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Ad hominem

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Ein beliebtes Schachzug in Diskussionen ist das “argumentum ad hominem”. Das Schema wird in folgendem Beispiel deutlich:

Fritz: “Die psychiatrischen Diagnosen sind nicht valide.”

Paul: “Es ist doch klar, dass du als Scientologe so etwas sagst.”

Paul könnte mit seinem Argument zwar die Glaubwürdigkeit von Fritz erschüttern (sofern man Scientologen für Leute hält, die es mit der Wahrheit in Sachen Psychiatrie nicht so genau nehmen), aber selbst wenn Fritz tatsächlich Mitglied dieser Sekte und unglaubwürdig wäre, könnte er natürlich dennoch recht haben. Die Wahrheit einer Äußerung ist nämlich logisch unabhängig von ihrem Urheber. Eine Aussage ist wahr, wenn sie mit dem ihr entsprechenden Sachverhalt übereinstimmt.

Und diese Übereinstimmung muss man eben nicht abhängig, sondern unabhängig von ihrem Urheber überprüfen. Es spielt keine Rolle, ob Fritz Scientologe, ein notorischer Lügner, dumm, verschlagen oder sonst etwas ist. Seine Aussage kann dennoch den Tatsachen entsprechen.

Tatsache ist, was aus sinnlicher Wahrnehmung gefolgert werden kann. Betrachten wir ein diagnostisches Verfahren als valide, wenn wiederholt Übereinstimmungen zwischen den Einstufungen und körperlichen Prozessen beobachtet wurden, und zwar in kontrollierten Studien von unabhängigen Beobachtern, so können wir aus dem Fehlen solcher Beobachtungen schließen, dass die psychiatrische Diagnostik in diesem Sinn zur Zeit noch nicht valide ist. Die Validität psychiatrischer Diagnostik ist keine Tatsache, sondern allenfalls eine Mutmaßung.

Zu diesem Urteil gelangen wir unabhängig von den Charaktermerkmalen Fritzens. Die Ungültigkeit des “argumentums ad hominem” sollte eigentlich ab einem IQ > 70 selbsterklärend sein. Menschen neigen aber dazu, aus den vorliegenden Informationen eine stimmige Geschichte zu konstruieren und diese dann für wahr zu halten, auch wenn uns wichtige, zur Beurteilung eines Sachverhalts entscheidende Informationen nicht vorliegen: What you see is all there is (1).

Dies gilt nicht nur für reale, sondern auch für suggerierte Wahrnehmungen: Wenn uns suggeriert wird, Fritz sei ein Scientologe, dann neigen wir zu der Überzeugung, seine Aussage zur Validität psychiatrischer Diagnosen sei eine entsprechend motivierte Lüge,auch wenn uns die Informationen zur Beurteilung der Wahrheit seiner Aussage gar nicht vorliegen.

Manche “sehen” in solchen Fällen sogar die angeblich charakteristischen Merkmale des Scientologen, wie beispielsweise den starren Blick, und daher erübrigt sich dann auch ein weiteres Nachdenken über die Aussage dieses Menschen. Das “argumentum ad hominem” hat seine Funktion erfüllt.

Dennoch ist das Ad-hominem-Argument natürlich ein Denkfehler. Es ist in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen verpönt, aber es schleicht sich auch dort immer wieder ein, weil es einfach zu schön ist – allerdings zu schön, um wahr zu sein.

Natürlich lieben nicht nur die Protagonisten der Psychiatrie dieses Argument, sondern auch deren Gegner. Auch hierfür ein Beispiel:

Psychiater: “Das Medikament hat eine eindeutig von seinen sedierenden Eingenschaften unabhängige antipsychotische Wirkung.”

Antipsychiater: “Wie viel zahlt Ihnen denn die Pharmaindustrie dafür, dass Sie dies behaupten?”

Selbst wenn die Pharmaindustrie ihm das U-Boot für seinen Swimmingpool finanziert hätte, könnte dieser Psychiater mit seiner Aussage durchaus recht haben. Ohne eine gründliche Analyse der vorliegenden empirischen Literatur zu diesem Thema können wir uns noch nicht einmal ein vorläufiges Urteil zum Wahrheitsgehalt seiner Behauptung erlauben. Und selbst die Tatsache, dass Kreise der Pharmaindustrie nachweislich die pharmakologische Forschung im Sinne ihrer Geschäftsinteressen verfälscht haben, ändert daran nichts.

Auch ich werde gelegentlich mit Ad-hominem-Argumenten attackiert. Das bisher dreisteste lautete, ich hätte bis 62 in der Zwangspsychiatrie gearbeitet und dort eine gute Rente verdient, demgemäß sei ich ein Arschloch und meine Behauptungen in der Pflasterritzenflora seien daher nur Gerede.

Zwar habe ich niemals in der Zwangspsychiatrie gearbeitet, sondern in der Medizinischen Rehabilitation so genannter Suchtkranker und dies auch nicht bis 62 (über die Rente lasst uns schweigen), aber dies ficht die Urheberin derartiger Verleundungen nicht an. Es versteht sich von selbst, dass ich ihr im Kommentarbereich der Pflasterritzenflora keine Plattform für schlechtes Benehmen einräume.

Es gibt andere, die nicht müde werden, mir ihre Dankbarkeit für mein “mutiges Aufklärungswerk” zu bekunden. Kommentare dieses Sinnes lasse ich stehen, aber nicht aus Eitelkeit (jedenfalls nicht in erster Linie), sondern aus Respekt. Es mag für manche eine Erleichterung sein, wenn ein Psychologe einräumt, dass psychiatrische Diagnostik und Therapie bzw. Psychotherapie überaus fragwürdig sind; das entsprechende Lob nehme ich nicht persönlich.

Dennoch wird durch derartige Anerkennung der Wahrheitsgehalt meiner Aussagen keineswegs gesteigert. Wäre ich ein schlimmer Finger, so änderte auch dies nichts an ihrer Beweiskraft. Meine Aussagen müssen schlicht und ergreifend unabhängig von meiner Person überprüft werden.

Das aufwertende “argumentum ad hominem” ist genauso unzulässig wie das abwertende. Es trifft zwar durchaus zu, dass nicht selten das Ad-hominem-Argument und der Wahrheitsgehalt einer Aussage übereinstimmen. Es kommt durchaus häufig vor, dass der notorische Lügner tatsächlich lügt und die ehrlich Haut realiter die Wahrheit sagt. Daher scheint das “argumentum ad hominem” als Ausdruck schnellen Denkens praktisch bedeutsam zu sein. Doch dies erinnert mich an den Ausspruch eines Unternehmers: “Die Hälfte meiner Werbeausgaben sind herausgeworfenes Geld; ich weiß nur nicht, welche Hälfte.”

Eigentlich ist die Verwendung eines Ad-hominem-Arguments” ein Schuss ins eigene Knie. Denn wer die Person wegen einer Aussage angreift, räumt damit implizit ja ein, dass ihm die sachlichen Argumente ausgegangen sind oder er niemals welche besessen hat, die schlagkräftiger sind als jene des Angegriffenen.

Wenn ich einen Gegner im Streit mit sachlichen Argumenten widerlegen kann, dann habe ich es doch gar nicht nötig, ihn persönlich zu diskreditieren. Man könnte natürlich behaupten, sachliche Argumente zu besitzen, aber das Publikum sei zu dumm, diese zu begreifen (allein man ist wohl gut beraten, derartige Erwägungen für sich zu behalten).

Leider verfängt das “argumentum-ad-hominem” trotz seiner offenkundigen Schwächen nicht nur bei geistig minderbemittelten, leichtgläubigen Menschen. Auf einer Ebene unseres mentalen Systems denken wir alle schnell, automatisch und oftmals kurzschlüssig. Klug ist, wer dies weiß und mit dem Verstand gegensteuert.

Anmerkung

(1) Kahneman, D. (2011) Thinking, Fast and Slow: Farrar, Straus and Giroux

The post Ad hominem appeared first on Pflasterritzenflora.


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