Mitunter komme ich mit Angehörigen der so genannten psychisch Kranken ins Gespräch. Typisches Beispiel: Unlängst rief der Vater eines autistischen Sohnes an. Sein Kind habe der Mutter, als dies altersgemäß gewesen wäre, nicht die Arme entgegengestreckt, um hochgenommen zu werden, habe sie nicht angelächelt, habe keinen Blickkontakt gesucht, sein Interesse sei schon früh auf bestimmte Gegenstände fixiert gewesen, wie beispielsweise Türklinken, seine Sprachentwicklung sei verzögert gewesen, er habe neue Begriffe geprägt, die außer ihm niemand verstand, er gerate heute noch in Panik, wenn die Gegenstände in seinem Zimmer sich nicht exakt an einer festgelegten Stelle befänden, kurz: er sei mit normalen Kindern nicht im Geringsten zu vergleichen und ich könne doch nicht allen Ernstes behaupten, dass er nicht psychisch krank sei.
Ob denn irgendetwas Auffälliges im Gehirn des Kindes festgestellt worden sei, fragte ich. Nein, das nicht, war die Antwort, aber dennoch könne daran ja wohl kein Zweifel bestehen, das sage ja auch die Wissenschaft, wie sonst wohl sollten solche merkwürdigen Verhaltensweisen zustand kommen. Das wisse niemand, trug ich vor, auch die Wissenschaft nicht. Da habe er aber anderes gehört. Der Direktor des “National Institute of Mental Health” (NIMH), der weltgrößten psychiatrischen Forschungsinstitution und ein anerkannter Autismus-Experte, versetzte ich, schrieb unlängst in seinem Blog:
“Im Jahr 2014 bleibt das Geheimnis des Autismus weitgehend ungelöst. Wir beschreiben den Autismus als eine neuronale Entwicklungsstörung, doch sogar mit dem oben erwähnten neue Bericht (über Anomalien im Gehirn von Autisten, HUG) wissen wir nicht genau, wie wir definieren sollen, was diese Hirnstörung ist und wann sie auftritt. Wir erkennen, dass immerhin 30 Prozent der Kinder mit Autismus spontane genetische Mutationen aufweisen, die es konnte bisher noch nicht gezeigt werden, dass die umfassenden genetischen Mutationen die Störung verursachen, da andere Kinder mit einigen dieser Veränderungen keinen Autismus haben.”
Wer denn dieser Insel schon sei, wurde ich gefragt. Einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten, sagte ich, und vermutlich auch einer der tonangebenden einschlägig forschenden Wissenschaftler auf diesem Planeten. Der Direktor des NIMH, einer US-Behörde mit einem Milliarden-Etat, könne sich wohl kaum leisten, so etwas zu behaupten, wenn es nicht der Wahrheit entspräche.
Ja, wenn der Autismus keine Hirnstörung sei, wer sei dann dafür verantwortlich?, frage der Vater. Ob ich seiner Frau oder ihm wohl unterstellen wolle, ihr Kind falsch behandelt zu haben, fragte er mit einem sehr gereizten Unterton. Diesen Verdacht müsse ich entschieden von mir weisen, nichts läge mir ferner. Auch ich wisse nicht, warum sein Sohn diese rätselhaften Phänomene zeige.
Eine Mutter rief an; ihr Sohn sei schizophren. Sie könne mich nicht ernst nehmen. Wie ich als Psychologe behaupten könne, dass die Schizophrenie keine Krankheit sei! Ich hätte wohl noch nie einen Schizophrenen von Nahem gesehen. Doch, durchaus, antwortete ich. So habe ich beispielsweise vor Jahrzehnten lange Jahre die Wohnung mit einer Frau geteilt, die als “paranoid schizophren” diagnostiziert wurde. Dann hätte ich wohl alles wieder vergessen. So etwas könne man nicht vergessen, und wenn sie glaube, dass man dies vergessen könne, dann habe sie wohl noch nie einen “richtigen Schizophrenen” von Nahem gesehen.
Wenn ich persönliche Erfahrungen hätte, dann könne sie erst recht nicht verstehen, warum ich daran zweifele, dass die Schizophrenie eine Krankheit sei. Wissenschaftler des psychiatrischen Instituts der Universität Basel und des Instituts für Psychose-Studien des King’s College in London, antwortete ich, stellen unmissverständlich fest:
“Mehr als drei Jahrzehnte nach Johnstones erster axialer Computer-Tomographie des Gehirns von Individuen mit Schizophrenie, konnten keine konsistenten oder reliablen anatomischen oder funktionellen Veränderungen eindeutig mit irgendeiner psychischen Störung assoziiert und keine neurobiologischen Veränderungen konnten endgültig durch bildgebende Verfahren bestätigt werden (1).”
Die Wissenschaft wisse auch nicht alles, meinte die Frau, aber die praktische Erfahrung zeige doch, dass die Schizophrenie eine Krankheit sei. Nein, gab ich zu bedenken, die praktische Erfahrungen zeige nur, dass sich Menschen rätselhaft verhalten und Dinge zu erleben scheinen, der Sinn sich uns nicht so ohne Weiteres erschließt. Dass dies auf eine Krankheit zurückzuführen sei, könnten wir zwar vermuten, aber sicher sei dies keineswegs.
Und warum ihr Sohn behaupte, sie habe magische Kräfte und könne den Mülleimer in den Hof bringen und ausleeren, ohne sich aus ihrem Sessel zu erheben, fragte die Mutter. Wenn das nicht krank sei, was dann? Was sie denn unter “krank” in diesem Fall verstünde, fragte ich. Das ihr Sohn völlig unverständliche Sachen mache und Dinge behaupte, für die es keine reale Grundlage gäbe, antwortete sie. So etwas könne sie natürlich “krank” nennen, wenn sie wolle, versetzte ich, aber das sei dann auch nur so ein Wort. Sie könne das Verhalten genauso gut als rätselhaft bezeichnen; dies würde auch nicht mehr oder weniger aussagen.
Sie verlasse sich auf die Ärzte. Die hätten das Fach studiert, die hätten Erfahrung und die würden sagen, dass die Schizophrenie ihres Sohnes durch eine Hirnstörung verursacht werde. Ob sie Ärzten grundsätzlich vertraue oder nur im Falle ihres Sohnes, erlaubte ich mir nachzuhaken. Sie schwieg eine Weile und dann brach eine lange und immer lauter werdende Anklage gegen Ärzte aus ihr hervor, die Rede war von einer unsinnigen Hüft-Operation, von Schmerzen, Schmerzen und noch einmal Schmerzen, von Geldgier, Unfähigkeit und schierer Verzweiflung war die Rede.
Ob ihr Sohn mit seinen Ärzten ebenso unzufrieden sei wie sie mit dem Chirurgen, der ihr ein künstliches Hüftgelenk einbaute. Er sei schon zufrieden, sagte sie, nur wolle er seine Medikamente nicht nehmen, aber dies sei eben durch die Krankheit verursacht, dass man sich nicht helfen lassen wolle. Ich schütze einen Termin vor und beendete das Gespräch mit einigen unverbindlichen Floskeln.
Auch wenn es schwerfällt, so führt wohl doch kein Weg daran vorbei zu lernen, das Rätsel auszuhalten, wenn niemand definitiv weiß, warum sich manche Leute seltsam verhalten und Dinge bekunden, die uns erschrecken oder sinnlos erscheinen. Von Nasreddin, der legendären Gestalt humoristischer Geschichten aus dem islamischen Raum (2), wird berichtet, er habe einmal seinen verlorenen Schlüssel unter einer Straßenlaterne gesucht und als man ihn fragte, ob er sicher sei, ihn dort verloren zu haben, geantwortet: “Nein, vermutlich war es dort an der Hausecke, aber hier ist es heller.”
Wir suchen die Antwort auf das Rätsel menschlicher Abwege in den hellen Fluchten psychiatrischer Wissenschaft und wundern uns, wenn es dort nichts zu entdecken gibt. Seit mehr als 150 Jahren bemüht sich die moderne Psychiatrie vergeblich, die biologischen Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten zu identifizieren. Trotz aller Misserfolge setzt sie ihre Suche unverdrossen fort, denn solange man noch sucht, muss man sich das Scheitern nicht eingestehen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann sucht Nasreddin immer noch unter der Straßenlaterne nach seinem Schlüssel.
Anmerkungen
(1) Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46
(2) Shah, I. (1988). Denker des Ostens. Reinbek: Rowohlt
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