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Channel: Lexikon der Psychiatriekritik »» Hans Ulrich Gresch
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Statt Psychiatrie: eine Utopie

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Mitunter werde ich gefragt, und dies wohl nicht selten in der Hoffnung, ich möge eine Antwort schuldig bleiben, wie denn die Hilfe für Betroffene nach Abschaffung der Psychiatrie aussehen könne.

Darauf könnte ich antworten, dass ich erstens gar nicht wisse, wer mit “Betroffene” gemeint sei und dass ich zweitens die Psychiatrie auch nicht abschaffen wolle, sondern nur den psychiatrischen Zwang. Aber ich will mich nicht mit solchen Ausflüchten aus der Verantwortung stehlen, die man sich mit fundamentaler Psychiatriekritik nun einmal einhandelt.

Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Psychiatrie und die Pharmaindustrie den einschlägigen Markt dominieren und (meist auch erfolgreich) Alternativen bekämpfen, es sei denn, sie integrierten sich in das System und unterstellten sich psychiatrischer Oberhoheit. Dennoch setzen sich mitunter Alternativen durch, arbeiten hervorragend, können sich in der Regel aber, wer weiß warum?, nicht lange halten. Gut: Entwerfen wir also eine Utopie. Was wäre, wenn eine gute Fee uns von der gegenwärtigen Psychiatrie befreit hätte?

  • In den Medien würden die Menschen nicht mehr dazu gedrängt, bei den allerkleinsten Anklängen eines Anflugs einer “psychischen Störung” den Arzt aufzusuchen, um sich Pillen oder Psychotherapien verordnen zu lassen. Im Gegenteil: Menschen in Lebenskrisen würden ermutigt, sich selbst zu helfen. Dies schließt die Nutzung alter Hausmittel, die Lektüre von Philosophen oder von Ratgeber-Literatur, Gespräche mit Freunden und Verwandten sowie gegebenenfalls auch den vorübergehenden Konsum von Drogen (aller Art, einschließlich “Psychopharmaka”) ein, die in reiner Form in Apotheken erhältlich wären.
  • Der Staat würde Selbsthilfegruppen eine großzügige Förderung gewähren, was ihm umso leichter fiele, die ja die Kosten für die sündhaft teure Psychiatrie wegfielen. Bereits in der Schule würden die Kinder ermutigt, sich bei Problemen zusammenzuschließen und gemeinsam aus eigener Kraft nach einer Lösung zu streben. Menschen, die selbst eine Lebenskrise überwunden haben, würden Organisationen bilden, die andere beim Aufbau und bei der Aufrechterhaltung von Selbsthilfegruppen beraten.
  • Vielfältige Hilfen würden von Einrichtungen mit semiprofessionellen Mitarbeitern bereitgestellt. Bei diesen Mitarbeitern würde es sich um Menschen mit Lebenserfahrung und Charisma handeln, die sich für eine solche Arbeit interessieren und die keineswegs irgendein einschlägiges Fach studiert haben müssten. Sie würden beispielsweise Beratungsstellen betreiben oder Häuser, in denen man eine Zeit lang wohnen und zur Ruhe kommen kann.
  • Es gäbe Deeskalationsteams, bestehend aus Sozialarbeitern, die auf Wunsch von Betroffenen unbürokratisch vermittelnd vor Ort eingreifen könnten, wenn sich Konflikte innerhalb der Familie, in Nachbarschaften, am Arbeitsplatz zuspitzen.
  • Sozialpädagogen würden Bildungsangebote unterbreiten, um Betroffenen und allgemein Interessierten das vorhandene psychologische und soziologische Wissen über Ursachen und Formen der Überwindung von Lebenskrisen zu vermitteln.
  • Nach wie vor würden auch spezialisierte Ärzte gebraucht. Sie hätten zu überprüfen, ob in dem einen oder anderen Fall die Lebenskrise teilweise auf einer körperlichen, beispielsweise neurologischen Störung beruht, die sich auf das Verhalten und Erleben auswirkt. Diese wäre dann entsprechend, also nicht psychiatrisch, zu behandeln.
  • In der Gesellschaft insgesamt hätte sich eine Geisteshaltung entwickelt, die Abweichungen von Normen und Erwartungen als Spielart der Normalität betrachtet. Man würde solche Abweichungen weder verharmlosen, noch überbewerten, sondern man hätte gelernt, differenziert und mit abgestuften Mitteln darauf zu reagieren. Zwang wäre geächtet und würde allenfalls in Notfällen vorübergehend als legitim erachtet.
  • Dieses System, das an die Stelle der alten Psychiatrie getreten wäre, würde sich natürlich als erheblich kosteneffizienter erweisen. Das gesparte Geld würde aber nicht für Panzer ausgegeben oder für eine saftige Diätenerhöhung, sondern für Maßnahmen zur Prävention. Hier wäre an verbesserte Freizeitangebote für Jugendliche zu denken, an kulturelle Angebote im Stadtteil (Sozio-Kultur), an Maßnahmen zur Humanisierung des Arbeitslebens und an vieles mehr.
  • Jeder Bürger erhielte ein bedingungsloses Grundeinkommen, dass groß genug wäre, um die allgemeinen Lebenskosten auf bescheidenem Niveau zu bestreiten und um am sozialen sowie kulturellen Leben teilnehmen zu können. Wer bereit wäre und die Gelegenheit dazu fände, eine Arbeit zu übernehmen, erhielte natürlich eine zusätzliche Vergütung, die nicht nur dem Aufwand entspräche, sondern einen kräftigen Anreiz böte, sich nicht mit dem Grundeinkommen zufrieden zu geben. Niemand aber wäre gezwungen, sich in eine Arbeit zu schleppen, der er sich (momentan) nicht gewachsen fühlt.

Wie bei allen meinen Listen erhebe ich auch bei dieser keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie hat ohnehin keine Chance auf Realisierung, weil sie natürlich und zwangsläufig zum Arbeitsplatzabbau in der Psychiatrie, in der Pharmaindustrie, in den Nebengewerben des psychiatrisch-pharmaindustriellen Komplexes und selbstverständlich auch in Justiz und Strafvollzug führen müsste. Dennoch habe ich sie hier vorgetragen, damit in Zukunft niemand mehr behaupten kann, ich hätte mir keine Gedanken darüber gemacht, was nach der Psychiatrie kommen soll.

PS: Manche werden nun behaupten, all dies sei ja schön und gut, aber erstens gäbe es das bereits und zweitens ließe es sich nicht verwirklichen. Ja, ja: Ist schon gut!

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