Einleitung
Die Psychiatrie steckt in einer tiefen Krise. Dies wurde inzwischen sogar von einigen seriösen Zeitungen, meist im angelsächsischen Raum, bemerkt. Anlass waren Enthüllungen über fragwürdige Kooperationen zwischen, teilweise führenden, Psychiatern und der Pharma-Industrie. Doch bei dieser Krise handelt es sich keineswegs um ein Phänomen neueren Datums. Seitdem sich die Psychiatrie im Verlauf des 19. Jahrhunderts als medizinische Spezialdisziplin auf naturwissenschaftlicher Grundlage konstituierte, steht sie oft vor schier unüberwindlichen theoretischen, praktischen und moralischen Problemen. Dennoch wächst und gedeiht sie prächtig, wenngleich sich die Krise beständig verschärft, weil die Probleme nicht gelöst, sondern unter den Teppich gekehrt werden.
Im Folgenden werde ich mich zunächst mit den wichtigsten Befunden zur gegenwärtigen Lage der psychiatrischen Wissenschaft auseinandersetzen und abschließend eine Hypothese wagen, warum die Psychiatrie, trotz ihres beklagenswerten Zustands, dennoch erfolgreich ist.
Das medizinische Modell der psychischen Krankheiten
In einem Beitrag für das “British Journal of Psychiatry” unterstellen der Psychiater Pat Bracken und 28 Co-Autoren der zeitgenössischen Psychiatrie, auf Basis eines “technologischen Paradigmas” zu arbeiten (1). Dieses Paradigma zeichne sich durch folgende Grundannahmen aus:
- Psychische Probleme entstehen aus fehlerhaften Mechanismen oder Prozessen irgendeiner Art, die physiologische oder psychologische Ereignisse einschließen und die im Individuum auftreten.
- Diese Mechanismen oder Prozesse können durch Kausalbegriffe modellhaft erfasst werden; sie sind nicht kontextabhängig.
- Technische Interventionen sind hilfreich und können entworfen und untersucht werden, ohne Beziehungen und Werte zu berücksichtigen.
Kurz: Die so genannten psychischen Krankheiten sind Krankheiten wie Diabetes und sie können wie andere körperliche Krankheiten auch nach einem vorgegebenen Schema medikamentös, psychotherapeutisch, mit Elektrokrampftherapie oder anderen vergleichbaren Methoden aus dem Arsenal der Psychiatrie behandelt werden.
Aus dieser Sichtweise ergeben sich gravierende Konsequenzen für das Arzt-Patient-Verhältnis:
- Auf der einen Seite steht der aktive, wissende, anordnende Arzt und auf anderen Seite der passive, unwissende, sich fügende Patient.
- Dem Arzt zugeordnet ist das medizinische Hilfspersonal, das weniger weiß als der Arzt und mehr als der Patient und dessen Aufgabe u. a. darin besteht, die “Compliance” des Patienten zu überwachen.
- Der Patient leidet unter einer Krankheit, die einer Eigendynamik unterliegt und die sich vollständig oder weitgehend seiner Kontrolle entzieht.
- Der Arzt verfügt – so Gott will! – über die Mittel und über das Wissen, um den kranken Automatismus zu unterbrechen oder zumindest abzuschwächen bzw. seiner Verschlimmerung entgegenzuwirken.
- Der Patient besitzt weder diese Mittel, noch dieses Wissen; sein Beitrag kann also nur darin bestehen, die Funktion des Erfüllungsgehilfens des ärztlichen Willens zu übernehmen, also zu medizinischem Hilfspersonal in eigener Sache zu werden.
Es stellt sich die Frage, ob die heutige Psychiatrie dem Anspruch dieses Krankheitsmodells gerecht werden kann. Dies würde bedeuten, dass die Psychiatrie in der Lage sein müsste, psychische Krankheiten valide zu diagnostizieren, Krankheitsverläufe zu prognostizieren und Leiden erfolgreich zu behandeln oder zumindest zu lindern.
Die psychiatrische Diagnostik
Der Zustand der psychiatrischen Diagnostik ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet (diese Liste habe ich in Anlehnung an eine umfassende Analyse von Stuart A. Kirk, Tomi Gomory und David Cohen (2) entwickelt):
- Die Kriterien psychiatrischer Diagnosen sind mehrdeutig. Was zum Beispiel ist eine exzessive, eine irrationale Angst, die der Betroffene als schwer zu kontrollieren empfindet?
- Die Kriterien sind redundant. Es werden Kriterien als unterschiedliche Merkmale aufgeführt, obwohl sie sich zu einem zusammenfassen lassen.
- Die Diagnostik ignoriert den sozialen Kontext menschlichen Verhaltens weitgehend, da sie voraussetzt, das “pathologische” Verhalten würde durch eine Hirnstörung hervorgerufen.
- Der Schwellenwert, wie viele potenzielle Merkmale eines Verhaltensmusters vorhanden sein müssen, damit es als “krankhaft” gilt, ist willkürlich gesetzt.
- Es werden unterschiedliche Verhaltensmuster zu einem “Krankheitsbild” zusammengefasst. Unter Umständen haben zwei Personen eine “Krankheit”, obwohl sie keines der relevanten Merkmale gemeinsam haben.
- Nicht selten leiden Menschen angeblich gleichzeitig an mehreren psychischen Krankheiten oder sie weisen Merkmale von diversen “Krankheitsbildern” auf, ohne die Voraussetzungen für eines davon voll zu erfüllen.
- Die Diagnosen sind kategorial (man hat etwas oder nicht), obwohl die zugrunde liegenden Zustände dimensional (also mehr oder weniger stark ausgeprägt) sind.
- Die “Krankheitsbilder” sind rein beschreibend; sie lassen sich nicht aus bekannten Ursachen herleiten. Ein Mensch hat Krankheit Y, weil er die Symptome a, b und c aufweist. Und Y ist definiert durch die Symptome a, b und c. Herr P ist schizophren, weil er Stimmen hört und unter Wahnideen leidet und Schizophrenie ist eine Krankheit, bei der Menschen Stimmen hören und unter Wahnideen leiden (ich verkürze die Kriterien hier aus Gründen der Übersichtlichkeit). Solche Definitionen sind zirkulär, haben mit Wissenschaft demgemäß nichts zu tun.
- Kein Wunder also, dass psychiatrische Diagnosen nicht reliabel sind. Häufig sind sich zwei Psychiater nicht einig, ob ein und dieselbe Person psychisch krank ist und wenn ja, worunter sie leidet. Kein Wunder auch, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide sind. Bisher ist es der Psychiatrie noch nicht gelungen, die gestörten Hirnprozesse nachzuweisen, die angeblich für diese Krankheitsbilder verantwortlich sein sollen. Sie kennt keine Biomarker oder sonstige objektiv feststellbare Messgrößen, mit denen sie die Diagnose einer “psychischen Krankheit” erhärten könnte. Kein Wunder schlussendlich, dass die Unterscheidung zwischen “psychisch Gesunden” und “psychisch Kranken” nicht durch empirische Daten untermauert werden kann. Sie ist also beliebig.
Dies ist keineswegs nur eine Sichtweise von Außenseitern. Der Direktor des National Institute of Mental Health, der weltweit größten und einflussreichsten psychiatrischen Forschungsinstitution, Thomas Insel schreibt über das amerikanische Diagnosehandbuch DSM (3):
“Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen.”
Thomas Insel meint, dass Psychiatrie-Patienten etwas Besseres verdient hätten als diese Art der Diagnostik, die dem heutigen Stand der Medizin weit hinterherhinkt.
Die medikamentöse Therapie
Peter Gøtzsche, Mitbegründer der “Cochrane Collaboration” und Leiter des “Nordic Cochrane Center”, hat mehr als 50 Beiträge in den “Big Five” der medizinischen Wissenschaft (BMJ, Lancet, JAMA, NEJM, Annals) publiziert; das ist eine ungewöhnlich hohe Zahl. Man könnte renommierter nicht sein. Er hat u. a. die Effizienz von Psychopharmaka grundlegend empirisch untersucht. Er gelangt zu einem vernichtenden Urteil (4): Es ginge den Menschen besser, wenn diese Substanzen vom Markt genommen würden.
Diese “Medikamente” haben in aller Regel nur einen geringen Nutzen, wenn überhaupt, sind aber sehr häufig mit zum Teil gravierenden und mitunter unumkehrbaren Schadwirkungen verbunden.
Es ist hier nicht der Ort, sich auch nur mit den wichtigsten Gruppen von Psychopharmaka im Detail auseinanderzusetzen. Beispielhaft: Antidepressiva sind kaum nennenswert wirksamer als Placebos (5). Neuroleptika wirken, sofern sie überhaupt eine über den Placebo-Effekt hinausgehende Wirkung haben, vor allem dadurch, dass sie apathisch machen (6).
Was der Psychiater Ben Goldacre in seinem Buch “Bad Pharma” über die Medikamentenforschung allgemein schreibt, trifft in verschärftem Maße auf die Psychopharmakaforschung zu: “Medikamente werden von den Leuten getestet, die sie herstellen, und zwar in Experimenten mit schlecht konstruierten Versuchsplänen, mit hoffnungslos kleinen Zahlen von Versuchspersonen und von der Norm abweichenden, nicht repräsentativen Stichproben. Sie werden mit fehlerhaften Methoden ausgewertet, und zwar so, dass sie die Vorteile der Behandlungen übertreiben. … Wenn Studien Ergebnisse hervorbringen, die den Herstellern nicht gefallen, so sind sie vollkommen dazu berechtigt, sie vor Ärzten und Patienten zu verbergen, deswegen sehen wir immer nur ein verzerrtes Bild des wahren Effekts der Medikamente (7).”
Die Psychotherapie
Seit rund fünfzig Jahren wird die Psychotherapie mit den Methoden der empirischen und experimentellen Psychologie systematisch erforscht. Die wichtigsten Befunde lassen sich wie folgt zusammenfassen (8 – 13):
- Psychotherapie ist effektiv. Dies ergibt sich aus Vergleichen zwischen behandelten und nicht-behandelten Gruppen. (Leider wird in diesen Studien zumeist nur festgestellt, dass die Behandelten besser abschneiden als die Nicht-Behandelten; die klinische Signifikanz, also die Annäherung an den Zustand einer “normalen” Vergleichsgruppe, wird in der Regel nicht überprüft.)
- Der Erfolg von Psychotherapie hängt nicht oder kaum von den Methoden ab. Dies zeigt sich beim Vergleich unterschiedlicher psychotherapeutischer Verfahren (Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie etc.).
- Psychotherapien sind effektiver als Placebobehandlungen und Placebobehandlungen sind wirksamer als keine Behandlung. Bei einer Placebobehandlung glaubt der Patient, er würde mit einem “echten” psychotherapeutischen Verfahren therapiert, wohingegen der Therapeut weiß, dass es sich um Hokuspokus handelt. Dies ist ein methodisch und philosophisch schwieriges Feld, und man darf aus gutem Grund unterstellen, dass in diesem Bereich Placebo-Behandlungen in erheblichem Maß Gefahr laufen, “entblindet” zu werden. Daher ist es durchaus denkbar, dass die höhere Effektivität von Psychotherapien im Vergleich zu Placebo-Behandlungen ein methodisches Artefakt ist.
- Persönliche Merkmale des Therapeuten sind erheblich bedeutsamer als die sehr geringen methodischen Effekte. Dies ergibt sich aus dem Vergleich der Effektivität verschiedener Therapeuten einer Ausrichtung sowie dem Vergleich der Effektivität verschiedener Methoden. Die Unterschiede zwischen den Therapeuten einer Schule sind deutlich größer als die Unterschiede zwischen den Therapieverfahren.
- Die Effektivität der Psychotherapie ist weitgehend unabhängig von der Ausbildung, der Fachrichtung (Arzt, Psychologe, keine Ausbildung) sowie von der Dauer der Berufserfahrung des Therapeuten. Dies ergibt sich aus Vergleichen der Effektivität von professionellen, semi-professionellen und nicht-professionellen Therapieanbietern. Laien sind tendenziell sogar erfolgreichere “Psychotherapeuten” als Profis.
- Eine bedeutsame Determinante des Therapieerfolgs ist die geteilte Überzeugung von Therapeut und Klient, dass die Psychotherapie ein Erfolg versprechendes Verfahren sei. Dieses Faktum ist ein starkes Argument für die Annahme eines Placebo-Effekts und für die Vermutung, dass die Studien, die eine Überlegenheit der Psychotherapie gegenüber der Placebo-Therapie feststellten, durch Entblindung verfälscht wurden.
- Den mit großem Abstand wichtigsten Beitrag zum Therapieerfolg leisten die “Selbstheilungskräfte” des Klienten, also seine Fähigkeiten zur Selbstkorrektur.
Psychiatrische Ursachenforschung
Die noch vor wenigen Jahren als Lehrbuchwissen aufgefassten Thesen, dass psychische Krankheiten auf “chemischen Ungleichgewichten” im Gehirn beruhten, sind inzwischen als obsolet zu betrachten. Peter Gøtzsche bezeichnet zum Beispiel, auf Grundlage systematischer empirischer Studien, die Serontonin-These der Depression und die Dopamin-These der Schizophrenie unverblümt als Schwindel (4).
In seinem Director‘s Blog (14) äußert sich der Psychiater und Leiter des NIMH, Thomas Insel zum Stand der psychiatrischen Ursachenforschung, kurz zusammengefasst, wie folgt:
- Es wurde zu einem NIMH-Mantra, psychische Krankheiten als Gehirnstörungen zu beschreiben.
- Psychische Störungen unterscheiden sich aber von den klassischen neurologischen Störungen. Neurologische Störungen beruhen auf fokalen Läsionen (Schädigungen, die von einem bestimmten Zielpunkt ausgehen).
- Psychische Krankheiten sind scheinbar Störungen von Schaltkreisen im Gehirn.
- Die Störungen der Schaltkreise entstehen im Lauf der Hirnentwicklung eines Menschen.
- Die moderne Hirnforschung macht es möglich, diese gestörten Schaltkreise zu identifizieren.
- Trotz ihrer atemberaubenden, explosionsartigen Entwicklung steht die neurowissenschaftliche Forschung allerdings noch ganz am Anfang.
- Wir wissen noch nicht einmal, was ein Schaltkreis ist. Wo beginnt er? Wo endet er? Wie hängt das Muster der Aktivität, das wir auf den Brain Scans sehen, mit dem zusammen, was tatsächlich im Gehirn geschieht? In welche Richtung fließt die Information?
- Die Metapher „Schaltkreis“ könnte sogar völlig unzulänglich sein, um zu beschreiben, wie mentale Vorgänge aus neuronalen Abläufen hervorgehen.
- „Während die neurowissenschaftlichen Entdeckungen schnell und wild kommen, können wir eine Sache bereits jetzt sagen, nämlich, dass frühere Begriffe psychischer Störungen als chemische Ungleichgewichte oder soziale Konstrukte antiquiert auszusehen beginnen. Viel von dem, was wir jetzt über die neuronale Basis psychischer Störungen lernen, ist zur Zeit noch nicht reif für die Klinik, aber es kann nur geringer Zweifel daran bestehen, dass klinische Neurowissenschaft schon bald Menschen zu gesunden helfen wird.“ („While the neuroscience discoveries are coming fast and furious, one thing we can say already is that earlier notions of mental disorders as chemical imbalances or as social constructs are beginning to look antiquated. Much of what we are learning about the neural basis of mental illness is not yet ready for the clinic, but there can be little doubt that clinical neuroscience will soon be helping people with mental disorders to recover.“)
Ich wiederhole: Die Sichtweisen, dass psychische Störungen chemische Ungleichgewichtszustände im Gehirn oder soziale Konstrukte (also von Psychiatern erfundene Fiktionen) seien, beginnen, antiquiert zu erscheinen.
Abschließend darf natürlich das Bekenntnis zum baldigen Durchbruch in der neurowissenschaftlichen Forschung nicht fehlen. Dies ist nicht nur das Mantra des NIMH, sondern der gesamten modernen Psychiatrie seit Jean-Martin Charcot, also seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Ob diese Hoffnung auf einen baldigen Durchbruch, im Sinne Ernst Blochs, “docta spes” ist oder nur eine närrische Illusion, bleibt dahingestellt. In einer gründlichen Analyse des gegenwärtigen Forschungsstandes der kognitiven Neurowissenschaft zeichnet der amerikanische Neurowissenschaftler William Uttal jedenfalls ein verheerendes Bild: Abgesehen von einigen elementaren Bereichen der Sensorik haben wir zur Zeit kein zuverlässiges Bild der neuronalen Grundlagen des psychischen Geschehens (15). Es mag zwar sein, dass “neuroscience discoveries are coming fast and furious”, aber sie sind nicht sehr reliabel, denn ein Befund widerspricht dem nächsten. Uttal bezweifelt im Übrigen, dass es uns jemals gelingen wird zu verstehen, wie das Gehirn den Geist produziert. Die hierfür vermutlich verantwortlichen vielschichtigen mikroskopischen neuronalen Netzwerke seien viel zu komplex, um in endlicher Zeit berechnet werden zu können.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann sich die psychiatrische Praxis eindeutig nicht auf Erkenntnisse der Neurowissenschaft stützen. Dass dies schon bald der Fall sein werde, versicherten uns auch die Psychiater vergangener Jahrhunderte. Es fragt sich also, was sie unter “schon bald” verstehen.
Erfolge der Psychiatrie
Selbstverständlich darf man aus dem, gemessen an medizinischen Maßstäben, desolaten Zustand der Psychiatrie nicht schließen, dass sie erfolglos sei. Im Gegenteil: Insofern psychiatrische Maßnahmen auf Dressur und der Erzeugung oder Ausnutzung von extremem Stress beruhen, sind sie bemerkenswert effektiv. Sie führen in der Tat in vielen Fällen zu einer Änderung des Verhaltens und der Einstellungen. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass sie die so Kurierten zu einem erfüllten Leben befähigen, also Therapien im medizinischen Sinn sind.
Dass Menschen hochgradig suggestibel werden, wenn man sie extremem Stress unterwirft, war bereits in der Antike bekannt. Eindrucksvolle Beispiele dieser Kunst der Suggestion unter Stress lieferten die Höllenprediger aller Zeiten, die den Sündern zunächst die immerwährenden Strafen im Feuer Satans vor Augen führten und sie dann, so weich geklopft, zur Buße und Umkehr aufforderten, oft durchaus mit zumindest vorübergehendem Erfolg (16).
Derartige Maßnahmen waren, lange bevor es auch nur den Namen “Psychiatrie” gab, fraglos hinlänglich effektiv. Ohne den Einsatz solcher Methoden wären vermutlich keine frühgeschichtlichen Bewässerungssysteme und keine Pyramiden gebaut worden. Niemand hätte sich auf Schlachtfeldern verheizen lassen. Kein Mensch hätte unter jämmerlichen Bedingungen in den Fabriken des Frühkapitalismus geschuftet.
Kurz: Überall da, wo Psychiatrie effizient ist, stellen ihre Anwendungen bestenfalls eine Verfeinerung und Systematisierung von Erkenntnissen und Methoden dar, die in der Klassengesellschaft seit Jahrhunderten gesammelt bzw. eingesetzt wurden. Immer dann, wenn sie sich als wirksam erweisen, sind offene und strukturelle Gewalt im Spiel bzw. die Drohung damit.
Auch die modernen Methoden der Psychiatrie (Medikamente, Elektrokrampftherapie, Psychotherapie) sind nur in dem Maß wirksam, wie sie auf Dressur und Suggestion unter Stress beruhen. Die so genannten psychisch Kranken, die sich freiwillig zur Behandlung einfinden, sind in aller Regel erheblich gestresst; und allein die Suggestion, dass die psychiatrischen Maßnahmen helfen, verfehlt ihre Wirkung oftmals nicht.
Bei den Zwangsbehandelten wird Stress natürlich absichtlich erzeugt oder verstärkt, und viele gelangen dann ja auch zur “Krankheitseinsicht”. Kein Wunder. So läuft das seit Jahrtausenden.
Psychiatrie funktioniert. Genauer: Man kann Funktionierendes Psychiatrie nennen. Doch mit Medizin hat das nichts zu tun. Hier werden keine Kranken geheilt. Hier werden menschliche Verhaltensmuster und Einstellungen geformt – auf Basis von Erfahrungen, die in den Schmieden der menschlichen Geschichte gehärtet wurden. Die Psychiatrie hat Menschen, die auf rätselhafte Weise von der Norm abweichen, die stören oder bedrohlich wirken bzw. sind, mehr schlecht als recht unter Kontrolle. Von vielen wird dies als Erfolg gewertet, mit dem man sich achselzuckend zufrieden gibt.
Wenn seriöse Forschung zu evaluieren versucht, ob die Psychiatrie ihre offiziellen, also ihre angeblich ärztlichen Ziele zu erreichen vermag, dann fallen die Ergebnisse in der Regel kläglich aus. Dies bedeutet aber nicht, dass Psychiatrie gar keine Ziele erreichte. Diese erreicht sie durchaus. Es sind nur andere, als der Wohlmeinende glaubt.
Anmerkungen
(1) Bracken, P. et al. (2012). Psychiatry beyond the current paradigm. The British Journal of Psychiatry (2012) 201, 430–434
(2) Kirk, S. A. et al. (2013). Mad Science: Psychiatric Coercion, Diagnosis, and Drugs. Piscataway, N. J.: Transaction
(3) Dies gilt uneingeschränkt auch für den psychiatrischen Teil der in Deutschland gebräuchlichen ICD.
(4) Gøtzsche, P. (2013). Deadly Medicines and Organised Crime: How Big Pharma has Corrupted Healthcare. Radcliffe
(5) Moncrieff J, Wessely S, Hardy R (2012). Active placebos versus antidepressants for depression (Review). The Cochrane Library, Issue 10
(6) Breggin, P. R.: Giftige Psychiatrie, Band 1. Heidelberg, Carl-Auer-Systeme, 1996
(7) Goldacre, B. (2012). Bad Pharma: How drug companies mislead doctors and harm patients. Fourth Estate: London (UK)
(8) Bohart, A. (2000). The client is the most important common factor. Journal of Psychotherapy Integration, 10, 127-149
(9) Christensen, A. & Jacobson, N. (1994). Who (or what) can do psychotherapy: The status and challange of nonprofessional therapies. Psychological Science, 5, 8-14
(10) Dawes, R. (1996). House of Cards. Psychology and Psychotherapy Built on Myth. New York: Free Press
(11) Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag
(12) Frank, J. D. & Frank, J. B. (1991). Persuation and Healing: A Comporative Study of Psychotherapy. (3rd ed.). Baltimore: John Hopkins University Press
(13) Wampold, B. E. (2001). The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods, and Findings. Mahwah, N. J. & London, Lawrence Erlbaum Ass, Pub.
(14) Insel, T. (2011). Director’s Blog: Mental Illness Defined as Disruption in Neural Circuits
(15) Uttal, W. R. (2011). Mind and Brain. A Critical Appraisal of Cognitive Neuroscience. Cambridge: MIT Press
(16) Sargant, W. (1957, 1997). Battle for the Mind. A Physiology of Conversion and Brainwashing. How Evangelists, Psychiatrists, Politicians, and Medicine Men can change your believes and behavior. Cambridge, MA: Malor Books
The post Die Krise der Psychiatrie appeared first on Pflasterritzenflora.