Am 31. April 2014 berichtete “The Times” unter dem Titel “Antidepressants do more harm than good, research says” über den zweifelhaften Nutzen der gängigen Medikamente zur Behandlung der so genannten Depressionen. Am 2. Mai 2014 veröffentlichte die Zeitung hierzu einen kritischen Leserbrief des Neuropsychopharmakologen und Psychiaters David Nutt sowie einer Reihe weiterer namhafter Psychiater. Dort heißt es u. a., dass die Depression eine schwächende und mitunter tödliche Krankheit sei. Gerade bei den schwersten Fällen dieser Erkrankung seien Antidepressiva ein vitaler Teil der Behandlung. Man bestreite nicht, dass diese Medikamente bei milderen Formen der Depression nur einen geringeren Wert besäßen, aber mit dem Ansteigen des Schweregrades der Erkrankung bliebe ihre Wirkung erhalten. Die pauschale Verurteilung der Antidepressiva steigere die Zahl der Selbstmorde bei den Erkrankten.
Auf diesen Leserbrief antworteten am 6. Mai 2014 Professor Peter Gøtzsche (Nordic Cochrane Centre), Dr Joanna Moncrieff (University College London) und Dr James Davies (University of Roehampton): Wie auch immer man die Effizienz von Antidepressiva einschätzen möge, so sei doch ihre Wirkung selbst in den schwersten Fällen nur schwach und es könne kein Zweifel daran bestehen, dass sie von Ärzten zu häufig verschrieben würden. Viel zu geringe Aufmerksamkeit würde den potenziellen Schäden gewidmet, die durch diese Medikamente verursacht werden könnten. Es gäbe auch keine zuverlässigen Studien, die belegen, dass Antidepressiva Suizide verhinderten. Vielmehr würden sie bei jungen Menschen die Selbstmordrate sogar erhöhen. Überdies gebe es Hinweise darauf, dass Antidepressiva das volle Spektrum aversiver Zwischenfälle bei den Älteren steigern könnten, einschließlich Stürzen und Brüchen. Sie seien überdies mit einer erhöhten Mortalität verbunden (1).
Ein Streit unter Gelehrten? Es gibt fraglos Menschen, die unter “Depressionen” leiden, Antidepressiva nehmen und denen es daraufhin besser geht als ohne diese Medikamente. Darauf, so werden manche Freunde der psychopharmakologischen Lösung behaupten, komme es schließlich an, auf Praxisbewährung, wer heile, habe recht.
Über eine extrem häufige Nebenwirkung allerdings spricht man nicht so gern: In einer Studie zeigte sich, dass von 1022 Patienten mit einem zuvor normalen Sexualleben 59 Prozent nach Beginn der Behandlung mit Antidepressiva dauerhafte sexuelle Störungen entwickelten. Zu den Symptomen zählten verminderte Libido, (qualvoll) verzögerte Ejakulation bzw. retardierter Orgasmus, kein Orgasmus bzw. keine Ejakulation sowie Impotenz (2).
Selbstverständlich wird versucht, diese häufige Nebenwirkung der Antidepressiva zu behandeln. Bei Männern verwendet man zu diesem Zweck zumeist die Wirkstoffe Sildenafil or Tadalafil, besser bekannt unter den Kosenamen Viagra und Cialis. Bei Frauen wird Bupropion eingesetzt, ein “Antidepressivum” mit dem Nebenwirkungsprofil von Psychostimulanzien. Die Zahl der Patienten in den Studien zu dieser “Lösung” des sexuellen Problems ist klein und eine solide Bewertung der Effizienz ist daher nicht möglich (3). Man bedenke dabei, dass hier eine gravierende Nebenwirkung bekämpft wird, der nur ein klinisch weitgehend bedeutungsloser Haupteffekt, nämlich eine kaum nennenswerte antidepressive Wirkung, selbst bei schwersten Fällen, gegenübersteht (4, 5).
“Medikamente”, schreibt der Pharmakritiker und Psychiater Ben Goldacre in seinem Buch “Bad Pharma“, “werden von den Leuten getestet, die sie herstellen, und zwar in Experimenten mit schlecht konstruierten Versuchsplänen, mit hoffnungslos kleinen Zahlen von Versuchspersonen und von der Norm abweichenden, nicht repräsentativen Stichproben. Sie werden mit fehlerhaften Methoden ausgewertet, und zwar so, dass sie die Vorteile der Behandlungen übertreiben. … Wenn Studien Ergebnisse hervorbringen, die den Herstellern nicht gefallen, so sind sie vollkommen dazu berechtigt, sie vor Ärzten und Patienten zu verbergen, deswegen sehen wir immer nur ein verzerrtes Bild des wahren Effekts der Medikamente (6).”
Es gibt kaum einen Bereich, auf den dieses Verdikt Goldacres besser zutrifft als auf die Antidepressivaforschung (7). Kreise der Pharmaindustrie haben hier die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zu ihren Gunsten in atemberaubendem Ausmaß verfälscht. Die Verschreibung von Antidepressiva stieg in den letzten Jahrzehnten weltweit in Schwindel erregende Höhen. Damit verbunden war eine Konzentration der Forschung auf mutmaßliche neurobiologische Ursachen der Depression (die nicht nachgewiesen sind (9)) und eine Vernachlässigung sozialer Faktoren, die zu solchen Verstimmungszuständen beitragen können (8).
Vor der Entdeckung der Antidepressiva war die Depression eine seltene “Erkrankung”, die als vorübergehend eingeschätzt wurde. In der ersten Ausgabe des DSM, der diagnostischen “Bibel” der amerikanischen Psychiatrie, die 1952 erschien, wurde dieser “Krankheit” noch nicht einmal eine eigenständige Kategorie eingeräumt, sie galt als Begleiterscheinung anderer Störungen (10).
Heute konsumiert einer von zehn Amerikanern ein Antidepressivum (11), und anderswo in der modernen, industrialisierten Welt sieht es auch nicht viel anders aus. Man könnte angesichts solcher Zahlen also durchaus den Verdacht in sich nähren, dass der Anstieg “depressiver Erkrankungen” auf das unermüdliche Bemühen des Pharma-Marketings zurückzuführen sei. Dass sich dieses Phänomen nicht nur auf die Antidepressiva beschränkt, sondern alle Psychopharmaka zu betreffen scheint, dokumentiert Robert Whitaker in seinem Buch “Anatomy of an Epidemic” (12).
Dieses Phänomen eines explosionsartigen Ansteigens “depressiver Erkrankungen” lässt sich auf Biegen und Brechen nicht mit einer biologischen Theorie der Krankheitsursachen vereinbaren. Man könnte natürlich behaupten, die Zahl der genetisch bedingt Anfälligen sei weitgehend konstant geblieben, aber die Zahl und Intensität der Stressoren, die Depressionen auslösen können, habe sich dramatisch erhöht. Dies zu unterstellen, ist einfach, es nachzuweisen dagegen schwer. Es ist plausibler, die, vor allem von der Pharmaindustrie vorangetriebene, Medikalisierung allgemeiner menschlicher Probleme für die wachsende Zahl einschlägiger Diagnosen und Verschreibungen entsprechender Medikamente verantwortlich zu machen (13).
Die Vorstellung, dass es sich bei den Verstimmungszuständen, die von der Psychiatrie, ja, inzwischen von uns allen als “Depressionen” bezeichnet werden, um behandlungsbedürftige Krankheiten handele, hat sich fest in die Köpfe der meisten Menschen eingebrannt. Viele “Depressive” glauben immer noch, sie litten an einem “Serotoninmangel”, obwohl sich diese These inzwischen als Marketingschwindel der Pharmaindustrie herausgestellt hat (14).
Aus meiner Sicht handelt es sich der “Depression” um eine Gewohnheit, die sich unter relativ konstanten Lebensumständen entwickelt hat. Sie ist als eine Anpassung an diese Umstände zu verstehen. Sie wird aufrecht erhalten, auch wenn sie das zugrunde liegende Problem nicht löst, weil sie eine gewisse Erleichterung verschafft. So ist ein Mensch, der das Mobbing seiner Kollegen nicht mehr erträgt und depressiv wird, durch die Krankschreibung immerhin für eine Weile nicht mehr dem alltäglichen Terror am Arbeitsplatz ausgesetzt.
Gewohnheiten zeichnen sich dadurch aus, dass die Kette der meist kleinen Entscheidungen, die zu ihnen geführt hat und die sie fortbestehen lässt, nicht ins Bewusstsein gehoben und reflektiert wird. Der Betroffene hat dann mitunter den Eindruck, als träfe ihn die “Erkrankung” aus heiterem Himmel und risse ihn aus dem prallen Leben. Gewohnheiten sind nicht selten schwer zu überwinden, besonders dann, wenn man sie für eine Krankheit hält, denen eine genetisch bedingte Störung des Gehirns zugrunde liegt.
PS: David Nutt: Über ihn berichtete der Guardian unter dem Titel: “Drugs inquiry thrown into doubt over members’ links with manufacturers“. Er hatte wohl auch schon Probleme mit seiner Regierung, wie ebenfalls der Guardian berichtete: “Chief drug adviser David Nutt sacked over cannabis stance“. Nutt hat offenbar eindeutige geschäftliche Interessen und eine eigenwillige Auffassung zur Risikobewertung von stimmungsverändernden Substanzen aller Arten. Selbstverständlich stellen seine Verbindungen zur Pharma-Industrie ebenso wenig wie sein Urteil über die Gefährlichkeit diverser Drogen die Unbestechlichkeit seines Urteils als Wissenschaftler in Frage. Dessen Validität kann nur im Licht der empirischen Forschung differenziert betrachtet werden.
Anmerkungen
(1) Dieser Briefwechsel wird auf der Website des “Council for Evidence-based Psychiatry” dokumentiert.
(2) Montejo, A. et al. (2001). Incidence of sexual dysfunction associated with antidepressant agents: a prospective multicenter study of psychotropic-related sexual dysfunction. Journal of Clinical Psychiatry, 62 (Suppl. 3): 10-21
(3) Taylor M.J. et al. (2013). Strategies for managing sexual dysfunction induced by antidepressant medication. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 5. Art. No.: CD003382. DOI: 10.1002/14651858.CD003382.pub3. – See more at: http://www.thementalelf.net/mental-health-conditions/depression/new-cochrane-review-provide-strategies-for-managing-sexual-dysfunction-brought-on-by-antidepressants/#sthash.UUyCs6El.dpuf
(4) Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10
(5) Moncrieff, J. (2002). The antidepressant debate. British Journal of Psychiatry, 180:92-94
(6) Goldacre, B. (2012). Bad Pharma: How drug companies mislead doctors and harm patients. Fourth Estate: London (UK)
(7) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel 17: Psychiatry, the drug industry’s paradise
(8) Horwitz, A. (2002). Creating Mental Illness. Chicago: University of Chicago Press
(9) Gøtzsche, Peter (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe, Kapitel 17, Abschnitt: The Chemical Imbalance Hoax
(10) Healy D. (1997). The Antidepressant Era. Cambridge, Mass.: Harvard University Press
(11) Rabin, R. C. (2013). A Glut of Antidepressants. New York Times, 12. August
(12) Whitaker, R. (2010). )Anatomy of an Epidemic. Magic Bullets, Psychiatric Drugs, and the Astonishing Rise of Mental Illness in America. New York: Broadway Paperbacks
(13) Conrad, P. (2007): The Medicalization of Society: On the Transformation of Human Conditions into Treatable Disorders. Baltimore: Johns Hopkins University Press
(14) Pflasterritzenflora: Depression
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