Manche Einwände gegen Psychiatriekritik erledigen sich von selbst.
- Wer behauptet, der Kritiker sei böse, dumm, ungebildet, habe keine Ahnung, sei ungewaschen oder zeichne sich durch sonstige gravierende negative Merkmale aus und daher müsse man seine Kritik nicht ernst nehmen, unterliegt einem Denkfehler. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
- Wer unterstellt, die Referenzen des Kritikers seien veraltet, die Schlussfolgerungen unlogisch, die Darstellung sei einseitig und diene nur der Bestätigung von Vorurteilen und wer dies und ähnliche Anwürfe nicht belegt, der will oder kann offenbar nicht begreifen, dass gültige Argumente nicht nur aus Behauptungen bestehen, sondern auch aus den entsprechenden Begründungen.
Andere Einwände sind jedoch durchaus berechtigt und verdienen eine ernsthafte Auseinandersetzung. Zu diesen begründeten Widerreden zählt eine Stellungnahme, die sich gegen die scientistische Ausrichtung meiner Psychiatriekritik wendet. Bekanntlich messe ich die Psychiatrie an ihrem Anspruch, Teil der modernen, naturwissenschaftlich fundierten Medizin zu sein.
In der kürzesten Form wird dieser Anspruch von Thomas Insel, dem Direktor des amerikanischen “National Institute of Mental Health” auf den Punkt gebracht. Er schreibt:
“It has become an NIMH mantra to describe mental disorders as brain disorders.”
Meine Kritik an der Psychiatrie fußt nun auf der Voraussetzung, dass es nicht die Spur eines Beweises für die These gibt, es sei beim Stand der gegenwärtigen Erkenntnis möglich, psychische Krankheiten mit Anspruch auf wissenschaftliche Redlichkeit als Gehirnerkrankungen zu beschreiben. Bisher ist es der Forschung noch nicht gelungen, für irgendeine der so genannten psychischen Krankheiten einen ursächlichen Zusammenhang mit Störungen des Gehirns zu identifizieren (1).
Meine Psychiatriekritik wäre also gegenstandslos, wenn sich im Lichte der empirischen Forschung herausstellen sollte, dass die Phänomene, die von der Psychiatrie als Symptome psychischer Krankheiten gedeutet werden, de facto ursächlich auf Hirn- oder sonstigen körperlichen Störungen beruhen. Es könnte dann durchaus sein, dass ich immer noch das eine oder andere an ihrer Praxis oder an ihrem moralischen Selbstverständnis zu bekritteln hätte, aber ich würde sie nicht mehr als medizinische Spezialdisziplin in Frage stellen.
Der Einwand gegen meine Psychiatriekritik, mit dem ich mich heute auseinandersetzen möchte, geht aber einen anderen Weg. Man versucht nicht, mich davon zu überzeugen, dass meine Einschätzung der psychiatrischen Forschungssituation unzutreffend wäre. Sondern man verpackt die Kritik an meiner Psychiatriekritik sehr geschickt in Psychiatriekritik. Man steckt mich gleichermaßen mit dem psychiatrischen Mainstream in einen Sack. Ich unterläge, genauso wie Insel und viele Mainstream-Psychiater, dem fatalen Irrtum, dass sich die moderne Psychiatrie im Wesentlichen auf einer naturwissenschaftlichen und hier insbesondere auf einer neurowissenschaftlichen Grundlage zu entfalten habe.
Die Psychiatrie sei aber, so heißt es, keine reine Naturwissenschaft, ja, vielleicht überhaupt keine Wissenschaft im strengen Sinne, sondern sie sei eine praktische, eine klinische Disziplin. Sie schöpfe aus einem Fundus von Erfahrungen, die durch die Jahrzehnte in alltäglicher Arbeit gesammelt wurden. Zwar berücksichtige sie selbstverständlich auch naturwissenschaftliche, ebenso wie psychologische, soziologische und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse, aber sie sei dennoch im Kern Heilkunst und dürfe nicht auf Biologie oder Heiltechnik reduziert werden.
Den Leser bitte ich, an dieser Stelle angesichts dessen, was sich in der Psychiatrie tatsächlich abspielt, das Lachen zu unterdrücken und den Gesichtspunkt der “Heilkunst” so ernst zu nehmen, wie er es verdient. Auch ich habe früher einmal geglaubt, die Psychiatrie ließe sich reformieren, wenn sie zum Gedanken der Heilkunst zurückfände. Durchaus begeisterte mich die Idee, dass Patienten und Helfer mit verteilten Rollen im Rahmen einer therapeutischen Gemeinschaft ein therapeutisches Theater aufführen, in dem sinnvolle Strategien der Lebensbewältigung eingeübt werden.
Inzwischen habe ich allerdings ein Konzept der “psychischen Krankheiten” entwickelt, das sich mit solchen Theater-Vorstellungen nicht verträgt. Aus meiner Sicht sind die so genannten psychischen Krankheiten oder genauer, die so genannten Symptome Versuche, fortbestehende Lebensprobleme zu lösen. Es handelt sich dabei um Versuche, die zwar eine Erleichterung bringen, aber keine vollständige und dauerhafte Lösung und die daher zur Gewohnheit geworden sind. Kurz: Die so genannten psychischen Krankheiten sind keine Gehirnerkrankungen, sie sind gar keine Krankheiten, sondern Gewohnheiten, und oftmals sogar schlechte (Unarten).
In diesen Fällen braucht man keinen Arzt. Gewohnheiten sind bekanntlich schwer, mitunter verdammt schwer zu überwinden. Viele Menschen fühlen sich ihnen sogar hilflos ausgeliefert. Dennoch ist es eine Erfahrung, die so alt ist wie das Menschengeschlecht, dass man sich seiner Gewohnheiten entledigen kann, wenn man einen felsenfesten Entschluss dazu fasst und bei diesem bleibt. Kein Arzt, auch kein Heilkünstler kann uns diese Aufgabe abnehmen. Mit Pillen kann man die Gewohnheiten vielleicht unterdrücken, aber nicht beseitigen. Und Psychotherapien werden eher selbst zur (schlechten) Gewohnheit, als dass sie zur Meisterung von Gewohnheiten dieser Art beitrügen.
Der Schlüssel zur Überwindung von Gewohnheiten liegt bei uns selbst, in uns selbst. Selbstverständlich braucht man bei der Suche nach dem Schlüssel mitunter Ermutigung. Und natürlich kann eine verständnisvolle Begleitung hilfreich sein, wenn wir nach dem Öffnen der Tür neue, nicht gewohnheitsmäßige Pfade beschreiten. Doch wir benötigen keineswegs zu diesem Zwecke einen medizinischen Apparat. Uns fehlt ja nichts. Vielmehr haben wir etwas zu viel – eine Gewohnheit, die wir von uns tun müssen. Das medizinische System ist nicht die Hilfe, die uns nützt. Der Staat braucht dieses System, um Leute mit unpassenden Gewohnheiten unter Kontrolle zu behalten.
Es sollte ein der Psychiatrie in jeder Hinsicht gleichberechtigtes System der Ermutigung und Begleitung aufgebaut werden, das nicht auf dem medizinischen Modell psychischer Krankheiten beruht. Die psychologischen und sozialwissenschaftlichen Grundlagen zur Fundierung eines alternativen Modells der Hilfe liegen vor. Man braucht kein hoch qualifiziertes und entsprechend teures Personal, um die hier erforderliche Hilfe anzubieten. Profis können bekanntlich nicht besser psychotherapieren als Laien (2). Der Grund dafür: Wenn Psychotherapien überhaupt etwas bewirken, dann dadurch, dass sie den Betroffenen ermutigen, eine felsenfeste Entscheidung gegen eine alte Gewohnheit zu fällen. Dass man nicht unbedingt Profi sein muss, um Leute zu motivieren, leuchtet unmittelbar ein.
Die Psychiatrie als klinische Disziplin, die auf Heilkunst fußt?, das hat was!, vor allem angesichts der desolaten Lage in der psychiatrischen Forschung. Doch genau diese Lage nährt Zweifel daran, dass die Psychiatrie überhaupt gebraucht wird, noch nicht einmal als Heilkunst, weil es ihren Gegenstand, die so genannten psychischen Krankheiten, offenbar gar nicht gibt.
Anmerkungen
(1) “More than three decades after Johnstone’s first computerised axial tomography of the brain of individuals with schizophrenia, no consistent or reliable anatomical or functional alterations have been univocally associated with any mental disorder and no neurobiological alterations have been ultimately confirmed in psychiatric neuroimaging.” Aus: Borgwardt, S. et al. (2012). Why are psychiatric imaging methods clinically unreliable? Conclusions and practical guidelines for authors, editors and reviewers. Behavioral and Brain Functions, 8:46
(2) Pflasterritzenflora: Profis, Laien, Psychotherapie
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