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Mollath zu recht hinter Gittern?

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Zwei wichtige Kenngrößen zur Beurteilung der Qualität von Verfahren zur Vorhersage menschlichen Verhaltens sind “Sensitivity” und “Specificity”. “Sensitivity” ist die Rate der richtig als Merkmalsträger klassifizierten Personen. “Specificity” ist der Prozentsatz der richtig als Nicht-Merkmalsträger eingestuften Probanden.

Ein verhältnismäßig gutes Instrument zur Vorhersage gewalttätigen Verhaltens ist das der “Violence Risk Assessment Guide” (VRAG). Er hat eine “Sensitivity” von .73 und eine “Specificity” von .63. (Dabei handelt es sich um Durchschnittswerte einer größeren Zahl von Studien).

In der CATIE-Studie (Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness) wurde als Rate körperverletzender Gewalt bei den Studienteilnehmern  ein Wert von 3,6 Prozent ermittelt. Das ist die so genannte Base Rate. Wir haben nun alle drei Werte zusammen, um die “number needed to detain” berechnen zu können. Unter diesen, sehr realistischen Bedingungen muss man 15 Leute hinter psychiatrische Gitter bringen, um eine Gewalttat zu verhindern.

Es bringt bei niedrigen Base Rates im Übrigen nicht viel, die diagnostischen Verfahren zu verbessern. Im vorliegenden Fall würde beispielsweise eine Verbesserung der “Sensitivity” um 20 Prozent, unter sonst gleichen Bedingungen, die “number needed to detain” nur auf 13 verringern. Man müsste als 13 Leute wegschließen, um eine Gewalttat zu verhindern.

Dieses Beispiel stammt aus einem Aufsatz von Alec Buchanan (Risk of Violence by Psychiatric Patients: Beyond the “Actuarial Versus Clinical” Assessment Debate, Psychiatric Services 2008; doi: 10.1176/appi.ps.59.2.184).

Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass die im Fall Mollath eingesetzten Instrumente eine bessere “Sensitivity” und “Specificity” aufweisen als im obigen Beispiel. Aus dieser Sicht darf man also annehmen, dass er mit einer erheblichen größeren Wahrscheinlichkeit zu unrecht als zu recht hinter psychiatrischen Gittern einsitzt. Und nicht nur er.

Man mag nun einwenden, dass Gustl Mollath ein Spezialfall sei. Doch wenn man diese Auffassung vertritt, sollte man – da die menschliche Freiheit ein hohes Rechtsgut ist – diese Behauptung auch durch belastbare Daten erhärten können.

Es wird gesagt, Mollath ließe sich nicht behandeln, und daher sei er immer noch gefährlich. Dies allerdings setzt voraus, dass Behandlungen tatsächlich die Gefährlichkeit zu senken vermögen.

Da Mollath ja seine Frau verprügeln haben soll, werfen wir einen Blick in die entsprechende Forschungsliteratur. Eine Meta-Studie von Babcock und Mitarbeitern ergab, dass die heute üblichen Verfahren nur einen sehr geringen Einfluss auf die Rückfallwahrscheinlichkeit haben (Does batterers’ treatment work? A meta-analytic review of domestic violence treatment. Clinical Psychology Review 23 (2004) 1023 – 1053).

Selbst wenn Mollath also seine Frau verprügelt haben sollte, so stünde nicht zu erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls durch Teilnahme an einer Therapie gesenkt werden könnte. Warum also sitzt er ein? Er ist mit einer erheblich größeren Wahrscheinlichkeit nicht gewaltbereit als ein zukünftiger Gewalttäter und selbst wenn er ein potentieller Gewalttäter wäre, würde ihm eine Therapie nicht nennenswert helfen.

Es gilt hier im Besonderen, was auch im Allgemeinen zutrifft. Die Psychiatrie kann weder eine passable Diagnostik, noch eine brauchbare Therapie bieten. Dies ist im Übrigen nicht die private Einschätzung eines notorisch nörgelnden Psychologen, sondern dies ist Stand der Forschung. Wenn man Marketing und Propaganda als irrelevant aus der einschlägigen Literatur herausoperiert, dann bleibt genau dieses Fazit übrig. Mollath ist also kein Einzelfall, sondern er ist der Regelfall.

Ist es wirklich gerechtfertigt, sehr viele Menschen ohne zukünftiges Gewaltpotenzial wegzusperren, um ein paar Gewalttaten zu verhindern? Oder ist es der Preis der Freiheit, Gewalttaten hinzunehmen, die man, wenn überhaupt, nur durch Polizeistaatmethoden verhindern könnte. Denn es sind Polizeistaatmethoden, Leute ohne vernünftigen Grund wegzusperren, auch wenn dies auf rechtlicher Grundlage erfolgt.

Je häufiger die Psychiatrie in den alltäglichen Umgang der Bürger miteinander eingreift, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Bürger zu unrecht auf Dauer hinter psychiatrischen Gittern landet, weil er als Gefahr für andere oder sich selbst eingestuft wird. Jeder, der die Polizei ruft, weil ein Mitmensch agitiert ist und sich rätselhaft aufführt, beispielsweise, sollte sich dies klarmachen. Die Psychiatrie hat keinerlei Möglichkeiten, hier die Spreu vom Weizen zu trennen.

Im Fall Mollath werden der Ex-Ehefrau finstere Absichten unterstellt, als sie sich von einer Psychiaterin aus der Ferne die Verrücktheit ihres damaligen Ehemannes attestieren ließ. Wie dem auch sei: Ein Ehepartner, beispielsweise, der gegenüber einem Arzt, selbst mit besten Absichten, einen vergleichbaren Verdacht auch nur andeutet, spielt mit dem Feuer. Dies sollte sich jeder sehr gut überlegen.

Seitdem Mollath zum prominentesten Psychiatriepatienten aller Zeiten avancierte, kann niemand mehr behaupten, er habe nichts Böses ahnen können. Nein, wer sich heute mit der Psychiatrie einlässt, kann und muss wissen, was ihm oder seinen Angehörigen blüht.

Selbst wenn im Prozess gegen Gustl Mollath alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, so würde dies an meiner Einschätzung nichts ändern, denn die entscheidenden Fakten, auf die ich meine Position stütze, gelten unabhängig von diesem Fall. Sie sind allgemein gültig. Meine Einschätzung ist auch unabhängig davon zu sehen, ob es aufgrund einer “psychischen Krankheit” gefährliche Menschen überhaupt gibt oder nicht. Sie bezieht sich nur auf die Effizienz von Prognostik und Therapie, nicht aber auf mutmaßliche Ursachen gewalttätigen Verhaltens.

Die Situation könnte sich allerdings einschneidend ändern, wenn man die angeblichen pathologischen Mechanismen psychogener Gewalt tatsächlich entdecken oder wenn man gar Biomarker entdecken würde, die sie indizieren. Dies könnte die Prognostik natürlich erheblich verbessern. Doch wenn man heute Gustl Mollath von Kopf bis Fuß durchchecken würde auf der Suche nach Anzeichen einer fortbestehenden Gewaltbereitschaft, würde man nichts finden; kein Wunder: Man wüsste ja noch nicht einmal, wonach man suchen sollte.

Ich wüsste nur zu gern, auf welcher theoretischen Grundlage die Gutachten beruhen, in denen Mollath Gefährlichkeit unterstellt wird. Ich könnte man analysieren, ob diese Theorien im Licht der empirischen Forschung erhärtet wurden. Mit scheint aber, dass es diese theoretische Grundlage gar nicht gibt, sondern dass vielmehr die Gutachten in der Gewissheit erstellt wurden, dass schon niemand danach fragen wird. Aber hier lasse ich mich gern eines Besseren belehren.

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