Im Zoo stehen Tiere dauernd unter Psychopharmaka. Dies lese ich gerade in einem Artikel, den die Welt gestern online stellte. Die Tiere prägten, so heißt es, Verhaltensstörungen aus, die durchaus mit menschlichen “psychischen Krankheiten” vergleichbar seien. Ohne Psycho-Drogen (wie beispielsweise Beruhigungsmittel aus dem Arsenal der Benzodiazepine) sei eine Tierhaltung im Zoo gar nicht möglich.
Diese Nachricht überrascht mich, obwohl man sich so etwas natürlich hätte denken können. Die drängende Enge in den Käfigen und Gehegen, die das Ausleben natürlicher Instinkte verhindert, stellt eine Überforderung für viele Tiere dar und entsprechend verhalten sie sich. Kein gestörter Hirnstoffwechsel, keine dysfunktionalen Hirn-Schaltkreise, keine defekten Gene sind für die “Depressionen” und Aggressionen, für die “Neurosen” und “Psychosen” der Zootiere verantwortlich, sondern schlicht und ergreifend die Gefangenschaft, die Unfreiheit.
Die psychiatrische Wissenschaft erforscht “psychischen Krankheiten” gern im Labor, bevorzugt an Mäusen. Es gibt Maus-Modelle der “Depressionen”, der “bipolaren Störungen”, der “Schizophrenie”. Angeblich ist man dabei vor allem den angeblichen genetischen Ursachen dieser mutmaßlichen psychischen Krankheiten auf der Spur. Die dadurch entstehenden Kosten könnten man eigentlich sparen. Unsere Zoos liefern bereits im Massenmaßstab einschlägige Forschungsergebnisse an Tier-Modellen. Affen, Delphine, Eisbären, Pinguine usw. halten ihr Dasein schlicht und ergreifend ohne Psychopharmaka nicht aus – wie viele Menschen ja auch. Mit den Genen hat das nichts zu tun.
Dass bei den Tieren etwas nicht stimmt, erkennen die Pfleger in den Tiergärten an ihrem Verhalten: Sie rasten aus, sie wirken apathisch, sie vollziehen stereotype Bewegungen. Dass bei den Menschen etwas nicht stimmt, erkennen die Psychiater im Menschenzoo an ihrem Verhalten: Sie rasten aus, wirken apathisch, vollziehen stereotype Bewegungen, halluzinieren, äußern “Wahnideen”. Es gibt weder bei Menschen, noch bei Tieren objektive Tests, mit denen man “psychische Krankheiten” feststellen könnte. Im Tiergarten springen die wahren Ursachen ins Auge. Und im Menschenzoo?
Es gibt natürlich krasse Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Tiere reagieren auf ihre Lebensumstände weitgehend automatisch; es fehlt ihnen das hohe Symbolisierungsvermögen, das uns Menschen auszeichnet. Dieses Symbolisierungsvermögen gibt uns Entscheidungsfreiheit. Daher gelingt es einigen von uns, unerträgliche Lebensverhältnisse mehr oder weniger gut zu kompensieren. Außerdem werden ja auch nicht alle von uns gleichermaßen schlecht gehalten. Manche haben mehr Auslauf als andere. Doch am Grundsätzlichen ändert dies gar nichts.
So wie die Tiere im Zoo erhalten auch wir Menschen, wenn uns die Lebensverhältnisse zu gestörtem Verhalten zwingen bzw. animieren, diverse Drogen mit beruhigender oder anregender, wenn nicht euphorisierender Wirkung. Weder bei Tieren, noch bei Menschen werden mit diesen “Medikamenten” “psychische Krankheiten” geheilt oder gelindert. Sofern sie wirken, ändern sie nur das Verhalten in die gewünschte Richtung, ohne dass deswegen die Bedingungen der Haltung geändert werden müssten. Das ist praktisch.
Die Autoren des Welt-Artikels beklagen, dass die Psychopharmaka den Tieren überwiegend von Pflegern und nicht von qualifizierten Tierärzten verabreicht würden. Dies ist bei den Menschen natürlich völlig anders. Keineswegs ist es bei uns so, dass die Vergabe und Wirkungskontrolle beispielsweise in Hospitälern und Heimen überwiegend durch Pfleger erfolgt und die Rezepte nur pro forma von Ärzten abgezeichnet werden. Es ist schließlich eine hohe Kunst, Psychopharmaka zu verschreiben. Zwar weiß niemand, warum sie wirken, was sie bewirken und niemand kann vorhersagen, bei wem sie überhaupt etwas bewirken; aber die, meist fernab des Alltags vor Ort gewonnene, klinische Erfahrung der Ärzte garantiert dennoch einen verantwortlichen Umgang mit diesen Substanzen. Das wollen wir zumindest hoffen.
In einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Verhalten von Schimpansen in Tiergärten heißt es:
“Our overall finding was that abnormal behaviour was present in all sampled individuals across six independent groups of zoo-living chimpanzees, despite the differences between these groups in size, composition, housing, etc. We found substantial variation between individuals in the frequency and duration of abnormal behaviour, but all individuals engaged in at least some abnormal behaviour and variation across individuals could not be explained by sex, age, rearing history or background (defined as prior housing conditions) (1).”
Abnormes Verhalten war zwar unterschiedlich stark ausgeprägt, aber es zeigte sich bei allen Tieren. Wenn es die Aufgabe eines Modells ist, Zusammenhänge und Tendenzen besonders einprägsam zum Ausdruck zu bringen, dann ist der Tiergarten wirklich ein gutes Modell für unseren Menschenzoo. Denn bei uns sticht die Assoziation zwischen Lebensbedingungen und gestörtem Verhalten nicht so krass ins Auge. Allerdings scheinen wir uns in den modernen Industriestaaten dem Modell kontinuierlich anzunähern. Angeblich sind hier ja, mit steigender Tendenz, rund ein Drittel der Bürger während eines Jahres und die Hälfte während ihrer gesamten Lebenszeit zumindest einmal “psychisch krank”.
In einem Essay (“Such, Such Were the Joys”) berichtet George Orwell über eine Bestrafung, die er als Internatsschüler erfuhr: Er habe eigentlich nicht wegen der Schmerzen geweint, die erträglich waren, sondern einerseits aus Kummer und Reue, andererseits aber aus einem tiefen, für die Kindheit typischen Kummer:
“Ein Gefühl elender Hilflosigkeit, nicht nur eingekerkert zu sein in einer feindlichen Welt, sondern auch in einer Welt von Gut und Böse, wo die Regeln so arrangiert waren, dass es für mich tatsächlich nicht möglich war, sie einzuhalten (2).”
Auch Tiere im Zoo können die Regeln des Lebens im Tiergarten aufgrund ihrer natürlichen Impulse nicht einhalten, aber anders als wir Menschen haben sie keine Chance, darauf differenziert zu reagieren. Manche Menschen werden kreativ, wie George Orwell, der beispielsweise ein Buch über eine Welt totaler Kontrolle und Gehirnwäsche schrieb (1984). Andere können ein “normales” Leben führen, weil es ihnen gelingt, sich mit ihrer Einkerkerung, mit ihrem Zoo-Leben abzufinden und ihren Freiheitsdurst zu verdrängen. Wieder andere werden “psychisch krank” oder kriminell. Keine dieser Antworten auf das Dasein unter Zoo-Bedingungen ist “krank” oder “gesund”. Dies sind keine angemessenen Begriffe, um Versuche zu erfassen, Unzumutbares zu ertragen.
Eigentlich wollte ich dieses Thema mit satirisch zugespitzter Feder aufspießen. Dies ist mir nicht gelungen. Auch wenn wir Menschen die einzigen Tiere sind, die lachen können, so vergeht uns mitunter doch der Spaß.
Anmerkungen
(1) Birkett, L. P. et al. (2011). How Abnormal Is the Behaviour of Captive, Zoo-Living Chimpanzees? PLOS one, Published: June 16, 2011, DOI: 10.1371/journal.pone.0020101
(2) Zitiert nach: Gruen, A. (1986). Der Verrat am Selbst. München: dtv, Seite 155
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