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Vernunft

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Harrow, Jobe und Faull untersuchten “Schizophrene” über einen Zeitraum von 20 Jahren. Die Einstufungen erfolgten zu sechs Untersuchungszeitpunkten. 70 Prozent der Untersuchten beschrieben “psychotische” Aktivitäten zu vier oder mehr der sechs Untersuchungszeitpunkte. Versuchsteilnehmer, die keine Neuroleptika erhielten, zeigten statistisch signifikant weniger psychotische Aktivität als Versuchsteilnehmer, denen Neuroleptika verschrieben wurden.

Die Schlussfolgerung der Autoren lautet:

The 20-year data indicate that, longitudinally, after the first few years, antipsychotic medications do not eliminate or reduce the frequency of psychosis in schizophrenia, or reduce the severity of post-acute psychosis, although it is difficult to reach unambiguous conclusions about the efficacy of treatment in purely naturalistic or observational research (1).

Es ist zwar richtig, dass naturalistische Studien keine zwingenden Schlüsse dieser Art zulassen; allerdings gelangt eine nicht-naturalistische, sondern randomisierte Studie von Wunderink und Mitarbeitern zu vergleichbaren Ergebnissen (2). Daher drängen sich berechtigte Zweifel daran auf, auf eine Langzeitbehandlung von “Schizophrenen” mit Neuroleptika tatsächlich sinnvoll oder gar unausweichlich ist.

Diesen Gesichtspunkt möchte ich allerdings hier nicht weiter vertiefen; er dient mir nur als Einstieg ins eigentliche Thema meines heutigen Beitrags. Er wird sich mit meinem Motiv beschäftigen, die Pflasterritzenflora ins Internet zu stellen. Schon oft habe ich betont, dass ich kein Missionar und auch kein Politiker sei. Es ginge mir weder darum, Menschen zum “wahren”, antipsychiatrischen Glauben zu bekehren, noch darum, politisch für eine Bewegung zur Abschaffung der Zwangspsychiatrie Partei zu ergreifen. Vielmehr sei mein Blog als Auseinandersetzung mit der empirischen Literatur zu psychiatrischer Problematik und als Versuch einer vorsichtigen philosophischen Interpretation der Befunde zu begreifen. Außerdem mache es mir Spaß, die Kräfte der Repression zu ärgern.

Doch bei einer genaueren Reflexion meiner Motivlage und von einer Aufwallung der Ehrlichkeit ergriffen, fühle ich mich gedrängt zu bekennen, dass auch mir missionarischer Eifer nicht ganz fremd ist. Mein Anliegen, den Leser, sofern erforderlich, zur Vernunft zu bekehren, springt ja aus jeder Zeile direkt ins Auge. Da die Vernunft aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, sondern ein Bekenntnis zu ihr erfordert, habe und verfolge auch ich eine Mission. Mir ist bewusst, dass nicht jeder unter “Vernunft” dasselbe versteht und dass der eine für vernünftig hält, was der andere als unvernünftig betrachtet. Und so möchte ich skizzieren, was aus meiner Sicht vernünftig ist:

  1. Es ist vernünftig, unsere spontanen, intuitiven Einschätzungen kritisch zu reflektieren und zu hinterfragen – nicht immer, aber doch immer wieder.
  2. Es ist vernünftig, unsere persönlichen Erfahrungen nicht zu verallgemeinern.
  3. Es ist vernünftig, sich an methodisch sauberen empirischen Studien zu orientieren.
  4. Es ist vernünftig, sich bei der Interpretation von Studien möglicher Bedrohungen der experimentellen Validität bewusst zu sein und diese bei seinen Schlussfolgerungen einschränkend zu berücksichtigen.
  5. Es ist vernünftig, Tatsachen und Hypothesen auseinanderzuhalten.
  6. Es ist vernünftig, Hypothesen nicht als Tatsachen zu kaschieren, um mit ihnen Maßnahmen zu begründen.
  7. Es ist vernünftig, sich der Worst-Case-Method zu bedienen, also für den schlimmsten Fall gerüstet zu sein.

Wie alle meine Listen beansprucht auch diese keine Vollständigkeit.

Zurück zur einleitenden Studie. Es ist unvernünftig, die Zwangsbehandlung von so genannten Schizophrenen mit Neuroleptika damit zu rechtfertigen, dass diese Substanzen ein wirksames Mittel zur Unterdrückung psychotischer Zustände seien. Daran gibt es im Licht der aktuellen Forschung erhebliche Zweifel.

Den Leser möchte ich nachdrücklich zur Vernunft ermahnen. Das starke Bedürfnis, angesichts einer Bedrohung irgendetwas zu unternehmen, rechtfertigt kein Agieren: Maßnahmen mit ungewissem Ausgang zu ergreifen, ist ein Akt der Verzweiflung, wenn nicht Dummheit, und darf nicht zur Regel werden. Dies gilt vor allem dann, wenn die Maßnahmen aus guten Gründen in Verdacht stehen, mehr Schaden anzurichten, als Nutzen zu stiften.

Es ist vernünftig, die Worst-Case-Method anzuwenden. Nehmen wir einen Menschen, den wir verdächtigen, zu sinnloser Gewalt fähig zu sein. Wäre es bei diesem Menschen nicht vernünftig, ihn als “psychisch Kranken” zu betrachten und ihn ggf. auch gegen seinen Willen mit Neuroleptika zu behandeln. Wäre das nicht der Worst Case, auf den man sich einzustellen hätte?

Nein, definitiv nicht. Der Wort Case ist vielmehr: Wir wissen nicht, ob dieser Mensch gefährlich ist, wir wissen nicht, warum er, sofern er dies sein sollte, gefährlich ist und wir wissen auch nicht, mit welchen Methoden wir am besten die Gefahr bannen könnten. Und wenn ich mich nicht sehr täusche, so ist dieser Worst Case die exakte Beschreibung der Situation, in der sich das psychiatrisch-juristische System zur Zeit befindet. Man kann natürlich den Kopf in den Sand stecken und “Business as usual” betreiben. Allein, vernünftig wäre das nicht.

Meine Mission ist keine antipsychiatrische oder auch nur psychiatriekritische, wohl aber eine für die Vernunft, so wie ich sie verstehe. Die Pflasterritzenflora hat sich die Psychiatrie als Beispiel für flagrante Unvernunft ausgewählt, aber Vergleichbares gibt es auch in anderen Bereichen. Aktionismus angesichts des Rätselhaften, institutionalisierte Panik, die mit bürokratischer Kälte exekutiert wird. Glaubenssysteme, die sich als Wissenschaft tarnen. All dies ist ein guter Nährboden für das Wuchern der Gier nach Macht und Geld. Wenn schon nichts Vernünftiges dabei herauskommt, dann wenigsten soll etwas auf dem Konto übrigbleiben.

Es ist vernünftig, sich an empirischen Studien zu orientieren. In einer komplexen Welt – und wahrlich, in einer solchen Leben wir! – reichen persönliche Erfahrungen niemals aus, um sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Allein, dies gilt nur, wenn es sich um saubere Studien handelt. Wie u. a. Gøtzsche (3) und Goldacre (4) gezeigt haben, wurde aber die psychopharmakologische und psychiatrische Forschung von Teilen der Pharmaindustrie massiv zu ihren Gunsten verfälscht. Wenn wir also, was vernünftig ist, die Worst-Case-Method in diesem Bereich anwenden, so müssen wir allen psychopharmakologischen und psychiatrischen Forschungen mit Misstrauen begegnen und dürfen uns allenfalls auf solche Studien verlassen, bei denen eine unabhängige Finanzierung und die Unabhängigkeit der Forscher nach menschlichem Ermessen sichergestellt ist.

Menschen neigen, beinahe automatisch und unreflektiert dazu, statt einer schwierigen lieber eine einfache Frage zu beantworten und sie bemerken diese Substitution häufig noch nicht einmal (5). Fragt man manche Leute nach einem probaten Mittel gegen die Zwangspsychiatrie, so nennen sie die Behindertenrechtskonvention. Dies ist eine einfache Antwort, nur nicht auf die gestellte Frage. Die Behindertenrechtskonvention schützt zwar Behinderte vor Zwang; aber die Psychiatrie wendet keinen Zwang gegen Behinderte an, weil die so genannten psychisch Kranken nicht wirklich krank oder medizinisch gehandicapt und daher im Sinne der Behindertenrechtskonvention auch nicht behindert sind. Unvernunft findet sich also nicht nur bei den Protagonisten der Zwangspsychiatrie, sondern auch bei ihren Gegnern (sofern sie die Existenz psychischer Krankheiten bestreiten).

Menschen sind nicht von Natur aus vernünftig, sondern denkfaul. Sie geben sich nur zu gern ihren spontanen Impressionen hin. Aber sie können vernünftig sein, vor allem, wenn sie Not und Gefahr dazu zwingen. Die Psychiatrie bringt uns alle in große Gefahr; es spielt dabei keine Rolle, ob sie dies beabsichtigt oder nicht. Denn da es keine objektiven Verfahren zur Feststellung einer “psychischen Krankheit” gibt, kann im Prinzip jeder ein solches Etikett angeheftet bekommen. Da es auch keine objektiven Methoden zur treffsicheren Prognose von Gefährlichkeit bzw. Suizidalität gibt, kann im Prinzip jeder mit der Zwangspsychiatrie Bekanntschaft machen. Unsere Gesellschaft leistet sich einen “feudalistischen” Bereich, in dem Menschen nach Gutdünken zu Leibeigenen von Ärzten werden können. Das ist nicht vernünftig.

Anmerkungen

(1) Harrow, M. et al. (2014). Does treatment of schizophrenia with antipsychotic
medications eliminate or reduce psychosis? A 20-year
multi-follow-up study. Psychological Medicine, Page 1 of 10

(2) Wunderink L. et al. (2013). Recovery in remitted first-episode psychosis at 7 years of follow-up of an early dose reduction/discontinuation or maintenance treatment strategy: long-term follow-up of a 2-year randomized clinical trial. JAMA Psychiatry. 2013 Sep;70(9):913-20

(3) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare: Radcliffe

(4) Goldacre, B. (2013). Bad Pharma: How Drug Companies Mislead Doctors and Harm Patients: Harpercollins

(5) Kahneman, D. (2011) Thinking, Fast and Slow: Farrar, Straus and Giroux

The post Vernunft appeared first on Pflasterritzenflora.


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