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Autoritäten

Dringender den je braucht die Psychiatrie Autoritäten. Und dies nicht nur wegen der Sentimentalität in den öffentlichen Debatten, die sich um den Fall Mollath ranken. Man kreidet der Psychiatrie auch an, dass sie in ihren Verhältnis zur Pharmaindustrie Dreck am Stecken habe. Doch der Reihe nach:

Wissenschaftlich hat die Psychiatrie wenig zu bieten. Die Diagnosen sind nicht valide. Es gibt keine Laborbefunde, keine Biomarker, nichts, was eine Übereinstimmung zwischen den Diagnosen und realen Krankheitsprozessen nachweisen würde. Die medikamentösen Therapien richten langfristig mehr Schaden an, als sie Nutzen stiften. Die Psychotherapien sind zwar effektiv, aber jede Methode ist gleich wirksam und es spielt keine Rolle, ob der “Therapeut” ein langjährig erfahrener, gut ausgebildeter Fachmann ist oder ein blutiger Laie. Die Elektroschocktherapie ist ebenfalls nicht wirksamer als eine Placebo-Behandlung. Daher kann auch niemand vorhersagen, bei wem welche “Therapie” am besten wirkt und mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Erfolg eintreten wird.

Diese Aussage scheint im Widerspruch zu dem Bild zu stehen, dass sich dem wohl informierten Leser deutscher Intelligenzblätter oder den Zuschauern des Edel-Fernsehens nach 23 Uhr bietet. Dort scheinen Psychiatrie und Neuro-Wissenschaften dauernd Triumphe zu feiern. Allerdings sollte man bedenken, dass die Befunde dieser Forschungen in aller Regel nicht zutreffen, weil die Studien nicht die Anforderungen für Untersuchungen erfüllen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit richtig als falsch sind. Wer dies nicht glauben mag, möge den Artikel von John Ioannidis lesen: “Why Most Published Research Findings Are False.”

Es ist daher auch kein Wunder, dass es meistens nicht gelingt, diese “bahnbrechenden” Resultate zu replizieren; doch davon berichten die Qualitätsmedien, wenn überhaupt, nur in einem Dreizeiler auf der allerletzten Seite des Feuilletons. Die Qualitätsmedien pflegen diese Praxis natürlich kostenlos, entweder aus purer Solidarität mit der Psychiatrie und Pharmaindustrie oder aus anderen, eher schleierhaften Gründen.

Wenn man sich die Meta-Studien und Review-Artikel anschaut, die methodisch auch nur halbwegs Bestand haben, so muss man durchgängig feststellen, dass die eingangs berichtete Situationsschilderung durchweg zutrifft. Gut dokumentiert ist der Stand der Dinge beispielsweise in Valensteins “Blaming the Brain”, in Dawes’ “House of Cards”, in Whitaker “Anatomy of an Epidemic” oder in Bentalls “Doctoring the Mind”.

Trotz der Schützenhilfe durch die Qualitätsmedien stehen die Marketingabteilungen von Psychiatrie und Pharmaindustrie jedoch zunehmend vor einem Legitimationsproblem. Erstens haben Pharma-Skandale den Glauben daran erschüttert, dass die psychiatrische Forschung sich unabhängig von äußeren Einflüssen und finanziellen Anreizen nur zum Wohle der Patienten entfaltet und zweitens ließen auch Fälle wie der des Gustl Mollath Zweifel daran aufkommen, dass in der Psychiatrie alles mit rechten Dingen zugeht.

Gefragter denn je sind also Autoritäten, die dem staunenden Publikum überzeugend vermitteln, dass die Psychiatrie im Großen und Ganzen, auch ohne Biomarker und zweifelsfreie wissenschaftliche Befunde und trotz gelegentlicher Missgriffe aufgrund fragwürdiger Einflüsse von außen, eine gute Arbeit macht. Gebraucht wird der Edelpsychiater, der dem Volk das Gefühl vermittelt, dass die zufriedenen Mienen dankbarer Patienten immer noch aussagekräftiger seien als miese Meta-Studien oder Berichte über Whistleblower, die zu unrecht in Psychiatrie einsitzen.

Solchen Autoritäten haben im Prinzip leichtes Spiel, denn das Bewusstsein der Massen wird wie selten zuvor durch Sentimentalität geprägt. “Sentimentalität”, schreibt Theodore Dalrymple in seinem Buch “Spoilt Rotten. The Toxic Cult of Sentimentality”, “ist der Ausdruck von Emotionen ohne Urteil.” Dalrymple analysiert diese Gemütsverfassung als vorherrschend in Großbritannien, aber sein Befund gilt gleichermaßen für Deutschland. Sentimentalität prägt nicht nur das private Erleben und Verhalten der Menschen, sondern sie ist das vorherrschende Kennzeichen unserer politischen Kultur geworden.

Solche Autoritäten müssen sich also öffentlich aus warmherzige Praktiker konfigurieren, die erfolgreich Patienten helfen; sie müssen Kritiker als Theoretiker diffamieren, die entweder naiv sind oder sich von zweifelhaften Interessen leiten lassen. Wenn es ihnen gelingt, handverlesene und handzahme Patienten in den Mittelpunkt zu rücken, die sich vollen Herzens als von der Psychiatrie gerettet empfinden, dann werden sie vergessen machen, dass die Psychiatrie, im Lichte der empirischen Forschung, vor einem Scherbenhaufen steht.

Im Zeitalter der Sentimentalität kommt es nämlich gar nicht darauf an, ob man tatsächlich gerettet wurde, sondern nur darauf, dass man sich als gerettet empfindet und sich öffentlich dazu bekennt. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob man nachweislich “psychisch krank” ist, sondern man ist “psychisch krank”, weil man unter einer psychischen Krankheit zu leiden vorgibt. Im Zeitalter der Sentimentalität kommt es auch nicht darauf an, ob man tatsächlich von der Psychiatrie geheilt wurde, sondern nur darauf, dass man seinem Psychiater dafür so dankbar ist und zu ihm aufblickt.

In welchem Ausmaß Sentimentalität auch die politische Ebene beherrscht, wird beispielsweise an der neueren Gesetzgebung zur Zwangsbehandlung deutlich. Eine rationale Analyse zeigt, dass Zwangsbehandlungen gegen die Behindertenrechtskonvention verstoßen und dass die Psychiatrie gar nicht in der Lage ist, die Gefährlichkeit eines Menschen für sich und andere auch nur halbwegs verlässlich vorherzusagen. Dennoch hält man an ihr unbeirrbar fest. Das Volk hält die Irren mehrheitlich fälschlicherweise für gefährlicher als andere Menschen, für unberechenbar, für verantwortungslose Reaktionsautomaten. Also passt sich die Gesetzgebung dieser sentimentalen Stimmung an – obwohl es in einer repräsentativen Demokratie gerade nicht die Aufgabe der Politik sein kann, solche Stimmungen bedingungslos 1 zu 1 umzusetzen. Ohne Minderheitenschutz wird eine Demokratie zur Diktatur einer Mehrheit.

Es wird dennoch immer Leute geben, die auf einem rationalen Urteil, auf einer systematischen Analyse bestehen. Doch im Zeitalter der Sentimentalität werden solche Leute als Störenfriede betrachtet. Die Autoritäten sind gut beraten, auf solche Leute gar nicht ein-, sondern achselzuckend oder leicht ironisch über sie hinwegzugehen. Denn heutzutage ist es nicht nur üblich, sentimental zu reagieren, es wird nicht nur toleriert, nein, es ist Pflicht. Wer nicht sentimental reagiert, macht sich verdächtig, eckt an, läuft Gefahr, dass man befremdet auf Distanz zu ihm geht.

Heute ist es nicht mehr unbedingt erforderlich, dass die Autoritäten saloppe Sakkos tragen und Pfeife rauchen. Sie dürfen sogar weiblich sein, vor allem, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Sie müssen sich aber als Beschützer ihrer Patienten gerieren, selbst wenn sie diese gegen ihren Willen behandeln. Hier ist dann zu betonen, dass die Behandlung wider Willen zu ihrem Besten geschehe und dass die Patienten hinterher dafür dankbar seien. Im Zeitalter der Sentimentalität ist ein Beweis mittels Studien für diese steile These nicht erforderlich. Der Beweis erfolgt durch Behauptung.

Dies gilt sogar dann, wenn sich die Autoritäten auf Studien beziehen. Diese dürfen nur allgemein angesprochen werden (“Studien belegen, dass…”), aber niemals identifizierbar zitiert werden. Das sentimentale Publikum würde dies als Aufforderung verstehen, sich selbst ein Urteil zu bilden, und wäre pikiert. Das wollen wir ja nun doch nicht riskieren.

Zur Zeit sind die psychiatrischen Autoritäten allerdings etwas gehandicapt, weil auch der Fall Mollath so gut ins sentimentale Weltbild passt. Die Gegenseite hat also ein gefundenes Fressen, und je länger Mollath einsitzt, desto nahrhafter wird es. Doch freilassen kann man ihn nicht, weil er sonst ein verhängnisvolles Vorbild für andere Patienten würde. Diese könnten sich, ermutigt durch den Erfolg, animiert fühlen, nicht nur ihre Diagnosen, sondern gleich die gesamte Psychiatrie in Frage zu stellen. Zum Glück konzentriert sich die Sentimentalität überwiegend auf die Justiz und die bayerische Politik. Es kommt für die Autoritäten also darauf an, sich als unschuldige Vollstrecker des Willens übergeordneter Gewalten darzustellen und unverbrüchlich daran festzuhalten, dass Mollath dennoch und trotz alledem zu seinem Besten einsitze und, den Umständen entsprechend, gut versorgt werde.

Wenn mir abschließend dieser Einwand erlaubt sein sollte, dann möchte ich allerdings doch darauf hinweisen, dass für die Patienten der Psychiatrie Sentimentalität das schiere Gift ist. Wenn nämlich die Wissenschaft zeigt, dass die Diagnosen nicht valide sind und die Therapie nicht viel hilft, dann sieht es in der Praxis nicht etwa anders und besser, sondern zumindest genauso und wahrscheinlich noch viel schlimmer aus.

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