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Selbstbeherrschung

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In seinem Buch “Choice Theory” berichtet der amerikanische Psychiater William Glasser von einem Patienten, den er in jungen Jahren kennen lernte. 1954 arbeitete Glasser im Brentwood Veterans Hospital in Los Angeles. In seiner Abteilung hatte alle Patienten die Diagnose “Schizophrenie”.

Einer der Patienten mit wahnhaftem Verhalten benahm sich besonders erschreckend. Jeden Morgen, wenn Glasser seine Runde in der Abteilung machte, stieß dieser Mann Flüche gegen Glasser aus und spuckte auf den Boden, sobald sich der Arzt näherte. Er verlangte von Glasser, dass er den imaginären Affen von seinem Rücken entferne, der ihm das Fleisch von den Knochen reiße. Der Patient benahm sich so, als säße tatsächlich ein Affe auf seinem Rücken. Er klagte den Arzt an, unfähig zu sein, da es ihm nicht gelinge, etwas gegen den Affen zu unternehmen, der ihm das Leben zur Hölle mache. Glasser war damals noch unerfahren im Umgang mit solchen Menschen; es gelang ihm nicht, diesen Patienten in irgendeine Form der Konversation zu verwickeln.

Eines Tages aber veränderte sich das Verhalten dieses Patienten schlagartig. Er fragte seinen Arzt höflich, ohne den Affen auch nur zu erwähnen, ob er ihn nach seinem Rundgang in seinem Sprechzimmer aufsuchen dürfe. Glasser war unsicher, aber ein Pfleger versprach, während der Untersuchung anwesend zu sein, und so willigte der Psychiater ein. Der Patient suchte ihn also im Sprechzimmer auf und erklärte ihm in völlig normaler Weise, dass er fürchte, krank zu sein und bat den Arzt, ihn physisch zu untersuchen.

Es stellte sich heraus, dass er unter einer seltenen Form der Lungenentzündung (lobar pneumococcal pseumonia) litt. Glasser entschied sich sofort, ihn in eine dieser Krankheit entsprechende Abteilung des Krankenhauses zu verlegen. Auf dem Weg dorthin zeigte er keinerlei Anzeichen einer “Psychose”. Er dankte Glasser dafür, dass er so nett zu ihm sei. Der Arzt in der Lungenabteilung bestätigte die Diagnose Glassers.

Während der Behandlung der Lungenentzündung besuchte ihn Glasser täglich. Der Patient produzierte in dieser Zeit keinerlei Anzeichen von Verrücktheit. Glasser hatte große Mühe, das Personal in der Lungenabteilung davon zu überzeugen, dass sein Patient schizophren sei, ja, der verrückteste Patient, den er jemals gesehen habe. So recht konnte er sie davon nicht überzeugen und er musste viele Rüffel dafür einstecken, weil er einen offensichtlich geistig gesunden Mann in einer psychiatrischen Abteilung behandele.

Nach erfolgreicher Behandlung kehrte der Affe zwar zurück, aber gegenüber Glasser blieb der Patient auch weiterhin stets freundlich. Immer wieder betonte er, wie gut er in der Lungenabteilung behandelt worden sei und trotz des teuflischen Affens klagte er ihn niemals mehr an, ein schlechter Arzt zu sein.

Damals, so schreibt Glasser, habe er noch nicht gewusst, wie man vernünftig mit solchen Leuten umgeht. Dies sollte sich ändern und Glasser entwickelte seine “Choice Theory”, die auf der Idee beruht, dass Menschen, die sich dazu entschieden haben, die Rolle des “psychisch Kranken” zu spielen, eine solche Entscheidung auch wieder revidieren können.

Ich habe Ähnliches selbst erlebt – nicht in einer Klinik, sondern im privaten Bereich, da ich viele Jahre auf sehr vertrautem Fuß mit einem Menschen lebte, der als “paranoid schizophren” diagnostiziert worden war.

Natürlich, so könnte man einwenden, dies seien Einzelfälle, die man zudem nicht überprüfen könne. Die Forschung beweise aber, dass Schizophrene und andere Menschen mit schweren psychischen Krankheiten einem pathologischen Hirnprozess unterlägen, der sich ihrer Kontrolle entziehe.

Viele Menschen lassen sich einschüchtern, wenn der Begriff “Forschung” oder “Studien” erwähnt wird. Da ich mich aber ein wenig in der einschlägigen empirischen Literatur auskenne, kann ich ohne Einschränkungen sagen, dass ein solcher pathologischer Hirnprozess weder für die “Schizophrenie” oder für irgendeine andere so genannte psychische Krankheit identifiziert werden konnte.

Beim gegenwärtigen Stand der Forschung spricht nichts dagegen, dass es sich beim so genannten Kontrollverlust der “psychisch Kranken” um einen Mythos handeln könnte – um einen Mythos, der nicht nur von der Psychiatrie, sondern auch von manchen Betroffenen kultiviert wird, aus naheliegenden Gründen. Für den Arzt ist er eine wesentliche Rechtfertigung seiner Zuständigkeit und sogar eine Legitimation zur Zwangsbehandlung, und für den Patienten kann er als Entschuldigung für Fehlverhalten dienen, für das er sonst die Verantwortung übernehmen müsste.

Selbstverständlich zweifele ich nicht daran, dass manche “psychisch Kranke” tatsächlich daran glauben, sie hätten die Selbstbeherrschung aufgrund eines gestörten Hirnprozesses oder anderer Faktoren, die sich ihrem Einfluss entziehen, verloren.

Aber Selbstbeherrschung ist eine Frage des Charakters – und wenn auch das Temperament eines Menschen (weitgehend) angeboren sein mag, so sind die die vielschichtigen Ausformungen seines Charakters das Ergebnis einer Kultivierung. Wir selbst formen unseren Charakter von Kindesbeinen an, Tag für Tag ein Stück, wir konditionieren uns, auf die Wechselfälle des Lebens in bestimmter Weise zu reagieren. So prägen wir Gewohnheiten aus, regelhafte Verhaltensmuster, die mit der Zeit als Ausdruck unseres Charakters gelten.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheinen diese Charakterzüge dann wie ein Zwang zu wirken; wir sagen, dass wir nicht über unseren Schatten springen könnten. Doch das stimmt nicht. Wir können den Affen auch abschütteln, wenn es sein muss. Wir können Gewohnheiten auch überwinden. Kein Automat könnte seine Programmierung aus eigener Kraft verändern. Wir sind daher keine Automaten.

Freud wird von manchen seiner Anhänger in eine Reihe mit Kopernikus und Darwin gestellt. Seine Entdeckung der unbewussten Antriebe des Seelenlebens sei vergleichbar mit der Erkenntnis, dass die Erde nicht Mittelpunkt des Weltalls und der Einsicht, dass der Mensch aus dem Reich der Tiere hervorgegangen sei. Dabei handele es sich um die drei großen Kränkungen der Menschheit, die ihr narzisstisches Selbstbild in Frage stellten.

Aus meiner Sicht war Freud weniger der große Aufklärer, als ein großer “Mystifikator”. Es ist zwar richtig, dass in realen, alltäglichen Lebenssituationen sehr viele Prozesse unseres Lebens unbewusst ablaufen. Dies ist auch gar nicht anders möglich, da die Kapazität unseres Bewusstseins begrenzt ist. Nur fünf bis neun Sinneinheiten, so sagt man, passen dort zur gleichen Zeit hinein.

Es stehen aber häufig wesentlich mehr Fragen zur Entscheidung an, als unser Bewusstsein zu fassen vermag. Außerdem ist es viel zu langsam, da es ein Element nach dem anderen abarbeiten muss. Zum Glück können wir viele Routine-Aufgaben erledigen, ohne dass für ihnen allzu viel Aufmerksamkeit schenken müssten, solange alles glatt läuft, versteht sich.

Manches wird nach einer Zeit der Übung sehr Gewohnheit. Aber all diese mehr oder weniger unbewussten Prozesse sind eingebettet in eine Lebensplanung, die auf bewussten Entscheidungen beruht. Diese Entscheidungen sind vielleicht nicht immer vernünftig, sie sind oftmals noch nicht einmal widerspruchsfrei, aber es sind Entscheidungen, keine Automatismen, keine unveränderlichen Programme. Wir bedürfen auch des Psychoanalytikers nicht, um sie zu analysieren und ggf. zu revidieren.

Wir können uns selbst beherrschen, wenn wir wollen; und wenn wir keine Selbstbeherrschung üben, dann wollen wir es auch nicht. Dies ist sicher eine These, für die der endgültige Beweis fehlt; diese These steht aber im Einklang mit all dem, was wir bisher über das menschliche Gehirn und die menschliche Psyche wissen. So wie der Mann mit dem Affen üben wir ja auch immer wieder Selbstbeherrschung, wenn uns die Not dazu zwingt. Die Möglichkeit zur freien Entscheidung ist gleichsam in unser Gehirn eingebaut, wie Peter Ulric Tse in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will” gezeigt hat.

Natürlich kann man lange darüber streiten, ob das menschliche Verhalten nicht doch determiniert sei und ob manche Menschen nicht doch dazu gezwungen seien, die “Symptome einer psychischen Krankheit” auszuprägen. Auch ich kann das Gegenteil nicht abschließend klären, darf aber mir Recht sehr wohl behaupten, dass die Forschung keineswegs so eindeutig für die Determination des menschlichen Verhaltens spricht, wie dies von manchen Neurowissenschaftlern und Psychiatern behauptet wird.

Die Welt ist ein großes Rätsel, doch der menschliche Geist, ach, welch ein großes Rätsel er ist! Warum sollten wir uns in einer verrätselten Welt die Fessel des Glaubens daran anlegen, wir hätten keine Kontrolle über uns selbst? Jeder kleine oder auch große Sieg über eine leidige, lästige Gewohnheit spricht doch eigentlich für das Gegenteil. Und, ehrlich, wenn wir es trotz intensiver Bemühungen nicht schaffen, beispielsweise das Rauchen aufzugeben, dann wird doch die Frage erlaubt sein, ob wir es auch wirklich schaffen wollten.

Selbstbeherrschung ist aus meiner Sicht keine Gnade, auch kein angeborenes Talent, sie ist eine Frage der Übung und des Willens. Wer “psychisch krank” ist, der will “psychisch krank” sein, wer meint, seinen Affen nicht kontrollieren zu können, der will ihn nicht kontrollieren. Man fängt sich eine “psychische Krankheit” nicht wie einen Schnupfen ein. Niemand zwingt uns mit vorgehaltener Knarre, “psychisch krank” zu werden. Die Betroffenen entscheiden sich dazu aus Gründen, die ihnen vielleicht nicht immer einsichtig sind, die ihnen aber bewusst werden könnten, dächten sie einmal ernsthaft darüber nach.

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