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Ist Mollath verrückt?

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Wir wissen nicht, anhand welcher objektiven Merkmale man “psychisch Kranke” von nicht “psychisch Kranken” unterscheiden kann. Wir haben keine Biomarker, es sind keine Hirnprozesse bekannt, die “psychisch Kranken” eigentümlich sind, und auch in den Erbanlagen ließen sich bisher keine eindeutigen Unterscheidungsmerkmale finden. Keine der in den internationalen Klassifikationssystemen (DSM, ICD) aufgeführten “psychischen Krankheiten”  lässt sich objektivieren.

Es gibt zwar “Symptome”, die Psychiatern dazu dienen, “psychisch Kranke” zu identifizieren, aber Symptome sind eben keine Krankheiten, sondern sie werden durch Krankheiten hervorgebracht. Wenn ich aber die Krankheiten gar nicht kenne, dann darf ich streng genommen auch nicht von “Symptomen” sprechen; es handelt sich vielmehr um Phänomene, die vielleicht Symptome einer mutmaßlichen Krankheit sein könnten.

Da wir nicht wissen, wer an einer “psychischen Krankheit” leidet und ob es diese Krankheiten überhaupt gibt, dürfen wir Gustl Mollath natürlich auch nicht unterstellen, in einem “objektivierbaren Sinne” psychisch krank zu sein. Sonst nämlich müssten wir in der Lage sein, an Gustl Mollath irgendwelche Merkmale auszuzeichnen, die unabhängig von unserer Meinung seine Krankheit belegen.

Selbst wenn viele Leute Gustl Mollath für “psychisch krank” hielten (allzu viele sind es allerdings zur Zeit wohl eher nicht), würde dies keineswegs bedeuten, dass er es auch ist. Über die Wahrheit kann man bekanntlich nicht abstimmen und die Reliabilität der Psychiaterurteile (die ohnehin gering ist) ist unter den gegebenen Bedingungen nur ein Kosename für das Maß der Übereinstimmung von Vorurteilen.

Ist Gustl Mollath also verrückt? Wenn man darunter eine “psychische Krankheit” versteht, dann ist keine Antwort auf diese Frage möglich, die den Anforderungen wissenschaftlicher Redlichkeit entspricht. Aber mir ist natürlich bewusst, dass viele meiner Leser dies zwar zustimmend, aber mit einem gewissen Unbehagen zur Kenntnis nehmen werden.

  • Ist es denn nicht verrückt, sich mit den Mächtigen in Bayern anzulegen und ihnen ihre Schwarzgeldgeschichten vermiesen zu wollen?
  • Ist es denn nicht verrückt zu glauben, dass man in diesem Bundesland ohne mächtige Seilschaften im Hintergrund mit solchen Absichten ungeschoren davonkäme?
  • Ist es denn nicht verrückt, wenn man schon einmal in der Psychiatrie sitzt, keine “Krankheitseinsicht” vorzutäuschen, sich der Therapie zu entziehen und sich so die Chance zur schnellen Entlassung zu verbauen?

Dass ist schon verrückt, oder? Dass ist sogar weiß Gott verrückter als die Polizei erlaubt, nicht nur in Bayern, auch anderswo. Gustl Mollath ist zweifelsfrei “verrückt” – und wir können froh und dankbar sein, dass es solche “Verrückten” gibt.

  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, was es mit dem Rechtsstaat auf sich hat, dass er durchaus selektiv ist.
  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, was es mit psychiatrischen Gutachten auf sich haben kann.
  • Dank dieser “Verrücktheit” wissen nicht mehr nur ein paar Eingeweihte, sondern eine Vielzahl, eine Mehrheit der Bürger, wie es, zumindest im Großen und Ganzen, im Maßregelvollzug zugeht.

Für diese “Verrücktheit”, von der wir alle profitieren, hat Gustl Mollath einen hohen Preis bezahlt. Manche wundern sich, dass er trotz alledem, trotz Jahren hinter psychiatrischen Gittern, geistig immer noch so gesund wirkt. Manche Psychiater meinen, er dissimuliere damit seine “Krankheit” nur, er sei ein besonders gerissener Wahnsinniger.

Doch Fakt ist, dass solche “Verrückten” in aller Regel charakterstarke und gut geerdete Menschen sind, die etwas aushalten, sonst ließen sie nämlich keine Neigung erkennen, sich zu derlei “Verrücktheiten” hinreißen zu lassen. Seine augenblickliche Prominenz verdankt er selbstverständlich auch der Tatsache, dass er ein außergewöhnlicher Mensch ist. “Verrückte” dieser Art sind halt interessant. Ihr Schicksal macht neugierig. Jeder will mitreden.

Dass ist natürlich die Gefahr, die in diesem Fall verborgen liegt. Wir leben in einer Zeit, in der Emotionalisierung und Personalisierung immer mehr das rationale Urteil verdrängen. Weil Gustl Mollath eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, meint man, dass auch die Umstände, die ihn in seine Lage gebracht haben, außergewöhnlich sein müssten. Man empört sich über die Psychiatrie, den Staat, die Richter, die CSU, die Psychiatrie, weil sie Gustl Mollath so übel mitgespielt hätten. Nur wenige begreifen, dass den Umständen, die ihn in die Geschlossene führten, ein Muster zugrunde liegt, dass sich auch bei den Namenlosen findet, die sein Schicksal teilen.

Auch von diesen Menschen kann, ebenso wenig wie von Gustl Mollath, mit Anspruch auf wissenschaftliche Redlichkeit gesagt werden, dass sie “psychisch krank” und daher “gefährlich” seien. Dennoch wurden auch sie, aus zweifelhaften Gründen, für “psychisch krank” und “daher gefährlich” erklärt. Auch bei ihnen mag der Grund, sie länger brummen zu lassen als für ihre (mutmaßliche) Tat gerechtfertigt gewesen wäre, eine Rolle gespielt haben. Auch sie waren wahrscheinlich verrückt genug, sich mit Leuten einzulassen, denen sie nicht gewachsen waren. Auch sie waren u. U. nicht charakterlos genug, um “Krankheitseinsicht” zu heucheln und Therapieerfolge vorzutäuschen.

Es ist gut, dass Gustl Mollath verrückt genug wahr, um uns allen vor Augen zu führen, wozu der Rechtsstaat imstande ist. Die Kehrseite der Medaille ist, dass sein Schicksal viele einschüchtert, auch wenn sie sich dies nicht bewusst machen. So wie ja auch angesichts der NSA-Überwachungsorgie viele nunmehr vorsichtig werden, wenn sie sich im Internet bewegen, so sind viele gewarnt und halten sich zurück, um nicht wie Gustl Mollath in der Psychiatrie zu landen. Vielen ist jetzt erst das Damokles-Schwert bewusst geworden, das über uns allen schwebt. Dies begünstigt eine Tendenz zur Konformität, die sich ganz und gar nicht mit dem Geist einer demokratischen Gesellschaft verträgt.

Gerade jetzt also ist der Mut zur “Verrücktheit” notwendiger denn je. Wir sollten uns klarmachen, dass die Psychiatrie in ihrem unermüdlichen Kampf gegen “psychische Krankheiten” auch all jene Verrückten einschüchtert oder einzuschüchtern versucht, die eine demokratische Gesellschaft unbedingt braucht, um nicht zu einer Fassaden-Demokratie zu verkommen. Auch wenn sie nicht, wie im Fall Mollath, aktiv involviert ist, genügt ihre bloße Existenz, um “Verrückten” den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Und machen wir uns nichts vor: Wenn erst einmal der Fall Mollath ausgestanden ist, dann werden viele, die jetzt wach geworden sind, wieder in Tiefschlaf versinken. Die para-medizinische Pseudo-Wissenschaftlichkeit der Psychiatrie ist das Tarnmäntelchen für eine ihrer wesentlichen Funktionen, die darin besteht, den Trend zur Konformität aufrecht zu erhalten und zu verstärken. Sobald Mollath keine Schlagzeile mehr wert ist, wird sich in den Medien das Marketing des psychiatrisch-pharmaökonomischen Komplexes wieder durchsetzen und die meisten der jetzt noch Kritischen werden sich einlullen lassen.

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