Manche argumentieren mit der Behindertenrechtskonvention gegen die Zwangspsychiatrie. Kurz: Da die Behindertenkonvention Zwang untersage, dürften auch die “psychisch Kranken” aufgrund ihrer Behinderung nicht zur Behandlung gezwungen werden.
Dieses Argument setzt allerdings voraus, dass es sich bei den “psychisch Kranken” um Behinderte handelt. Bekanntlich verfügt die Psychiatrie über keine objektiven Verfahren zu Diagnose von “psychischen Krankheiten”. Selbst also wenn derartige Krankheiten existieren sollten, so handelte es sich bei den entsprechend Diagnostizierten um mutmaßlich Kranke.
Und da es sich um Menschen handelt, die verdächtigt werden, “psychisch krank” zu sein, haben wir es hier auch mit Leuten zu tun, die aufgrund eines Verdachts als behindert gelten. Das Argument mit der Behindertenrechtskonvention steht dementsprechend auf tönernen Füßen.
Dies gilt verschärft dann, wenn man die Existenz psychischer Krankheiten grundsätzlich bestreitet. Dafür gibt es gute Gründe.
Thomas Szasz beispielsweise leitet seine Ablehnung dieses Begriffs wie folgt her: Symptome von Krankheiten werden durch körperliche Prozesse verursacht. Spricht man von “Krankheit” ohne solche ursächlichen körperlichen Abläufe, dann verwendet man den Begriff metaphorisch und nicht medizinisch. Dies drückt sich beispielsweise in dem Begriff “kranker Witz” aus.
Im medizinischen Sinne wäre eine Weise des Verhaltens und Erlebens also allenfalls dann als pathologisch zu deuten, wenn ihr ein ursächlicher Prozess im Körper, also beispielsweise im Gehirn zugrunde läge. Wäre dies aber der Fall, dann handelte es sich nicht im eine psychische Krankheit im medizinischen Sinne, sondern um eine körperliche, beispielsweise um eine neurologische Erkrankung. Um eine solche diagnostizieren zu können, müsste man allerdings auch in der Lage sein, ihr Vorliegen mit objektiven Methoden festzustellen.
Wer also die Existenz “psychischer Krankheiten” bestreitet, muss gleichermaßen das Konzept einer Behinderung aufgrund einer “psychischen Erkrankung” ablehnen. Daran führt kein Weg vorbei. Auch juristische Windungen und Wendungen und Begriffsakrobatik können an diesem grundlegenden Sachverhalt nichts ändern, denn Logik ist keine Ermessensfrage.
Nun könnte man behaupten, dass Menschen zwar nicht aufgrund einer fiktiven psychischen Krankheit behindert sein könnten, wohl aber durch eine entsprechende Diagnose. Menschen mit einer “Psychisch-krank-Diagnose” dürften also nicht zwangsbehandelt werden, da für sie die Behindertenrechtskonvention gelte. Nun will ich gern einräumen, dass sich psychiatrische Diagnosen behindernd auswirken können, vor allem dann, wenn man aufgrund einer solchen, verbunden mit mutmaßlicher Gefährlichkeit bzw. Suizidalität, in einer Geschlossenen sitzt. So wird man beispielsweise durch eine Fixierung nachhaltig an der Bewegung gehindert. Und das ist schon eine “Behinderung”, durchaus.
In diesem Sinne wäre jedoch auch der Insasse eines Gefängnisses behindert. Allerdings glaube ich kaum, dass die Protagonisten des Arguments mit der Behindertenrechtskonvention diese auch auf Gefängnisinsassen angewendet wissen wollen. Man muss also die Gruppe der durch staatlichen Zwang Behinderten unterteilen in solche Menschen, bei denen dies aufgrund der Behindertenrechtskonvention nicht zulässig sei, und in Leute, für die diese Konvention nicht gelte.
Als Kriterium bleibt hier nur die psychiatrische Diagnose, die eine Behinderung nach sich zieht, vor allem wenn sie mit einer Prognose der Gefährlichkeit bzw. Suizidalität verbunden ist. Wäre es dann aber nicht klüger, statt die Zwangsbehandlung dieser Leute verbieten zu wollen, lieber gleich das Verbot der Behinderung durch eine psychiatrische Diagnose zu fordern?
Manche wohlmeinende Kritiker der Zwangspsychiatrie sprechen von “psychischer Behinderung”. So Wolf-Dieter Narr hier:
“Psychisch Behinderte dürfen zu keinem Verhalten gezwungen werden. Ihre wie immer als Erwachsene geäußerte Selbstbestimmung bildet die Prämisse, die conditio sine qua non, aller ihrem Wohl gewidmeten Hilfs- und Heilakte.”
Narr setzt also die Existenz eines Personenkreises voraus, dem aufgrund einer “psychischen Behinderung” Hilfs- und Heilakte zu widmen seien, sofern dies gewünscht werde. Heilakte sind in Deutschland aber nur Menschen gestattet, die, aufgrund einer Approbation als Arzt, Zahnarzt, psychologischer Psychotherapeut oder einer Zulassung als Heilpraktiker, dazu berechtigt sind. Es zeigt sich also, wie schnell man mit dem Begriff der “psychischen Behinderung” im Fahrwasser des medizinisch-psychiatrischen Systems landet.
Wenn der Staat geruht, bestimmte Menschen als “psychisch krank” einzustufen, dann darf man natürlich von ihm erwarten, dass er sich beim Umgang mit den so Diagnostizierten zumindest an seine eigenen Gesetze hält. Daher ist der Verweis auf die Behindertenrechtskonvention sicher nicht völlig abwegig. Er ist aber ein zweischneidiges Schwert. Er unterliegt der Gefahr einer klammheimlichen, unreflektierten Anerkennung der psychiatrischen Diagnostik unter anderem Namen.
Selbstverständlich bedürfen viele Leute, die von der Psychiatrie als “psychisch krank” diagnostiziert wurden, vielfältiger und teilweise aufwändiger Hilfe. Diese Hilfsbedürftigkeit ist Ausdruck von Lebensproblemen, die analysiert und interpretiert werden können, ohne dass man deswegen medizinisch-psychiatrische Begriffe und Modelle zu Hilfe nehmen müsste. Man kann in der Alltagssprache beschreiben, was zur Hilfe Anlass gibt, wie sie auszusehen hat und welche Ziele damit angestrebt werden. Auch der Begriff einer “Behinderung” ist hier nicht sinnvoll, denn eine Barriere, die sich uns in den Weg stellt, macht uns noch lange nicht zum Behinderten.
Natürlich kann ich es gut verstehen, wenn psychiatriekritische Juristen dem Charme der Behindertenrechtskonvention erliegen. Da hat man immerhin einen rechtsverbindlichen Text, den es zugunsten von Mandanten auszuschlachten gilt. Der Anwalt darf schließlich alles ins Feld führen, was für seinen Schützling spricht oder zu sprechen scheint. Da ich kein Jurist bin, kann ich auch nicht beurteilen, ob sich die Behindertenrechtskonvention in der Rechtspraxis für die so genannten psychisch Kranken tatsächlich als hilfreich erweist.
Meine Spezialisierung ist die empirische Psychologie und aus dieser Sicht handelt es sich bei den Begriffen “psychische Krankheit” und “psychische Behinderung” um außerwissenschaftliche, ideologische Konstrukte. Es sind, um einen Begriff von Thomas Szasz zu gebrauchen, “strategische Etiketten”. Sie hören nicht auf, “strategische Etiketten” zu sein, wenn sie von wohlmeinenden Juristen im Sinne ihrer Mandanten gebraucht werden. Da geht es ja nur darum, die Strategie zu verändern, die sich mit diesen Etiketten verbindet. Kurz: Die Strategie soll nicht mehr Zwangsbehandlung, sondern Selbstbestimmung bei Hilfs- und Heilakten lauten. Wie in anderen Bereichen der Medizin auch, soll der Patient über seine Behandlung selbst entscheiden können, aber Patient und im medizinischen System soll er bleiben.
Menschen werden aufgrund von willkürlich herausgegriffenen Merkmalskombinationen selektiert. Die entsprechenden Merkmale können teilweise beobachtet werden, müssen größtenteils jedoch aus den Äußerungen der Betroffenen oder Dritter erschlossen werden. Sie sind zudem meist sehr vage bestimmt. Dies ist psychiatrische Diagnostik.
Die Beliebigkeit eines solchen Vorgehens zur Unterteilung unseres Volkes in psychisch Kranke bzw. Gesunde springt ins Auge. Sie gibt den Ärzten aber eine enorme Definitionsmacht, de facto sogar die Macht, einen Menschen weitgehend aus unserer Rechtsordnung herauszukatapultieren und ihn der Willkür in den geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten oder im Maßregelvollzug auszuliefern.
Alle Versuche, den Spielraum ärztlicher Definitionsmacht in diesem Bereich durch Verweise auf die Behindertenrechtskonvention einzuschränken, sind bisher letztlich gescheitert. Wenn ich mich nicht sehr täusche, so besteht die einzige greifbare, dauerhafte Wirkung auf die Psychiatrie darin, dass diese ihre Rechtfertigungsrhetorik verfeinerte und nunmehr nicht müde wird, ihre Zwangsmaßnahmen als “ultima ratio” zu verklären.
Wann eine Maßnahme als “ultima ratio” ergriffen werden muss, bestimmt natürlich nach wie vor das psychiatrisch-juristische System allein. Korrekturen durch das System der empirischen Forschung sind nicht möglich, weil die Begriffe der psychiatrischen Diagnostik und Prognostik nicht valide sind (ja, oft noch nicht einmal eine validierbare Form besitzen) und ihre mutmaßlichen Gegenstände sich daher der seriösen wissenschaftlichen Forschung entziehen.
Sind Einhörner behindert, weil ihnen das bei Hornträgern sonst übliche zweite Horn fehlt? Vielleicht. Man kann sich entsprechende Geschichten ausdenken. Ich habe solche Geschichten satt.
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