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Die Psychiatrie als Subjektwissenschaft

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Subjekt und Objekt

Dem Anwurf, dass die Psychiatrie aus Sicht seriöser empirischer Forschung nicht viel zu bieten habe, begegnen manche mit dem Argument, die Psychiatrie sei ja auch eine Subjektwissenschaft. Ihr eigentliches Thema seien die Leiden und Nöte der Kranken und diese seien jeweils individuell, speziell und daher einer objektivierenden Betrachtung nicht voll zugänglich. Die Psychiatrie dürfe nicht über die, sie müsse mit den Menschen reden.

Die klingt natürlich wohlwollend und ärztlich. Sich den Leidenden zuzuwenden und ihr Leid ernst zu nehmen, ist fraglos die elementare Voraussetzung für eine gelingende, stimmige Beziehung zwischen einem Helfer und einem Hilfsbedürftigen. Wenn da nur nicht der wissenschaftliche Anspruch wäre, der zum Begriff der “Subjektwissenschaft” gehört! Er will mir ganz und gar nicht stimmig erscheinen.

Ein Subjekt beobachtet Objekte. Es macht handelnd von Objekten Gebrauch. Es geht absichtlich, zielgerichtet, Erwartungen entsprechend mit ihnen um. Objekte werden beobachtet, sie werden manipuliert. Subjekte und Objekte existieren also logisch unabhängig voneinander. Dies gilt sogar dann, wenn sich ein Subjekt selbst zum Objekt macht, indem es beispielsweise seinen Körper im Spiegel betrachtet. Ohne eine solche logische Unabhängigkeit wäre die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt sinnlos. Man kann ein Subjekt zum Objekt machen, aber es kann nicht zugleich und in derselben Hinsicht sowohl Subjekt, als auch Objekt sein.

Wissenschaft will, das sagt ja schon der Begriff, Wissen schaffen. Das Wissen soll im Kern aus geprüften und für wahr befundenen Erklärungen und Vorhersagen bestehen. Dies setzt voraus, dass mehrere Personen unabhängig voneinander die Erklärungen und Vorhersagen systematisch getestet und bestätigt gefunden haben. Durch intersubjektive Überprüfung scheidet Wissenschaft Wissen in ihrem Sinne von bloßer Meinung.

Natürlich kann man auch die Beobachtungen und das Handeln von Subjekten zum Gegenstand der Wissenschaft machen. Intersubjektiv überprüfen kann man aber nur das, was sich öffentlich beobachten lässt. Wissenschaft muss also als das, was sich an den Beobachtungen und Handlungen der Subjekte nicht direkt oder indirekt von außen wahrnehmen lässt, aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausklammern. Man kann sehen, wie sich Subjekte Gegenständen zuwenden und man kann sehen, wie sich in Abhängigkeit von dieser Zuwendung ggf. ihre Reaktionen ändern. Man kann sehen, wie sie sich verhalten. Man kann Merkmale dieses Verhaltens, beispielsweise Reaktionszeiten oder einen Knopfdruck, messen. Nicht aber sehen oder sonstwie direkt beobachten kann man die Absichten, Erwartungen und Ziele, die diesem Verhalten mutmaßlich zugrunde liegen.

Das Individuelle, Spezielle, die je eigene Sicht der Dinge, also das eigentlich Subjektive können nicht Gegenstand einer Wissenschaft sein. Zwar kann man einen Menschen über seine Innenwelt befragen, aber das so entstehende Bild ist keine Widerspiegelung dessen, was in der Innenwelt des Befragten vorgeht, sondern eine Fiktion des Fragenden. Der Fragende kann nicht wissen, ob die Antworten des Befragten die Phänomene seiner Innenwelt hinsichtlich der jeweils relevanten Fragestellung vollständig und unverzerrt wiedergegeben haben – und vor allem gibt es für den Fragenden auch keine zweifelsfreie Möglichkeit zu testen, ob er den Befragten richtig verstanden hat.

Die Auffassungen des Befragten und die des Fragenden können inkommensurabel sein; dies heißt, dass die verwendeten Kernbegriffe im Denksystem des Fragenden eine grundsätzlich andere Bedeutung haben als in dem des Befragten. Wenn sie inkommensurabel sind, dann gibt es auch keine gemeinsamen Maßstäbe, anhand deren die beiden Seiten klären könnten, wessen Sichtweise zutrifft. Der Psychiater und sein “schizophrener” Patient beispielsweise werden sich vielleicht wechselseitig für wahnsinnig halten, und dies mit gleichem Recht.

Der Begriff “Subjektwissenschaft” ist nur dann unproblematisch, wenn man darunter eine Wissenschaft versteht, die sich mit Objekten beschäftigt, die auch Subjekte sind. Eine Wissenschaft des Subjekts aber, eine Wissenschaft von dem also, was dem Subjekt eigentümlich, was im erkenntnistheoretischen Sinne privat ist, kann es nicht geben – es sei denn, man lässt den Anspruch der intersubjektiven Überprüfbarkeit als notwendiges Charakteristikum jeder Wissenschaft fallen.

Das Subjekt ist auch kein Wissenschaftler in eigener Sache. Die eigene, die subjektive Wahrheit gibt es nicht. Allgemeinverbindlichkeit gehört zum Begriff der Wahrheit. Psychiater und Patient können einträchtig miteinander an der Klärung der inneren Befindlichkeiten einer oder gar beider Seiten arbeiten, aber zu Subjektwissenschaftlern werden sie dadurch nicht, weil sich der Gegenstand ihrer “Wissenschaft”, die innere Befindlichkeit nämlich, der intersubjektiven Überprüfung entzieht.

Das innere Erleben ist unmittelbar. Wenn wir es reflektieren, dann schöpfen wir aus unserer Erinnerung. Das Gedächtnis kann uns täuschen. Es mag sein, dass im unmittelbaren Erleben anderes gegeben und wirksam war, als wir später glauben, wenn uns nur noch die Inhalte unseres Gedächtnisses zu Gebote stehen.

Man mag einwenden, dass ja auch die Physik eine Wissenschaft sei, obwohl sie Theorien mit Aussagen über Gegenstände beinhalte, die man nicht direkt beobachten könne. Dies ist zweifellos richtig. Bei diesen Aussagen wird allerdings vorausgesetzt, dass Nicht-Beobachtbares regelhaft und theoretisch begründbar mit Beobachtbarem verbunden ist. Ohne diese Voraussetzung sind physikalische Aussagen über Nicht-Beobachtbares spekulativ und gehören dementsprechend nicht zum Kern dieser Wissenschaft. Das Subjektive (ebenso wenig wie irgendwelche neuronalen Prozesse im Gehirn) ist im Allgemeinen aber nicht regelhaft und theoretisch begründbar mit dem beobachtbaren Verhalten verbunden. Ein- und dasselbe Verhalten kann aus theoretischer Sicht mit einer Vielzahl von mentalen oder neuronalen Vorgängen einhergehen. Das Subjektive ist eine “Blackbox”. Man kann die Prozesse in ihrem Inneren nicht eindeutig aus Reizen und Reaktionen herleiten. Es lässt sich nicht mit der Nebelkammer zur Teilchendetektion in der Physik vergleichen.

Der Psychiater als Subjektwissenschaftler

Stellen wir uns einen Psychiater vor, der seine Disziplin als Subjektwissenschaft versteht. Daraus ergibt sich für ihn die Verpflichtung, die “First-Person-View”, die “Erste-Person-Sichtweise” ernst zu nehmen. Sein Patient versteift sich darauf, nicht krank zu sein. Als Subjektwissenschaftler will der Psychiater ihm jedoch nicht einfach nur eine mangelnde Krankheitseinsicht unterstellen, sondern diese gemeinsam mit ihm erarbeiten. Welchen Maßstab er immer auch wählt, um “gesund” und “krank” voneinander zu scheiden – Fakt ist, dass dieser Maßstab nicht in der First-Person-View seines Patienten präsent ist. All die Phänomene, die vom Psychiater als “Symptome” einer “Krankheit” gedeutet werden, haben im Weltbild seines Patienten einen anderen Sinn. Würde hier Subjektwissenschaft im eigentlichen Sinn, nämlich als “Erste-Person-Wissenschaft” betrieben, so müsste der Maßstab des Patienten der maßgebliche sein – und nicht der des Psychiaters.

Nicht wenige Psychiater, die sich als Subjektwissenschaftler verstehen, werden diese Konsequenz ziehen wollen. Sie würden sich damit ja letztlich auch als Psychiater, als Experten für psychische Krankheiten für überflüssig erklären. Subjektwissenschaftler kann man im Rahmen des herrschenden Systems nur solange sein, wie man die Patienten dazu bringen kann, dieses Spiel mitzuspielen – also in einen Dialog einzuwilligen, bei dem schlussendlich auf Seiten des Patienten eine Einsicht herauskommt, mit der unser subjektwissenschaftlicher Psychiater leben kann. Wenn man sich auf subjektiver Ebene nicht zu einigen vermag, dann  bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder der Mächtigere setzt sich nach Gutdünken durch oder die Entscheidung wird nach objektiven, allgemein anerkannten Kriterien gefällt. Diese gibt es allerdings bei den psychiatrischen “Krankheiten” nicht. Psychiatrische Diagnosen sind Mutmaßungen; es gibt keine objektiven Verfahren, mit denen man das Vorliegen einer psychischen Krankheit feststellen könnte.

Klartext: Psychiatrische Diagnosen sind Mutmaßungen des Psychiaters und dieser erwartet, dass sich sein Patient diesen Mutmaßungen anschließt. Daran kann auch eine subjektwissenschaftliche Orientierung nichts ändern. Wie auch immer ein Psychiater orientiert sein mag: Letztlich reduziert sich die Diagnostik auf eine Machtfrage, zumindest auf eine Frage der Definitionsmacht. Im Zweifelsfall entscheidet der Psychiater, und dies nicht auf Basis von Fakten, sondern kraft seiner Autorität als Experte. Es mag ein feiner Zug von ihm sein, wenn er die Diagnose gemeinsam mit dem Patienten erarbeitet, aber durch den Akt des Diagnostizierens ist bereits ein Rahmen aufgespannt, in dem er als wissenden Fachmann und sein Patient als unwissender Kranker agiert.

Keine Subjektwissenschaft könnte aus diesem Dilemma herausführen, weil Subjektwissenschaft die Möglichkeit zur intersubjektiven Überprüfung ausschließt und daher allenfalls der Form, aber nicht dem Wesen gemäß eine Wissenschaft ist. Sie beruht also zwangsläufig auf Autorität und stützt sich auf Lehrmeinungen (ein vornehmes Wort für Dogmen). Das Dilemma könnte man nur durch eine Diagnostik überwinden, die psychiatrischer Willkür enthoben ist. Dies könnte keine Subjektwissenschaft garantieren, sondern nur eine Wissenschaft, die diesen Namen verdient, weil sie sich auf öffentlich beobachtbare Sachverhalte stützt, deren Vorliegen intersubjektiv überprüft werden kann.

Obwohl Psychiatrie als Subjektwissenschaft auf den ersten Blick als wohlmeinendes, patientenfreundliches Projekt erscheint, erweist sie sich bei genauerem Hinsehen als ein Unterfangen, das den Patienten viel stärker an psychiatrische Autorität und Dogmen kettet als dies die Dritte-Person-Sichtweise einer streng empirischen Psycho-Forschung jemals könnte.

Die Aussagen einer empirischen Psychiatrie können durch Experimente und andere Formen exakter Forschung falsifiziert werden, wohingegen die Meinung des Experten nur durch einen hierarchisch höher angesiedelten Fachgelehrten in Frage gestellt werden kann. Ob dies geschieht, hängt von politischen und sozialpsychologischen Unwägbarkeiten ab, wohingegen das Experiment und dessen Interpretation verbindlichen und in Lehrbüchern festgelegten methodologischen Kriterien unterliegt.

Nomothetische und idiographische Wissenschaft

Ein Vertreter des subjektwissenschaftlichen Ansatzes in der Psychiatrie könnte sich auf die Unterscheidung von nomothetischer und idiographischer Wissenschaft berufen. Die nomothetische Wissenschaft wolle, so heißt es, allgemeine Gesetze entdecken, die idiographische Wissenschaft jedoch einen individuellen, zeitlich und räumlich begrenzten, einzigartigen Gegenstand beschreiben. Meine Forderung nach intersubjektiver Überprüfbarkeit gölte nur für die nomothetische, nicht aber für die idiographische Forschung. Allein, die paradigmatische idiographische Wissenschaft, die Geschichtsforschung stützt sich maßgeblich auf Quellen, beispielsweise Dokumente, die öffentlich zugänglich sind. Mit Quellen dieser Art kann natürlich auch die Psychiatrie arbeiten. Ein Gerichtsurteil kann beispielsweise beweisen, dass ein Patient bereits einmal einer Straftat für schuldig befunden wurde. Doch keine derartige Quelle dokumentiert einen einzigartigen Prozess in der Innenwelt eines Individuums. Wir können dem Gerichtsurteil beispielsweise nicht entnehmen, in welcher Gemütsverfassung der Täter sich zum Zeitpunkt der Tat befand. Allenfalls könnte das Urteil eine Hypothese des Gerichts über die Gemütsverfassung des Täters enthalten.

Auch wenn  also der Subjektwissenschaftler seinen Ansatz im Reich der idiographischen Wissenschaften ansiedelt, ist damit noch nicht die Frage beantwortet, wie er die Gültigkeit seiner Erkenntnisse zur Innenwelt seines Patienten zu begründen gedenkt. Er könnte sich auf die logische Schlüssigkeit seines Psychogramms berufen; allein, logische Schlussfolgerungen sind unabhängig vom Inhalt der verknüpften Prämissen korrekt oder nicht. Wenn sich aber die Prämissen auf Sachverhalte beziehen, die der Überprüfung nicht zugänglich sind, dann kann auch die Geltung der Konklusionen nicht als gesichert betrachtet werden, unabhängig davon, ob sie logisch aus den Prämissen folgen oder nicht.

Der Subjektwissenschaftler könnte sich auch auf den Konsens mit dem Patienten berufen, sofern ein solcher erzielt wurde. Auf welcher Grundlage dieser Konsens allerdings beruht, bleibt offen. Er könnte beispielsweise das Ergebnis einer Suggestion oder vom Patienten aus opportunistischen Gründen bestätigt, also nicht authentisch sein.

Beispiele

Wenn ich bisher von Psychiatern gesprochen habe, die einen subjektwissenschaftlichen Ansatz vertreten, so sollte sich der Leser darunter nicht eine Gruppe real existierender Menschen vorstellen; vielmehr handelt es sich um die Personifizierung einer Geisteshaltung, um einen Idealtypus, dessen reale Vertreter diese Einstellung niemals in voller Ausprägung zur Schau stellen. Dies liegt daran, dass Psychiater stets zu Anpassungen an das herrschende System der Psychiatrie gezwungen sind, das sie zwar Übernahme der Arztrolle verpflichtet, und diese verträgt sich nur zu einem geringen Teil mit dem subjektwissenschaftlichen Ansatz.

Dieser Ansatz kann jedoch aus zwei Gründen nicht verwirklicht werden: Erstens wird er seinem wissenschaftlichen Anspruch nicht gerecht und zweitens wird die uneingeschränkte Akzeptanz der Erste-Person-Sicht des Patienten vom herrschenden System nicht akzeptiert. Letztlich, spätestens im Konfliktfall, stellt sich die subjektwissenschaftliche Haltung als Camouflage, als rhetorisch abgemilderte Form des klassischen Arzt-Patient-Verhältnisses in der Psychiatrie heraus.

Im Folgenden werde ich einige Sentenzen vortragen, in denen sich eine Sehnsucht ausspricht, die, wenn sie sich voll verwirklichen dürfte, zu einer subjektwissenschaftlichen Haltung führen könnte. Damit wird nicht gesagt, dass die jeweiligen Autoren diese Haltung tatsächlich einnehmen.

Klaus Dörner & Ursula Plog: “Psychotherapie kann nie Therapie sein, die einen Krankheitsprozess heilt. Sonst müsste es eine umschreibbare Krankheit geben, die mit dem Ende der Psychotherapie zu Ende ist, wo dann das Kaputte, das Kranke heilgemacht wäre. Dies ist absurd, weil unhistorisch. Psychotherapie wirkt vielmehr so, dass jemand lernt, was ihm begegnet, anders zu sehen und neu zu ordnen; sie wirkt nicht wie eine Salbe, die man absetzt, wenn die Wunde geheilt ist. Psychotherapie, so verstanden als zu lernende Methode, sich und sein Handeln zu bedenken und zu ändern, muss aus der Abhängigkeit vom Therapeuten und zur Selbsthilfe führen (1).”

So, wie Psychotherapie hier beschrieben wird, wäre sie eher als eine Form des Trainings oder der Schulung zu begreifen und die Psychotherapeut wäre mit einem Klavier- oder Fahrlehrer vergleichbar. Im herrschenden System der Psychiatrie wird Psychotherapie so aber weder verstanden, noch praktiziert; und auch die Krankenkasse betrachtet sie als eine medizinische Leistung, deren Anbieter der Arzt und deren Objekt der Patient ist. Überdies ist es unmöglich, mit objektiven Methoden festzustellen, ob sie tatsächlich auch vermittelt über die erwähnten, hypothetischen mentalen Prozesse wirkt.

Einerseits also lässt so eine so konzipierte Psychotherapie im Rahmen des psychiatrischen Systems gar nicht verwirklichen und andererseits wäre es, selbst wenn man sie verwirklichen könnte, auch nicht möglich zu überprüfen, ob sie in der beschriebenen Form tatsächlich stattgefunden hat. Was sich beobachten und objektiv feststellen lässt, sind Sequenzen von Verhalten (Diagnostik, Therapie, Entlassung) in Institutionen, deren Funktion eindeutig dokumentiert ist: Sie sollen der Heilung oder Linderung von Krankheiten dienen. Die Frage, ob “psychische Krankheiten” tatsächlich existieren und wenn ja, ob sie mit Psychotherapie oder was auch immer geheilt werden können, wäre mit objektiven Methoden zu klären. Es entspricht dem subjektwissenschaftlichen Ansatz, dass der Arzt die Wirkungen seiner Behandlung im seelischen Bereich verortet, also genau dort, wo man sie nicht nachweisen kann.

Pat Bracken. Wenn die Psychiatrie ihrer augenblicklichen bioreduktionistischen Orientierung entkommen kann, hat sie viel zu bieten. Wir müssen sehen, dass das, was die Psychiatrie besonders macht, ihr primärer Focus auf die bedeutungsvollen Aspekte der menschlichen Realität ist: Überzeugungen, Verhalten, Gefühle, Beziehungen usw. Andere Ärzte (wie beispielsweise Neurologen) beschäftigen sich damit, aber sie sind im Allgemeinen nur von zweitrangiger Bedeutung gegenüber ihrer Sorge um das, was in Bezug auf Anatomie und Physiologie geschieht. Unsere Herausforderung besteht darin, eine Form der Medizin zu entwickeln, die der menschlichen Bedeutung entspricht. Wenn uns das gelingt, könnte die Psychiatrie wirkliche Führung im Gesundheitswesen bieten (2).”

Es fällt mir schwer zu glauben, dass Geldgeber und Profiteure im Gesundheitswesen der “menschlichen Bedeutung” einen solchen Stellenwert einräumen werden wie Pat Bracken. Überzeugungen, Verhalten, Gefühle und Beziehungen mögen zwar eine große Rolle im menschlichen Leben spielen, aber damit sie in einer medizinischen Wissenschaft einen bedeutenderen Part einnehmen können, müsste es möglich sein, ihre Rolle mit empirischen Methoden zu untersuchen. Dazu eignen sich die genannten Variablen, mit Ausnahme des direkt beobachtbaren menschlichen Verhaltens, jedoch nicht. Eine Analyse des Verhaltens ist aber weit entfernt von der First-Person-View, die dem subjektwissenschaftlichen Ansatz so sehr am Herzen liegt.

Sich vom bioreduktionistischen Ansatz zu entfernen, ist ja sicher wünschenswert. Allein, seit den Anfängen der modernen Psychiatrie als medizinische Spezialdisziplin ist dieser Ansatz in der Psychiatrie vorherrschend, und dies aus gutem Grund: Denn ohne ihn wäre es gar nicht möglich, eine Normabweichung des Verhaltens in einer plausiblen Weise als Krankheit zu definieren. Ohne diesen Ansatz würde sich die Psychiatrie ad adsurdum führen, weil sie sich ihres Gegenstandes beraubte. Sie ist also an den bioreduktionistischen Ansatz gekettet, obwohl dieser, wegen der in ihm notwendig integrierten mentalistischen Konstrukte (“psychische Krankheiten”), aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht valide ist.

Die einzig wissenschaftlich respektablen Gegenstände der Psycho-Wissenschaften sind das Verhalten und die Reize, die auf den Menschen einwirken. Aus ihnen aber kann man keine “psychischen Krankheiten” als angebliche Ursache für Störungen des Verhaltens ableiten.

 Thomas Fuchs. “Die bisherigen Überlegungen haben bereits deutlich gemacht, dass sich die Psychiatrie aus prinzipiellen Gründen nicht in eine „Naturwissenschaft psychischer Störungen“ umwandeln lässt. Dies hat letztlich mit dem irreduziblen Charakter der Subjektivität zu tun. Das Grundphänomen psychischen Krankseins im weitesten Sinn kann man in einem „Sich-selbst-und-anderen-Fremdwenden“ sehen … Dass der Mensch überhaupt psychisch krank werden kann, liegt in dem Verhältnis begründet, das er zu sich selbst und zu anderen einnimmt. Diese subjektive und zugleich intersubjektive Dimension der Krankheit aber lässt sich nur in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient erfassen, in der dessen Erleben zur Sprache kommt; sie geht nicht in einer objektiven Beschreibung auf. Das „Ich“ der 1. Person-Perspektive (Erlebnisperspektive) ist nicht ohne Bedeutungsverlust in das „Er“ der 3. Person-Perspektive (Beobachterperspektive) zu übersetzen (3).”

Wenn sich aber die “1. Person-Perspektive” nicht ohne Bedeutungsverlust in das “‘Er’ der 3. Person-Perspektive” übersetzen lässt, wie dann wohl soll eine psychiatrische Diagnose möglich sein, die nicht anderes ist als die “third-person-view”? Die Diagnose muss sogar als gesichert bezeichnet werden, wenn man die Behandlung mit der Krankenkasse abzurechnen gedenkt. Sie muss also den Anspruch der Objektivität erheben. Es ist auch keineswegs so, dass man die Diagnose nur als notwendiges Übel, als formale Voraussetzung der Behandlung betrachten könnte, denn das gegenwärtige psychiatrische System wurde nach dem Muster des medizinischen modelliert, in dem die Diagnose eine entscheidende Rolle spielt.

In den Verdacht, nur ein Weihespruch zu sein, gerät die Rede von Erschließen der subjektiven Dimension in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient vollends im Licht der folgenden Einlassung desselben Autors in demselben Artikel:

“Erlebnisse und Krankheitsmerkmale werden dabei nicht isoliert, sondern immer in Bezug zum Subjekt und seinem Lebensvollzug gesehen; es geht darum, das Selbst- und Weltverhältnis des Patienten insgesamt zu erfassen, das mehr ist als die Summe der Einzelmerkmale. In den letzten Jahren hat sich zudem eine zunehmend intensive Kooperation zwischen der Phänomenologie und den kognitiven Neurowissenschaften entwickelt (…), die die Bedeutung der Phänomenologie auch für die Psychiatrie künftig noch erhöhen dürfte. Wohl kein anderer Ansatz verfügt über eine vergleichbare Differenziertheit in der Erfassung der Phänomene und Strukturen menschlicher Subjektivität, gerade auch in ihren pathologischen Formen. Damit bietet sie nicht zuletzt der neurobiologischen Forschung eine wesentliche Grundlage.”

Der Blickwinkel der kognitiven Neurowissenschaft ist aber gerade nicht die Sichtweise der 1. Person. Der Philosoph David Chalmers bringt die Sache ziemlich präzise auf den Punkt:

Aus der Sichtweise der dritten Person ist das menschliche Gehirn (zumindest im Prinzip) vollkommen verstehbar. Es ist letztlich nur ein physikalisches System – ein schrecklich komplexes zwar, ohne Zweifel, aber dennoch ein physikalisches System -, das wie alle anderen derartigen Systeme unterm Strich von mikroskopischen physischen Teilchen konstituiert wird, die den Gesetzen der Physik gehorchen. Ihr Verhalten wäre vollständig analysierbar und vorhersagbar, wenn man ein detailliertes Wissen der physikalischen Prinzipien hätte (4).”

Wir sehen in dem Artikel von Thomas Fuchs wie in vielen vergleichbaren Beiträgen, dass, bei aller Rhetorik, das Bekenntnis zum “irreduziblen Charakter der Subjektivität” nicht sehr weit trägt. Die Psychiatrie und die ihr zuarbeitende kognitive Neurowissenschaft haben sich letztlich einem objektivistischen Mentalismus verschrieben, den auch gelegentliche subjektwissenschaftliche Rhetorik in aller Regel nur zu überlagern vermag.

Subjektwissenschaftliche Psychiatriereform?

Die gegenwärtige Psychiatrie ist nahtlos eingebunden in politische und ökonomische Systeme sowie das kognitivistisch (mentalistisch) geprägte System der Forschung, dass die Gehirn-Geist-Beziehung aus der Dritte-Person-Perspektive betrachtet. Sie sieht sich mit den Erwartungen des Repressionsapparates, der Pharmaindustrie und des wissenschaftlichen Mainstreams konfrontiert. Die Chance zu einer Reform der Psychiatrie im Sinne einer angewandten Subjektwissenschaft ist denkbar gering.

Die Gefahr, dass eine solche Reform zu einer Revolution, zu einer Überwindung der Psychiatrie führen würde, dürfte den Profiteuren in diesem gesellschaftlichen Sektor überdies nicht verborgen geblieben sein. Zwar kann man sich aus der Perspektive der ersten Person als seelisch krank empfinden, aber die Notwendigkeit der Behandlung durch einen Arzt oder einen psychologischen Psychotherapeuten ergibt sich daraus nicht zwingend. Die Interventionen eines Heilpraktikers, eines Wunderheilers beispielsweise könnten zu einer irreduzibel subjektiv empfundenen Heilung oder Linderung des Leidens führen – und nichts, nichts im Raume des unmittelbaren Erlebens gäbe einen Anhaltspunkt für einen qualitativen Unterschied zwischen einer als erfolgreich erlebten Maßnahme eines Arztes bzw. eines nicht-ärztlichen Heilers.

Meine Alternative

Aus meiner Sicht hängt eine grundlegende Verbesserung der Situation von der Erfüllung folgender Forderungen ab:

  1. Uneingeschränkter Respekt vor der Perspektive der ersten Person in der Praxis – ganz gleich, ob sich ein Mensch als “psychisch krank” empfindet oder nicht.
  2. Verzicht auf mentalistische Konstrukte und Interpretationen in der Forschung; Konzentration auf das, was sich im Sinne einer psychologischen Naturwissenschaft tatsächlich erforschen lässt, nämlich auf das beobachtbare Verhalten.

Wenn diese Forderungen erfüllt sind, können die Ergebnisse der Forschung in einer Praxis, die tatsächlich den Menschen dient, fruchtbar gemacht werden: Die Praxis ist dann einerseits wissenschaftlich fundiert, andererseits aber unterliegt sie nicht mehr dem Diktat der Wissenschaft, die ja stets, wegen intersubjektiver Überprüfung ihrer Resultate, eine Perspektive dritter Person einnimmt. Der Mensch kann letztlich selbst entscheiden, welche Verhaltensweisen er für korrekturbedürftig hält und wie die Ergebnisse der Maßnahme zu bewerten sind. Die Wissenschaft beschreibt den Prozess und seine Resultate, enthält sich aber der Bewertung. Ohne dass die Praxis das Mentale ausklammern muss (im Gegenteil: Es steht im Mittelpunkt), kann sich die Forschung auf das Messbare konzentrieren, das öffentlich beobachtbare Verhalten.

Anmerkungen

(1) Dörner, K. & Plog, U. (1996). Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Bonn: Psychiatrie Verlag, Seite 583

(2) Fannon, D. (2008). E-Interview Pat Bracken. Psychiatric Bulletin, 32: 240

(3) Fuchs, T. (2010). Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und ihre Anwendung. Die Psychiatrie, 7: 235–241

(4) Chalmers, D. J. (o. J.). The First-Person and Third- Person Views (Part I). Internet-Publikation

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