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Die Psychiatrie aus behavioristischer Sicht

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Burrhus Frederic Skinner: “Ich bin aus verschiedenen Gründen kein kognitiver Psychologe. Ich sehe keinen Beweis für eine innere Welt des mentalen Lebens bezogen entweder auf eine Analyse des Verhaltens als einer Funktion von Kräften der Umwelt oder die Physiologie des Nervensystems. Die entsprechenden Wissenschaften des Verhaltens und der Physiologie werden sich am schnellsten nach vorn bewegen, wenn sie ihre Gegenstände korrekt definieren und analysieren.
Gleichermaßen machen mich die praktischen Konsequenzen betroffen. Der Appell an kognitive Zustände und Prozesse ist eine Ablenkung, die durchaus für viele Fehlschläge beim Lösen unserer Probleme verantwortlich sein könnte. Wir müssen unser Verhalten verändern und wir können dies nur, indem wir unsere physische und soziale Umwelt verändern. Wir wählen den falschen Weg gleich zu Beginn, wenn unser Ziel darin besteht, die ‘Gedanken und Herzen von Männern und Frauen’ zu verändern, anstatt die Welt, in der wir leben (16).”

Einleitung

Die folgenden Ausführungen bewegen sich im Grenzgebiet zwischen Philosophie und Psychologie. Jeder der verwendeten Schlüsselbegriffe ist vielschichtig; knappe, verbindliche Definitionen gibt es nicht. Und jede der angesprochenen Positionen zerfällt in verschiedene Richtungen (oder “Schulen”), deren Gemeinsamkeiten nicht selten schwächer ausgeprägt zu sein scheinen als die Unterschiede. Mit derartigen Feinheiten werde ich mich nicht aufhalten. Es soll vielmehr gezeigt werden, dass sich die heutige Psychiatrie, gemessen an grundlegenden methodologischen Prinzipien, nicht als naturwissenschaftlich fundiert betrachten kann (13). Diese grundlegenden methodologischen Prinzipien fasse ich unter dem Begriff “Behavorismus” zusammen. Mir ist, wie bereits erwähnt, durchaus bewusst, dass der Behaviorismus als Kürzel für eine Reihe höchst disparater Denkrichtungen verstanden werden muss, so dass sich meine Begriffsverwendung, angesichts des leitenden Zieles meiner Abhandlung, nur auf einen “gemeinsamen Geist” bezieht, der diese unterschiedlichen Ansätze eint.

Naturalismus – Dualismus

In grober Vereinfachung betrachte ich im Rahmen dieser Analyse den Begriff des Materialismus als gleichbedeutend mit den verwandten Termen “Physikalismus” und “Naturalismus”. Was darunter zu verstehen ist, hat der amerikanische Philosoph Daniel C. Dennett bemerkenswert kurz zusammengefasst:

“… there is only one sort of stuff, namely matter – the physical stuff of physics, chemistry, and physiology – and the mind is somehow nothing but a physical phenomenon (1).”

Kurz: Der Geist, was immer das sein mag, gehört zur natürlichen Welt und er unterliegt den Gesetzen dieser Welt.

Der dem Naturalismus (Materialismus, Physikalismus) entgegengesetzte Standpunkt besagt:

“The idea of mind as distinct … from the brain, composed not of ordinary matter but of some other, special kind of stuff, is dualism… (1).

Der Dualist glaubt, dass unser Geist nicht mit Prozessen in unserem Gehirn identisch sei, sondern das er aus einem besonderen Stoff bestehe, der nicht zur natürlichen, materiellen Welt zähle.

Die überwiegende Mehrheit der einschlägig tätigen Naturforscher nimmt heute eine naturalistische Position ein. Eine Minderheit allerdings beharrt auf einem dualistischen Standpunkt. Zu ihr zählt der Nobelpreisträger John C. Eccles, der beispielsweise in einer Schrift unter dem Titel “Wie das Selbst sein Gehirn steuert” die These vertritt, der nicht materielle Geist interagiere auf quantenmechanischer Ebene mit Zellen in unserem Nervensystem (2).

Das mit dualistischen Ansätzen grundsätzlich verbundene Problem lautet, dass es keine verlässliche, saubere Methodik gibt, den so genannten immateriellen Geist systematisch zu erforschen. Und so finden sich im genannten Werk von Eccles auch nur wenige und sehr vage Vorstellungen zu den “Psychonen”, die angeblich die elementaren Bausteine der Welt des Geistes sein sollen (2, Seite 138). Eine Auseinandersetzung mit derartigen Sichtweisen mag fruchtbar, zumindest Fantasie anregend sein; aber sie führt uns aus dem Bezugsrahmen der heutigen einschlägig forschenden Wissenschaften hinaus und soll deswegen hier nicht weiter verfolgt werden.

Behaviorismus – Mentalismus

Der Behaviorismus ist nicht eindeutig dem Naturalismus oder dem Dualismus zuzuordnen; man kann sich auch einen Behavioristen vorstellen, der die Existenz eines aparten Geistes für möglich, ja, für gewiss hält, ihn aber aus dem Kreis der Fragen, die wissenschaftlich bearbeitet werden können, dennoch ausschließt. Im Allgemeinen darf aber wohl gesagt werden, dass sich vermutlich die überwiegende Mehrheit der Behavioristen zum Naturalismus (Materialismus, Physikalismus) bekennt.

Der Behaviorismus existiert in verschiedenen Varianten; ihnen gemeinsam ist die Überzeugung, dass man mentale Vorgänge (das Psychische) nicht eindeutig definieren und operationalisieren, also messbar machen könne und dass sie deshalb nicht in den Rahmen der wissenschaftlich legitimen Gegenstände gehörten. Man kann Aussagen über psychische Prozesse nicht intersubjektiv überprüfen. Das Psychische sei eine Blackbox, in die man nicht hineinschauen und deren Inhalt man auch nicht aus Reizen und Reaktionen erschließen könne, da sich stets eine Vielzahl von Erklärungen für den Throughput, der Input und Output verbindet, finden ließen und es keine Möglichkeit zu testen gebe, welche dieser Erklärungen zutreffe (3). Manche Behavioristen bestreiten sogar die schiere Existenz eines solchen Throughputs, sofern darunter irgendwelche mentalen (psychischen) Abläufe verstanden werden.

Demgegenüber vertreten die Mentalisten die Auffassung, dass man die psychischen Prozesse durchaus zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung machen und mit experimentellen oder anderen Methoden erforschen könne. Zu diesen Methoden zählen beispielsweise

  • die Psychoanalyse
  • die Introspektion
  • die experimentelle Überprüfung mentalistischer Hypothesen
  • der Einsatz bildgebender Verfahren in der so genannten kognitiven Neurowissenschaft (Neuro-Psychologie).

Die Psychoanalyse bedient sich der freien Assoziation seitens des Patienten, der am Couchende ein Psychoanalytiker mit gleichschwebender Aufmerksamkeit lauscht. Auf diese Weise hofft man, schlussendlich die psychischen Prozesse zu enthüllen, die mit dem gestörten Verhalten und Erleben des Patienten verbunden seien. Es gibt allerdings keine Möglichkeit, die Interpretation des Psychoanalytikers intersubjektiv zu überprüfen. Die etwaige Zustimmung des Patienten zu den Deutungen des Psychoanalytikers könnte z. B. auf Suggestion beruhen.

Selbstverständlich soll die Existenz unbewusster Prozesse nicht bestritten werden. Genau diese aber vermindern die Aussagekraft der Introspektion. Zwar kann man durchaus die eigenen mentalen Prozesse beobachten und darüber berichten. Aber letztlich können wir nicht wissen, in welcher Weise diese Vorgänge durch unbewusste Abläufe hervorgebracht wurden. Es gilt hier auch zu bedenken, dass wir nicht unser unmittelbares Erleben einer Introspektion unterwerfen können, sondern nur unsere Erinnerung daran. Es steht aber nirgendwo geschrieben, dass unsere Erinnerungen eine exakte Widerspiegelung dessen sind, woran wir uns erinnern.

Die kognitivistischen Psychologen versuchen, Hypothesen über mentale Prozesse, beispielsweise zur Speicherung von Ereignissen im Gedächtnis, in Experimenten zu testen, deren Methodik an die naturwissenschaftliche Forschung angelehnt ist. Üblicherweise definiert man ein mentales Konstrukt und leitet aus ihm beobachtbare Folgerungen ab. Wenn sich diese Folgerungen nicht beobachten lassen, wird das Konzept verworfen. Auf diese Weise kann man allenfalls unbegründete Annahmen über den Inhalt der Blackbox ausmerzen, aber niemals feststellen, was sich in ihr tatsächlich abspielt.

Die kognitive Neurowissenschaft wagt nun einen direkten Blick ins Gehirn. Allein, was sie dort sieht, sind nicht die mentalen Prozesse, sondern allenfalls Indikatoren für die Arbeit makroskopischer neuronaler Netzwerke. Es spricht aber alles dafür, dass die den so genannten mentalen Prozessen zugrunde liegenden physiologischen Abläufe über das ganze Gehirn in mikroskopischen Netzwerken verteilt und viel zu komplex sind, um der Forschung zugänglich zu sein. Entsprechend sind die Befunde der kognitiven Neurowissenschaft höchst widersprüchlich und in aller Regel nicht replizierbar (4).

Aus diesen und anderen Gründen bin ich davon überzeugt, dass eine Psychologie, die den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann, experimentell und behavioristisch sein muss. Dies bedeutet, dass sie in ihre Untersuchungen nur Variablen einbeziehen darf, die im physikalischen Sinne messbar sind. Ihre Hypothesen müssen intersubjektiv überprüfbar sein. Überdies sollte sich die wissenschaftliche Psychologie der Spekulation über mentale Prozesse enthalten. Eine solche Psychologie hat demgemäß, verglichen mit den mentalistischen Projekten, bescheidene Ziele; diese haben aber den Vorteil, dass sie sich tatsächlich – und nicht nur dem Anspruch nach, nicht nur in der Fantasie – auch erreichen lassen.

Fundamente der Psychiatrie

Mentalistische Konstrukte

Die Psychiatrie ist mentalistisch, trotz ihrer mitunter naturwissenschaftlich verbrämten Sprache, weil ihre zentralen Konstrukte, nämlich die Syndrome bzw. Krankheitsbilder, weitgehend mentalistisch definiert sind. Zu den einschlägigen mentalistischen Termen zählen Wahn, Halluzinationen, Willensschwäche, Negativismus, Traurigkeit, Freude an Aktivität, Müdigkeit, Energieverlust, Gefühle der Wertlosigkeit, Denkfähigkeit, Schuldgefühl, Gedanken an den Tod, Ideenflucht, Größenideen, Gedankenrasen, Derealisation, Depersonalisation, Beklemmungsgefühle, sexuelle Fantasien u. v. m.

Man könnte zwar versuchen, diese inneren Zustände zu definieren, die jeweiligen Indikatoren im Bereich des Verhaltens messbar zu machen und ihre Ausprägung dann mit psychometrischen Verfahren zu eruieren; allein, es ist selbst mit den besten Tests und Fragebögen eine eindeutige Zuordnung zwischen inneren Zuständen und äußerem, beobachtbaren Verhalten nicht möglich. Ganz zu schweigen davon, dass mit solchen Methoden in aller Regel nicht die Verhaltensmuster selbst, sondern die Aussagen der Betroffenen zu erinnerten inneren Zuständen und äußerem Verhalten erhoben werden.

Psychiatrische Diagnostik

Die psychiatrische Diagnostik beruht nicht auf objektiven Verfahren, beispielsweise auf Bluttests oder Brainscans, sondern überwiegend auf Listen oder Beschreibungen, die sich auf die Beschwerden (die so genannten Symptome) der Betroffenen beziehen. Dazu werden die mutmaßlich Kranken selbst oder Dritte (Angehörige, Pflegepersonal etc.) befragt. Außerdem werden Beobachtungen des Verhaltens einbezogen, das allerdings nicht in systematischer, standardisierter Form ermittelt oder gar anhand objektiver Kriterien (beispielsweise Reaktionszeiten) gemessen wird. Der Psychiater muss zur Diagnose einer “psychischen Krankheit” beispielsweise einschätzen, ob der Patient an einem Wahn leidet, Stimmen ohne entsprechende äußere Reizquelle hört, ob seine Sprechweise häufig entgleist oder zerfahren, ob sein Affekt flach ist, ob seine Gedanken alogisch sind oder ob sich bei ihm eine Willensschwäche zeigt.

Neurowissenschaft

Seit Entstehen der modernen Psychiatrie im 19. Jahrhundert, versteht sich diese als medizinische Disziplin auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Neurophysiologie hat zwar seither große Fortschritte gemacht; dies gilt aber nicht für den hier ausschlaggebenden Zweig dieser biologischen Disziplin, nämlich für Forschungen zur Frage, wie das Gehirn den “Geist” und dessen Störungen hervorbringt. Zwar bietet die entsprechende Forschung eine schier unüberschaubare Fülle von Befunden, doch diese Resultate widersprechen sich häufig und sie sind in aller Regel nicht replizierbar (4).

Dieser beklagenswerte Zustand hat dazu geführt, dass sich der größte Gönner der Psychiatrie, die Pharmaindustrie weitgehend aus der Psychopharmakaforschung zurückgezogen hat. Es sei einfach zu schwierig, patentfähige Medikamente mit neuen Wirkmechanismen zu entwickeln, wenn die Psychiatrie keine Erkenntnisse bereitstellen könne, auf welche Bereiche des Nervensystems die Medikamente einwirken müssten, um die gewünschten Effekte zu erzielen (6).

Behavioristische Kritik

Es ist offensichtlich, dass die Psychiatrie vom behavioristischen Wissenschaftsideal sehr weit entfernt ist. Das so genannte medizinische Modell psychischer Krankheiten fügt sich nicht in das Schema eines methodologischen Ansatzes, der sich u. a. von folgenden Grundsätzen leiten lässt:

  • Es dürfen nur Beobachtungen, die intersubjektiv überprüfbar sind, als wissenschaftliche Evidenz anerkannt werden.
  • Wissen muss reliabel und replizierbar sein.
  • Empirische Befunde müssen der Spekulation übergeordnet werden.
  • Die so genannte Psyche ist, sofern sie überhaupt existiert, nur dem privaten Erleben zugänglich (first person view) und kann daher nicht mit wissenschaftlichen Methoden erforscht werden (third person view).
  • Das mentalistische Vokabular ist daher als solides Fundament der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Verhaltens völlig ungeeignet.

Mentalistische Konstrukte

Aus behavioristischer Sicht ist die psychiatrische Diagnostik abzulehnen, weil sie keine exakten Beschreibungen von Reizen und den ihnen zugeordneten Reaktionen beinhaltet. Sie beruht vielmehr überwiegend auf mentalistischen Konstrukten, die meist sehr vage definiert und nicht direkt messbar sind. Sie besteht daher vor allem auf Mutmaßungen über innere Zustände. Zwar werden zur Begründung sporadisch gelegentlich unsystematische Verhaltensbeobachtungen hinzugezogen. Diese taugen jedoch nicht zur Absicherung der Mutmaßungen, zumal sie oftmals von Dritten stammen, so dass ihre Validität äußerst zweifelhaft ist.

Mangelnde  Reliabilität und Validität

Grob gesprochen, ist die Validität eines diagnostischen Verfahrens ein Maß für die Genauigkeit, mit der es diagnostiziert, was es diagnostiziert – unabhängig davon, ob es dass diagnostiziert, was es zu diagnostizieren vorgibt. Demgegenüber versteht man unter der Validität ein Maß dafür, wie genau ein diagnostisches Verfahren auch das diagnostiziert, was es seinen Konzept gemäß diagnostizieren will. In der Praxis wird zur Ermittlung der Reliabilität überprüft, wie häufig zwei Diagnostiker hinsichtlich der Diagnose ein und desselben Menschen übereinstimmen. Die Validität wird durch die Korrelation zwischen den Diagnosen und externen Kriterien festgestellt. Diese externen Kriterien sind durch das Konzept vorgegeben.

Dies ergibt sich aus der Definition der Validität, die ja ein Maß dafür darstellt, wie genau ein diagnostisches Verfahren das misst, was es zu messen vorgibt. Wenn man beispielsweise psychische Krankheiten im Kern als Hirnerkrankungen auffasst, dann kann man das diagnostische Verfahren durch Korrelationen zwischen den Diagnosen und entsprechenden Parametern der Hirntätigkeit abschätzen. Es versteht sich von selbst, dass im Rahmen eines behavioristischen Ansatzes nur Konstrukte zulässig sind, die sich in mehreren Studien replizierbar als reliabel und valide erwiesen haben, denn Experimente mit Variablen, die nicht reliabel und valide gemessen werden können, haben keine Aussagekraft, weil man in diesem Fall ja nicht weiß, auf was genau sich diese Aussagen überhaupt beziehen.

Reliabilität

Eine Übersichtsarbeit aus dem Jahre 2006 stellt fest:

“The unreliability of psychiatric diagnosis has been and still is a major problem in psychiatry, especially at the clinician level (8).”

Die mangelnde Reliabilität der Diagnosen ist ein Hauptproblem der Psychiatrie; und daran hat sich auch durch die neue Version des amerikanischen Diagnose-Manuals DSM-5 nichts geändert. Im Gegenteil: Hier ist die Reliabilität so gering wie nie zuvor (8, 9). Angesichts der schwerwiegenden methodischen Mängel psychiatrischer Diagnostik (10) sind höhere Werte auch nicht zu erwarten. Die nebelhaften Krankheitskonstrukte und die unscharfen, vieldeutigen Kriterien lassen eine höhere Übereinstimmung der Urteile von Psychiatern (insbesondere außerhalb kontrollierter Forschung im klinischen Alltag) gar nicht zu.

Validität

Der Direktor des „National Institute of Mental Health“ (NIMH), Thomas Insel bezeichnete am 29. April 2013 in seinem „Director’s Blog“ das DSM als nicht valide. „Nicht valide“ bedeutet: Das DSM diagnostiziert nicht, was es zu diagnostizieren vorgibt. Insel schreibt:

“Das Ziel dieses neuen Handbuchs, wie aller vorherigen Ausgaben, ist es, eine gemeinsame Sprache zur Beschreibung der Psychopathologie bereitzustellen. Obwohl das DSM als “Bibel” für dieses Gebiet beschrieben wurde, ist es, bestenfalls, ein Lexikon, das eine Menge von Etiketten kreiert und sie definiert. Die Stärke jeder dieser Ausgaben des DSM war “Reliabilität” – jede Edition stellte sicher, dass Kliniker dieselben Begriffe in derselben Weise benutzten. Seine Schwäche ist sein Mangel an Validität. Anders als bei unseren Definitionen der Ischämischen Herzkrankheit, des Lymphoms oder von AIDS, beruhen die DSM-Diagnosen auf dem Konsens über Muster klinischer Symptome, nicht auf irgendwelchen objektiven Labor-Daten. In der übrigen Medizin entspräche dies dem Kreieren diagnostischer Systeme auf Basis der Natur von Brustschmerzen oder der Qualität des Fiebers. In der Tat, symptom-basierte Diagnosen, die einst in anderen Gebieten der Medizin üblich waren, wurden im letzten halben Jahrhundert weitgehend ersetzt, weil wir verstanden haben, dass Symptome selten die beste Wahl der Behandlung anzeigen. Patienten mit psychischen Störungen haben Besseres verdient (11).“

Insels Einschätzung, dass psychiatrische Diagnosen nicht valide seien, schlug in den USA wie eine Bombe ein; das NIMH untersteht schließlich dem US-Gesundheitsministerium und sein Direktor ist einer der einflussreichsten Psychiater der Vereinigten Staaten. Das NIMH ist das mit Abstand größte psychiatrische Forschungszentrum weltweit. Es kostet den amerikanischen Steuerzahler jährlich 1,5 Milliarden Dollar, also rund 1,16 Milliarden Euro.

Insel steht mit seiner Auffassung nicht allein:

“… es gibt immer noch keine objektiven Tests, mit denen man die Validität irgend einer psychiatrischen Diagnose bestätigen kann – eine Tatsache, die durch die fortgesetzt niedrigen Reliabilitäts-Raten noch unterstrichen wird”, schreibt beispielsweise der britische Psychologe James Davies in seinem Buch “Cracked” (12).

Die Kritik an der psychiatrischen Diagnostik stammt heute nicht mehr nur aus den Reihen psychiatriekritischer Außenseiter, sondern sie wird auch von Vertretern des psychiatrischen Mainstreams wie Thomas Insel, Allen Frances oder Robert L. Spitzer vorgetragen.

Da die Psychiatrie die so genannten psychischen Krankheiten nicht valide zu diagnostizieren vermag, kann sie auch niemanden treffsicher den einzelnen psychiatrischen “Krankheitsbildern” zuordnen; selbst wenn man von der Existenz psychischer Krankheiten überzeugt ist, kann man nicht bestreiten, dass die Raten der falsch positiv und falsch negativ Eingestuften unter diesen Bedingungen immens sein muss.

Unzulänglichkeit der Neurowissenschaft

“Wie nützlich EEG und fMRI in anderen Anwendungen auch immer sein mögen”, schreibt der behavioristische Neurowissenschaftler William Uttal, “ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie jemals in der Lage sein werden, die neurophysiologischen Ursprünge subtiler kognitiver Dysfunktionen wie der Schizophrenie oder bipolarer Störungen zu erkennen. Dies geschah nicht im letzten Jahrhundert, und es wird sich, nach meinem Urteil, auch nicht in Zukunft ereignen (4).”

Der Grund dafür ist aus Sicht Uttals darin zu sehen, dass selbst bei den einfachsten mentalen Prozessen eine gigantische Vielzahl von Neuronen involviert sein müssen und dass sich die Arbeit derartiger komplexer Netzwerke in endlicher Zeit selbst mit den denkbar leistungsfähigsten Computern nicht berechnen lässt. Pointiert formuliert: Es gib im Universum nicht genug Atome, um eine Maschine dieses Ausmaßes zu bauen.

Uttal schlägt daher vor, sich wieder auf Variablen zu konzentrieren, die messbar und eindeutig interpretierbar sind, und dabei handelt es sich, so Uttal, um jene Variablen, auf die sich die Behavioristen schon immer bezogen haben, nämlich Reize und Reaktionen (Verhalten).

“Verhalten”, so schreibt er, “besteht aus beobachtbaren Ereignissen (third-person) und kann motorische, verbale, endokrine und andere physiologische Reaktionen einschließen. Private mentale Ereignisse sind nicht Verhalten und unzugänglich. Replikation und Verifikation durch einen anderen als den ursprünglichen Beobachter (beispielsweise unter Einsatz doppelt-blinder Kontrollen) ist ebenfalls erforderlich (3).”

Aus dieser Sicht sind natürlich auch Projekte unzulässig, bei denen versucht wird, aus Daten, die mit bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, Rückschlüsse auf mentale Prozesse abzuleiten. Es ist einfach nicht möglich, solche Prozesse gezielt auszulösen und hinlänglich genau zu bestimmen, was sich in der Psyche der Versuchsperson während einer solchen “Durchleuchtung” ihres Gehirns tatsächlich abspielt. Erschwerend kommt hinzu, dass, zumindest zum heutigen Zeitpunkt, die eingesetzten technischen Geräte auch nicht in der Lage sind, die hier vermutlich relevanten mikroskopischen neuronalen Netzwerke abzubilden.

Die behavioristische Alternative

Angewandte Verhaltensanalyse statt Psychotherapie und Psychopharmaka

Wie immer am Ende einer fundamental kritischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie stellt sich auch hier wieder die Frage, wie denn der Behaviorismus den Menschen zu helfen gedenkt, die von der Psychiatrie wegen erheblicher Lebensprobleme als psychisch krank bezeichnet werden.

Grundsätzlich gilt, dass Behavioristen keine Psychotherapie anwenden. William Uttal schreibt:

“Obwohl viele Therapeuten bestreiten werden…, dass die klinische Psychologie keines der Kriterien einer Wissenschaft erfüllt, legt eine detaillierte Analyse ihres allgemeinen Ansatzes (die Verhaltensmodifikation (behavior modification) ausgenommen), den Schluss nahe, dass Psychotherapie kaum fruchtbare Theorie, nur eine dürftige Taxonomy und keine Evidenz für die Annäherung (verschiedener theoretischer Ansätze, HUG) oder Vereinfachung zu bieten hat und eine Terminologie gebraucht, die nicht messbare und ungenaue Konzepte sowie ein außer- (wenn nicht über-) natürliches Vokabular anspricht (3).”

Aus behavioristischer Sicht sind zwar das mentalistische Konzept der “psychischen Krankheiten” und entsprechende Psychotherapien abzulehnen, aber selbstverständlich gibt es “Verhaltensstörungen”.

Bevor ich mich näher mit der Problematik dieses Begriffs auseinandersetze, möchte ich zunächst die angewandte Verhaltensanalyse, die auf einem behavioristischen Ansatz beruht, kurz vorstellen (14).

Verhaltensanalytiker setzen sich mit den beobachtbaren Beziehungen zwischen Umwelt und Verhalten auseinander, konkret: Sie konzentrieren sich auf die Antezedensen und Konsequenzen des Verhaltens. Dabei vermeiden sie die Verwendung mentalistischer Konzepte. Kurz: Sie sind Behavioristen reinsten Wassers. Die Ergebnisse der Analyse werden genutzt, um Verhalten zu modifizieren. Dabei handelt es sich keineswegs nur um Verhalten, das von der Psychiatrie als “Symptom einer psychischen Krankheit” fehlgedeutet wird. Vielmehr kann die Verhaltensanalyse zur Veränderung jedweder Verhaltensweise und zum Aufbau neuer Verhaltensweise genutzt werden. Dabei kann es sich beispielsweise um Verhalten am Arbeitsplatz, in der Freizeit, in Schule und Universität handeln. Für die grundsätzliche Methodik ist es unerheblich, ob es sich dabei um als “gesund” oder “krank” gedeutetes Verhalten handelt.

Die Schlüsselelemente der Verhaltensmodifikation sind die Verstärkung (19) des erwünschten und die Bestrafung des unerwünschten Verhaltens. Durch Verstärkung wird die Häufigkeit des erwünschten Verhaltens erhöht; durch Bestrafung die Frequenz des unerwünschten Verhaltens gesenkt. Es versteht sich von selbst, dass die Verhaltensmodifikation umso erfolgreicher sein wird, je besser man die Konsequenzen des Verhaltens kontrollieren kann. Daher sind auch die Ergebnisse der angewandten Verhaltensanalyse umso besser, je stärker das Umfeld der Zielperson beeinflusst werden kann. Wer nun einwendet, dass Menschen seit Jahrtausenden das Verhalten anderer Menschen auf diese Weise kontrollieren, der hat natürlich recht. Die angewandte Verhaltensanalyse beruht auf uralten, bewährten Methoden, die sie systematisiert hat; darin liegt ihre Stärke.

Das Verhalten von Menschen in totalen Institutionen lässt sich so am besten kontrollieren. In diesen Institutionen kontrollieren die Kontrolleure die Resultate des Verhaltens der Kontrollierten prinzipiell unabhängig davon, wie sich die Kontrollierten verhalten; sie können also Verstärkung und Bestrafung nach Gutdünken im Sinne ihrer Ziele einsetzen.

In hierarchisch organisierten, autoritär geführten, aber nicht totalen Organisationen ist die Macht zwar nicht so weitgehend, weil die Kontrolleure hier bei Lohn und Strafe an nicht willkürlich veränderbare Regeln gebunden sind. Allerdings stehen die Regeln fest und so lässt sich immerhin regelkonformes Verhalten durch Konditionierung im Sinne des Behaviorismus ausformen. Gute Ergebnisse können mit den Methoden der angewandten Verhaltensanalyse beispielsweise in Heimen, Kindergärten, beim Militär oder an straff strukturierten Arbeitsplätzen erzielt werden – also überall da, wo ein strenges Regelwerk herrscht.

In den meisten Lebensfeldern sind jedoch die Verhältnisse nicht so übersichtlich und das Verhalten der Menschen wird durch vielfältige negative und positive Handlungskonsequenzen kontrolliert, die sich dem Einfluss etwaiger Kontrolleure entziehen. Auch die Kontrollierten können dem Einfluss der nicht kontrollierbaren situativen Determinanten ihres Verhaltens nur in Grenzen entfliehen. Aus diesem Grund sind in solchen Lebensfeldern Interventionen auf Basis der behavioristischen Lerntheorie nicht sehr erfolgreich. Dieses Schicksal teilen sie aber mit allen mentalistischen Formen der Psychotherapie. Die so genannte Verhaltenstherapie, wie sie heute, meist kognitivistisch verzerrt, betrieben wird, hat nur noch eine phrasenhafte Beziehung zum ursprünglichen Geist des Behaviorismus; sie ist nichts weiter als eine Form der Psychotherapie und unterliegt daher dem Dodo-Bird-Verdikt.

Verhaltensstörungen

Der Begriff der Verhaltensstörungen ist aus behavioristischer Sicht unproblematisch, solange er nicht als Substitut für “psychische Krankheiten”, “psychische Störungen mit Krankheitswert” o. ä. gebraucht wird. Dies ist leider sehr häufig bei den so genannten Verhaltenstherapeuten der Fall, die, zumindest in Deutschland, voll ins medizinische System integriert sind und die in aller Regel das “medizinische Modell psychischer Krankheiten” vielleicht nicht in der Theorie, so doch aber in der Praxis adoptiert haben.

Wenn eine Verhaltensstörung definiert wird als ein Verhalten, dass von einer Wunschvorstellung des Betroffenen abweicht, dann ist natürlich gegen eine solche Begriffsverwendung nichts einzuwenden. Sie impliziert nicht, dass der Betroffene “psychisch krank” sei, einen Defekt habe, von allgemein verbindlicher Normalität abweiche und deswegen einer Behandlung unterzogen werden sollte oder gar müsse, eventuell auch gewaltsam. Vielmehr ist eine so definierte Verhaltensstörung nur als Ist-Wert zu begreifen, dem ein vom Klienten definierter Soll-Wert gegenübergestellt wird. Die Aufgabe der Verhaltensmodifikation besteht darin, den Ist-Wert dem Soll-Wert anzunähern. In diesem Prozess spielt die mentalistische psychiatrische Diagnostik zu keinem Zeitpunkt eine Rolle. Wir bewegen uns hier ausschließlich auf der Ebene des Verhaltens und der Reize, die es auslösen sowie der Konsequenzen, die ihm folgen. Spekulationen über mentale oder neuronale Prozesse, die ihm zugrunde liegen könnten, sind unerheblich.

Ethische Probleme des angewandten Behaviorismus

Aus meiner Sicht ist es als Gebot intellektueller Redlichkeit zu betrachten, sich in der Wissenschaft auf das Messbare zu konzentrieren und Aussagen über die Wirklichkeit der intersubjektiven Überprüfung zu unterwerfen. Jede Abweichung von diesem Gebot bringt uns dem Dogmatismus näher. Im Bereich der Psychiatrie zeigt sich auf fatale Weise, wohin dieser Dogmatismus führen kann, nämlich zur Legitimation von zwangsweiser Unterbringung und Zwangsbehandlung.

Aus diesem Grunde ist die empirische, sich am methodologischen Prinzip des Behaviorismus orientierende Psycho-Forschung nicht nur die einzig wissenschaftlich legitime, sondern, aus meiner Sicht, auch die einzige Form der Forschung, die sich mit dem Gewissen vereinbaren lässt. Die behavioristische Forschung ist allerdings, wie jede echte Naturforschung, wertneutral; sie enthält sich nicht nur der mentalistischen Spekulation, sondern auch des Werturteils. Daher kann man sie natürlich leicht missbrauchen, sehr leicht sogar, weil sie keinerlei Vorentscheidung für das Gute und gegen das Böse beinhaltet. So wie man Sprengstoff für den Straßenbau und für den Krieg verwenden kann, beispielsweise, so kann man auch empirisch psychologisches Wissen benutzen, um Menschen zu befreien oder zu versklaven.

Beispiele dafür, dass behavioristisch gewonnenes Wissen auch zur Dressur von Menschen gegen ihren Willen verwendet wurde und verwendet wird, gibt es leider in Fülle. Das Judge Rotenberg Educational Center, dem von Menschenrechtsorganisationen Foltermethoden vorgeworfen werden, ist nur ein besonders eindrückliches Beispiel dafür; in vielen Bereichen unseres Lebens werden Prinzipien der Konditionierung angewandt, um menschliches Verhalten im Interesse der Reichen und Mächtigen zu modifizieren. Es ist wohl richtig, dass man mentalistische psychotherapeutische Ansätze nicht in dieser drastischen Weise missbrauchen kann. Der offensichtliche Grund dafür ist, dass sie weniger effektiv oder sogar kaum wirksamer sind als eine Placebo-Behandlung. Was nicht wirkt, kann man auch nicht missbrauchen; allenfalls kann man den irrtümlichen Glauben an die Wirksamkeit für sich arbeiten lassen.

Generell kann gesagt werden, dass die heute gängigen psychotherapeutischen Verfahren – und dies gilt auch für die so genannte Verhaltenstherapie, die angeblich auf der behavioristischen Lerntheorie beruht – dem Dodo-Bird-Verdikt unterliegen. Das heißt: Keine der bisher untersuchten und miteinander verglichenen Methoden hat sich als nennenswert überlegen erwiesen. Daraus folgt letztlich, das die unterschiedlichen Methoden keine Rolle spielen und dass die Wirkung der Psychotherapien eher auf dem Glauben an die Wirksamkeit (gleich welcher Methode) beruht.

Dabei ist aber zu bedenken, dass es sich bei diesen Psychotherapien (einschließlich der heute weit verbreiteten kognitiv-behavioralen Verfahren) um mentalistische Konzepte handelt, also um Methoden, die das Verhalten über eine Beeinflussung psychischer Prozesse zu verändern versuchen. Die tatsächlich auf behavioristischen Erkenntnissen fußenden Verfahren sind keine Psychotherapie im – seit der kognitiven Wende während der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts – gängigen Sinne. Auf diese Verfahren bezieht sich aber die überwiegende Mehrheit der Studien zur Psychotherapieforschung, auf der das Dodo-Bird-Verdikt fußt. Die Methoden des angewandten Behaviorismus siedeln also außerhalb des Bereichs, für den das Dodo-Bird-Verdikt gilt.

Daher sehe ich keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln, dass die strikte Anwendung der behavioristischen Lerntheorie in der Praxis signifikante Veränderungen des Verhaltens zu erzielen vermag. Dies bedeutet aber nicht, dass solche Anwendungen vor dem Richterstuhl des Gewissens auch stets freigesprochen werden können. Die Militärpsychiater, die im 1. und 2. Weltkrieg traumatisierte Soldaten durch Suggestionen und schmerzhafte elektrische Ströme im Einklang mit den Erkenntnissen der empirischen Psychologie schnell wieder fit machten für die Front oder für die Rüstungsindustrie, waren durchaus erfolgreich, im Sinne der Krieg führenden Mächte. Dass  aber der Krieg nicht im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Menschen lag und liegt, steht für mich außer Frage.

Meine Alternative

Was die Wissenschaft betrifft, ist meine Einstellung eindeutig behavioristisch. Ich verspreche mir keinen Erkenntnisfortschritt von Forschungen, die mentalistische Konstrukte verwenden oder die über psychische Prozesse spekulieren. Aus praktischer Sicht aber neige ich zu einer pragmatischen Haltung. In der alltäglichen Kommunikation scheint es unerlässlich zu sein, zumindest ein begrenztes Repertoire mentalistischer Begriffe zu akzeptieren und zu verwenden. Zu diesen Begriffen zählen Entscheidung, Ziel, Erwartung und Wille sowie das Selbst und einige mit ihm verbundene Begriffe wie Selbstachtung, Selbsteinschätzung u. ä.

Allerdings bemühe ich mich, die Zahl solcher Begriffe möglichst klein zu halten. Außerdem sollten keine vernünftigen Gründe gegen die Annahmen sprechen, die ich mit diesen Begriffen verbinde. So würde ich den Begriff der Entscheidung nicht mit dem Konzept des freien Willens verbinden, wenn bekannte naturwissenschaftliche Sachverhalte dagegen sprächen, dass der Mensch sich frei entscheiden kann. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein (5).

Auch wenn ich psychische Sachverhalte mit diesen hypothetischen Konstrukten zu erklären versuche, verbindet ich damit nicht den Anspruch, Tatsachen zu beschreiben. Vielmehr möchte ich meine Erklärungsversuche als Denkanstöße verstehen, die jeder für sich prüfen und nach Belieben verwerfen oder beibehalten kann. Ich erhebe keinen wissenschaftlichen Anspruch, wenn ich diese hypothetischen Konstrukte verwende. Sie dienen allein dem subjektiven und spekulativen Versuch, Tatsachen oder mutmaßliche Sachverhalte zu ordnen, für deren Zusammenhang es bisher noch keine wissenschaftlich erhärtete und durchgängig befriedigende Erklärung gibt.

Mitunter fragen mich Leute, wie sie die eine oder andere Gewohnheit überwinden könnten, ich sei doch Psychologe und müsse dies wissen. Natürlich weiß ich dies auch nicht (schließlich verfüge ich nicht über paranormale Kräfte), aber bevor ich mich lumpen lasse, gebe ich dann meist doch einen “Rat”, der sich in etwa wie folgt zusammenfassen lässt:

Operantes Verhalten – Entscheidung

Im Leben geraten wir immer wieder in neue Situationen mit Problemen, für die sich im Fundus unserer bisherigen Erfahrungen keine probate Lösung findet. Nach behavioristischer Lehre zeigt sich in solchen Situationen spontanes Verhalten, das dann in der Folge unter die Kontrolle seiner Konsequenzen gerät und damit seinen spontanen Charakter verliert. Aus meiner Sicht beruht dieses spontane Verhalten – zumindest beim Menschen, bei Amöben wohl eher nicht – auf Entscheidungen. Wir haben die Wahl zwischen gleichermaßen realisierbar oder realisierbar erscheinenden Alternativen und wir wählen wohl oder übel eine davon.

Entscheidungen – Gewohnheiten

Menschen (und nicht nur diese) neigen dazu, eine Verhaltensweise häufiger zu zeigen, wenn sie mit irgendwie positiven Konsequenzen verbunden ist, sei es, dass sie direkt belohnt wird, sei es, dass durch sie ein unangenehmer Reiz verschwindet, sei es, dass durch sie ein zu erwartender unangenehmer Reiz vermieden wird. Entsprechend tendieren wir dazu, Verhaltensweisen seltener zu zeigen, wenn sie nicht mit irgendwelchen positiven Konsequenzen verbunden sind oder gar Strafe nach sich ziehen.

Auf diese Weise bilden sich Gewohnheiten. Wenn eine Verhaltensweise häufig positive Konsequenzen zeitigte, behalten wir sie bei. Andere Verhaltensweisen, die mit der ursprünglichen inhaltlich verbunden oder auch nur zufällig damit assoziiert sind und ebenfalls positive Konsequenzen haben, gesellen sich hinzu und so kann sich Schritt für Schritt auf Grundlage vieler kleiner Einzelentscheidungen eine Gewohnheit bilden. Während wir uns anfänglich, in der neuen Situation, unser konkretes Verhalten noch bewusst machen und ggf. sogar darüber nachdenken, wird es, sobald es zur Gewohnheit geworden ist, an den Rand des Bewusstseins gedrängt oder es vollzieht sich sogar unbewusst.

Revision der Entscheidungen – neue Ziele

Auf diese Weise können nicht nur nützliche Gewohnheiten entstehen, die uns im Leben voranbringen, sondern auch schädliche, deren mittel- oder langfristige Konsequenzen unseren eigentlichen Werten und Lebenszielen widersprechen. Diese Gewohnheiten werden dennoch beibehalten, weil sie kurzfristig Erleichterung oder auch nur ein Sicherheitsgefühl des Vertrauten mit sich bringen. Man denke beispielsweise an die Gewohnheit des Rauchens: kurzfristig Entspannung, langfristig Gefahr des Lungenkrebses. Der Spatz in der Hand ist uns bekanntlich lieber als die Taube auf dem Dach, und daher neigen wir dazu, Verhaltensweisen, die ein Ergebnis auf einfache Weise erzielen, jenen vorzuziehen, die das entsprechende Bedürfnis auf schwererem Weg, dafür aber besser und mit weniger Nachteilen verbunden, befriedigen.

Obwohl unsere Gewohnheiten eindeutig im Sinne der behavioristischen Lerntheorie konditioniert wurden (unabhängig von der Gültigkeit meiner obigen mentalistischen Spekulationen), haben wir doch die Möglichkeit, uns gegen sie zu entscheiden. Wir sind keine Reaktionsautomaten, wir haben einen freien Willen (18), mit dem wir den Verstärkungen aus unserer Umwelt widerstehen können. Es wäre natürlich besser, unsere physische und soziale Umwelt in Sinne der Konditionierung erwünschten Verhaltens  umzugestalten, aber die Möglichkeiten dazu sind für die meisten von uns, sofern sie nicht zu den Reichen und Mächtigen zählen, doch eher beschränkt.

Überwindung von Gewohnheiten

Um eine Gewohnheit zu überwinden, müssen wir einen felsenfesten Entschluss fassen. “Felsenfest” bedeutet, dass wir allen Argumenten, die gegen ihn sprechen, dauerhaft unterm Strich weniger Gewicht einräumen als allen Argumenten, die für ihn sprechen. Darüber dürfen wir nicht mit uns selbst diskutieren, in keinem Fall. Schließlich müssen wir uns ein Ziel setzen, dass der Gewohnheit widerspricht. Es sollte sich dabei um ein öffentlich beobachtbares und am besten (halbwegs) messbares Ziel handeln. Dann streben wir unser Ziel an und freuen uns darüber, wenn sich bei unseren regelmäßigen Messungen eine Annäherung an das Ziel zeigt.

Fazit

Im Alltag ist eine strenge behavioristische Sichtweise nicht immer kommunizierbar. Um verständlich zu bleiben, kommt man mitunter ohne mentalistische Begriffe nicht aus. Solange man sich bewusst bleibt, dass man mit diesen in einem außerwissenschaftlichen Rahmen operiert, mag dies akzeptabel sein.

Weil sie am weitesten von der Gefahr entfernt ist, dogmatisch zu erstarren, als alle anderen Denkansätze, bevorzuge ich die empirische, experimentelle, naturwissenschaftliche oder an der Naturwissenschaft orientierte Forschung. Hier gelten – im Prinzip – nicht die Lehrmeinungen von Autoritäten, sondern ausschließlich die Fakten. (15).

Die empirische und experimentelle Psychologie, die dem methodologischen Prinzip des Behaviorismus folgt, ist die einzige Spielart der Psychologie, die den Anspruch erheben kann, eine Naturwissenschaft zu sein. Dementsprechend können auch nur die Anwendungen dieser Form der Psychologie als naturwissenschaftlich fundiert eingeschätzt werden. In diesem Licht betrachtet ist die heutige, mentalistische Psychiatrie schiere Willkür und eine Pseudowissenschaft, denn sie beansprucht, naturwissenschaftlich fundiert zu sein, wird diesem Anspruch jedoch noch nicht einmal in den zartesten Ansätzen gerecht.

Die psychiatrischen “Syndrome” können eindeutig nicht reliabel und valide gemessen werden. Darum sind Studien, die auf derartigen Konstrukten beruhen, letztlich wertlos. Sie schaffen kein Wissen. Und weil sie kein Wissen schaffen, werden sie auch nicht durch eine Wissenschaft hervorgebracht. Sie sind Rädchen im Getriebe einer Propaganda- bzw. Marketing-Maschinerie.

Immer dann, wenn die pseudo-wissenschaftlichen Resultate dieser Maschinerie echte, nachprüfbare, praktisch verwertbare Ergebnisse erbringen sollen, versagen sie. Dies ist nicht nur meine Meinung. H. Christian Fibiger, ein Neurowissenschaftler und Pharma-Manager schreibt:

“Given that there cannot be a coherent biology for syndromes as heterogeneous as schizophrenia, it is not surprising that the field has failed to validate distinct molecular targets for the purpose of developing mechanistically novel therapeutics (17).”

Da das “Krankheitsbild” der so genannten “Schizophrenie” nicht validiert ist, da deswegen Menschen mit unterschiedlichsten Phänomenen zu dieser Gruppe willkürlich zusammengefasst werden, ist es kein Wunder, dass es nicht gelingt, mit Studien, die derartige Konstrukte verwenden, molekulare Ziele für neue Medikamente zu entdecken.

Demgegenüber bringen behavioristische Experimente, die auf mentalistische Konstrukte verzichten und die sich auf das konzentrieren, was messbar und intersubjektiv überprüfbar ist, eindeutig echtes Wissen hervor.

Wie überall da, wo echtes Wissen effektiv angewendet werden kann, besteht auch die Gefahr des Missbrauchs. Dies gilt für alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, nicht nur für die behavioristische Psychologie. Zwischen Gebrauch und Missbrauch können wir allerdings nicht auf naturwissenschaftlicher Grundlage unterscheiden. Die Naturwissenschaft enthält sich des Werturteils, ja, gerade dies macht sie zur Naturwissenschaft. Die Unterscheidung zwischen Gebrauch und Missbrauch ist letztlich eine Frage der Politik. Ich bin Anarchist und verteidige die soziale Freiheit. Dies bedeutet, dass jedem Menschen ein möglichst großer Handlungsspielraum eingeräumt werden soll, der allerdings durch die gleichermaßen berechtigten Interessen anderer Menschen begrenzt werden muss.

Aus dieser Sicht beginnt Missbrauch da, wo Menschen Maßnahmen aufgezwungen werden, ohne dass dafür ein rechtfertigender, vernünftiger Grund im Sinne der sozialen Freiheit angegeben werden könnte. So könnte man beispielsweise darüber diskutieren, ob ein Mensch wegen eines Potenzials zu schwerer Gewalttätigkeit seiner Freiheit beraubt werden darf; eine solche Diskussion wäre aber nur dann legitim, wenn es eine Möglichkeit gäbe, hinlänglich treffsicher zukünftige Gewalttaten eines Individuums zu prognostizieren. Diese Möglichkeit gibt es aber nicht. Es widerspricht also der Idee sozialer Freiheit, einen Menschen auf schieren Verdacht hin einzusperren.

Jeder also, der sich aus freien Stücken dazu entscheidet, sein Verhalten mit den Mitteln der angewandten behavioristischen Psychologie allein oder mit Hilfe eines Experten zu modifizieren, hat aus meiner Sicht natürlich auch das Recht dazu. Dies gilt allerdings nur dann, wenn die Modifikation nicht das Ziel hat, die Möglichkeiten eines Menschen zu verbessern, die sozialen Freiheitsrechte anderer zu beschneiden. Als grundsätzlich verwerflich empfinde ich es, wenn behavioristische oder andere Erkenntnisse dazu benutzt werden, um Menschen gegen ihren Willen oder gar ohne ihr Wissen zu manipulieren – es sei denn, eine solche Manipulation ließe sich vernünftig im Sinne sozialer Freiheit begründen.

Obwohl ich theoretisch ein Behaviorist bin, und zwar umso entschiedener, je älter ich werde, muss ich dennoch einräumen, dass ich gegenüber den praktischen Anwendungen des Behaviorismus’ skeptisch bin. Es mag wohl so sein, dass behavioristisch orientierte Maßnahmen überall da, wo sie funktionieren, besser funktionieren als mentalistisch begründete Interventionen. Und es mag auch wohl so sein, dass überall da, wo sie nicht funktionieren, sonst auch nichts funktioniert. Allein, die Idee, man müsse, auf Teufel komm raus, sein Verhalten anpassen, wenn es einem selbst oder anderen nicht passt, geht mir allerdings schwer gegen den Strich. In vielen, wenn nicht den meisten Fällen will es mir menschlicher erscheinen, sich mit den Merkwürdigkeiten seines Verhaltens zu arrangieren. Am besten ist es doch immer noch, sich selbst so zu nehmen, wie man eben ist, und sich auch von anderen nicht von seinem Weg abbringen zu lassen.

Last, but not least sei darauf hingewiesen, dass meine Ausführungen zum Behaviorismus, Mentalismus und zur Psychiatrie nur im Rahmen meines metaphysischen Glaubens, dass unser Gehirn und damit unser Geist denselben Naturgesetzen unterliegen wie der Rest der Welt, Gültigkeit beanspruchen. Dies gilt natürlich auch für meine Zweifel an der Existenz psychischer Krankheiten. Anarchismus und Dogmatismus schließen einander aus.

Anmerkungen

(1) Dennett, D. C. (1991). Consciousness explained. Boston: Little, Brown and Company, Seite 33

(2) Eccles, J. C. (1994). Wie das Selbst sein Gehirn steuert. Berlin, Heidelberg: Springer Verlag

(3) Uttal, W. R. (2007). The Immensurable Mind. The Real Science of Psychology. Amherst N. Y.: Prometheus Books

(4) Uttal, W. R. (2011). Mind and Brain. A Critical Appraisal of Cognitive Neuroscience. Cambridge: MIT Press

(5) Tse, P. U. (2013). The Neural Basis of Free Will: Criterial Causation by Peter Ulric Tse, Cambridge: MIT Press

(6) Fibiger. H. C. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650

(7) Aboraya, A. et al. (2006) The Reliability of Psychiatric Diagnosis Revisited
The Clinician’s Guide to Improve the Reliability of Psychiatric Diagnosis. Psychiatry (Edgmont). Jan 2006; 3(1): 41–50

(8) Greenberg, G. (2013). The Book of Woe. The DSM and the Unmaking of Psychiatry. New York: Penguin Books

(9) Frances, A. (2012). Newsflash From APA Meeting: DSM-5 Has Flunked Its Reliability Tests. Huffington Post, 05/08

(10) Gresch, H. U. (2014). Was taugen psychiatrische Diagnosen. Pflasterritzenflora

(11) Thomas Insel, Director’s Blog: Transforming Diagnosis

(12) Davies, J. (2013). Cracked. Why Psychiatry is Doing More Harm Than Good. London: Icon Books

(13) Da sie jedoch beansprucht, naturwissenschaftlich fundiert zu sein, diesen Anspruch aber noch nicht einmal ansatzweise zu erfüllen vermag, fasse ich sie als Parawissenschaft auf.

(14) Im Rahmen dieser Abhandlung ist eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Methodik der angewandten Verhaltensanalyse nicht sinnvoll; ich verweise den Interessierten auf die einschlägige Literatur oder, zur Einführung, auf den diesen Wikipedia-Artikel.

(15) Das dieses Prinzip oft durch außerwissenschaftliche Einflüsse und Bedingungen aufgeweicht wird, steht auf einem anderen Blatt.

(16) Skinner, B. F. (1977). Why I Am Not a Cognitive Psychologist. Behaviorism, Vol. 5, No. 2 (Fall, 1977), pp. 1-10

(17) Fibiger, H. C. (2012). Psychiatry, The Pharmaceutical Industry, and The Road to Better Therapeutics. Schizophrenia Bulletin, vol. 38 no. 4 pp. 649–650

(18) Dies ist eine Auffassung, die von den meisten Behavioristen nicht geteilt wird.

(19) Man unterscheidet positive und negative Verstärkung. Bei positiver Verstärkung steigt die Wahrscheinlichkeit wegen einer positiven Konsequenz. Bei negativer Verstärkung steigt die Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens, weil es mit dem Verschwinden einer negativen Konsequenz verbunden ist.

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