Vorbemerkung: Dieser Text bezieht sich nicht auf Menschen, die “psychische Krankheiten” bewusst vortäuschen, um sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen.
Einleitung
In der Soziologie versteht man unter Rollen Systeme normativer Zwänge und, diesen entsprechender, Rechte (1). Rollenkonformität setzt also die hinlängliche Bereitschaft und Fähigkeit voraus, diesen Zwängen zu entsprechen und die Rechte wahrzunehmen. Bei diesen Zwängen und Rechten handelt es sich allerdings nicht um private Verpflichtungen und Anmaßungen, sondern um Erwartungen signifikanter Anderer (beispielsweise einer Gruppe, einer Organisation oder des Staates).
Jedes System von Zwängen und Rechten, das auf den Erwartungen signifikanter Anderer beruht, konstituiert eine Rolle; und so steht außer Frage, dass auch Kranken eine Rolle auferlegt ist. Krankheitseinsicht zerfällt dementsprechend in zwei Dimensionen: eine, die sich auf die Art und die Ursachen der körperlichen bzw. im Individuum liegenden gestörten Prozesse und eine andere, die sich auf das Rollensystem mit seinen Rechten und Pflichten bezieht.
Der Krankenrolle entsprechen folgende Rechte und Verpflichtungen (2):
- Rechte:
- Der Kranke wird teilweise von den Verpflichtungen entbunden, die ihm andere Rollen auferlegen.
- Der Kranke wird für seinen Zustand nicht verantwortlich gemacht. - Pflichten:
- Der Kranke sollte versuchen, wieder gesund zu werden.
- Der Kranke sollte kompetente Helfer suchen und sich deren Anordnungen fügen.
Mutmaßlich Kranke können sich selbstverständlich auch weigern, diese Rolle zu übernehmen, z. B. mit dem Argument, sie seien gar nicht krank. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie haben Recht oder nicht. Um entscheiden zu können, welche der beiden grundsätzlichen Varianten zutrifft, muss man objektive Methoden besitzen, um das Vorliegen der Krankheit reliabel und valide feststellen zu können. Im Falle der so genannten psychischen Krankheiten gibt es derartige Methoden allerdings nicht (3).
Dementsprechend ist die “Krankheitseinsicht” bei den so genannten psychischen Krankheiten eindimensional: Da niemand die Ursachen der mutmaßlichen psychischen Krankheiten kennt und da nicht klar ist, ob es sich bei den Phänomenen, die als “Symptome psychischer Krankheiten” gedeutet werden, tatsächlich um Krankheiten handelt, kann sich die Krankheitseinsicht nur auf das System der Zwänge und Rechte beziehen, das mit der Rolle des “psychisch Kranken” verbunden ist.
Freie Entscheidung
Beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnis gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass Menschen die Rolle des “psychisch Kranken” übernehmen, weil sie tatsächlich an einer entsprechenden Krankheit leiden (11).
Es mag also erlaubt sein, nach alternativen Erklärungen für die Phänomene, die von der Psychiatrie als “Symptome” gedeutet werden, zu suchen, da sie ja zweifellos existieren.
- Ein Mensch wird “depressiv”, um vor einer Lebensaufgabe auszuweichen, bei der er zu scheitern fürchtet.
- Ein Mensch wird “paranoid”, weil er so eine Erklärung für das Versagen bei der Meisterung einer Lebensaufgabe hat (die Freimaurer, Illuminaten, Marsmenschen, Geheimdienste usw. waren schuld)
- Ein Mensch wird “hyperaktiv”, weil dies in seinem Bezugssystem von ihm so erwartet wird (weil beispielsweise die Eltern vor der Scheidung stehen und die Sorge um ihr Kind sie wieder zusammenschmiedet)
In diesen drei Fällen übernimmt der Mensch offensichtlich die Rolle des “psychisch Kranken”, um sich der Verantwortung zu entziehen oder weil er dem Drängen signifikanter Anderer zur Übernahme dieser Rolle nachgegeben hat. In jedem Fall haben ihn die Umstände seines Lebens geneigt gestimmt, sich aus freien Stücken dazu zu entscheiden, “psychisch krank” zu sein.
Wenn wir genauer hinschauen, so vermute ich, werden wir in jedem Fall einer so genannten psychischen Krankheit ähnliche Muster entdecken. Heute ist es Mode geworden, als Ersatz für die oder als Ergänzung zu den “biologischen” Ursachen psychische Traumata für “psychische Krankheiten” verantwortlich zu machen. Und ich will gar nicht bestreiten, dass traumatisierende Umwelten Menschen besonders geneigt stimmen können, sofort oder im späteren Leben die Rolle des “psychisch Kranken” zu übernehmen. Aber es bleibt dennoch die freie Entscheidung des Betroffenen; er ist nicht wie ein Automat dazu gezwungen.
Dennoch erscheinen den Betroffenen und oft auch den Beobachtern die “psychisch kranken” Muster des Verhaltens und Erlebens wie Automatismen. Die Frage ist, ob diese Erscheinung auch ihrem Wesen entspricht.
Entweder ein Verhalten erfolgt automatisch (Beispiel: Achillessehnenreflex), dann hat man keine Wahl. Hat man aber eine Wahl, dann handelt es sich nicht um ein automatisches Verhalten. Wir Menschen haben fast immer die Wahl. Unser Verhalten beruht weitgehend auf Entscheidungen. Ob diese Entscheidungen Ausdruck eines freien Willens sind oder nicht, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall aber findet ein Abwägen statt, das sich auch am Rande des Bewusstseins oder unbewusst vollziehen kann, und dies ist ein Charakteristikum von Entscheidungen.
Daher sind die meisten Verhaltensmuster, die als automatisch eingestuft werden, in Wirklichkeit Gewohnheiten. Gewohnheiten gehen häufig aus bewusst gesteuertem Verhalten hervor, das zur Routine wird und dann kaum noch Aufmerksamkeit erfordert. Doch selbst wenn sich Gewohnheiten nur unbeachtet eingeschliffen haben und gedankenloser Wiederholung geschuldet sind, so haben sie doch zumindest eine, meist aber eine Kette von Entscheidungen zur Voraussetzung. Und auch der Vollzug von Gewohnheiten kann auf Entscheidungen nicht verzichten. Wer während einer Autofahrt bei ruhigem Verkehr und auf bekannter Strecke telefoniert, fährt in aller Regel gewohnheitsmäßig; und doch ist er in der Lage, in Gefahrensituationen sich voll und bewusst dem Geschehen auf der Straße zu widmen. Also wird diese Gewohnheit von permanenten unbewussten Entscheidungen zur etwaigen Notwendigkeit einer vollen Konzentration auf die Fahrer-Tätigkeit begleitet.
Wer immer und immer wieder eine Praline einer bestimmten Sorte in den Mund steckt und genießerisch auf der Zunge zergehen lässt, der wird sich mit der Zeit daran gewöhnen. Die wahrscheinliche Konsequenz aber, dass nämlich diese Gewohnheit eventuell schwer zu überwinden ist, hat er sich bei seinen vielen Entscheidungen, eine Praline dieser Sorte zu essen, nicht bewusst gemacht. Dennoch hat er eine Gewohnheit ausgeprägt, die ohne diese Entscheidungen nicht zustande gekommen wäre.
Es gibt Gewohnheiten des Wahrnehmens, des Fühlens, des Denkens, des Verhaltens, kurz: jede erdenkliche Lebensäußerung, die nicht allzu komplex und schwierig auszuüben ist, kann zur Gewohnheit werden.
Dies gilt natürlich auch für die so genannten psychischen Krankheiten, die selbstredend ebenfalls Gewohnheiten in vollster Blüte sind. Natürlich sind die “psychisch Kranken” in der Regel keine Simulanten. Sie würden Stein auf Bein schwören, dass sie für ihre “Symptome” nichts könnten. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sie durchaus viele, viele kleine Entscheidungen gefällt haben, die zu ihren “Symptomen” führten, ohne dass sie sich dies dabei bewusst gemacht hätten.
Wer sich beispielsweise dazu entschließt, seine Wut zu unterdrücken, weil er sich vor den Konsequenzen ihres Auslebens fürchtet, der darf sich nicht wundern, wenn er früher oder später unter Gemütsverstimmungen leidet. Denn schlussendlich sind unterdrückte Wut und Gemütsverstimmungen ja nur zwei Seiten einer Medaille. Beim “Depressiven” ist das Unterdrücken von Wut zur Gewohnheit geworden.
Man könnte alle erdenklichen so genannten psychischen Krankheiten in dieser Weise durchdeklinieren und würde zu demselben Ergebnis kommen. Dies überlasse ich der Fantasie des Lesers.
In aller Regel entziehen sich die Gewohnheiten, unter denen der “psychisch Kranke” leidet, der Reflexion des Betroffenen. Er fühlt sich seinen “Symptomen” hilflos ausgeliefert und wähnt, dass ihnen ein Mechanismus, der sich seiner Kontrolle entziehe, zugrunde läge.
In diesem Glauben wird er natürlich durch die Psychiatrie verstärkt, die sich für diesen eingebildeten Mechanismus zuständig fühlt und ihr Einkommen damit generiert. Dieser Mechanismus aber ist keine Fehlfunktion des Gehirns, sondern eine Gewohnheit, die der Mensch ausgebildet hat, um sein Leben zu bewältigen. Diese Gewohnheiten haben sich ohne oder am Rande seiner Aufmerksamkeit entwickelt und darum hat er auch nicht gelernt, diese Verhaltensweisen bewusst zu kontrollieren.
Alles, was er zu tun hätte, wäre, sich dazu zu entscheiden, diesen Gewohnheiten seine volle Aufmerksamkeit zu widmen und beharrlich, in einem mitunter mühevollen Prozess, die Kontrolle zurückzuerobern. Besser wäre es natürlich, die eigenartigen Verhaltensweisen, die von der Psychiatrie als “Symptome” einer “psychischen Krankheit” gedeutet werden, gar nicht erst zur Gewohnheit werden zu lassen.
Doch leider strömen häufig viel mehr Reize auf uns ein, als unser Bewusstsein zu meistern vermag. Schon allein deswegen entstehen beinahe zwangsläufig manche Gewohnheiten, die wir, sobald sich ihre unerwünschten Konsequenzen zeigen, am liebsten schnell wieder loswürden.
Hat sich eine Gewohnheit erst einmal gebildet, so erscheint sie oftmals als die beste aller Verhaltensalternativen, die dem betroffenen Menschen in seiner Situation zur Verfügung stehen. Dies muss objektiv nicht der Fall sein. Es mag Alternativen geben, die den eigenen Zielen besser dienen würden. Aber wer vermag seine Situation schon immer objektiv einzuschätzen?
Hypnose
In aller Regel also ist “psychische Krankheit” ein Rollenspiel, das zur Gewohnheit geworden ist. Man kann dies nicht mit dem Rollenspiel im Theater vergleichen, bei dem der Akteur ja voll bewusst und absichtlich eine Rolle gestaltet und sich darüber klar ist, dass er nicht wirklich King Lear oder Otello ist.
Rollentheoretisch lässt sich der “psychisch Kranke” recht gut mit einem Hypnotisanden vergleichen, sofern man die Rolle des letzteren im Sinne der “Role-taking Theory” (4) von Theodore Sarbin interpretiert. Ebenso, wie der “Hypnotisierte” so handelt, als ob er hypnotisiert, so handelt der “psychisch Kranke” so, als ob er psychisch krank wäre. Und beide handeln in diesem Sinn, weil sie bereit sind, sich in eine Situation zu fügen, in der dieses “Als-ob-Handeln” angemessen ist und voraussetzt, dies nicht zum Gegenstand kritischer Reflexion zu machen. Wenn also der situative Anforderungscharakter sich ändert oder wenn der “psychisch Kranke” nicht mehr bereit ist, sich diesen Zumutungen zu unterwerfen, dann ist der “psychisch Kranke” wieder “gesund”. Theoretisch.
In der Praxis zeigt sich allerdings ein gravierender Unterschied zur Hypnose. Der Hypnotiseur kann einen Hypnotisanden recht einfach wieder “aufwecken”, durch eine hypnotische Suggestion. Bei “psychisch Kranken” ist das in aller Regel nicht so simpel. Denn die Rolle des “psychisch Kranken” ist kein Bestandteil eines “Psycho-Spiels”, wie dem der Hypnotisierung, sondern sie ist eingebettet in die sozio-ökonomische Struktur unserer Gesellschaft – sie dient der Kontrolle aller Formen von erheblich störenden Abweichungen, für die das Justizsystem nicht zuständig ist. Solche Rollen haben eine große Haltekraft. Wer einmal in sie hineingerutscht ist, kommt so schnell nicht wieder heraus – auch wenn die Lebensprobleme, zu deren Bewältigung sie ursprünglich dienten, nicht mehr existieren.
Das Wesen der “psychischen Krankheit”
Im bisherigen Verlauf der Argumentation habe ich die “psychische Krankheit” wie folgt charakterisiert: “Psychische Krankheit” ist gewohnheitsmäßiges Rollenspiel im Zustand der Dauerhypnose und im Sinne eines Als-ob-Handelns. Die “psychisch Kranken” gleichen Schauspielern, die Irre spielen, von ihrer Rolle aber so durchdrungen sind, dass sie sich selbst für Irre halten. Es bleibt allerdings die Frage nach dem Warum.
Wer die Erfahrung gemacht hat, dass ihm nichts gelingen will, ganz gleich, wie er sich auch, im Rahmen seiner Kräfte, bemüht und was auch immer er anstellt, um die Verhältnisse zu seinen Gunsten zu formen, der ist geneigt, die Umstände zumindest so zu beeinflussen, dass sie eine möglichst selbstwertschonende Erklärung für das eigene Scheitern plausibel erscheinen lassen.
Dieses Verhalten wurde experimentell gründlich erforscht. Man nennt es “Self-handicapping”. So wurde Versuchspersonen beispielsweise erzählt, sie seien Teilnehmer an einer Medikamentenstudie. Sie hätten die Wahl zwischen einen leistungsfördernden und einem leistungshemmenden Medikament. Wenn Versuchspersonen sicher zu wissen glaubten, dass sie bei der sich anschließenden Aufgabe, unabhängig von der Art des Medikaments, scheitern würden, so bevorzugten sie das leistungshemmende Medikament (5).
Die Neigung, die Wirklichkeit umzudeuten oder gar vorauseilend zu manipulieren, um die Selbstachtung bei erwartetem Misserfolg zu schützen, ist menschlich-allzumenschlich.
Im Falle der so genannten Depression, so könnte man argumentieren, versage die Selbstwertregulation. Misserfolge werden von Depressiven in der Regel als selbst verursacht betrachtet, als Ausdruck einer allgemeinen Unfähigkeit gedeutet und als Bestätigung für dauerhaftes Versagen aufgefasst (6). Solche Einschätzungen führen naturgemäß zu einem geringen Selbstwertgefühl. Doch bei genauerem Hinschauen ergibt sich eine Interpretation, die eine durchaus erfolgreiche Selbstwertregulation auch in diesen Fällen nahelegt. Der Depressive sieht sich selbst negativer, um sich daran zu hindern, Pläne zu verwirklichen, bei denen er zu scheitern fürchtet, was ggf. ein noch negativeres Selbstbild zur Folge hätte.
Durch ein gesenktes Selbstwertgefühl will er also eine noch schlimmere Verringerung seiner Selbstachtung vermeiden, die sich in Folge eigener Aktivität einstellen könnte. Da zieht er sich lieber “depressiv” in sein Schneckenhaus zurück. Durch die Diagnose einer “psychischen Krankheit” hat er dann auch noch eine Entschuldigung dafür, hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben. Weil er so furchtbar depressiv ist, kann er, so will er seine Mitwelt und meist auch sich selbst glauben machen, nicht das leisten, wozu er als Gesunder mühelos imstande wäre. Für die Depression könne er aber nichts, diese sei die Folge eines angeborenen Serotoninmangels bzw. einer schweren Traumatisierung in der Kindheit.
Zwar hat Rolf Degen anhand einschlägiger Forschungen gezeigt, dass die Selbstachtung generell keinen Einfluss darauf hat, welches Geschick uns im Leben widerfahren wird (7); Richard Bentall zeichnet jedoch ein differenzierteres Bild: Bei Menschen, die als “psychisch krank” eingestuft wurden, spielt das Selbstwertgefühl durchaus eine bedeutsame Rolle (8). Dass die so genannten Depressiven häufig ein niedriges Selbstwertgefühl haben, ist ja offensichtlich, und Forschungen bestätigen, dass Wahnvorstellungen die Funktion haben können, ein quälend niedriges Selbstwertgefühl zu erhöhen (indem anderen, beispielsweise den Außerirdischen oder den Illuminaten, die Schuld am eigenen Scheitern gibt).
Während also der “Paranoide” sein Selbstwertgefühl auf Kosten einer tragfähigen Realitätsorientierung zu steigern versucht, senkt es der “Depressive”, um in der Realität durch Misserfolgsvermeidung noch schlimmere Selbstwerteinbußen zu verhindern. Es wurde oft beobachtet, dass sich “Depressive” durch eine unterdrückte, passive Feindseligkeit auszeichnen. Der amerikanische Psychiater William Glasser deutet die Depression als unterdrückte Wut (9). Der Betroffene entscheidet sich für die Depression, weil er sich vor den Konsequenzen ausgelebter Wut fürchtet. Diese Auffassung lässt sich mühelos in meine Interpretation der Rolle des Selbstwertgefühls im Ursachenbündel der “Depression” integrieren. Wie steht einer da, der zum Rasenden wird, damit aber letztlich erfolglos bleibt und sich lächerlich macht? Da ist es doch besser, man hat eine Depression, die einen daran hindert, sich sinnlos auszutoben. Dem Depressiven ist der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach. Der Spatz symbolisiert die Vorteile der Krankenrolle des Depressiven.
Eine “psychische Krankheit” ist ohne Zweifel ein Handicap. Dieses Handicap eignet sich hervorragend für das Self-handicapping. Erstens ist man als “Erkrankter” nämlich Opfer eines physischen Prozesses oder einer frühkindlichen Traumatisierung, also einer Krankheit bzw. Behinderung, die sich der eigenen Kontrolle (weitgehend) entzieht und zweitens muss man evtl. sogar Medikamente schlucken, deren Nebenwirkungen im Allgemeinen die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Damit lassen sich dann leicht eigene Minderleistungen selbstwertschonend erklären.
Diese Strategie vermag aber nur dann das Selbstwertgefühl zu schützen, wenn man selbst daran glaubt, krank zu sein. Zwar beeinträchtigt eine “psychische Krankheit” ebenfalls das Selbstwertgefühl, aber wenn man gezwungen wäre, die Verantwortung für chronisches Scheitern auf die eigene Kappe zu nehmen, dann hätte dies noch viel desaströsere Folgen für die Selbstachtung. Zum Glück aber besagt die herrschende Lehre der Psychiatrie, dass “psychische Krankheiten” Automatismen seien, die sich der Kontrolle durch die Betroffenen (weitgehend) entziehen. Diese Lehre eignet sich, so betrachtet, also hervorragend als Marketing-Instrument, weil sie die potenzielle Kundschaft in Watte packt.
Das Versagen ist leichter zu ertragen, wenn man es auf einen Schicksalsschlag, eine Krankheit zurückführen kann. Die Erklärungsalternativen wären ja beispielsweise Faulheit, mangelnde Cleverness, fehlendes Durchhaltevermögen und ähnliche, höchst abwertende Attribute.
Die generelle, zweifellos stark vereinfachte Formel, lautet also: Durch die Übernahme der Rolle des “psychisch Kranken” versucht der “Erkrankte”, sich vor einer größeren Einbuße an Selbstachtung, die sich mutmaßlich ohne “Krankheit” einstellen würde, zu schützen. Er wählt also, wie jeder Mensch, unter den gebotenen Alternativen jene aus, die ihm die beste zu sein scheint. Er mag sich dabei natürlich täuschen, und vielleicht ist die Rolle des “psychisch Kranken” objektiv ja gar nicht die beste Möglichkeit zur Optimierung der Selbstwertregulation. Doch das spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass der Betroffene glaubt, durch seine “Erkrankung” weniger unglücklich zu sein als ohne diese. Zwar zwingt ihn die Krankenrolle, sich behandeln zu lassen, aber niemand kann ihn dazu zwingen, sich durch diese Behandlung auch (dauerhaft) “heilen” zu lassen.
- Selbstverständlich nagt die Diskriminierung durch die Diagnose “Schizophrenie” an der Selbstachtung des “Paranoiden”, aber ohne seine Paranoia müsste er sich für sein Versagen im Leben selbst verantwortlich fühlen und könnte die Schuld nicht bösen Verfolgern in die Schuhe schieben.
- Der “Depressive” zeigt aller Welt durch sein Verhalten, wie wenig er von sich selber hält, aber ohne seine Depression müsste hinaus ins Leben, mit all seiner aufgestauten Wut, mit der Gefahr des Versagens, verbunden mit einer noch größeren Senkung seines Selbstwertgefühls.
- Ein Mensch mit einer “Borderline-Persönlichkeitsstörung” kann eine Beziehungskrise dadurch bewältigen, dass er den zuvor vergötterten Partner nunmehr verteufelt. Dies wird seine Selbstachtung zwar belasten, denn seine Mitwelt wird ihm wegen dieser willkürlichen Ungerechtigkeit zusetzen. Aber was wäre, wenn er ohne seine “Störung” dem eigenen Versagen in der Beziehung ins Auge blicken müsste?
Man kann diesen Gedanken anhand aller erdenklichen so genannten psychischen Krankheiten durchdeklinieren; man wird mühelos Strategien erkennen, wie der Betroffene versucht, so viel wie möglich von seinem Selbstwertgefühl zu retten, denn diese Rettung bedeutet weniger Unglück. Es ist nicht erforderlich, dass der Betroffenen seine “Strategie” bewusst reflektiert und sie nach sorgsamer Erwägung aller Vor- und Nachteile anwendet. Im Gegenteil: Je weniger er davon weiß, je stärker er davon überzeugt ist, “psychisch krank” zu sein, desto effektiver ist die Strategie.
Es ist wohl nicht allzu weit hergeholt, wenn man die Psychiatrie als Komplizin des Self-handicapping begreift oder sogar als Anstifterin dazu. Denn die (empirisch haltlose, aber dennoch vehement verfochtene) Theorie der biologischen (oder alternativ dazu traumatischen) Ursachen “psychischer Krankheiten” trägt ebenso zur Selbstentlastung der “Patienten” bei wie alle wohlmeinenden Bemühungen der Psychiatrie, die Entstigmatisierung “psychischer Krankheiten” voranzutreiben. Entstigmatisierung bedeutet im Klartext ja, Bedrohungen des Selbstwertgefühls zu vermindern, die mit dem Spielen der Rolle des “psychisch Kranken” verbunden sind. Auch diese Bemühungen eignen sich also hervorragend als Bestandteile einer Marketingstrategie.
Forscher haben einen Fragebogen zur Messung der Tendenz zum Self-handicapping entwickelt und siehe da: Diese Neigung korreliert hoch mit der Hypochondrie (10). Wer hätte das gedacht?
Nun mag man einwenden, dass oben skizzierte Theorie zwar zu erklären vermag, warum Menschen “psychisch krank” werden, nicht aber, warum sie dieses oder jenes “Syndrom” entwickeln. Hier handelt es sich im Übrigen um einen Prüfstein für alle Theorien der Ursachen psychischer Krankheiten (mit Ausnahme derjenigen, die meinen, ein Mensch ziehe seine “psychische Krankheit” in einer Gen-Lotterie).
Die Frage der “Krankheitswahl” wird sich vermutlich, wenn überhaupt, nur von Fall zu Fall beantworten lassen. Nicht immer sind die Zusammenhänge so deutlich wie bei einem Soldaten, der an der Front zum Kriegszitterer wird, weil er so vermeiden kann, beim nächsten Mal wieder zu versagen, wenn es gilt, auf Menschen zu schießen. Es ist durchaus denkbar, dass die “Symptome” einer “psychischen Krankheit” nicht in einer direkten Beziehung zu den Anforderungen stehen, die es zu vermeiden gilt (weil man Misserfolg fürchtet), sondern nur in einer indirekten oder gar symbolischen. Es kann auch sein, dass der Betroffene einen Menschen aus seinem Erfahrungskreis imitiert, der zuvor bereits erfolgreich mit einer bestimmten “psychischen Krankheit” einer Misserfolgserfahrung ausgewichen ist. Nicht selten dürften die Vorlieben des diagnostizierenden Psychiaters für die Art der “psychischen Krankheit” verantwortlich sein. Ganz zu schweigen von den Einflüssen der Mode. Ach, wie viele wurden doch “multiple Persönlichkeiten”, als dies gerade en vogue war. Nach meiner Theorie müsste es eine Tendenz zur Bevorzugung “psychischer Krankheiten” geben, die mit einer geringeren Stigmatisierung verbunden sind.
Fazit
Wenngleich mir meine Gedanken zum Wesen der “psychischen Krankheit” recht plausibel vorkommen wollen, so habe ich dennoch keinen Zweifel daran, dass sie spekulativ sind. Man kann all dies auch ganz anders sehen. Nur sollte man sich davor hüten, seine eigene Position für wahr und unanfechtbar zu halten. Zumindest beim gegenwärtigen Stand der Forschung gibt es nämlich keine Möglichkeit, eine solche Auffassung empirisch zu erhärten.
Meine These lautet: “Psychische Krankheit” ist gewohnheitsmäßiges Rollenspiel im Zustand der Dauerhypnose, im Sinne eines Als-ob-Handelns und zum Zwecke des Self-handicappings. Nach subjektiver Einschätzung des Betroffenen ist die “psychische Krankheit” unter den jeweils gegebenen Bedingungen jene Alternative des Verhaltens und Erlebens, die mit dem geringsten Gesichtsverlust verbunden ist. Die “psychische Krankheit” ist das Resultat vieler kleiner Entscheidungen, die darauf hinauslaufen, einen Gesichtsverlust in Kauf zu nehmen, um einen noch größeren Gesichtsverlust zu vermeiden. Sie ist, wie so vieles im menschlichen Leben, ein Manöver im Feld der Eitelkeit.
Es wäre natürlich hilfreich zu wissen, welche Hirnprozesse diesem Rollenspiel zugrunde liegen und ob sich die Hirne der Menschen, die diesem Rollenspiel frönen, strukturell oder funktionell von denen der so genannten Normalen unterscheiden. Man könnte dann Pillen entwickeln, die gezielt auf diese Hirnprozesse einwirken, um das ihnen entsprechende Rollenspiel zu unterbinden. Allein, von solcher Kenntnis und solchen “Medikamenten” sind wir Lichtjahre entfernt.
Zur Zeit noch sind wir Schlafwandler unter Schlafwandlern, staunende, teilnehmende Beobachter dieses Theaters, das “psychisch kranke” Rollenspieler hervorbringt, die ihre heilig-unheiligen Rituale vollziehen, ernst und sorgenvoll, als ob diese Schauspiele das wahre Leben wären.
Anmerkungen
(1) Boudon, R. & Bourricaud, F. (1992). Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. Opladen: Westdeutscher Verlag, 435 ff.
(2) Millon, T et al. (1999). Oxford Textbook of Psychopathology. Oxford University Press US. p. 446
(3) Pflasterritzenflora: Die Krise der Psychiatrie
(4) Sarbin, T.R. & Coe, W.C. (1972). Hypnosis: A Social Psychological Analysis of Influence Communication: New York: Holt, Rinehart and Winston
(5) Berglas, S. & Jones, E. E. (1978). Drug choice as a self-handicapping strategy in response to noncontingent success. Journal of Personality and Social Psychology, 36, 405 – 417
(6) Peterson, C.; Maier, S. F.; Seligman, M. E. P. (1995). Learned Helplessness: A Theory for the Age of Personal Control. New York: Oxford University Press
(7) Degen, R. (2000). Lexikon der Psycho-Irrtümer. Warum der Mensch sich nicht therapieren, erziehen und beeinflussen lässt. Frankfurt/Main: Eichborn Verlag
(8) Bentall, R. P. (2003) Madness Explained: Psychosis and Human Nature London: Penguin Books Ltd
(9) Glasser, W. (1999). Choice Theory. New York: Harper Perennial
(10) Smith, T.W., Snyder, C.R., & Perkins, S.C. (1983). The self-serving function of hypochondriacal complaints: Physical symptoms as self-handicapping strategies. Journal of Personality and Social Psychology, 44, 787–797
(11) Pflasterritzenflora: Sind psychische Krankheiten real?
The post Die Rolle des “psychisch Kranken” appeared first on Pflasterritzenflora.