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Rahmen

Nürnberg, 1723. Ein Mensch behauptet, er höre Stimmen, die ihn beschimpften und zu unmoralischen Handlungen aufforderten.

Der Dorfpfarrer sieht den Teufel am Werke und lässt einen Exorzisten kommen.

Nürnberg, 1955. Ein Mensch behauptet, er höre Stimmen, die ihn beschimpften und zu unmoralischen Handlungen aufforderten.

Der Psychiater sieht eine schizophrenogene Mutter am Werke und verordnet eine Psychotherapie.

Nürnberg, 2014. Ein Mensch behauptet, er höre Stimmen, die ihn beschimpften und zu unmoralischen Handlungen aufforderten.

Der Psychiater sieht einen gestörten Hirnstoffwechsel am Werke und stellt ein Rezept für ein Neuroleptikum aus.

Nicht nur die Diagnosen, auch die Patienten haben sich verändert. 1723 trug der Patient Culotte, Weste und Justaucorps. 1955 war der Patient gekleidet wie Humphrey Bogart in “Sabrina”. 2014 war er in einen klassisch geschnittenen, erdfarbenen Cashmere-Mantel gehüllt. Müssen wir hier einen Fortschritt verzeichnen?

Die Interpretation eines auf der Beschreibungsebene übereinstimmenden Verhaltens hängt offenbar von einem Bezugsrahmen ab und nur in weitaus geringerem Maß von seinen beobachtbaren physischen Merkmalen. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob wir den – mit identischen Worten beschriebenen – Vorgang auf Grundlage eines dämonologischen, eines psychoanalytischen oder eines biologisch-psychiatrischen Modells auffassen. Lässt sich das Verhältnis der drei Modelle auf einer Skala des Fortschritts markieren?

Es sind viele Theorien zu den Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten im Schwange. Als die modernste gilt die biologische. Sie teilt mit allen anderen den Mangel, dass es nicht den Hauch eines Beweises für sie gibt. Trotz superschneller Computer und bildgebender Verfahren könnte noch keine strukturelle oder funktionelle Veränderung im Gehirn eindeutig als Ursache irgendeiner der so genannten psychischen Krankheiten identifiziert werden.

Es gibt daher auch keinen wissenschaftlichen Grund, den einen vor den anderen Rahmen zu bevorzugen. Die Präferenz unterliegt offenbar dem Diktat der Mode. Dämonen sind keine seriöse Option mehr, der Mensch von Welt trägt heute Naturwissenschaften. Leider verwechseln viele Menschen den Wandel der Mode mit Fortschritt. Unlängst hörte ich, dass die als veraltert geltenden Thesen der Psychoanalyse zu den Ursachen der so genannten psychischen Krankheiten durch die neurowissenschaftliche Forschung bestätigt worden seien. Man darf gespannt sein, ob sich nicht schon bald auch die Dämonologie eines solchen Zuspruchs erfreuen wird. Warum sollte sich die Retrowelle auf Klamotten beschränken?

Manche, die für den letzten Schrei der Mode taub sind, kleiden sich zeitlos, mit schlichter Eleganz. Zeitlos, schlicht und elegant ist die Sprache des Alltags, sofern sie sich des Modeworts entschlägt. In ihrem Köcher hat sie eine Fülle von Begriffen und Redewendungen für psychische Zustände und menschliches Verhalten, mit denen man zielgenau ins Schwarze treffen kann.

Während meines Studiums vor Jahrzehnten war die behavioristische Lerntheorie en vogue. Heute denkt man dabei unwillkürlich an Ratten in Labyrinthen, an die so genannte Skinner-Box. Ratten-Experimente spielen in der heutigen Psychologie keine wesentliche Rolle mehr. Sie waren in Mode, als der Behaviorismus die akademische Psychologie dominierte. Das war einmal. Man wollte für Menschen bedeutsame Erkenntnisse stellvertretend an Ratten gewinnen.

Doch auch zuvor wurden Menschen wie Ratten behandelt. Man nannte dies Drill. Durch beständiges Üben, stures Wiederholen und Auswendiglernen sollte die Leistung gesteigert werden. Die Menschen wurden so behandelt, als ob sie, wie die Ratten, zu selbständiger Verstandestätigkeit nicht in der Lage seien. Durch den Rahmen der Konditionierung und seiner Begrifflichkeit wurde das, was zuvor unter Drill firmierte, nunmehr zur Naturwissenschaft geweiht.

Später dann wurde der Behaviorismus durch den Kognitivismus “überwunden”. An die Stelle der Verhaltenstherapie trat die Kognitive Verhaltenstherapie. Kognitionen sollten in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit gestellt, auf Angemessenheit überprüft und ggf. korrigiert werden. Dies haben Menschen allerdings auch schon zuvor getan. Der antike Philosoph Epiktet beispielsweise entwickelte in seinem Handbüchlein der Moral Gedanken, die sich heute in vielen kognitiven Ansätzen wiederfinden – natürlich in verflachter Form, wie es sich schließlich ja auch in unserer barbarischen Zeit gehört. Dass also, was Epiktet seine Schüler als Philosophie mit auf den Weg gab, wird heute im Rahmen einer Psychotherapie begriffen.

Ein Rahmen ist nicht nur eine Schablone zur Wahrnehmung des Verhaltens und Erlebens, sondern auch zu seiner Veränderung bzw. Manipulation. Es hat Konsequenzen, ob man beim Psychotiker Dämonen, eine schizophrene Mutter oder gestörte Hirn-Schaltkreise am Werke sieht. Nicht nur bei den Lebensäußerungen des Betroffenen, sondern auch bei den jeweils ergriffenen Maßnahmen müssen wir zwischen dem beobachtbaren, physischen Verhalten und seiner Interpretation unterscheiden. Man kann diese Eingriffe z. B. als Drill oder als Verhaltenstherapie, als Philosophie oder Kognitive Therapie, als Verabreichung von Drogen oder als Verschreibung von Medikamenten betrachten. Auch diese unterschiedlichen Sichtweisen haben Konsequenzen.

Man kann beispielsweise eine Zwangsbehandlung als medikamentöse Therapie zur Wiederherstellung der Einsichtsfähigkeit oder als Folter-Gehirnwäsche auffassen. Je nach Wahl des Rahmens ist sie entweder moralisch gerechtfertigt oder verwerflich.

Selbstverständlich kommt es auch bei der Beurteilung der Auswirkungen solcher Maßnahmen auf den Rahmen an. Wird ein Mensch mit einem Neuroleptikum behandelt und daraufhin apathisch, so kann man diesen Zustand beispielsweise als Remission einer Psychose rechtfertigen oder als Zombiefizierung brandmarken.

Manche, die für den letzten Schrei der Mode taub sind, kleiden sich zeitlos, mit schlichter Eleganz. Zeitlos, schlicht und elegant ist die Sprache des Alltags, sofern sie sich des Modeworts entschlägt. In ihrem Köcher hat sie eine Fülle von Begriffen und Redewendungen für psychische Zustände und menschliches Verhalten, mit denen man zielgenau ins Schwarze treffen kann.

Auch wenn es unsere Medien, wenn überhaupt, nur gelegentlich und halbherzig zur Kenntnis nehmen, so steckt die Psychiatrie dennoch in einer tiefen Krise. Ein drastisches Anzeichen dafür ist der weitgehende Rückzug der Pharmawirtschaft aus der Psychopharmaka-Forschung. Es kann unter diesen Bedingungen nicht falsch sein, den psychiatrischen Rahmen zum Verständnis menschlichen Verhaltens und Erlebens skeptisch zu betrachten. Man kann durchaus Verhalten und Erleben, das von der Psychiatrie als Symptom einer psychischen Krankheit gedeutet wird, in den Begriffen und mit Redewendungen unserer Alltagssprache beschreiben. Keine Sorge: Dies wäre nicht mit einem Verlust an Wissenschaftlichkeit verbunden.

Im Gegenteil: Denn das Vortäuschen von Wissen, das man gar nicht besitzt, mit einer durch scheinbare Fachbegriffe geschwängerten Sprache, ist Hochstapelei, keine Wissenschaft. Fachbegriffe zeichnen sich durch klare Definitionen aus; die angeblichen Fachbegriffe der Psychiatrie sind aber diffus und nicht valide. Wenn man keine Fachbegriffe hat, die dieser Bezeichnung auch gerecht werden, dann ist es sicher angemessener, sich einer klaren, schnörkellosen Alltagssprache zu befleißigen. Diese muss man ja nicht unbedingt mit dem Stil der Bildzeitung gleichsetzen.

Ein Begriff ist valide, wenn ihm etwas in der Wirklichkeit entspricht. Der Begriff “Mann im Mond” ist demgemäß nicht valide, sofern man unter “Mann” ein Exemplar der Gattung Mensch und unter “Mond” den Erdtrabanten versteht. Man verliert also einen Teil seines Bezugs zur Realität, wenn man menschliches Verhalten und Erleben im Rahmen des psychiatrischen Modells beschreibt. Einen Zugewinn an Nähe verzeichnet man, wenn man dazu die Alltagssprache verwendet.

Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass ich hier einen ziemlich plumpen Manipulationsversuch unternommen habe. Das psychiatrische Modell habe ich nämlich durch den entsprechenden Begriff (“verliert) in einen Verlust-Rahmen gestellt. Die psychiatriekritische Sichtweise wurde aber in einem Gewinn-Rahmen präsentiert (“Zugewinn”). Aus zahllosen Experimenten weiß man, dass sich Menschen eine Information, die im Gewinn-Rahmen mitgeteilt wird, eher anverwandeln als dieselbe Information, wenn sie in einen Verlustrahmen gekleidet wird. Eine neunzigprozentige Überlebenswahrscheinlichkeit wird also intuitiv positiver bewertet als eine zehnprozentige Sterbewahrscheinlichkeit. Diese Tendenz zeigt sich bei allen Menschen, nicht nur bei ungebildeten, solange sie nicht kritisch darüber nachdenken (1).

Rahmen sind mit zahllosen psychischen Effekten verbunden, die sich meist unbewusst entfalten. Wenn beispielsweise ein Mensch als “Fall für die Psychiatrie” beschrieben wird, so ruft dies beinahe zwangsläufig ein unbehagliches Gefühl hervor, weil diese Formulierung Erinnerungen an Medienberichte über Leute aktiviert, die sich bzw. andere gefährden. Ein Rahmen kann eine Fülle von Vorannahmen hervorrufen, die wir dann stillschweigen voraussetzen. Diese Vorannahmen wirken als Einschränkungen bei der Suche nach Problemlösungen. Dies ließe sich rechtfertigen, wenn der Rahmen dem Problem gerecht würde. Der psychiatrische Rahmen wird seinem Problem aber nicht gerecht.

Wer gute Geschäfte oder effektive Politik machen will, muss seinen Rahmen als verbindlich durchsetzen. Es ist entscheidend, ob gewalttätige Akte beispielsweise als Ausdruck von “Terrorismus” oder “Freiheitskampf” gesehen werden. Der Psychiatrie und der Pharmaindustrie ist es gelungen, ihren Rahmen, das medizinische Modell psychischer Krankheiten, fest im Bewusstsein der meisten Menschen zu verankern.

Wenn ein solcher Rahmen erst einmal zur geistigen Gewohnheit geworden ist, dann ist es schwierig, Einstufungen mehr als nur graduell in Frage zu stellen.

  • Dann mag man noch auf Verständnis stoßen, wenn man die lauteren Motive einzelner Freiheitskämpfer in Frage stellt, aber es ist in diesem Fall fast unmöglich, die Freiheitskämpfer insgesamt als Terroristen zu demaskieren.
  • Dann mag man noch auf Verständnis stoßen, wenn man einzelne “psychische Krankheiten” als Mode-Diagnosen in Frage stellt, aber es ist in diesem Fall fast unmöglich, den Begriff der “psychischen Krankheiten” insgesamt als Marketing-Schwindel zu entlarven.

Man dringt nicht zu den Menschen durch, deren Bewusstsein durch einen Rahmen vergattert ist.

Denksportaufgaben sind meist darum schwierig zu lösen, weil die Aufgabenstellung indirekt einen zu engen Rahmen suggeriert. Beim Neun-Punkte-Problem beispielsweise tendieren die Versuchspersonen dazu, im Rahmen des Quadrates zu bleiben. Würde die Anweisung für diese Aufgabe ihnen ausdrücklich sagen, dass es erlaubt ist, das Quadrat zu verlassen, dann hätten wir es hier nicht mit einer (schwierigen) Denksportaufgabe zu tun. Im engen, im viel zu engen Rahmen des psychiatrischen Denkens sind die Probleme von Menschen in Lebenskrisen ebenfalls nicht zu lösen. Es ist nicht das Leben selbst, das uns diesen Rahmen nahelegt. Die Wirklichkeit zwingt uns keinen bestimmten Rahmen zu ihrer Interpretation auf. Wir haben die freie Auswahl.

Anmerkung

(1) Kahnemann, D. (1911). Thinking – Fast and Slow. London: Macmillan

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