. In ihrem Wahn stechen sie mit Messern um sich und wohin, wenn nicht in die Psychiatrie, soll man sie stecken? Nur die Zwangsjacke kommt als Garderobe in Frage, der gestreifte Anzug lässt viel zu viel Bewegungsspielraum.

Gelegentlich, aber deutlich seltener, wird nicht von Bluttaten, sondern von neuen Projekten gesprochen; so schreibt das Haller Tagblatt: “Baggern für die Gesundheit: So viel auf einmal wurde wohl noch nie in Schwäbisch Hall in die medizinische Versorgung der Bürger investiert. Über die Großbaustelle am Diak hinaus wird zwischen Bahngleisen und Ringstraße ein weiteres Riesen-Projekt vorangetrieben. Das Klinikum Weissenhof errichtet mit Partnern eine Psychiatrie.”

Und sofern es nicht um Gustl Mollath geht, ist Kritisches zur Psychiatrie eher eine seltene Ausnahme. Die Süddeutsche Zeitung berichtet: “Die Debatte um Fixierungen in bayerischen Psychiatrien nimmt an Schärfe zu. Mit Bezug auf den Fall eines Patienten der forensischen Psychiatrie des Isar-Amper-Klinikums Taufkirchen (Vils), der 60 Tage lang an sein Bett gefesselt worden war, forderten SPD und Freie Wähler am Donnerstag, dass das Thema im Landtag behandelt wird. Die Freien Wähler brachten dazu einen Dringlichkeitsantrag ein. Er wird nächste Woche zusammen mit einem Antrag der Grünen zum gleichen Thema im Sozialausschuss des Landtags behandelt.”

Es bleibt nicht aus, dass im Kopf des mäßig interessierten Zeitungslesers ein völlig schiefes Bild von der Realität der Menschen entsteht, die als “psychisch krank” diagnostiziert werden. Sie sind – dieser Eindruck muss sich zwangsläufig aufdrängen – mehr oder weniger bedrohlich und in der Psychiatrie in der Regel gut aufgehoben, wenngleich diese mitunter übers Ziel hinausschießt.

Seena Fazel und Mitarbeiter analysierten in einer Meta-Studie die relevanten bisherigen Untersuchungen zum Thema “Psychose und Gewalt.” Ihre Schlussfolgerung:

“Schizophrenia and other psychoses are associated with violence and violent offending, particularly homicide. However, most of the excess risk appears to be mediated by substance abuse comorbidity. The risk in these patients with comorbidity is similar to that for substance abuse without psychosis (1).”

Es trifft zwar zu, dass Schizophrenie und andere Psychosen mit Gewalttätigkeit assoziiert sind. Doch der größte Teil der über das normale Maß hinausgehenden Gewalttätigkeit ist auf begleitenden Missbrauch von Drogen und Alkohol zurückzuführen. Menschen mit Psychose und Drogen- bzw. Alkoholkonsum sind nicht gefährlicher als Menschen ohne Psychose, die Rauschmittel konsumieren.

Machen wir die Probe aus Exempel: Ich gebe die Begriffe “Drogen” und “Alkohol” in die “Google-News-Suchmaschine” ein. Das Ergebnis ist bemerkenswert. Das Bild prägen Berichte dieser Art: “Der Mann nahm am Dienstag gegen 15.15 Uhr an der Kreuzung Vordere Stelle/Bauschstraße einer Frau die Vorfahrt. Die Autos stießen zusammen. Der 55-Jährige gab nun Gas und fuhr davon. Die Polizei ermittelte ihn schnell. Dabei bemerkten die Beamten, dass er zu viel Alkohol intus hatte, er musste eine Blutprobe und seinen Führerschein abgeben (Geislinger Zeitung).”

In den Berichten über Alkohol- und Drogenkonsumenten steht deren potenzielle Gewalttätigkeit nicht im Vordergrund; vielmehr beherrschen Verkehrsdelikte (bei denen natürlich unabsichtlich Menschen zu Schaden kommen können) das Bild. Während – laut Presseberichten – der “Psychotiker” überwiegend als Messerstecher unterwegs ist, sitzen die Alkoholiker und Drogenabhängigen stramm oder im Tran hinter dem Steuer.

Bei dieser kurzen Notiz handelt es sich zwar um keine systematische medienwissenschaftliche Analyse; allerdings recherchiere ich zu diesen Thema fast täglich seit Jahren im Internet; sofern mich meine Erinnerung nicht trügt, ist meine heutige Stichprobe der einschlägigen Berichterstattung durchaus repräsentativ. Eine Ausnahme bildete die heiße Phase des Falls “Gustl Mollath”, während der selbstredend der Franke alle anderen Psychiatrie-Themen verdrängte; auf die Art und Häufigkeit von Meldungen zum Thema “Drogen und Alkohol” hatte er allerdings keinen Einfluss.

Dies kann kein Zufall sein: Psychotiker ohne zusätzlichen Rauschmittelkonsum begehen nicht nennenswert mehr Gewalttaten als die Normalbevölkerung – und Alkohol- bzw. Drogenkonsumenten ohne Psychose sind genauso häufig Gewalttäter wie Drogenabhängige bzw. Alkoholiker mit Psychose. Dies spiegelt sich in den Medien so aber nicht wieder. Vielmehr sind hier die Psychotiker für die Gewalt und die Süchtigen für die Verkehrsvergehen zuständig.

In der Website “Kenn dein Limit” heißt es: “15898 Verkehrsunfälle unter Alkoholeinfluss, bei denen es zu Personenschäden kam, wurden im Jahr 2011 registriert. An diesen Unfällen waren 20.209 Menschen beteiligt, 400 Menschen starben an den Unfallfolgen (Angaben Statistisches Bundesamt).”

Ganz gleich also, ob der betrunkene oder unter Drogen stehende Verkehrsteilsnehmer ein Psychotiker ist oder nicht – er stellt eine erhebliche Gefahr für seine Mitmenschen dar. Und häufig fahren solche Leute gewohnheitsmäßig unter dem Einfluss von Rauschmitteln Auto, weil die Gefahr, kontrolliert zu werden, gering ist. Aber nur der Psychotiker läuft Gefahr, zwangseingewiesen und gegen seinen Willen behandelt zu werden. Leute ohne Psychose, auch wenn sie wiederholt betrunken oder unter Drogen am Steuer erwischt werden, haben allenfalls Führerscheinentzug und “Idiotentest” zu fürchten.

Die aktuelle Berichterstattung in den Medien verzerrt die Wahrnehmung der Gefährlichkeit einschlägig verdächtiger Personengruppen fundamental. Dies dürfte zur Erklärung dafür beitragen, warum zwar viele Menschen das lebenslange Wegsperren gefährlicher Irrer fordern, gegenüber alkoholisierten “Verkehrssündern” aber Milde walten lassen.

Messerstecher muss in die Psychiatrie. Das ist die Standardschlagzeile. Mit Überschriften dieses Typs wird tagtäglich das Bewusstsein des gewöhnlichen Zeitungslesers geflutet. Es ist kein Wunder, wenn Kampagnen zur Abschaffung der Zwangspsychiatrie auf massiven Widerstand in der Bevölkerung stoßen. Um dies zu verstehen, genügt ein Blick in die Zeitung. Selbstverständlich hat der Widerstand auch noch andere Gründe, aber die Presse heizt ihn an. Daran ändern auch einzelne psychiatriekritische Berichte nichts. Das Gesamtbild beherrscht der irre Messerstecher.

Anmerkung

(1) Fazel, S. et al. (2009). Schizophrenia and Violence: Systematic Review and Meta-Analysis. PLOS Medicine, Published: August 11, 2009, DOI: 10.1371/journal.pmed.1000120

The post Psychiatrie, Gewalt, Medien appeared first on Pflasterritzenflora.

Wer geht warum in die Psychiatrie?

$
0
0

Psychiatriekritiker sehen sich früher oder später mit dem Einwand konfrontiert, dass die überwiegende Mehrheit aller Patienten dieser medizinischen Disziplin sich freiwillig, ohne jeden Zwang behandeln lasse. Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung trifft dies durchaus zu. Nur ein kleiner Teil der Psychiatrie-Patienten wird (im rechtlichen Sinn) zwangsbehandelt.

Schauen wir genauer hin. Zunächst ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Kunden stehen vor der Entscheidung, zwischen zwei Produkten zu wählen, die denselben Zweck erfüllen. Produkt A kostet € 100, das andere (B) nur € 50. Zusatzinformation: Beim Produkt A ist während der (für beide Produkte gleichlangen) Lebensdauer mit durchschnittlich € 25 Reparaturkosten zu rechnen; bei B mit € 75.

Frage: Wenn den Kunden die Zusatzinformation verheimlicht wird, ist dann ihre Entscheidung zum Kauf von B eine freie? Wie steht es um die Freiheit ihrer Entscheidung, wenn ihnen sogar suggeriert wird, B sei nicht nur billiger, sondern verursache auch geringere Reparaturkosten?

Wenden wir uns den Psychiatrie-Patienten zu. Hier lautet die Zusatzinformation (Z): Psychiatrische Behandlungen sind oft nicht effektiver als Placebos. Sie haben dennoch häufig erhebliche Schadwirkungen und dies erst recht, wenn ihre Wirkung über den Placebo-Effekt hinausgeht. Die Schadwirkungen können schlimmer sein als die angebliche Krankheit, die mit diesen Maßnahmen behandelt werden soll.

  • Patient A wird zwangsbehandelt und kennt Z.
  • Patient B wird zwangsbehandelt und kennt Z nicht.
  • Patient C lässt sich ohne Zwang behandeln und kennt Z.
  • Patient D lässt sich ohne Zwang behandeln und kennt Z nicht.

Ich halte es für überaus wahrscheinlich, dass die überwiegende Mehrheit der Psychiatrie-Patienten in die Kategorie D fällt. Sie sind nicht oder nicht zureichend über den begrenzten Nutzen psychiatrischer Behandlungen informiert worden. Sie wissen nicht, dass die Psychiatrie die Ursachen der so genannten “psychischen Krankheiten” nicht kennt; sie wissen nicht, dass die Psychiatrie das Vorhandensein einer solchen “Erkrankung” nicht mit objektiven Methoden feststellen kann; sie wissen nicht, dass die Erfolge psychiatrischer Behandlungen häufig auf dem Placebo-Effekt beruhen oder darauf, dass eine mutmaßliche psychische Krankheit durch eine reale neurologische Störung ersetzt wird.

Nun könnte man natürlich einwenden, dass sich selbstredend jeder Patient vor einer Behandlung über deren Risiken und Nebenwirkungen informieren könne. Die Pflasterritzenflora ist ja ein Beweis dafür, dass kritische Infos zur Psychiatrie jedermann zugänglich sind: Recherchen im Internet oder ein Gang in öffentlichen Bibliotheken genügen; im Grund reicht ja schon die sorgfältige Lektüre des Beipackzettels, um sich ein erstes Bild darüber zu machen, was es mit den Psychopharmaka auf sich hat. Wer sich also uninformiert in eine psychiatrische Behandlung begibt, der vertraut halt seinen Ärzten und auch dies ist eine freie Entscheidung. Aus dieser Sicht gibt es also keinen Grund daran zu zweifeln, dass sich die überwiegende Mehrheit der Patienten freiwillig behandeln lässt.

Für einen Apologeten der freien Marktwirtschaft ist dies sicher eine durchweg zufriedenstellende Argumentation. Wenn ein Produkt und / oder eine Dienstleistung die Erwartungen nicht erfüllen, weil die Erwartungen zu hoch waren, und wenn die Erwartungen zu hoch waren, weil der Kunde sich vor dem Handel nicht informiert hat, dann trägt er die Verantwortung für die Folgen seines nicht gerechtfertigten Vertrauens.

Dabei wird allerdings vergessen, dass sich Menschen, die vor der Entscheidung zur psychiatrischen Behandlung stehen, häufig in einem seelischen Ausnahmezustand befinden. Ihr eigenes Verhalten und Erleben gibt ihnen Rätsel auf. Sie stehen unter sozialen Druck, weil sie gesellschaftlichen Normen nicht mehr entsprechen oder weil sie die Erwartungen signifikanter Anderer nicht mehr erfüllen. Kurz: Sie sind erheblichem Stress ausgesetzt und daher ist ihre Kritikfähigkeit eingeschränkt. Und so erliegen sie nur zu leicht den Verlockungen des Psychiatrie- bzw. Psychopharmaka-Marketings.

Protagonisten werden einwenden, dass dies genau die Natur der Dinge sei, an der niemand etwas ändern könne. Manche Menschen seien nun einmal von Haus aus besser oder schlechter für den freien Wettbewerb ausgerüstet. Wer dauerhaft oder vorübergehend keine wohl überlegten Entscheidungen beim Kauf von Waren oder Dienstleistungen fällen könne, der müsse eben auf den Verbraucherschutz vertrauen und darauf, dass die Mechanismen des Marktes die schwarzen Schafe schon eliminieren würden. Es sei jedenfalls keine Lösung, den Markt einzuschränken, nur weil einige Dödel mit dem Beipackzettel oder anderen hilfreichen Handreichungen zur Beurteilung der Qualität eines Produkts überfordert seien.

Wer geht warum in die Psychiatrie? Wer fährt warum nach Lourdes? Wer lässt sich warum von einer Psycho-Sekte ausnehmen? Wollen die Menschen tatsächlich betrogen werden? Über Patient A müssen wir uns diesbezüglich keine Gedanken machen. Er geht in die Psychiatrie, weil er mit Gewalt dorthin verfrachtet wird und dort nur unter Protest bleibt, weil man ihn nicht mehr hinauslässt. Patient B wird nach einer Weile des Einflusses von Apathie erzeugenden Drogen u. U. “krankheitseinsichtig”, obwohl er gar nicht an einer Krankheit leidet und es demgemäß auch nichts gibt, was er einsehen könnte. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob eine solche durch Drogen begünstigte Einsicht tatsächlich zur Freiwilligkeit führen kann. Patient C ist vielleicht wirklich freiwillig in der Psychiatrie, weil er einer Spielart des Masochismus frönt. Patient D dürfte die Regel sein, und wenn er die Zusatzinformation Z hätte und in der Lage wäre, sie zu verstehen, dann würde er sich vielleicht sogar in Patient A verwandeln.

Es spricht also sehr viel dafür zu vermuten, dass sich die allermeisten Patienten nicht in echtem Sinn freiwillig psychiatrisch behandeln lassen, nicht wirklich, obwohl nur eine verhältnismäßig kleine Minderheit durch physische Gewalt dazu gezwungen wird. Die meisten Psychiatrie-Patienten sind einer strukturellen Gewalt unterworfen, die dazu führt, dass sie sich dem üblichen gesellschaftlichen Procedere beugen, das für Leute vorgesehen ist, die aus nicht kriminellen Gründen von den Normen der Gesellschaft und / oder den als berechtigt geltenden Erwartungen ihrer Mitmenschen abweichen.

Wer psychiatrisch behandelt wird, hält dies in aller Regel für die beste der Möglichkeiten, die sich ihm aktuell bieten. Dieser Eindruck ist nicht zufällig entstanden, sondern er ist die Konsequenz des entsprechenden Marketings, der Existenz psychiatrischer Institutionen und ihrer wirtschaftlichen Interessen, der einschlägigen gesellschaftlichen Regeln sowie der vorherrschenden Erwartungen der Mitmenschen angeblich psychisch Kranker. Zwar wird auf die meisten Psychiatrie-Patienten kein offener Zwang ausgeübt, aber sie sind einem Quasi-Zwang ausgesetzt, dem zu widerstehen viel Kraft kosten würde – zu viel Kraft für die meisten der Menschen, die auf diese schiefe Ebene geraten sind.

The post Wer geht warum in die Psychiatrie? appeared first on Pflasterritzenflora.

Verschwinden einer Abgeordneten

$
0
0

Anfang September 2013 berichtete eine Zeitung mit tadellosem Ruf als Revolverblatt, dass eine Abgeordnete eines deutschen Landtags gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen worden sei. Einige andere Blätter folgten mit kurzen Notizen. Daraufhin baten die Parteifreunde dieser Politikerin die Medien, im Interesse des Heilungsprozesses der Abgeordneten Mäßigung zu üben. Die Medien entsprachen dieser Bitte und befleißigten sich totaler Zurückhaltung. Seither herrscht also Funkstille. Die Öffentlichkeit erfährt nicht, wo sich die Politikerin befindet, wie es ihr geht und wann sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann.

Wer an die Fiktion der “psychischen Krankheit” glaubt, mag sich mit diesem Sachstand zufrieden geben. Eine Krankheit ist schließlich eine Privatangelegenheit und diese geht die Öffentlichkeit nichts an, auch nicht im Fall einer prominenten Politikerin. So könnte man denken. Es gibt allerdings keine objektiven Verfahren, mit denen man das Vorliegen einer “psychischen Krankheit” feststellen könnte. Derartige Diagnosen beruhen ausschließlich auf dem subjektiven Urteil von Psychiatern. Wissenschaftlich betrachtet, können sie nicht als valide betrachtet werden. “Psychische Krankheit” liegt gleichsam im Auge des Betrachters.

Dies ist natürlich der Stoff, aus dem Verschwörungstheorien sind. Wer nicht zu einem kleinen Kreis von Eingeweihten gehört, hat keinerlei Informationen über die Hintergründe dieses Falls und die aktuelle Lage der Abgeordneten. Menschen neigen generell dazu, fehlendes Wissen durch Spekulationen auszugleichen; und Leute mit einer Affinität zur Verschwörungstheorie fühlen sich nachgerade angezogen von den Graubereichen der Politik, wo bekanntlich nichts so ist, wie es zu sein scheint. Ihre Partei und wohl auch der  betroffene Landtag insgesamt halten es für opportun, sich nicht zu diesem Fall zu äußern. Obwohl es eigentlich eine Bringschuld des Landtages wäre, Auskunft zum Verbleib einer aus öffentlichen Mitteln bezahlten und frei gewählten Abgeordneten zu geben, hüllt sich dieses politische Gremium in Schweigen. Verschwörungstheoretiker sind entzückt und verleihen ihrer Begeisterung in Foren und sozialen Netzwerken des Internets lebhaft Ausdruck.

Warum und in welcher Weise eine nüchterne, sachliche Information zur momentanen Lage der Abgeordneten den Heilungsprozess bei einer mutmaßlichen Erkrankung beeinträchtigen könnte, bleibt dahingestellt. Wer wie ich nicht besonders stark im Glauben ist, kann nach Lage der Dinge und angesichts der spärlichen Informationen nur annehmen, dass die Abgeordnete in Wirklichkeit im Landtag unentschuldigt fehlt, weil ja eine so genannte “psychische Krankheit” beim Stand der Erkenntnis als Psychiater-Erfindung eingestuft werden, also als ein durchsichtiger Vorwand gedeutet werden muss. Seit ihrem Verschwinden sind rund sechs Monate vergangen. Der Schweigen der Zuständigen will mir zunehmend als Dreistigkeit, als Dreistigkeit gesteigerter Art erscheinen. Obwohl jeder Verschwörungstheorie abhold und geneigt, Gründe außerhalb des politischen Raumes hinter diesem Vorgang zu vermuten, beginne ich mir langsam Sorgen zu machen.

Auch wenn es vermutlich keine “psychischen Krankheiten” gibt, so übernehmen manche Menschen dennoch, aus welchen Gründen auch immer, die Rolle des “psychisch Kranken”. Solche Menschen sind stets in der Lage, sich zu ihrem Zustand zu äußern. Wenn davon nichts an die Öffentlichkeit dringt, so liegt dies entweder daran, dass sich der Betroffene nicht zu seinem Zustand öffentlich äußern will oder aber er wird daran gehindert, man schottet ihn ab. Die Informationssperre in den Medien legt den Verdacht nahe, dass die Abgeordnete isoliert wird, dass man ihr nicht die Gelegenheit gibt, sich öffentlich zu äußern. Freilich könnte es auch anders sein. Wir wissen es einfach nicht.

Doch wir sollten es wissen. Persönlich habe ich kein begründbares Interesse am Privatleben dieser Frau; wohl aber möchte ich mit Nachdruck ein öffentliches Interesse am Geschick einer gewählten Abgeordneten betonen. Warum nimmt sie ihre politischen Aufgaben nicht wahr? Die Diagnose einer “psychischen Krankheit” ist nur eine Hypothese, nicht mehr, eine Mutmaßung. Wird sie wegen dieser Mutmaßung daran gehindert, als Abgeordnete tätig zu sein. Oder hat sie sich diese Diagnose anverwandelt und bleibt aus freien Stücken ihrer Arbeit fern? Jeder Arbeitgeber würde sich derartige Fragen stellen, und zwar berechtigterweise. Der Wähler, der Staatsbürger, der Steuerzahler ist aber gleichsam der Arbeitgeber seiner Abgeordneten. Dies kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Dankenswerterweise haben sich die Eltern in dieser Angelegenheit zu Wort gemeldet; nur leider ist eben dies nicht die Art der Auskunft, auf der die Öffentlichkeit bestehen muss, nämlich auf einer offiziellen und aktuellen.

Wenn ich mich recht entsinne, ist dieser Vorgang beispiellos in der deutschen Nachkriegsgeschichte; auch in der DDR hat es Vergleichbares wohl nicht gegeben. Daher hat man natürlich auch nicht die Möglichkeit, ihn in ein vertrautes Schema einzuordnen. Über die Rückseite des Mondes wissen wir mehr als über diesen Fall. Mit jedem Tag, der seit dem Verschwinden der Abgeordneten verstreicht, verdüstern sich naturgemäß die Fantasien. Dies ist fast zwangsläufig, selbst bei Menschen, die an “psychische Krankheiten” glauben, erst recht aber bei Leuten, die diese Diagnose für einen Vorwand halten.

Man kann menschliches Verhalten nur in dem sozialen Kontext verstehen, in dem es auftritt. Die Fiktion der “psychischen Krankheit” blendet diesen Kontext aus und erklärt bestimmtes Verhalten als verursacht durch ein defektes Gehirn. Für solche Defekte gibt es weder im Allgemeinen, noch im besonderen Fall dieser Abgeordneten irgendeinen Beweis. Diese Diagnose kann also, sofern meine Einschätzung zutrifft, kaum anders als eine Ausflucht verstanden werden, die vom sozialen Kontext ablenken soll, in den das Verhalten dieser Abgeordneten eingebettet ist. Mir jedenfalls will nichts anderes plausibel erscheinen. Wann endlich entspricht der Landtag seiner Bringschuld zur Information?

The post Verschwinden einer Abgeordneten appeared first on Pflasterritzenflora.


“Psychosen” früh erkennen

$
0
0

Auf der Website “psychose.de” heißt es zum Thema “Psychosen und Bipolare Störungen früh erkennen“:

“Bei Menschen mit eindeutigen Krankheitssymptomen ist das relativ einfach. Das heutige Wissen zeigt eindeutig, dass eine frühzeitige Behandlung den Verlauf verbessert. Je kürzer die unbehandelte Psychose oder Bipolare Erkrankung dauert, desto günstiger ist die Prognose.

Schwieriger ist die Situation bei Menschen, die noch nicht unter klaren Krankheitssymptomen leiden, aber erste milde psychische und soziale Veränderungen zeigen, die auf eine Psychose hindeuten können. Hier ist es wichtig,

  • durch rechtzeitiges Erkennen und frühzeitige Hilfe den Ausbruch der Psychose zu verhindern und vorhandene Symptome zu entkräften
  • dabei so vorsichtig vorzugehen, dass das Risiko falscher Interventionen möglichst gering ist.
  • Bewährt haben sich Hilfen, die konfliktorientiert sind, also vorhandene Krisen als Anlässe entdramatisieren, und die nahe Angehörige frühzeitig einbeziehen. In diesem Zusammenhang ist es am ehesten möglich, erste psychotische Symptome durch Verständnis aufzuheben oder ggf. auch mit vorsichtiger Medikation nachzuhelfen (4).”

Dies klingt plausibel: Wenn sich erste Anzeichen zeigen, sofort angreifen, denn durch Abwarten wird die Sache nicht besser. Eine “vorsichtige Medikation” ist immer eine Option.

Die “Cochrane Collaboration” ist eine weltweit tätige, renommierte Institution zur medizinischen Qualitätssicherung. Sie verwirklicht so genannte Meta-Studien. In diesen werden die Studien zu einem Thema vollständig erfasst und ausgewertet.  Sie stellten in einer Untersuchung unter dem Titel “Early intervention for psychosis (1)” u. a. fest:

  1. In aller Regel waren die Studien klein, sie wurden von Pionieren des Forschungsfelds durchgeführt, und sie wiesen viele methodische Schwachstellen auf.
  2. Es gibt erste, aber nicht schlüssige Hinweise darauf, dass Leute im Vorfeld einer Psychose mit einigen Interventionen geholfen werden könnte. Es ist allerdings fraglich, ob positive Wirkungen auch aufrecht erhalten werden können.
  3. Die Replikation der Befunde in größeren und längeren Studien ist erforderlich.

Es gibt im Übrigen Hinweise darauf, dass die Protagonisten der Frühintervention dazu tendieren, selektiv positive Befunde zu publizieren und die negativen zu ignorieren (2).

Wenn die Befunde der Cochrane Collaboration zutreffen, so kann man daraus nur folgern, dass auf der Website “psychose.de” psychiatrische Maßnahmen empfohlen werden, die empirisch noch nicht abgesichert sind. Aber die Website weiß: “Eine lange Dauer von unbehandelten psychotischen Symptomen führt zu einer geringeren Heilungschance.”

Manche wandeln sich vom Saulus zum Paulus. Patrick McGorry, der Architekt der Früherkennung in Australien, beispielsweise sagte dem Sidney Morning Herold (20. 02. 2012), dass junge Menschen mit einem Psychose-Risiko ohnehin schon zu viele Medikamente erhielten.

“I think it’s a valid point to be concerned about the harms particularly in places like America. I think probably I have given a bit more weight to that argument now”.

Es ging in diesem Gespräch der Zeitung mit dem Hochschullehrer um die Einführung des Konzepts einer Prä-Psychose in die neue amerikanische Psychiater-Bibel DSM-5.

McGorry, einst ein vehementer Befürworter des Einsatzes von Neuroleptika bei “gefährdeten” Kindern und Jugendlichen, ist sich nunmehr aufgrund eigener Forschungen nicht mehr so sicher: In einer randomisierten Studie untersuchten er und seine Mitarbeiter die Wahrscheinlichkeit eines Übergangs zu einer voll entwickelten Psychose bei Jugendlichen mit hohem Psychose-Risiko unter den folgenden Behandlungsbedingungen: Kognitive Therapie plus Risperidon (ein Neuroleptikum), Kognitive Therapie plus Placebo und unterstützende Therapie plus Placebo. Die Übergangswahrscheinlichkeiten waren statistisch nicht signifikant unterschiedlich.

McGorry et al.:

“The lower than expected, essentially equivalent transition rates in all 3 groups fail to provide support for the first-line use of antipsychotic medications in patients at ultra-high risk of psychosis… (3)”

Die gleichartigen Übergangswahrscheinlichkeiten können den Einsatz von Neuroleptika bei Patienten mit extrem hohem Psychose-Risiko nicht unterstützen.

Man könnte mir andere Studien entgegenhalten, die Gegenteiliges suggerieren; wie auch immer man diese auch bewerten und gewichten mag, es kann wohl kein Zweifel daran bestehen, dass die Cochrane Collaboration recht hat, dass nämlich die Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt wissenschaftlich noch nicht geklärt ist. Wer Kindern und Jugendlichen mit einem angeblich erhöhten Psychose-Risiko Neuroleptika gibt, unterzieht sie also einer experimentellen, einer empirisch nicht abgesicherten Behandlung.

In den USA hat sich der Einsatz von Neuroleptika bei Kindern und Jugendlichen in den letzten zehn bis 15 Jahren verdreifacht, berichtete die Zeitschrift “Consumer Reports“. Und dies, obwohl es wenig handfeste Hinweise darauf gebe, dass man Kindern damit wirklich helfen könne. Dies gelte für den bestimmungsgemäßen und erst recht für den Gebrauch außerhalb des Indikationsgebietes, also bei Störungen, für die diese Mittel nicht zugelassen seien (Off-Label).

Dennoch fallen mir gute Gründe dafür ein, möglichst früh mit dem Einsatz von Neuroleptika zu beginnen, obwohl ihr Nutzen für die Betroffenen fraglich ist. Schließlich ist es stets klug, Kunden möglichst früh an sich zu binden. Wer sich bereits als Kind daran gewöhnt hat, bei allen erdenklichen Problemen im Leben Psychopharmaka zur Problemlösung einzunehmen, der wird diesen Produkten, so darf man hoffen, auch im späteren Leben treu bleiben.

Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit bietet unter der Rubrik “AG Molekulare Schizophrenieforschung” eine Checkliste zur Früherkennung von Psychosen an. Es werden 15 Fragen gestellt, beispielsweise: “Ziehen Sie sich vermehrt von anderen Personen zurück?” oder “Haben Sie sich mit ungewöhnlichen, geheimnisvollen oder übernatürlichen Dingen beschäftigt?” Wenn man beispielsweise folgende Aussagen bejaht:

  • Haben Sie Schwierigkeiten, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen?
  • Wird Ihr Verhalten von anderen Menschen manchmal als merkwürdig oder auffällig bezeichnet?
  • Haben Sie sich mit ungewöhnlichen, geheimnisvollen oder übernatürlichen Dingen beschäftigt?

… dann erhält man zur Antwort:

  • Aus Ihrem Ergebnis in diesem Fragebogen kann keine bestimmte Diagnose gestellt werden, es gibt aber einen Hinweis, der Anlass zu einer gründlicheren Untersuchung sein sollte. Wir empfehlen Ihnen, sich zur weiteren Abklärung an die unten angegebene Adresse zu wenden. Dort werden Sie unter Achtung der ärztlichen Schweigepflicht untersucht, beraten und über Behandlungsmöglichkeiten informiert, falls dies medizinisch geraten erscheint.
  • Hinweis: Je früher man seelische Probleme behandelt, desto günstiger ist deren Verlauf.

In einer Studie von Wunderink et al. (5) wurden die Versuchsteilnehmer (Menschen mit einer ersten psychotischen Episode) zu Beginn der Untersuchung zufällig auf zwei Gruppen verteilt. Die eine Gruppe erhielt kontinuierlich Neuroleptika (MT), bei der anderen wurde die Dosis reduziert und das Medikament schließlich ausgeschlichen (DR). Der Versuch lief über 18 Monate, danach oblag die weitere Behandlung dem jeweiligen Ärzten. Nach sieben Jahren hatten die Teilnehmer der DR-Gruppe in etwa die doppelte Gesundungsrate, verglichen mit den Patienten der MT-Gruppe (40,4 % zu 17,6 %). Dieser Befund lässt Zweifel daran aufkommen, ob die psychiatrische Standardbehandlung durch kontinuierliche Gabe von Neuroleptika tatsächlich das beste für Menschen ist, die sich bereits beim ersten Autftreten einer “psychotischen” Episode oder gar zuvor dauerhaft neuroleptisch behandeln lassen.

In seinem Buch “Deadly Medicines and Organized Crime” (6) kommt Peter Gøtzsche auf Grundlage einer differenzierten Auswertung der vorliegenden empirischen Literatur zu folgendem Schluss:

“I know some excellent psychiatrists who help their patients a lot, e.g; David Healy uses watchful waiting before giving drugs to first-episode patients. I also know that some drugs can be helpful sometimes for some patients. And I am not ‘antipsychiatry’ in any way. But my studies in this area lead me to a very uncomfortable conclusion:
“Our citizens would be far better off if we removed all the psychotropic drugs from the market, as doctors are unable to handle them. It is inescapable that their availability creates more harm than good.”

Unter den gegebenen Bedingungen, weil Ärzte nicht mit diesen Drogen umgehen können, richten Psychopharmaka allgemein mehr Schaden an, als sie Nutzen stiften. Peter Gøtzsche ist Mitbegründer der bereits erwähnten Cochrane Collaboration und Leiter des Nordic Cochrane Centre.

“Psychosen” früh erkennen? Bekanntlich sind psychiatrische Diagnosen nicht valide; dies hat zur Konsequenz, dass sogar dann, wenn psychische Krankheiten existieren sollten, woran ich zweifele, sehr viele Einstufungen entweder falsch positiv oder falsch negativ sind. Dies gilt natürliche auch für die “Psychose”-Risiko-Diagnose. Selbst also Leute, die glauben, dass manche Menschen ein hohes Risiko haben, an einer “Psychose” zu erkranken, die medikamentös behandelt werden kann, müssen einräumen, dass eine frühe Therapie dieser angeblichen Risiko-Patienten zwangsläufig sehr häufig die Falschen trifft. Sie haben keinen Nutzen von Medikamenten, die erwiesenermaßen überaus zahlreiche und gravierende Schadwirkungen haben können. Wer will das verantworten?

Anmerkungen

(1)  Marshall,M & Rathbone, J (2011). Early intervention for psychosis. The Cochrane Library, 15. Juni, DOI: 10.1002/14651858.CD004718.pub3

(2) Amos, A. (2013). An axeman in the cherry orchard: early intervention rhetoric distorts public policy. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 47(4), 317-320

(3) McGorry P. D. et al. (2013). Randomized controlled trial of interventions for young people at ultra-high risk of psychosis: twelve-month outcome. J Clin Psychiatry. 2013 Apr;74(4):349-56. doi: 10.4088/JCP.12m07785. Epub 2012 Nov 27.

(4) Im Impressum der Website “psychose.de” heißt es: “Verantwortlich nach §§ 5, 6 TDG ist die Firma AstraZeneca GmbH Wedel, Tinsdaler Weg 183, 22880 Wede.”Das Unternehmen stellt u. a. Seroquel her.

(5) Wunderink, L. et al. (2013). Recovery in Remitted First-Episode Psychosis at 7 Years of Follow-up of an Early Dose Reduction/Discontinuation or Maintenance Treatment Strategy. Long-term Follow-up of a 2-Year Randomized Clinical Trial. JAMA Psychiatry. doi:10.1001/jamapsychiatry.2013.19. Published online July 3

(6) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe

The post “Psychosen” früh erkennen appeared first on Pflasterritzenflora.

Interview: Andreas Meyer-Lindenberg

$
0
0

Die Online-Repräsentanz der Tagesschau, “tagesschau.de” befragte den Mediziner Andreas Meyer-Lindenberg zum Thema “psychische Krankheiten”. Meyer-Lindenberg ist Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Er leitet zudem das Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit.

Er behauptet, dass psychische Krankheiten ein weltweit verbreitetes Phänomen seien. Dies ist falsch. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen sind ein weltweit verbreitetes Phänomen. Ob Menschen mit diesen Diagnosen tatsächlich “psychisch krank” sind, weiß man nicht. Die Diagnose-Verfahren der Psychiatrie sind nämlich weder zulänglich reliabel, noch valide. Reliabilität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Verfahren diagnostiziert, was es diagnostiziert und Validität ist ein Maß für die Genauigkeit, mit der ein Verfahren diagnostiziert, was es zu diagnostizieren beansprucht. Die psychiatrischen Diagnose-Verfahren diagnostizieren nicht das, was sie zu diagnostizieren beanspruchen und was sie diagnostizieren, das diagnostizieren sie ungenau, d. h. mehrere Beurteiler gelangen häufig zu unterschiedlichen Urteilen über eine Person (Kirk, Gomory & Cohen 2013; Davies 2013; Greenberg 2013, siehe auch: Die psychiatrische Diagnose).

Die Psychiatrie unterstellt, dass bestimmte Verhaltensweisen “Symptome von psychischen Krankheiten” seien, kann dies aber nicht durch objektive Methoden beweisen. Es gibt keine Biomarker, keine Laborbefunde, keine Brainscans, die psychiatrische Diagnosen validieren. Daher könnte Meyer-Lindenberg allenfalls behaupten, dass mutmaßliche oder hypothetische psychische Krankheiten ein weltweites Phänomen seien.

Meyer-Lindenberg unterstellt, dass “psychische Krankheiten” die Hauptursache für Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung seien. Das ist falsch. Da man psychische Krankheiten nicht valide diagnostizieren kann, ist es allein schon aus diesem Grund unmöglich, ihre Ursächlichkeit für die genannten Phänomene in methodisch einwandfreien Untersuchungen empirisch zu erhärten. Der Arzt hätte allenfalls behaupten können, dass Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung sehr häufig mit psychiatrischen Diagnosen begründet werden.

Meyer-Lindenberg beziffert die Zahl der Menschen, die an einer “psychischen Krankheit” litten, auf 20 Prozent. Dies zeigten die Statistiken über die letzten Jahrzehnte. Dies ist falsch. Allenfalls könnte man schätzen, dass die Zahl der Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose 20 Prozent beträgt. Bisher nämlich konnte die Psychiatrie nicht nachweisen, dass sich ihre Diagnosen auf etwas Reales in der Welt dort draußen beziehen.

Meyer-Lindenberg: “Etwa 80 Prozent der Betroffenen gehen zwar zum Arzt – von denen wird aber nur die Hälfte als psychisch krank erkannt.”

Natürlich wieder falsch. Nehmen wir einmal an, diese Schätzung sei halbwegs fundiert (was ich bezweifele), dann könnte man allenfalls sagen, das von den 80 Prozent der mutmaßlich Betroffenen, die zum Arzt gehen, nur die Hälfte eine psychiatrische Diagnose erhält.

Meyer-Lindenberg will die “Diagnosemöglichkeiten verbessern und die Therapieansätze weiterentwickeln, damit psychische Erkrankungen künftig möglichst früh erkannt und richtig behandelt werden.” Dabei setzt er voraus, dass es sinnvoll ist, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen medizinisch zu behandeln. Damit unterstellt er die Gültigkeit des medizinischen Modells psychischer Erkrankungen. Fakt aber ist, dass bisher alle Versuche, die biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten zu identifizieren, grandios gescheitert sind. So haben sich beispielsweise die einst überaus einflussreichen, als gesichert geltenden Dopamin- bzw. Serotonin-Thesen der Schizophrenie- bzw. Depressions-Ursachen als falsch herausgestellt (Gøtzsche 2013). Demgegenüber aber gibt es eine große Fülle von Studien, die Zusammenhänge zwischen den Phänomenen, die von der Psychiatrie als “psychische Krankheiten” missdeutet werden, und psychischen bzw. sozio-ökonomischen Einflussgrößen gibt (Bentall 2003; Bentall 2009). Es spricht also beim gegenwärtigen Erkenntnisstand alles dafür, dass professionelle Hilfen für Menschen mit den so genannten psychischen Krankheiten (die offenbar keine sind) auf psychologischer, sozialarbeiterischer, sozialpädagogischer und soziologischer Grundlage entwickelt werden sollten. Überdies deuten die Befunde darauf hin, dass professionelle Hilfen sich als suboptimal erweisen, wenn sie sich nicht als Hilfe zur Selbsthilfe verstehen. Der Selbsthilfeansatz (eventuell mit Fingerspitzengefühl durch Profis oder Semi-Profis begleitet) hat, dies lässt sich bereits mit Sicherheit sagen, zumindest keine schlechteren Erfolgsaussichten als der medizinische Ansatz – und er ist klar kosteneffezienter und hoch wahrscheinlich auch deutlich wirksamer.

Meyer-Lindenberg: “Wir müssen die Behandlung stärker individualisieren. Es gibt nicht das eine Medikament oder den einen Behandlungsansatz, der allen psychisch Kranken gleichermaßen hilft. Zum Beispiel schlagen bei einer Schizophrenie bestimmte Medikament bei manchen Patienten gut an, bei anderen wiederum gar nicht.”

Peter Gøtzsche hat mehr als 50 Beiträge in den “Big Five” der medizinischen Wissenschaft (BMJ, Lancet, JAMA, NEJM, Annals) publiziert; das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl. Man könnte renommierter nicht sein. Er hat u. a. die Effizienz von Psychopharmaka grundlegend empirisch untersucht. Er gelangt zu einem vernichtenden Urteil (Gøtzsche 2013): Es ginge den Menschen besser, wenn diese Substanzen vom Markt genommen würden. Daran, dass diese angeblichen Medikamente erheblich mehr schaden als Nutzen stiften, kann auch eine Individualisierung der Behandlung nichts ändern.

Auf Ritalin zur Behandlung der so genannten Hyperaktivitäts-/Aufmerksamkeitsstörung angesprochen, räumt der Mediziner ein, dass es bei Kindern durchaus eine Übertherapie gebe. Er schlägt allerlei Maßnahmen vor, um das Ausmaß der Ritalin-Verschreibungen zu vermindern. Dies ist sicher löblich, doch nicht genug. Erforderlich wäre es, das Ausmaß psychiatrischer Behandlungen insgesamt zu senken. Psychotherapien haben keine klinisch bedeutsamen methoden-spezifischen Wirkungen; ihr Effekt hängt überwiegend vom gemeinsamen Glauben von Therapeuten und Patienten an ihre Wirksamkeit ab (Dawes 1996; Degen 2000). Antidepressiva sind kaum nennenswert wirksamer als Placebos (Moncrieff et al. 2012). Neuroleptika wirken, sofern sie überhaupt eine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung haben, vor allem dadurch, dass sie apathisch machen (Breggin 1996). Elektrokrampftherapien sind nicht effektiver als Schein-Schocks, haben also ebenfalls nur eine Placebowirkung (Reed & Bentall 2010). Wofür also brauchen wir die medizinische Behandlung der angeblich “psychisch Kranken” eigentlich?

Anlass des Interviews mit Meyer-Lindenberg, der nicht nur Arzt, sondern auch Mathematiker ist, war der Start eines Forschungsprojekts des Bildungsministeriums zu psychischen Krankheiten.

“tagesschau.de: Reichen für diese ambitionierten Ziele und das Ausmaß der genannten Krankheiten die 35 Millionen Euro des Bildungsministeriums überhaupt aus?

Meyer-Lindenberg: Um das Problem in seiner Gänze zu behandeln reicht diese Summe sicher nicht aus. Aber wir werden einen wichtigen ersten Schritt machen, und wir hoffen das sich diesem Engagement auch nach Ablauf des Projekts im Jahr 2018 weitere nachhaltige Fördermaßnahmen anschließen werden.”

Vielleicht sollte der Mediziner sich auf seine mathematischen Fähigkeiten besinnen und ausrechnen, wie viel Gutes man auf der Basis des vorhandenen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Wissens für Menschen tun könnte, die bisher als “psychisch krank” verunglimpft werden und die Hilfe nicht nur wollen, sondern auch tatsächlich brauchen. Es sieht nämlich ganz so aus, dass Millionen und Abermillionen in Forschungsprojekte gesteckt werden, die auf einem gescheiterten Ansatz beruhen, nämlich dem medizinischen Modell der so genannten psychischen Krankheiten.

Eines der Hauptprobleme sei die Akzeptanz der “psychischen Krankheiten”, deshalb “haben wir auch laufende Anti-Stigma-Kampagnen”, sagt Meyer-Lindenberg. Diese Kampagnen werden aber nichts nutzen, solange das medizinische Modell in Kraft ist. Die Stigmatisierung ist nämlich nicht allein die Folge einer psychiatrischen Diagnose, diese Diagnosen selbst sind stigmatisierend (Caplan et al. 2004). Sie sind überdies, sogar wenn man eine solche für notwendig hält, für die Behandlung gar nicht erforderlich (Kirk et al. 2013).

Meyer-Lindenberg: “Der Beitrag der Forschung muss sein, dass wir die Krankheiten besser verstehen lernen, denn nur was wir verstehen, können wir auch akzeptieren.”

Eine Forschung, die bereits voraussetzt, was es zu erforschen gilt, ist keine, sondern sie ist getarnte Propaganda, Marketing. Bisher konnte die Psychiatrie, wie bereits erwähnt, noch nicht nachweisen, dass es “psychische Krankheiten” überhaupt gibt. Sie müsste lernen zu akzeptieren, dass sie mutmaßliche, hypothetische Krankheiten behandelt und erforscht  – und dies, seitdem die Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin im 19. Jahrhundert entstand.

Literatur

Bentall, R. (2009). Doctoring the mind: is our current treatment of mental illness really any good? New York, NYU Press
Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature. London: Penguin Books Ltd.
Breggin, P. R.: Giftige Psychiatrie, Band 1. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1996
Caplan, P. J. & Cosgrove, L. (eds.) (2004). Bias in Psychiatric Diagnosis. Lanham: Jason Aronson
Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books
Dawes, R. M. (1996). House of Cards: Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press
Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Frankfurt a. M.:Eichborn
Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel: “The chemical imbalance hoax”
Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books
Kirk, S. A. et al. (2013) Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction
Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10
Read, J. & Bentall, R. (2010). The effectiveness of electroconvulsive therapy: A literature review. Epidemiologia e Psichiatria Sociale, 19, 4, 2010, 333-347

The post Interview: Andreas Meyer-Lindenberg appeared first on Pflasterritzenflora.

Julia Bonk: Offener Brief an die Partei “Die Linke” in Dresden

$
0
0

Auf Ihrer Website äußert sich die Deutsche Direkthilfe dreimal zum Fall einer Abgeordneten des Sächsischen Landtags, die nunmehr aus Gründen, die ich für ungeklärt halte, nicht mehr ihrer parlamentarischen Arbeit nachkommt.

Am 28. November 2013 wurde dieser Text veröffentlicht:

Erklärung in der Angelegenheit Julia Bonk

Am 1. Dezember 2013 erschien Folgendes:

Neue und letzte Erklärung im Fall Julia Bonk

Am 16. Februar 2014 würde ein offener Brief

An die Linke Dresden: Julia Bonk

veröffentlicht.

Hier heißt es u. a.:

  • “Es gibt Erklärungen der Eltern, die jedoch kein Ersatz für eine Äußerung von Julia selber sein können.”
  • “Es reicht nicht, wenn die Eltern von Julia Bonk immer wieder erklären, alles wäre OK. Die Psychiatrie übt bisweilen massiven Druck auf Eltern aus, damit sie kooperieren. Tun sie dies nicht, verlieren sie unter Umständen jeglichen Kontakt zu ihrem Kind.”
  • “Der Psychiatrie mangelt es nicht nur an einer wissenschaftlichen Grundlage, sie wird zur Disziplinierung von Menschen in totalitären und sogenannten demokratischen Systemen gleichermaßen instrumentalisiert, um Kritik an einer industriell verseuchten Umwelt, an Ausbeutung und an den dafür erforderlichen Machtverhältnissen zu pathologisieren.”
  • “Alleine um alle Spekulationen über sie zu beenden, wäre eine
    öffentliche Erklärung ihrerseits dringend erforderlich. Gibt es diese
    nicht, bleibt die Sorge bestehen, daß sie unter Umständen ihrer
    Freiheit beraubt an einer Äußerung gehindert wird.”

Der Autor dieses Offenen Briefes beruft sich u. a. auf einen Artikel, der unter dem Titel “Verschwinden einer Abgeordneten” in der Pflasterritzenflora erschien. Wie zu erwarten war, meldeten sich sogleich Kommentatoren mit den üblichen persönlichen Angriffen gegen mich zu Wort; Originalton: “Als direkt widerlich empfinde ich solche Äußerungen von dem Psychologen Ulrich Gresch auf seiner Seite: Plasterritzenflora…”

Ich antwortete mit folgenden Kommentaren:

Zweifellos existieren die Phänomene, die von der Psychiatrie als “Symptome einer psychischen Krankheit” gedeutet werden. Allein, die Deutung ist fragwürdig. Die Phänomene kann man beobachten, doch aus ihnen ergibt sich nicht zwingend die Interpretation. Die Psychiatrie verfügt nicht über objektive Methoden, um das Vorliegen einer psychischen Krankheit festzustellen. Die Diagnosen beschreiben Phänomene und dekretieren, dass es sich dabei um psychische Krankheiten handele. Die Psychiatrie behauptet, diese so genannten Krankheiten beruhten im Kern auf Störungen des Gehirns; jedoch konnte bisher für keine dieser angeblichen Krankheiten (Schizophrenie, Depression etc.) eine solche Störung nachgewiesen werden. Dies hat mit “Verschwörungstheorie” nichts zu tun, sondern es handelt sich hier eindeutig um den Stand der Forschung. Der Direktor des National Institute of Mental Health, Prof. Thomas Insel, hat dies unlängst in seinem “Director’s Blog” auch eingeräumt (vgl. hierzu meinen Beitrag: “Die psychiatrische Diagnostik“). Das NIMH ist die weltweit größte und tonangebende psychiatrische Forschungsinstitution, die der amerikanischen Regierung untersteht.

Unter diesen Bedingungen kann man nun wirklich nicht einfach sagen, die Abgeordnete sei krank, bedürfe der Schonung und dann zur Tagesordnung übergehen. Wenn die spärlichen Informationen zu diesem Fall zutreffen, so leidet sie unter einer mutmaßlichen Krankheit, deren “Symptome” in Wirklichkeit Anmutungserlebnisse von Ärzten und ihrem Umfeld sind. Ich habe nicht die allergeringste Ahnung, wie es der Abgeordneten geht und ich weiß auch nicht, wie sie selbst sich zu ihrer Situation stellt. All dies muss ich auch nicht wissen. Privatsachen gehen mich nichts an. Aber ich betone das Recht der Öffentlichkeit zu erfahren, warum sie als gewählte Abgeordnete ihre Aufgaben im Parlament zur Zeit nicht meistert. Die Auskunft, dass sie durch eine mutmaßliche Erkrankung daran gehindert würde, kann nicht wirklich befriedigen. Man stelle sich vor, man bliebe seiner Arbeit fern und teile dem Arbeitgeber mit, man habe vermutlich eine Krankheit, die kein Arzt mit zuverlässigen Methoden feststellen könne und bliebe dann ein halbes Jahr zu Hause. Was würde wohl geschehen?

Obwohl es keinerlei Hinweise auf Gehirnstörungen gibt, liegen doch zahllose Studien vor, die Korrelationen zwischen den als Symptom einer Krankheit gedeuteten Phänomenen und sozialen, psychischen, kulturellen und wirtschaftlichen Faktoren belegen. Warum also halten wir uns nicht an das Naheliegende? Wenn die Abgeordnete ihrem Arbeitsplatz fernbleibt, so wird dies Gründe haben, die man nicht mit der Leerformel “psychische Krankheit” vom Tisch fegen kann. Das Verhalten der Abgeordneten ist wie das jedes Menschen aus dem sozialen Kontext heraus zu verstehen. Die Wählerinnen und Wähler in Sachsen, ja, alle Staatsbürger haben ein Recht darauf, über diesen Kontext informiert zu werden, sofern er konkret das in Rede stehende Verhalten, nämlich das Fernbleiben von der parlamentarischen Arbeit, betrifft.

Und weiter:

@Lalaburg “… dann begibt sich der der Autor meines Erachtens zusätzlich auf argumentativ sehr, sehr dünnes Eis. Auch gegenüber den an psychischen Erkrankungen leidenden.”

Da ich hier persönlich angesprochen werde, erlaube ich mir einen weiteren, kurzen Kommentar. Auf dünnem Eis, auch gegenüber Betroffenen, bewegen sich jene, die von “psychischen Krankheiten” sprechen, weil sie nichts, nichts, nichts Handfestes in der Hand haben. Sie können die Diagnose nicht mit objektiven Verfahren erhärten, keine Biomarker, nur Meinungen, schiere Meinungen. Wenn man bedenkt, dass diese Diagnosen stigmatisieren, dann weiß man, wie dünn dieses Eis ist.

Es bleibt abzuwarten, ob und, wenn ja, wann und wie sich die angeschriebene Partei zu diesem offenen Brief äußern wird. In einem Kommentar schreibt die Deutsche Direkthilfe:

“BrunO gehört allerdings nicht zu den Verschwörungsmystikern, er macht sich halt nur Sorgen auf Grund verschiedener Erfahrungen und wollte helfen, die unsägliche Diskussion „Wo ist Julia Bonk“ im Netz zu beenden. Team deutsche Direkthilfe”

Dieser Diskussion, die allerdings tatsächlich teilweise unsägliche Formen angenommen hat, kann jedoch weder durch eine Stellungnahme der Eltern, der Abgeordneten oder ihrer Partei die Grundlage entzogen werden. Vielmehr hätte sich der Sächsische Landtag zu äußern. Psychiatrische Diagnosen erklären scheinbar viel, in Wirklichkeit aber nichts. Deswegen sollte der Sächsische Landtag in seiner Stellungnahme auf derartige Leerformeln verzichten. Es muss doch – verdammt noch einmal! – ohne Psychiater-Chinesisch möglich sein darzustellen, was Sache ist. Darauf hat der Bürger einen Anspruch. Was er über diesen Fall weiß, hat er überwiegend aus der Bildzeitung erfahren. Das ist wirklich nicht genug oder präziser: das ist viel zu viel (des Falschen).

Gegen die Erklärungen der Eltern habe ich nichts einzuwenden; ich halte sie für vorbildlich. Doch die Eltern können nur für ihre Tochter sprechen, nicht für die Abgeordnete. Das ist ein gravierender Unterschied. Da dieser Unterschied vielleicht nicht jedem auf Anhieb einleuchtet, seien mir hierzu einige Bemerkungen gestattet:

Alle Bürger eines marktwirtschaftlichen, bürgerlichen Staates sind, politisch und moralisch betrachtet, multiple Persönlichkeiten. Einerseits sind sie Bourgeois, die sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern und dabei ihren Egoismen freien Lauf lassen; andererseits sind sie Citoyen, die sich der Sache des Staates widmen müssen, um ihrer Aufgabe als Teil des Souveräns, des Volkes wahrnehmen zu können.

Wohlmeinende Menschen, die sich um das Geschick Julia Bonks sorgen, bedeuten nun oftmals anderen wohlmeinenden Menschen, die dies nicht minder tun, sie möchten die Frau doch in Ruhe lassen und ihr Zeit geben, wieder zu sich selbst zu kommen. Mitunter wird hinzugefügt, sie sei krank und bedürfe der Schonung – und ihre Krankheit sei ihre Privatangelegenheit.

Dies verfehlt jedoch den Kern der Sache. Die Abgeordnete des Sächsischen Landtags, die unter keineswegs geklärten Umständen verschwand und nunmehr ihren Pflichten in diesem Parlament nicht obliegt, ist eine mündige Bürgerin unseres Staates. Als eine solche ist sie zugleich Bourgeois und Citoyen, wie wir alle. (Ich verstehe hier den Begriff des Bourgeois nicht klassentheoretisch im marxistischen Sinn.)

Ihre Privatsphäre ist selbstverständlich sakrosankt. In dieser Hinsicht dürften sich die wohlmeinenden Menschen der einen und der anderen Art wohl einig sein. Doch in der bürgerlichen Gesellschaft sind die Bourgeois-Seele und die Citoyen-Seele nicht zu einer harmonischen Einheit verschmolzen, sondern sie stehen in einem spannungsreichen und widersprüchlichen Verhältnis zueinander.

Wer auch immer nunmehr die Abgeordnete vor der Neugier mehr oder weniger wohlmeinender Zeitgenossen abschirmt – er ist dazu politisch und moralisch allenfalls in Bezug auf die bourgeoise Seite legitimiert. Nach wie vor, ja, eindeutiger als je zuvor, ist das Interesse des Volkes am Citoyen Julia Bonk nicht nur politisch gerechtfertigt, sondern auch moralisch geboten.

Denn in einer Demokratie vertreten die Abgeordneten uns, das Volk. Sie sind Volksvertreter. Aus diesem Grund müssen wir uns darum kümmern, dass sich niemand an unseren Volksvertretern vergreift. Es muss als, und mit jedem Tag, der verstreicht, umso dringlicher, geklärt werden, was mit dem Citoyen Julia Bonk geschehen ist. Daher müssen die Mainstream-Medien, denen in einer modernen Demokratie eine entscheidende Rolle zufällt, wieder ihrer Pflicht zur Berichterstattung in diesem Fall nachkommen.

The post Julia Bonk: Offener Brief an die Partei “Die Linke” in Dresden appeared first on Pflasterritzenflora.

Psychiatrische Diagnostik: Brett vorm Kopf

$
0
0
Brett vorm Kopf

Bildquelle: Robert Babiak  / pixelio.de

Wer von seinem Psychiater eine Diagnose erhält, hat im Prinzip zwei Möglichkeiten: Er glaubt daran oder ein glaubt nicht daran. Schauen wir uns zunächst die Gründe an, die dafür sprechen, daran zu glauben:

  • Die Diagnose stammt von einem ausgebildeten Facharzt.
  • Der Mediziner hat Erfahrung in seinem Beruf.
  • Das angebliche Krankheitsbild ist aus Funk und Fernsehen bekannt, natürlich auch aus der Presse und im Internet finden sich Websites, die sich damit beschäftigen.
  • Ärzten muss man vertrauen, schließlich geht es um die eigene Gesundheit, und man selbst kann ja gar nicht beurteilen, was einem fehlt.

Wenden wir uns nun den Gründen zu, die dagegen sprechen, die Diagnose für bare Münzen zu nehmen (1, 2):

  • Die Kriterien psychiatrischer Diagnosen sind mehrdeutig. Was zum Beispiel ist eine exzessive, eine irrationale Angst, die der Betroffene als schwer zu kontrollieren empfindet?
  • Die Kriterien sind redundant. Es werden Kriterien als unterschiedliche Merkmale aufgeführt, obwohl sie sich zu einem zusammenfassen lassen.
  • Die Diagnostik ignoriert den sozialen Kontext menschlichen Verhaltens weitgehend, da sie voraussetzt, dass “pathologische” Verhalten würde durch eine Hirnstörung hervorgerufen.
  • Der Schwellenwert, wie viele potenzielle Merkmale eines Verhaltensmusters vorhanden sein müssen, damit es als “krankhaft” gilt, ist willkürlich gesetzt.
  • Es werden unterschiedliche Verhaltensmuster zu einem “Krankheitsbild” zusammengefasst. Unter Umständen haben zwei Personen eine “Krankheit”, obwohl sie keines der relevanten Merkmale gemeinsam haben.
  • Nicht selten leiden Menschen angeblich gleichzeitig an mehreren psychischen Krankheiten oder sie weisen Merkmale von diversen “Krankheitsbildern” auf, ohne die Voraussetzungen für eines davon voll zu erfüllen.
  • Die Diagnosen sind kategorial (man hat etwas oder nicht), obwohl die zugrunde liegenden Zustände dimensional sind (mehr oder weniger stark ausgeprägt).
  • Die “Krankheitsbilder” sind rein beschreibend; sie lassen sich nicht aus bekannten Ursachen herleiten. Ein Mensch hat Krankheit Y, weil er die Symptome a, b und c aufweist. Und Y ist definiert durch die Symptome a, b und c. Herr P ist schizophren, weil er Stimmen hört und unter Wahnideen leidet und Schizophrenie ist eine Krankheit, bei der Menschen Stimmen hören und unter Wahnideen leiden (ich verkürze die Kriterien hier aus Gründen der Übersichtlichkeit). Solche Definition sind zirkulär, haben mit Wissenschaft demgemäß nichts zu tun.
  • Kein Wunder also, dass psychiatrische Diagnosen nicht reliabel sind. Häufig sind sich zwei Psychiater nicht einig, ob ein und dieselbe Person psychisch krank ist und wenn ja, worunter sie leidet. Kein Wunder auch, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide sind. Bisher ist es der Psychiatrie noch nicht gelungen, die gestörten Hirnprozesse nachzuweisen, die angeblich für diese Krankheitsbilder verantwortlich sein sollen. Sie kennt keine Biomarker oder sonstige objektiv feststellbare Messgrößen, mit denen sie die Diagnose einer “psychischen Krankheit” erhärten könnte. Kein Wunder schlussendlich, dass die Unterscheidung zwischen “psychisch Gesunden” und “psychisch Kranken” nicht durch empirische Daten untermauert werden kann. Sie ist also beliebig.

Die Schlussfolgerung aus dem Gesagten: Wenn man auf Autoritäten vertraut, sollte man an psychiatrische Diagnosen glauben. Wenn man sich stattdessen lieber von den Befunden seriöser empirischer Forschung leiten lassen möchte, dann gibt es keinen erkennbaren wissenschaftlichen Grund dafür, psychiatrische Diagnosen zu akzeptieren. Sie beruhen ausschließlich auf dem Anmutungserleben, auf dem subjektiven Eindruck des diagnostizierenden Arztes.

Man möge sich vor Augen halten, dass die mangelnde Validität psychiatrischer Diagnosen keineswegs nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein eminent praktisches Problem ist. Unzulänglich oder gar nicht valide diagnostische Verfahren produzieren nämlich in großer Zahl falsch positive und falsch negative Einstufungen. Und dies ist zwangsläufig. Es ergibt sich aus dem mathematischen Zusammenhang zwischen Validität und Trefferquote (3).

Selbst wenn es also “psychische Krankheiten” geben sollte, so wäre es angesichts der Validitätsmängel psychiatrischer Diagnostik unvermeidlich, dass Tag für Tag in großer Zahl Menschen behandelt werden, die nicht krank sind und andere aufgrund einer Fehldiagnose nicht behandelt werden, obwohl sie einer Behandlung bedürften (gesetzt den Fall, es gäbe ihre Krankheit).

Warum also vertrauen viele, viel zu viele Menschen ihren Ärzten blind und akzeptieren eine psychiatrische Diagnose? Die Tatsache, dass der Arzt in aller Regel innerhalb kürzester Zeit zu einer solchen Diagnose gelangt, ohne auf Laborbefunde oder andere objektive Maße zurückzugreifen, sollte einen doch schon stutzig machen. Falls Untersuchungen mit modernem medizinischen Gerät oder beispielsweise Blutabnahmen vorgenommen werden, dann dienen sie nur der Ausschlussdiagnose; man möchte feststellen, ob der Patient in Wirklichkeit an einer körperlichen Erkrankung mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben leidet.

Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel schreibt über das amerikanische Diagnosehandbuch DSM (4):

“Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen.”

Haben also die vielen, viel zu vielen Menschen, die an psychiatrische Diagnosen glauben, ein Brett vorm Kopf? Sie sind gar geistig minderbemittelt?

Vermutlich nicht. Die so genannten psychisch Kranken sind ja Menschen wie du und ich; sie ticken nicht anders als andere Leute; und daher unterliegt ihr Denken denselben Fehlerquellen wie das der angeblich Normalen und “Gesunden”:

  • Menschen mit erheblichen Lebensproblemen stehen unter Stress und Stress kann die Kritikfähigkeit einschränken, ja, sogar ausschalten.
  • Wir alle unterliegen ohnehin den Einflüssen der psychiatrisch-pharmawirtschaftlichen Marketing- und Propaganda-Maschinerie.
  • Wir alle neigen dazu, nach Erklärungen für rätselhafte Phänomene zu suchen und sind bereit, sie zu akzeptieren, sobald sie plausibel erscheinen, auch wenn sie nicht bewiesen sind.
  • Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unterliegen die Gesellschaften in modernen Industriestaaten einer zunehmenden Medikalisierung; immer weitere Bereiche des menschlichen Verhaltens und Erlebens werden pathologisiert und zu behandlungsbedürftigen “Krankheiten” erklärt.
  • Daher sind wir von klein auf mit dem Gedanken vertraut, dass es “psychische Krankheiten” gäbe und dass jeder von ihnen betroffen sein könnte.
  • Menschen, die unter erheblichem Stress stehen, tendieren dazu, sich väterlich gebenden Autoritäten unterzuordnen.
  • Menschen wählen in der Regel unter den zu Gebote stehenden Verhaltensalternativen jene aus, die ihnen als die beste erscheint. Unter den gegebenen Bedingungen kann es subjektiv und evtl. auch objektiv in der Tat die beste Lösung sein, in Krisensituationen die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen.
  • Menschen in akuten Lebenskrisen und erst recht Menschen mit chronischen Lebensproblemen neigen dazu, Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln und sich nur noch wenig zuzutrauen; sie sind dann eventuell dankbar, wenn ein Arzt die Verantwortung für sie übernimmt.

Wie bei allen meinen Listen kann ich auch für diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Meines Erachtens wird aber auch aus dieser rudimentären Aufzählung deutlich, dass es keineswegs ein Zeichen angeborener Dummheit ist, auf den psychiatrischen Köhlerglauben hereinzufallen.

Die Psychiatrie beruht auf einer Ideologie, die von interessierten Kreisen in Wirtschaft und Politik massiv propagiert wird. Die so genannten psychischen Krankheiten sind Bestandteile von etablierten Mechanismen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme; die “Problemfälle” handeln sich Schwierigkeiten ein, wenn sie sich diesen Mechanismen verweigern. Im schlimmsten Fall muss man mit Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung rechnen, wenn man sich nicht “krankheitseinsichtig” zeigt und brav seine Pillen schluckt.

Wir haben dem psychiatrischen System eine gewaltige Macht über unser Leben eingeräumt. Die Grundlage dieser Macht ist die Definitionsmacht. Wir gestatten es der Psychiatrie zu entscheiden, ob unser Verhalten als “gesund” oder “krank” eingestuft werden soll. Die Psychiatrie trifft diese Entscheidungen nach Kriterien, die in diagnostischen Handbüchern, zum Beispiel des DSM oder dem psychiatrischen Teil der ICD, aufgeführt sind.

Der Inhalt dieser Manuale wird in Psychiatergremien festgelegt, die sich demokratischer Kontrolle entziehen. Mehrheiten von Experten entscheiden, ob ein “Krankheitsbild” in die Handbücher aufgenommen wird und durch welche Merkmale es sich auszeichnet. Der Bürger hat dabei nichts zu melden. Er darf sich nur klassifizieren lassen und muss sich dann “krankheitseinsichtig” zeigen, wenn nicht, dann droht ihm psychiatrischer Zwang.

Wir sind das Volk. Wir sind Bürger, sind Wähler. Wir dürfen auf Stimmzetteln Kreuze machen. Wir dürfen uns an Parteien wenden mit der Forderung, die Macht der Psychiatrie zu beschneiden. Die Macht der Psychiatrie ist keineswegs eine Erfindung von Scientology oder anderer obskurer Psycho-Kulte. Die Macht der Psychiatrie ist real und sie kulminiert im psychiatrisch-juristischen Komplex. Er hat die Hebel, um auf Basis unwissenschaftlicher, willkürlicher Diagnosen tief in das Leben der Gesellschaft einzugreifen. Brett vorm Kopf? Vielleicht ja doch…

Anmerkungen

(1) Diese Liste habe ich in Anlehnung an eine umfassende Analyse von  Stuart A. Kirk, Tomi Gomory und David Cohen entwickelt: Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction.

(2) Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Diagnostik ist ein häufiges Thema der Pflasterritzenflora, beispielsweise hier:

Die psychiatrische Diagnostik
Noch einmal Diagnostik: der Blei-Standard
Psychiatrie, Diagnostik, Fehlerquellen

(3) Taylor, H. C. & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 565–578

(4) Dies gilt uneingeschränkt auch für den psychiatrischen Teil der in Deutschland gebräuchlichen ICD.

The post Psychiatrische Diagnostik: Brett vorm Kopf appeared first on Pflasterritzenflora.

Statt Psychiatrie: eine Utopie

$
0
0

Mitunter werde ich gefragt, und dies wohl nicht selten in der Hoffnung, ich möge eine Antwort schuldig bleiben, wie denn die Hilfe für Betroffene nach Abschaffung der Psychiatrie aussehen könne.

Darauf könnte ich antworten, dass ich erstens gar nicht wisse, wer mit “Betroffene” gemeint sei und dass ich zweitens die Psychiatrie auch nicht abschaffen wolle, sondern nur den psychiatrischen Zwang. Aber ich will mich nicht mit solchen Ausflüchten aus der Verantwortung stehlen, die man sich mit fundamentaler Psychiatriekritik nun einmal einhandelt.

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Psychiatrie und die Pharmaindustrie den einschlägigen Markt dominieren und (meist auch erfolgreich) Alternativen bekämpfen, es sei denn, sie integrierten sich in das System und unterstellten sich psychiatrischer Oberhoheit. Dennoch setzen sich mitunter Alternativen durch, arbeiten hervorragend, können sich in der Regel aber, wer weiß warum?, nicht lange halten. Gut: Entwerfen wir also eine Utopie. Was wäre, wenn eine gute Fee uns von der gegenwärtigen Psychiatrie befreit hätte?

  • In den Medien würden die Menschen nicht mehr dazu gedrängt, bei den allerkleinsten Anklängen eines Anflugs einer “psychischen Störung” den Arzt aufzusuchen, um sich Pillen oder Psychotherapien verordnen zu lassen. Im Gegenteil: Menschen in Lebenskrisen würden ermutigt, sich selbst zu helfen. Dies schließt die Nutzung alter Hausmittel, die Lektüre von Philosophen oder von Ratgeber-Literatur, Gespräche mit Freunden und Verwandten sowie gegebenenfalls auch den vorübergehenden Konsum von Drogen (aller Art, einschließlich “Psychopharmaka”) ein, die in reiner Form in Apotheken erhältlich wären.
  • Der Staat würde Selbsthilfegruppen eine großzügige Förderung gewähren, was ihm umso leichter fiele, die ja die Kosten für die sündhaft teure Psychiatrie wegfielen. Bereits in der Schule würden die Kinder ermutigt, sich bei Problemen zusammenzuschließen und gemeinsam aus eigener Kraft nach einer Lösung zu streben. Menschen, die selbst eine Lebenskrise überwunden haben, würden Organisationen bilden, die andere beim Aufbau und bei der Aufrechterhaltung von Selbsthilfegruppen beraten.
  • Vielfältige Hilfen würden von Einrichtungen mit semiprofessionellen Mitarbeitern bereitgestellt. Bei diesen Mitarbeitern würde es sich um Menschen mit Lebenserfahrung und Charisma handeln, die sich für eine solche Arbeit interessieren und die keineswegs irgendein einschlägiges Fach studiert haben müssten. Sie würden beispielsweise Beratungsstellen betreiben oder Häuser, in denen man eine Zeit lang wohnen und zur Ruhe kommen kann.
  • Es gäbe Deeskalationsteams, bestehend aus Sozialarbeitern, die auf Wunsch von Betroffenen unbürokratisch vermittelnd vor Ort eingreifen könnten, wenn sich Konflikte innerhalb der Familie, in Nachbarschaften, am Arbeitsplatz zuspitzen.
  • Sozialpädagogen würden Bildungsangebote unterbreiten, um Betroffenen und allgemein Interessierten das vorhandene psychologische und soziologische Wissen über Ursachen und Formen der Überwindung von Lebenskrisen zu vermitteln.
  • Nach wie vor würden auch spezialisierte Ärzte gebraucht. Sie hätten zu überprüfen, ob in dem einen oder anderen Fall die Lebenskrise teilweise auf einer körperlichen, beispielsweise neurologischen Störung beruht, die sich auf das Verhalten und Erleben auswirkt. Diese wäre dann entsprechend, also nicht psychiatrisch, zu behandeln.
  • In der Gesellschaft insgesamt hätte sich eine Geisteshaltung entwickelt, die Abweichungen von Normen und Erwartungen als Spielart der Normalität betrachtet. Man würde solche Abweichungen weder verharmlosen, noch überbewerten, sondern man hätte gelernt, differenziert und mit abgestuften Mitteln darauf zu reagieren. Zwang wäre geächtet und würde allenfalls in Notfällen vorübergehend als legitim erachtet.
  • Dieses System, das an die Stelle der alten Psychiatrie getreten wäre, würde sich natürlich als erheblich kosteneffizienter erweisen. Das gesparte Geld würde aber nicht für Panzer ausgegeben oder für eine saftige Diätenerhöhung, sondern für Maßnahmen zur Prävention. Hier wäre an verbesserte Freizeitangebote für Jugendliche zu denken, an kulturelle Angebote im Stadtteil (Sozio-Kultur), an Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens und an vieles mehr.
  • Jeder Bürger erhielte ein bedingungsloses Grundeinkommen, dass groß genug wäre, um die allgemeinen Lebenskosten auf bescheidenem Niveau zu bestreiten und um am sozialen sowie kulturellen Leben teilnehmen zu können. Wer bereit wäre und die Gelegenheit dazu fände, eine Arbeit zu übernehmen, erhielte natürlich eine zusätzliche Vergütung, die nicht nur dem Aufwand entspräche, sondern einen kräftigen Anreiz böte, sich nicht mit dem Grundeinkommen zufrieden zu geben. Niemand aber wäre gezwungen, sich in eine Arbeit zu schleppen, der er sich (momentan) nicht gewachsen fühlt.

Wie bei allen meinen Listen erhebe ich auch bei dieser keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie hat ohnehin keine Chance auf Realisierung, weil sie natürlich und zwangsläufig zum Arbeitsplatzabbau in der Psychiatrie, in der Pharmaindustrie, in den Nebengewerben des psychiatrisch-pharmaindustriellen Komplexes und selbstverständlich auch in Justiz und Strafvollzug führen müsste. Dennoch habe ich sie hier vorgetragen, damit in Zukunft niemand mehr behaupten kann, ich hätte mir keine Gedanken darüber gemacht, was nach der Psychiatrie kommen soll.

PS: Manche werden nun behaupten, all dies sei ja schön und gut, aber erstens gäbe es das bereits und zweitens ließe es sich nicht verwirklichen. Ja, ja: Ist schon gut!

The post Statt Psychiatrie: eine Utopie appeared first on Pflasterritzenflora.

Viewing all 323 articles
Browse latest View live