Wenn ein psycho-physiologischer Mechanismus psychogener Gewalt bekannt wäre und wenn es einen eindeutigen Biomarker für diesen Mechanismus gäbe, dann könnten wir klar sagen, ob Gustl Mollath zu Recht hinter psychiatrischen Gittern sitzt oder nicht. Ein solcher Mechanismus ist aber nicht bekannt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass psychiatrische Diagnostik und Prognostik nicht hinlänglich valide sind. Und daraus wieder folgt zwingend, dass die überwiegende Mehrheit der Patienten, die wegen mutmaßlicher Gefährlichkeit in der Psychiatrie einsitzen, dort nicht aus gutem Grund festgehalten wird.
Manche meinen, dass die Gutachten, die Mollath hinter Gitter brachten, schlecht seien. Dies ist jedoch eine unhaltbare Auffassung, denn angesichts der mangelnden Validität psychiatrischer Prognostik und Diagnostik kann es keine Gutachten geben, die hinsichtlich der hier relevanten Kriterien das Urteil “gut” auch verdienten. Wie schlüssig ein Gutachten auch immer argumentieren und wie elegant und verständlich es auch formuliert sein mag: An der Tatsache, dass es auf keiner empirisch erhärteten Grundlage zur Vorhersage psychogener Gewalt beruht, ändert all dies gar nichts. Ein Gutachten, dass Mollath psychische Gesundheit und Friedfertigkeit bescheinigte, wäre also kein fachlich gutes Gutachten. Es wäre ebenso willkürlich wie ein gegenteiliges.
Angesichts der mangelnden Validität psychiatrischer Diagnostik und Prognostik und der Seltenheit psychogener Gewalttäter muss eine große, eine sehr große Zahl von Menschen ohne vernünftigen Grund in der Psychiatrie festgehalten werden, um eine Gewalttat zu verhindern. Hinzu kommt, dass eine weitaus größere Zahl potenzieller Gewalttäter frei herumläuft, weil niemand auf die Idee käme, sie für “psychisch krank” und daher gefährlich zu halten. Wir betreiben hier einen Kult der Sicherheit, der auf einem Mythos beruht, dem nämlich, dass Psychiatrie und Justiz die Gefährlichen herausfischen könnten. Dies jedoch ist definitiv nicht der Fall.
Niemand kann dafür garantieren, dass Gustl Mollath nach seiner Freilassung keine gewaltbezogene Straftat begeht. Eine solche Garantie kann für niemanden gegeben werden. Wenn ein psycho-physiologischer Menchanismus, der Gewalttaten zugrundeliegt, bekannt wäre, dann könnte man vielleicht die Spreu vom Weizen trennen; aber zur Zeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass ein solcher Mechanismus kurz- oder mittelfristig entdeckt werden könnte.
Ich halte es auch für zweifelhaft, ob er jemals entdeckt wird. Denn ein solcher Mechanismus bedeutet ja, dass ein Prozess im Gehirn dem Betroffenen keine Wahl lässt, sich für oder gegen eine Gewalttat zu entscheiden. Manche meinen, dass die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften im Allgemeinen und der Neurowissenschaften im Besonderen die Existenz eines freien Willens ausschlössen. Die einen seien gesetzestreu, weil sie ihr Nervensystem dazu determiniere und die anderen handelten aus eben diesen Gründen gesetzeswidrig. Der freie Wille sei eine Illusion.
Der amerikanische Professor für Neurowissenschaften, Peter Ulric Tse zeigt allerdings in seinem Buch “The Neural Basis of Free Will. Criterial Causation”, dass der freie Wille erstens keineswegs den Naturgesetzen widerspricht und dass er zweitens mit dem, was wir heute über die Funktionsweise des Gehirns wissen, bestens übereinstimmt. Es ist daher überaus unwahrscheinlich, dass die einen zu gutem und die anderem zu bösem Verhalten gezwungen werden wie Reaktionsautomaten.
Auch Gustl Mollath ist kein Reaktionsautomat. Er besitzt, wie jeder von uns, einen freien Willen und er kann sich, aufgrund seiner Präferenzen, dafür entscheiden, in Zukunft friedlich zu sein oder gewalttätig. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, ihm diesen freien Willen abzusprechen. Einflüsse aus dem Reich der Erbanlagen oder aus der Umwelt können einen Menschen zwar geneigt stimmen, dieses oder jenes zu tun, aber ob er einer Neigung dann auch nachgibt, entscheidet letztlich immer noch er selbst. Es gibt keine prognostischen Verfahren, mit denen man seine Entscheidung vorhersehen könnte und auch kein Psychiater kann dies aufgrund seiner klinischen Erfahrung oder seines psychiatrischen Blicks.
Allenfalls Verhaltenstendenzen können wir vorhersagen; aber solche vagen Prognosen bieten keine ethisch vertretbare Grundlage dafür, jemanden hinter psychiatrische Gitter zu bringen. Man müsste schon definitiv sagen können, dass jemand aufgrund einer “psychischen Krankheit” eine Gefahr für andere darstellt. Doch für eine solche Aussage gibt es keine Grundlage, weder bei Gustl Mollath, noch bei sonst irgendwem. Wir betreiben hier einen Kult der Sicherheit, der auf einem Mythos beruht, dem nämlich, dass Psychiatrie und Justiz die Gefährlichen herausfischen könnten. Dieser Kult ist eine unwürdige Veranstaltung, ein Ausdruck wohlmeinender Niedertracht.
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