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Psychiatrie und Klassenkampf

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Eigentlich wollte ich heute, an meinem Geburtstag, meinen Mitteilungsdrang im Zaum und deswegen meine Klappe halten; allein, nun stelle ich doch schon wieder mit Erschrecken fest, dass ich mich in der Pflasterritzenflora herumtreibe, am internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, anstatt still auf einer Demo die rote Fahne zu schwenken.

Das Thema Psychiatrie ist kein Ruhmesblatt in der Geschichte der Arbeiterbewegung. Kaum waren die Kommunisten an die Macht gelangt, schafften sie die Psychiatrie nicht etwa, als Relikt der bürgerlichen Medizin, entschlossen ab, sondern sie errichteten ein psychiatrisches Regime, das an Widerwärtigkeit kaum zu überbieten war.

Zwar ist die Psychiatrie eindeutig ein Instrument des staatlichen Repressionsapparates, zwar werden Arbeiter überzufällig häufig Opfer psychiatrischer Zwangsmaßnahmen, aber es regt sich kaum Widerstand im linken Lager.

In den so genannten sozialistischen Staaten unterlagt die unkritische Haltung gegenüber der Psychiatrie einer simplen Logik. Dort wurde ja, so dachten die Genossen, der Sozialismus aufgebaut, die Sonne des Fortschritts stimmte die Menschen hoffnungsfroh. Also war es völlig unmöglich, dass sich Einzelne infolge unangemessener sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse unangepasst verhielten. Dementsprechend stimmte bei Leuten, die sich seltsam gebärdeten, irgendetwas im Gehirn nicht richtig. Diese Denkweise passte ja auch ganz hervorragend zur “materialistischen Weltanschauung”.

In den sozialistischen Staaten also kann man fehlende Psychiatriekritik hinlänglich mit flagrantem Selbstbetrug erklären. Aber warum ist die Psychiatrie, von Ausnahmen abgesehen, kein Thema für die Linke unterm Kapitalismus? Da der Geburtstagsbraten schon in der Röhre schmort, will ich mich kurz fassen:

Seitdem die Mehrheit der Linken den anarchistischen Einfluss auf ihre Politik weitgehend eliminiert hat, seitdem der “linke Radikalismus” als Kinderkrankheit des Kommunismus gebrandmarkt wurde, hat der Gedanke der Freiheit kaum noch Fußhalt in der Arbeiterbewegung. Dies betrifft nicht nur den Kommunismus in seiner stalinistischen Variante, sondern auch den Sozialismus und den Sozialdemokratismus.

Zwar hieß es noch im “Kommunistischen Manifest”: “An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.” Doch dieses edle Ziel ist in den Köpfen der staatssozialistischen Mehrheit noch nicht einmal mehr als Vision lebendig. Und deswegen fehlt auch das Bewusstsein dafür, dass man Menschen nicht ohne rechtfertigenden Grund einsperren und zwangsbehandeln darf.

Heute, am internationalen Kampftag der Arbeiterklasse, wird man keine Transparente finden, auf denen die Abschaffung der Zwangspsychiatrie gefordert wird. Mindestens 200.000 Zwangsunterbringungen so genannter psychisch Kranker, allein in Deutschland, sind aber kein gering zu schätzendes Problem, vor dem man, ohne Brett vorm Kopf, die Augen verschließen könnte.

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