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Psychiatrie: alt und neu

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Hermann Ebbinghaus, einer der Begründer der Experimentalpsychologie, eminenter Gedächtnisforscher und scharfzüngiger Kritiker, schrieb einst über die Psychoanalyse:

“Was an diesen Theorien neu ist, ist nicht wahr, und was wahr ist, ist nicht neu (2).”

Dass es mentale Prozesse gibt, die sich am Rande oder auch außerhalb des Bewusstseins abspielen, wusste man lange vor Freud. Aber “Ödipus-, “Kastrationskomplex”? Meine Güte!

Man kann den Satz des naturwissenschaftlich orientierten Experimentalpsychologen Ebbinghaus paraphrasieren, ohne seinen Wahrheitsgehalt zu schmälern: “Was in der Psychiatrie funktioniert, ist nicht neu, und was neu ist, funktioniert nicht.” Hier ist natürlich die moderne Psychiatrie gemeint, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, wie alle medizinischen Spezialdisziplinen.

Dass man Menschen dressieren kann, indem man sie einem strengen Drill unterwirft: Wer hätte das gedacht? Dies weiß man, seitdem es Schulen, seitdem es das Militär gibt. Dass Menschen hochgradig suggestibel werden, wenn man sie extremen Stress unterwirft, war bereits in der Antike bekannt. Eindrucksvolle Beispiele dieser Kunst der Suggestion unter Stress lieferten die Höllenprediger aller Zeiten, die den Sündern zunächst die immerwährenden Strafen im Feuer Satans vor Augen führten und sie dann, so weich geklopft, zur Buße und Umkehr aufforderten (1).

Insofern psychiatrische Maßnahmen auf Dressur und der Erzeugung oder Ausnutzung von extremem Stress beruhen, sind sie bemerkenswert erfolgreich. Sie führen in der Tat in vielen Fällen zu einer Änderung des Verhaltens und der Einstellungen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sie die so Kurierten zu einem erfüllten Leben befähigen. Doch wer fragt danach? Hauptsache, die Leute passen sich wieder an! So denken viele.

Doch derartige Maßnahmen führten, lange bevor es auch nur den Namen “Psychiatrie gab, zum Erfolg. Ohne den Einsatz solcher Methoden wären vermutlich keine Bewässerungssysteme und keine Pyramiden gebaut worden. Niemand hätte sich auf Schlachtfeldern verheizen lassen. Kein Mensch hätte unter jämmerlichen Bedingungen in den Fabriken des Frühkapitalismus geschuftet.

Kurz: Überall da, wo Psychiatrie effizient ist, stellen ihre Anwendungen bestenfalls eine Verfeinerung und Systematisierung von Erkenntnissen und Methoden dar, die in der Klassengesellschaft seit Jahrhunderten gesammelt bzw. eingesetzt wurden.

Auch die modernen Methoden der Psychiatrie, (Medikamente, Elektrokrampftherapie, Psychotherapie) sind nur in dem Maß wirksam, wie sie auf Dressur und Suggestion unter Stress beruhen. Die so genannten psychisch Kranken, die sich freiwillig zur Behandlung einfinden, sind in aller Regel erheblich gestresst; und allein die Suggestion, dass die psychiatrischen Maßnahmen helfen, verfehlt ihre Wirkung oftmals nicht.

Bei den Zwangsbehandelten wird Stress natürlich absichtlich erzeugt oder verstärkt, und viele gelangen dann ja auch zur “Krankheitseinsicht”. Kein Wunder. So funktioniert das seit Jahrtausenden. Gehirnwäsche.

Psychiatrie funktioniert. Genauer: Man kann Funktionierendes Psychiatrie nennen. Doch mit Medizin hat das nichts zu tun. Hier werden keine Kranken geheilt. Hier werden menschliche Verhaltensmuster und Einstellungen geformt. Auf Basis von Erfahrungen, die in den Schmieden der menschlichen Geschichte gehärtet wurden.

Wenn seriöse Forschung zu evaluieren versucht, ob die Psychiatrie ihre offiziellen Ziele zu erreichen vermag, dann fallen die Ergebnisse in der Regel kläglich aus. Dies bedeutet aber nicht, dass Psychiatrie gar keine Ziele erreichte. Diese erreicht sie durchaus. Es sind nur andere, als der Wohlmeinende glaubt.

Natürlich sind der Formung des Verhaltens und der Einstellungen durch Dressur und Suggestionen unter Stress Grenzen gezogen. Dies liegt nicht nur daran, dass die extremsten Varianten der Stresserzeugung, beispielsweise die Elektrofolter, der Psychiatrie heute nicht mehr erlaubt sind (obwohl es Ausnahmen gibt, wie das Judge Rotenberg Educational Center zeigt). Dies liegt auch daran, dass die archaischen, die elementaren Impulse des Menschen nicht nach Belieben geformt werden können. So widersetzen sich beispielsweise einmal ausgeprägte sexuelle Präferenzen hartnäckig der Manipulation.

Es versteht sich daher von selbst, dass die Formung des Verhalten und der Einstellungen durch Dressur und Suggestionen unter Stress dann die größten Erfolgsaussichten besitzt, wenn die zu formenden Subjekte ohnehin noch Wachs in den Händen ihrer Manipulatoren sind: Kinder also.

Auch dies ist keine neue Einsicht. Schon immer legten beispielsweise die Kirchen großen Wert darauf, die Kinder rechtzeitig und nachdrücklich im Glauben zu unterweisen. Und darum, so lautet meine Hypothese, wird mit der Produktion mandschurischer Kandidaten, auch bereits in frühestem Kindesalter begonnen.

Dennoch: Menschen generell, und also auch Kinder, unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Formbarkeit durch Dressur und Suggestionen. Bei manchen ist der dem Menschen innewohnende Freiheitsdrang so stark, dass selbst die härtesten Methoden der Psychiatrie scheitern.

Man wird mit solchen Methoden keine glücklichen Menschen schaffen, keine, die ein sinnerfülltes Leben führen könnten; allenfalls kann man ihnen suggerieren, dass sie ohne Unterwerfung unter den Willen der Manipulatoren noch unglücklicher wären. Bei manchen aber fruchtet dies nichts und sie leisten Widerstand.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Otto Rank) gilt der Widerstand des “Patienten” naturgemäß als ein Hemmnis, das es zu überwinden, das es auszutreiben heißt. Dies entspricht dem klassischen Arzt-Patient-Verhältnis, in dem sich der wissende, dominierende Arzt und der unwissende, folg- und fügsame Patient gegenüberstehen.

In der richtigen Medizin hat dieses Verhältnis ja, mit Einschränkungen, eine rationale Grundlage, weil der Arzt hier bekanntlich oftmals tatsächlich mehr weiß als der Kranke und Letzterer also gut beraten ist, sich den Anordnungen des Mediziners zu fügen. Dies ist dementsprechend auch aus Sicht des Patienten rational. Anders in der Psychiatrie.

Die tatsächliche Funktion der Psychiatrie ist nicht die Krankenbehandlung, sondern die Kontrolle abweichenden Verhaltens und Erlebens. Im Großen und Ganzen wird sie dieser Aufgabe, im Rahmen des Menschenmöglichen, durch Dressur und Suggestionen unter Stress auch gerecht. Selbst wenn sie nur einen Placeboeffekt erzeugt, so ist diese Wirkung zwar keine der “Medikamente” oder der “psychotherapeutischen” Methode, wohl aber zumeist eine Wirkung der Psychiatrie, der Tatsache, dass eine “Behandlung” erfolgte.

Vielleicht würde der Patient sich, im Laufe der Zeit, sogar aus eigener Kraft zum Besseren verändern, wenn ihm die Psychiatrie erspart bliebe, aber er stünde während dieses Prozesses nicht unter der Kontrolle der dafür zuständigen gesellschaftlichen Instanz: Diese Kontrolle aber ist das eigentliche Ziel der Psychiatrie bzw. der Institutionen, die diese Aufgabe vor ihr wahrnahmen (Kirche, Medizin allgemein, Schamanen etc.).

Mitunter wird mir vorgeworfen, dass ich den “psychisch Kranken” keine Alternative zur Psychiatrie nennen könnte. Wer mir dies vorwirft, kann oder will nicht richtig lesen. Jeder meiner Texte handelt (wenn mitunter auch unausgesprochen) von der Alternative zur Psychiatrie. Sie lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Selbstkontrolle.

Der Mensch unterscheidet sich von anderen Tieren dadurch, dass er als autonomes Wesen in einen Sozialverband integriert ist. Während 99 Prozent seiner Zeit auf diesem Planeten lebte das Menschengeschlecht in kleinen Stammesgemeinschaften gemäß den Regeln sozialer Freiheit. Wenn es Führer gab, so folgte man ihnen freiwillig aufgrund ihrer natürlichen, nicht ihrer angemaßten Autorität. Dies war selbstverständlich.

Erst seit dem Aufkommen der Klassengesellschaften ist dies anders geworden. Die herrschenden Klassen haben ein stark ausgeprägtes Bedürfnis, den Rest der Menschen in ihrem Einflussbereich zu kontrollieren, und zwar ggf. auch gegen ihren Willen. Die Psychiatrie ist eine späte Erfindung zu diesem Zweck. Sie medikalisierte das von Normen und Erwartungen abweichende Verhalten und Erleben des Menschen, das zuvor allenfalls ansatzweise ärztlicher Zuständigkeit unterlag.

Die Methoden, die zu diesem Zweck eingesetzt werden, haben sich im Prinzip seit Jahrtausenden nicht wesentlich verändert. Die hoch gelobten und bestaunten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, die mit Hochgeschwindigkeitscomputern und moderner bildgebender Verfahren gewonnen wurden, hatten bisher keinen nennenswerten Einfluss auf die Praxis, ja, noch nicht einmal auf die Psychopharmakologie. Die heute eingesetzten “Standard-Medikamente” wurden nicht auf Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse planvoll kreiert. Es sind überwiegend Zufallsfunde (3).

Es gibt nicht nur einen Maßstab zur Effizienz der Psychiatrie. In der Klassengesellschaft gibt es in der Regel zumindest zwei Maßstäbe zur Beurteilung von Maßnahmen, nämlich den der herrschenden und den der beherrschten Klassen. Das Urteil kann, in Abhängigkeit von den verwendeten Maßstäben, sehr unterschiedlich ausfallen.

Gemessen an den Kriterien der Medizin lassen sich die Erfolge psychiatrischer Maßnahmen in der Dimension “Krankheit – Gesundheit” nicht abbilden, da diese Pole im Bereich des Psychischen keine validen Konstrukte darstellen. Entsprechende Einstufungen von “Patienten” vor und nach einer “Behandlung” sind also willkürlich. Veränderungsmessungen im naturwissenschaftlichen Sinn sind demgemäß nicht möglich. Allein im Raum des Rhetorischen und Metaphorischen sieht dies ganz anders aus. Da kommt es stets auf die Sichtweise an.

Ein Beispiel: Erster Weltkrieg. Ein psychogen “gelähmter” Soldat wird mit mit Suggestionen und schmerzhaften elektrischen Strömen erfolgreich binnen weniger Stunden kuriert. Wurde er geheilt?

  • Nein. Seine Einstellung wurde verändert. Zuvor hielt er die “Krankheit” für besser als den Einsatz an der Front. Nach der Behandlung war es umgekehrt.Krank war er nie, von Heilung kann also nicht gesprochen werden.
  • Ja. Er wurde von einer psychischen Krankheit befreit. Zuvor litt er unter einer hysterischen Deformation seiner Psyche und durch die Behandlung wurde diese wieder normalisiert. Die Erfahrungen der Front hatte ihn krank gemacht, doch die pathologischen Reaktionen wurden überwunden.

Es kommt eben stets auf die Sichtweise an. Und diese ist an Interessen gebunden.

Anmerkungen

(1) Sargant, W. (1957, 1997). Battle for the Mind. A Physiology of Conversion and Brainwashing. How Evangelists, Psychiatrists, Politicians, and Medicine Men can change your believes and behavior. Cambridge, MA: Malor Books

(2) Deutschlandradio Kultur: Die Philosophie des Unbewussten

(3) Ban, T. A. (2006). The role of serendipity in drug discovery. Dialogues Clin Neurosci. Sep; 8(3): 335–344

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