Manche meinen, und derer sind viele, es sei ein Zeichen “psychischer Gesundheit”, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Der Verstand sei kalt und berechnend, unpersönlich und abstrakt; die Emotionen jedoch seien aufrichtig und human. Diese Auffassung wurde in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Psychotherapie-Stübchen und Selbsterfahrungsgruppen kultiviert, hat heute aber die gesamte Gesellschaft ergriffen. Wie sonst wäre es möglich, dass inzwischen der Shitstorm als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung verstanden wird?
Vielleicht bin ich schon zu alt für die modernen Zeiten. Der Kult des Gefühls ist mir fremd. Man sollte seine Emotionen beherrschen. Dies bedeutet keineswegs, dass man sie unterdrücken sollte. Dies würde erstens nicht funktionieren und zweitens in aller Regel zu nichts Gutem führen. Vielmehr sollte man lernen, sich von seinen Emotionen nicht zu Handlungen hinreißen zu lassen, die vor dem Richterstuhl der Vernunft und des Gewissens keinen Bestand haben. Selbstbeherrschung ist die erste, die wichtigste, die unerlässliche Voraussetzung von Verantwortung.
Selbstkontrolle ist im Übrigen auch die Alternative zur Psychiatrie. Wer sich dem Kult der Gefühle hingibt, läuft dementsprechend der Psychiatrie ins offene Messer. In der Choice Theory William Glassers spielt der Begriff “Total Behavior” eine herausgehobene Rolle. Verhalten setzt sich stets aus vier Komponenten zusammen: Handelns, Denken, Gefühle und Physiologie (verhaltensbegleitende körperliche Reaktionen, wie beispielsweise Schweißausbrüche). Wir können uns entscheiden, wie wir handeln und denken wollen. Unsere Gefühle und unsere physiologischen Reaktionen können wir nur in weitaus geringerem Maße beeinflussen, und wenn, dann höchstens indirekt, mittels unseres Denkens und Handelns. Wer sein Denken und Handeln unter Kontrolle hat, wird von seinen Gefühlen und seinen physiologischen Reaktionen nicht beherrscht, sondern allenfalls gelegentlich übermannt.
Besonders die Frauen lieben das Emotionale und das Persönliche und scheuen das Sachliche und Distanzierte. Nicht alle, natürlich, aber doch sehr viele. Diese Haltung ist nicht etwa naturgegeben, sondern sie ist das Erbe jahrtausendelanger Unterdrückung. Diese Last schüttelt man (sollte ich “frau” schreiben?) so leicht nicht ab. Wer es sich einfach machen will mit der Unterdrückung anderer, der muss seinen Opfern nur raten, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das ist nämlich das Gegenteil der Selbstbeherrschung, der Übernahme von Verantwortung für sich selbst.
Natürlich kann man beispielsweise durch Wutausbrüche oder Schmollen kurzfristig Erfolge erzielen, aber man untergräbt durch dieses Verhalten die Grundlagen für eine langfristige Durchsetzung der eigenen Interessen. Unberechenbarkeit kann zwar ein Instrument im Machtspiel sein, aber wenn sie nicht erkennbar einer Strategie, einem rational geplanten Vorgehen untergeordnet ist, dann löst sie ein breites Spektrum zwischen Kopfschütteln und Verzweiflung aus, nicht aber die Bereitschaft zur Kooperation oder gar zur Gefolgschaft. Da hilft auch keine Frauenquote, nicht wirklich.
Wir können entscheiden, wie wir denken und handeln wollen. Seine Gefühle zu meistern, bedeutet: so zu denken und zu handeln, dass unsere Gefühle nicht außer Kontrolle geraten und uns zu hirnlosen Aktionen veranlassen, die wir später zu bereuen haben. Was geschehen kann, wenn wir dies nicht beherzigen, zeigen am augenfälligsten die so genannten Süchtigen. Das gute Gefühl nach der Flasche Wein oder dem Schuss Heroin übernimmt die Kontrolle und ordnet sich das Denken und das Handeln unter, mit häufig fatalen Konsequenzen. Die Emotionalen sind grundsätzlich Junkies, ganz gleich, ob Rauschgifte eine Rolle spielen oder nicht.
Gefühle zu unterdrücken, ist nicht nur sinnlos, sondern auch gefährlich, denn die Stimme des Gefühls darf nicht überhört werden, weil Emotionen nun einmal ein integraler Bestandteil des totalen Verhaltens sind. Wie wir aus den Forschungen Damasios wissen, sind Menschen mit Defekten in Hirnregionen, die für Emotionen zuständig sind, oftmals nicht in der Lage, sinnvolle Entscheidungen zu fällen. Es kommt auf das rechte Zusammenspiel zwischen Gefühlen und Verstand an. Dieses Zusammenspiel ist die Vernunft.
Wir leben in schwierigen Zeiten. Die alte, rational orientierte, patriarchalische Weltordnung, die nur zu oft katastrophal unvernünftig war, hat sich in vielen Regionen der Welt glücklicherweise aufgelöst, aber der Backlash, die Überflutung mit “weiblicher” Emotionalität, hat zum Vorherrschen einer Wellness-Mentalität geführt, auf deren Grundlage man aber noch nicht einmal ein Wellness-Hotel, geschweige denn einen Staat organisieren kann. Zwar ist ein Mindestmaß an Rationalität erhalten geblieben, ohne das ja auch nichts mehr funktionieren würde, aber von einer vernünftigen Politik, eine Politik gemeisterter Gefühle, sind wir weiter entfernt als jemals zuvor in der Geschichte dieses Planeten.
Die moderne Psychiatrie ist zweifellos ein Kind des Kapitalismus (auch wenn die stalinistischen Pseudo-Sozialisten, die gern die besseren Kapitalisten gewesen wären, diese Institution nachäfften). Mit dem Siegeszug des Kapitalismus begann der Verfall der patriarchalischen Ordnung, denn das Geld ist nicht männlich, es hat kein Geschlecht. Kein Wunder also, dass mit dem Anwachsen der kapitalistischen Weltdurchdringung der Macht der Psychiatrie beständig zunahm, denn sie ist die Mühle, auf die entgrenzte und entgleiste Emotionen geleitet werden.
Eine Rückkehr zum Patriarchat empfehle ich nicht. Wenn ich mir die Weltgegenden anschaue, in denen seine Herrschaft noch ungebrochen ist, packt mich das nackte Grausen. Doch die Negation des Patriarchats allein genügt nicht, wir brauchen eine Negation der Negation. Vernunft.
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