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Psychiatrische Diagnostik: Brett vorm Kopf

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Brett vorm Kopf

Bildquelle: Robert Babiak  / pixelio.de

Wer von seinem Psychiater eine Diagnose erhält, hat im Prinzip zwei Möglichkeiten: Er glaubt daran oder ein glaubt nicht daran. Schauen wir uns zunächst die Gründe an, die dafür sprechen, daran zu glauben:

  • Die Diagnose stammt von einem ausgebildeten Facharzt.
  • Der Mediziner hat Erfahrung in seinem Beruf.
  • Das angebliche Krankheitsbild ist aus Funk und Fernsehen bekannt, natürlich auch aus der Presse und im Internet finden sich Websites, die sich damit beschäftigen.
  • Ärzten muss man vertrauen, schließlich geht es um die eigene Gesundheit, und man selbst kann ja gar nicht beurteilen, was einem fehlt.

Wenden wir uns nun den Gründen zu, die dagegen sprechen, die Diagnose für bare Münzen zu nehmen (1, 2):

  • Die Kriterien psychiatrischer Diagnosen sind mehrdeutig. Was zum Beispiel ist eine exzessive, eine irrationale Angst, die der Betroffene als schwer zu kontrollieren empfindet?
  • Die Kriterien sind redundant. Es werden Kriterien als unterschiedliche Merkmale aufgeführt, obwohl sie sich zu einem zusammenfassen lassen.
  • Die Diagnostik ignoriert den sozialen Kontext menschlichen Verhaltens weitgehend, da sie voraussetzt, dass “pathologische” Verhalten würde durch eine Hirnstörung hervorgerufen.
  • Der Schwellenwert, wie viele potenzielle Merkmale eines Verhaltensmusters vorhanden sein müssen, damit es als “krankhaft” gilt, ist willkürlich gesetzt.
  • Es werden unterschiedliche Verhaltensmuster zu einem “Krankheitsbild” zusammengefasst. Unter Umständen haben zwei Personen eine “Krankheit”, obwohl sie keines der relevanten Merkmale gemeinsam haben.
  • Nicht selten leiden Menschen angeblich gleichzeitig an mehreren psychischen Krankheiten oder sie weisen Merkmale von diversen “Krankheitsbildern” auf, ohne die Voraussetzungen für eines davon voll zu erfüllen.
  • Die Diagnosen sind kategorial (man hat etwas oder nicht), obwohl die zugrunde liegenden Zustände dimensional sind (mehr oder weniger stark ausgeprägt).
  • Die “Krankheitsbilder” sind rein beschreibend; sie lassen sich nicht aus bekannten Ursachen herleiten. Ein Mensch hat Krankheit Y, weil er die Symptome a, b und c aufweist. Und Y ist definiert durch die Symptome a, b und c. Herr P ist schizophren, weil er Stimmen hört und unter Wahnideen leidet und Schizophrenie ist eine Krankheit, bei der Menschen Stimmen hören und unter Wahnideen leiden (ich verkürze die Kriterien hier aus Gründen der Übersichtlichkeit). Solche Definition sind zirkulär, haben mit Wissenschaft demgemäß nichts zu tun.
  • Kein Wunder also, dass psychiatrische Diagnosen nicht reliabel sind. Häufig sind sich zwei Psychiater nicht einig, ob ein und dieselbe Person psychisch krank ist und wenn ja, worunter sie leidet. Kein Wunder auch, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide sind. Bisher ist es der Psychiatrie noch nicht gelungen, die gestörten Hirnprozesse nachzuweisen, die angeblich für diese Krankheitsbilder verantwortlich sein sollen. Sie kennt keine Biomarker oder sonstige objektiv feststellbare Messgrößen, mit denen sie die Diagnose einer “psychischen Krankheit” erhärten könnte. Kein Wunder schlussendlich, dass die Unterscheidung zwischen “psychisch Gesunden” und “psychisch Kranken” nicht durch empirische Daten untermauert werden kann. Sie ist also beliebig.

Die Schlussfolgerung aus dem Gesagten: Wenn man auf Autoritäten vertraut, sollte man an psychiatrische Diagnosen glauben. Wenn man sich stattdessen lieber von den Befunden seriöser empirischer Forschung leiten lassen möchte, dann gibt es keinen erkennbaren wissenschaftlichen Grund dafür, psychiatrische Diagnosen zu akzeptieren. Sie beruhen ausschließlich auf dem Anmutungserleben, auf dem subjektiven Eindruck des diagnostizierenden Arztes.

Man möge sich vor Augen halten, dass die mangelnde Validität psychiatrischer Diagnosen keineswegs nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein eminent praktisches Problem ist. Unzulänglich oder gar nicht valide diagnostische Verfahren produzieren nämlich in großer Zahl falsch positive und falsch negative Einstufungen. Und dies ist zwangsläufig. Es ergibt sich aus dem mathematischen Zusammenhang zwischen Validität und Trefferquote (3).

Selbst wenn es also “psychische Krankheiten” geben sollte, so wäre es angesichts der Validitätsmängel psychiatrischer Diagnostik unvermeidlich, dass Tag für Tag in großer Zahl Menschen behandelt werden, die nicht krank sind und andere aufgrund einer Fehldiagnose nicht behandelt werden, obwohl sie einer Behandlung bedürften (gesetzt den Fall, es gäbe ihre Krankheit).

Warum also vertrauen viele, viel zu viele Menschen ihren Ärzten blind und akzeptieren eine psychiatrische Diagnose? Die Tatsache, dass der Arzt in aller Regel innerhalb kürzester Zeit zu einer solchen Diagnose gelangt, ohne auf Laborbefunde oder andere objektive Maße zurückzugreifen, sollte einen doch schon stutzig machen. Falls Untersuchungen mit modernem medizinischen Gerät oder beispielsweise Blutabnahmen vorgenommen werden, dann dienen sie nur der Ausschlussdiagnose; man möchte feststellen, ob der Patient in Wirklichkeit an einer körperlichen Erkrankung mit Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben leidet.

Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel schreibt über das amerikanische Diagnosehandbuch DSM (4):

“Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen.”

Haben also die vielen, viel zu vielen Menschen, die an psychiatrische Diagnosen glauben, ein Brett vorm Kopf? Sie sind gar geistig minderbemittelt?

Vermutlich nicht. Die so genannten psychisch Kranken sind ja Menschen wie du und ich; sie ticken nicht anders als andere Leute; und daher unterliegt ihr Denken denselben Fehlerquellen wie das der angeblich Normalen und “Gesunden”:

  • Menschen mit erheblichen Lebensproblemen stehen unter Stress und Stress kann die Kritikfähigkeit einschränken, ja, sogar ausschalten.
  • Wir alle unterliegen ohnehin den Einflüssen der psychiatrisch-pharmawirtschaftlichen Marketing- und Propaganda-Maschinerie.
  • Wir alle neigen dazu, nach Erklärungen für rätselhafte Phänomene zu suchen und sind bereit, sie zu akzeptieren, sobald sie plausibel erscheinen, auch wenn sie nicht bewiesen sind.
  • Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unterliegen die Gesellschaften in modernen Industriestaaten einer zunehmenden Medikalisierung; immer weitere Bereiche des menschlichen Verhaltens und Erlebens werden pathologisiert und zu behandlungsbedürftigen “Krankheiten” erklärt.
  • Daher sind wir von klein auf mit dem Gedanken vertraut, dass es “psychische Krankheiten” gäbe und dass jeder von ihnen betroffen sein könnte.
  • Menschen, die unter erheblichem Stress stehen, tendieren dazu, sich väterlich gebenden Autoritäten unterzuordnen.
  • Menschen wählen in der Regel unter den zu Gebote stehenden Verhaltensalternativen jene aus, die ihnen als die beste erscheint. Unter den gegebenen Bedingungen kann es subjektiv und evtl. auch objektiv in der Tat die beste Lösung sein, in Krisensituationen die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen.
  • Menschen in akuten Lebenskrisen und erst recht Menschen mit chronischen Lebensproblemen neigen dazu, Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln und sich nur noch wenig zuzutrauen; sie sind dann eventuell dankbar, wenn ein Arzt die Verantwortung für sie übernimmt.

Wie bei allen meinen Listen kann ich auch für diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Meines Erachtens wird aber auch aus dieser rudimentären Aufzählung deutlich, dass es keineswegs ein Zeichen angeborener Dummheit ist, auf den psychiatrischen Köhlerglauben hereinzufallen.

Die Psychiatrie beruht auf einer Ideologie, die von interessierten Kreisen in Wirtschaft und Politik massiv propagiert wird. Die so genannten psychischen Krankheiten sind Bestandteile von etablierten Mechanismen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme; die “Problemfälle” handeln sich Schwierigkeiten ein, wenn sie sich diesen Mechanismen verweigern. Im schlimmsten Fall muss man mit Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung rechnen, wenn man sich nicht “krankheitseinsichtig” zeigt und brav seine Pillen schluckt.

Wir haben dem psychiatrischen System eine gewaltige Macht über unser Leben eingeräumt. Die Grundlage dieser Macht ist die Definitionsmacht. Wir gestatten es der Psychiatrie zu entscheiden, ob unser Verhalten als “gesund” oder “krank” eingestuft werden soll. Die Psychiatrie trifft diese Entscheidungen nach Kriterien, die in diagnostischen Handbüchern, zum Beispiel des DSM oder dem psychiatrischen Teil der ICD, aufgeführt sind.

Der Inhalt dieser Manuale wird in Psychiatergremien festgelegt, die sich demokratischer Kontrolle entziehen. Mehrheiten von Experten entscheiden, ob ein “Krankheitsbild” in die Handbücher aufgenommen wird und durch welche Merkmale es sich auszeichnet. Der Bürger hat dabei nichts zu melden. Er darf sich nur klassifizieren lassen und muss sich dann “krankheitseinsichtig” zeigen, wenn nicht, dann droht ihm psychiatrischer Zwang.

Wir sind das Volk. Wir sind Bürger, sind Wähler. Wir dürfen auf Stimmzetteln Kreuze machen. Wir dürfen uns an Parteien wenden mit der Forderung, die Macht der Psychiatrie zu beschneiden. Die Macht der Psychiatrie ist keineswegs eine Erfindung von Scientology oder anderer obskurer Psycho-Kulte. Die Macht der Psychiatrie ist real und sie kulminiert im psychiatrisch-juristischen Komplex. Er hat die Hebel, um auf Basis unwissenschaftlicher, willkürlicher Diagnosen tief in das Leben der Gesellschaft einzugreifen. Brett vorm Kopf? Vielleicht ja doch…

Anmerkungen

(1) Diese Liste habe ich in Anlehnung an eine umfassende Analyse von  Stuart A. Kirk, Tomi Gomory und David Cohen entwickelt: Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction.

(2) Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der psychiatrischen Diagnostik ist ein häufiges Thema der Pflasterritzenflora, beispielsweise hier:

Die psychiatrische Diagnostik
Noch einmal Diagnostik: der Blei-Standard
Psychiatrie, Diagnostik, Fehlerquellen

(3) Taylor, H. C. & Russell, J. T. (1939). The relationship of validity coefficients to the practical effectiveness of tests in selection: Discussion and tables. In: Journal of Applied Psychology, 23, 565–578

(4) Dies gilt uneingeschränkt auch für den psychiatrischen Teil der in Deutschland gebräuchlichen ICD.

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